Au454 8* 2 Portraits M P1912.6308 Ein Leben des Kampfes im Recht und Freiheit. Minna Cauer zum 70. Geburtstag. Von Else Lüders. Minna Cauer. EIN LEBEN DES KAMPFES UM RECHT UND FREIHEIT. Minna Cauer zum 70. Geburtstag Von Else Lüders. BERLIN. Verlag von W. & S. Loewenthal. [1911] Ex Biblioth. Regia Berolinensi. WIDMUNG. In diesem Jahr begeht eine der Führerinnen der deutschen Frauenbewegung, Minna Cauer, ihren 70. Geburtstag. Ihren Freunden und Mitarbeitern ein Gedenkblatt an diesen lag zu widmen, allen Nachkommenden, die sich jetzt oder einst in den Dienst der Frauensache stellen, ein Bild ihres Wirkens, und damit zugleich ein leuchtendes Vorbild für die Hingabe an eine große Idee zu geben, — in diesem Sinne ward dies Buch geschrieben. BERLIN, im Oktober 1911. Else Lüders. Inhalt: I. Lebensbild. — Von Else Lüders. Seite 1. Jugend und Ehe . . . . . . 5 2. Die Arbeit im öffentlichen Leben . . . 12 3. Die Zeitschrift „Die Frauenbewegung“. . 21 4. Zur persönlichen Charakteristik . . . . 26 II. Artikel und Aphorismen von Minna Cauer.*) 1. Soziale Frage . . . . . . . . . . 31 2. Politik . . . . . . . . . 43 3. Kulturgeschichte — Religion . . . . . 57 4. Eindrücke von internationalen Kongressen 68 5. Zum Gedächtnis großer Menschen . . . 79 *) Die Auswahl ist durch die Herausgeberin dieser Schrift, Else Lüders, getroffen. Im Pfarrhaus eines kleinen, echt märkischen Landstädt- chens, Frevenstein in der Ostpriegnitz, erblickte Theodore Wilhelmine Marie Schelle am 1. November 1841 das Licht der Welt. Umhütet vom Frieden eines von Wärme und Liebe durchstrahlten Elternhauses, umgeben von all den Freuden, wie sie nur das freie, frische Landleben den Kindern bietet, flol Kindheit und Jugend dahin. Und doch war es kein so sonniges Kinderleben, wie es diesen allerglücklichsten Be- dingungen eigentlich entsprochen hätte! Denn das Kind war von Anfang an ein schwieriger, eigenartiger Charakter, viel kränklich, viel grübelnd, schon als Kind die Einsamkeitsuchend. Dazwischen dann allerdings auch Stunden echter Kinderlust und Kinderfreiheit auf dem Lande, wo weder Rang noch Stand gilt, wo gleiche Rechte der Geschlechter herrschen, wo die Buben und Mädels miteinander spielen, miteinander ringen und sich prügeln, wo es zur Erntezeit heil3t: alle Mann ans Werk, und Alt und Jung mit Eifer den Segen der Natur zu bergen sucht. Eine köstliche kleine Szene, die schon im Kinde den Sinn für politische Ereignisse uund die Kampfnatur Zu verraten scheint, hat sich durch Ueberlieferung und Weiter- erzählen erhalten: Im Jahre 1848, als die Wellen des Freiheits- kampfes bis in die stillsten Dörfer drangen, zog auch in Freven- stein ein kleines siebenjähriges Mädel, Minna Schelle, Freiheits- lieder singend, und eine Fahne schwingend, durch die Stralen. 1. Der Trols der Dorfjugend hinter ihr her. Und wenn es auch nachher für diesen Freiheitsstreich vom Vater Schelte gab. es war eine so liebevolle Schelte, die nicht weh tat! Das stille träumerische, und dann auch wieder glühend leidenschaki- liche Kind fand stets beim Vater Verständnis und Schutz. Zwischen ihr und dem Nater, der sein Amt als echter Seelsorger und Freund der Gemeinde ausübte, der wegen seiner freieren Ideen auch damals schon manches zu leiden hatte, aber durch die treueste Anhänglichkeit und Verehrung seiner Gemeinde entschädigt wurde, herrschte von Anfang an und bis zum Sterbetag des Vaters ein inniges Band. Denn gerade diese Tochter war „sein Ebenbild, nicht nur sein Kind. Als die Dorfschule nicht mehr ausreichte, um die „Pastor- deern“ mit genügender Bildung auszustatten, kam die zeit- weilige Trennung vom Heimathaus, und Minna kam in die be- nachbarte grölere Stadt in Pension. Wenn auch die Trennung von der goldenen Freiheit des Landlebens und der Kinderzeit schwer sein mochte, das kluge, begabte Mädchen fand sich schnell hinein, denn sie liebte das Lernen. Bei diesem Leben in der Pension und im Treiben der Schule trat etwas in die Erscheinung, was noch bis heute gilt: Minna Cauer wird von allen, die in ihren Kreis treten, entweder sehr geliebt, — oder sehr gehalst! Es ist die alte Erfahrung, dals es weniger aus- geprägten Naturen gegenüber verschiedene Grade der An- ziehung oder Abneigung geben kann, bei den stärksten Persön- lichkeiten, den geborenen Führernaturen, gibts nur ein Ent- weder — Oder. Auch in der Pension war die schwarzäugige „Schello“ sofort der Führer der Oppositionspartei unter den Pensionärinnen, die ihr mit leidenschaftlicher Hingabe folgten, während sie den Braven, den Gerechten, sofort zum Stein des Anstoles wurde. Wie unter den Mitschülerinnen, so erging es ihr auch mit den Lehrern. Auch hier war das begabte Kind entweder der Liebling, oder sie war wegen des aus ihr sprühen- den oppositionellen Geistes arg verdächtig! Als die Schulbildung beendet, fing in der Heimat das regelmälige Leben der Haustochter an. Die tüchtige Mutter hielt sie zu allen häuslichen und ländlichen Arbeiten an, und Minna erfüllte das alles treulich mit dem ihr innewohnenden. 6 starken Pflichtgefühl. Doch die Sehnsucht trieb sie zu den geliebten Büchern. Aber ganz heimlich nur durfte sie von den köstlichen Geistesschätzen naschen, — denn-Lesen galt ja damals für Hausfrauen und Haustöchter als arge Zeitver- schwendung! Auch ein fröhliches geselliges Leben herrschte damals im Pfarrhaus, und das junge Mädchen, das sich zu einer eigenartigen Erscheinung entwickelt hatte, deren dunkler, süd- ländischer (vpus so ganz anders war, als es in einer kleinen märkischen Stadt eigentlich erlaubt ist, fand beim männlichen Geschlecht sehr viel Verehrer, — was auf die Gefühle des weiblichen Geschlechts ihr gegenüber recht abkühlend wirkte! Frühzeitig stellten sich auch die Bewerber ein, und sehr jung verlobte sich Minna Schelle. Am 31. Oktober 1862, also einen Tag vor ihrem 21. Geburtstag, wurde sie in der Kirche von Frevenstein durch ihren Vater getraut mit Dr. August Latzel, einem jungen Arzt, dem sie nach der benachbarten Stadt Meinburg i. d. Mark folgte. In der kurzen Zeit dieser Ehe, — der Gatte starb bereits am 17. Juni 1866, also nach kaum 4 Jahren — hat die junge Frau Höhen und Tiefen eines Frauenschicksals durchmessen müssen, — aber der Gang durch die Tiefen überwog. Am 14. Sept. 1863 wurde ihr ein Söhnchen geboren, und am 25. Dez. 1865, gerade am Weihnachtstag, mulste sie es wieder hergeben. Trotz heilsen Ringens verzweifelter Mutterliebe fiel das Kind einer tückischen Krankheit zum Opfer. In die Zeit dieser Ehe fällt auch der Krieg mit Dänemark 1864. Der Gatte multe hinaus ins Feld, und so multe auch sie um ihr Vaterland all die Schmerzen der vielen tragen, die um geliebte Leben bangten.¹ Des Gatten Leben wurde seit 1864 durch schwere Krankheit verwüstet, so dals der Tod, so grausam das Scheiden vom Leben in der Jugend auch scheint, als Erlöser wirkte. Gerade die Leiden und Schmerzen dieser Ehe aber haben Minna Cauer einen Teil von dem gegeben, was ihr heute das Frauengeschlecht zu danken hat. Denn es ist eben etwas ganz anderes, ob man sich nur theoretisch in das Leid und den Kampf der Frau versenkt, oder ob man mit eigenem Herzblut alles durchlebt und durchlitten hat. Noch heute spürt man in MinnaCauersWWirken das heille, leiddurchzitterte Mitempfin- 7 den gerade bei all den Fragen, die das Frauenleben in seiner innersten Tiefe berühren, d. h. bei all den Problemen, die in den Worten „Ehe und Kind“ verborgen ruhen. Eine tiefe Tragik lag über der Gestalt der jungen Frau, deren Leben, trotzdem sie erst 25 Jahre war, wie zerbrochen schien. Gewil, das Waterhaus mit all seiner Wärme und Liebe stand ihr offen, aber es lag doch ein so groler Zug nach Selbständigkeit in ihrer Natur, dals es ihr unmöglich schien, das Leben als Haustochter dort wieder aufzunehmen. Sie blieb in Berlin, und machte dort ihr Examen als Lehrerin. — In jener Zeit, als die Berufstätigkeit der Frauen der bürger- lichen Kreise noch ein sehr umstrittenes Gebiet war, be- durfte es eines kraftvollen Entschlusses und des Überwindens zahlreicher Vorurteile, um sich als Frau wiederum auf die Schulbank zu setzen und sich für einen Broterwerb vorzube- reiten. Aber noch ein stärkerer Bruch mit alten Traditionen, ein Bruch mit dem ganzen bisherigen Leben überhaupt trat ein. Im Jahre 1868 falte die junge Mitwe den Entschlul, nach Paris zu gehen. Sie wollte die Brücken hinter sich abbrechen; nichts sollte mehr an die Vergangenheit erinnern. und ein anderes Land, neue Eindriicke sollten ihr helfen, das schwer zu tragende Schicksal zu überwinden. Es war freilich ein völlig anderer Rahmen, in dem das Leben sich nun abspielte. Sie fand nach vielem Suchen und Mühen, nach vielen Stunden bangster Einsamkeit im frem- den Land eine Stellung als „Institutrice“ in einem sehr reichen Pariser Hause. Die Frau des Hauses war gemütskrank; die junge Deutsche hatte nicht nur die beiden Töchter von 14 und 12 Jahren zu unterrichten, sondern sie hatte zugleich Reprä- sentationspflichten für einen grolen, kinderreichen Haushalt mit lebhafter Geselligkeit zu übernehmen. Der Unterricht an die Töchter war natürlich dadurch noch erschwert, dal er in französischer Sprache erteilt werden multe. Der ganze Tag war durch Stundengeben und Repräsentationspflichten aus- gefüllt. nachts sals dann die junge Lehrerin in ihrem Zimmer, um sich auf den Unterricht am nächsten Tage in schweren wissenschaftlichen Fächern und in einer fremden Sprache vor- zubereiten. 8 Aber trotz der schweren Berufspflichten, die nur mit Aufbietung aller Kraft bewältigt werden konnten, bildet dieser Pariser Aufenthalt ein Blatt im Buche ihres Lebens, das MinnaCauer noch heute gern und freudig wieder aufschlägt. Das grole, strahlende Paris, das damals im Zeichen von Napoleon und Eugenie stand, und die führende Stadt der Welt war, konnte seinen Eindruck auf einen intelligenten, lebhaft empfindenden und trotz aller Schicksalsschläge jungen Geist nichtverfehlen! Sie fühlte das pulsierende Leben der Grolstadt mit, in der die Geschicke der Welt entschieden wurden; sie lernte die feinste, geistreiche französische Geselligkeit kennen; sie wurde wegen ihrer Anmut geliebt und gefeiert. Nur ihre Liebe zur deutschen Heimat, ihr starkes patriotisches Emp- finden wurde sehr oft tief verletzt, wenn sie fühlen mulste, wie geringschätzig man auf das arme deutsche Volk in seiner trostlosen politischen. Zerrissenheit herabblickte. Dals so schnell ein Wandel in der Weltgeschichte eintreten würde, wer konnte vor 1870 das auch nur ahnen!*) Nachdem die junge Lehrerin infolge veränderter privater Verhältnisse in dem französischen Hause, und auch infolge der sich zuspitzenden politischen Lage die Stellung in Paris auf- gegeben hatte, nahm sie eine Stellung als Lehrerin an einer Mädchenschule in Hamm i. Westf. an. Hier bereitete sich ein neuer, wichtiger Lebensabschnitt für sie vor. Sie wurde dort erst in amtlicher Weise, dann aber auch persönlich mit dem Direktor des dortigen Gymnasiums, Eduard Cauer, bekannt, dem Geschichtsforscher und erfasser der berühmten Ge- schichtstabellen, der sie schliellich bat, seinem verwaisten Hause die Hausfrau, seinen 5 Kindern die Mutter zu ersetzen. An ihrem 28. Geburtstage, am 1. Nov. 1869, wurde sie in der heimatlichen Kirche zu Freyenstein durch den Vater mit ihm getraut. Es folgten reiche schöne Jahre einer Ehe, die durch die seelische und geistige Übereinstimmung verklärt war. Die junge Frau blickte zu dem 17 Jahr älteren Manne in warmer *) Vergl.: Pariser Eindrücke vor dem Kriege von 1870. Von Minna Cauer. (Das freie Volk, 24. Sept. 1910). 9 Verehrung auf. Er in seiner abgeklärten, von Goetheschem Geiste erfüllten Weltanschauung wurde in vielem ihr Führer, aber er achtete auch die starke, eigenartige Persönlichkeit seiner jungen Frau. Die Ehe brachte selbstverständlich auch schwere Pflichten mit sich, denn es mulste ein groler Haushalt mit vielen Repräsentationspflichten geführt werden, es galt die schwere Aufgabe zu lösen, das Vertrauen von 5 Stiefkindern, die teilweise nur wenig jünger waren, zu erwerben. Zunächst in Hamm, später in Danzig, wo Eduard Cauer Direktor eines Knabengymnasiums war, zuletzt in Berlin, wo er bis zu seinem Tode die Stellung als Stadtschulrat bekleidete, spielte sich dieser wichtige, inhaltreiche Lebensabschnitt ab. Durch ihren Mann trat MinnaCauer in dieser Zeit auch in Beziehungen zu dem führenden Kreise liberaler Politiker. Es wurde im Cauerschen Hause nicht nur die Geschichte der Wergangenheit, sondern auch die Geschichte der Gegenwart, das. ist die Politik, eifrig gepflegt. Mit brennendem Anteil folgte Minna Cauer von jeher allen politischen Ereignissen, und ihr Sinn für geschichtliches Forschen, ihr glühender Eifer für eine freiheitliche Entwicklung des Volkslebens fand hier in dieser Ehe tiefstes Verständnis und reiche Nahrung. Auch zu dem Kreise freiheitlich gesinnter Geister, die dem Hause des da- maligen Kronprinzen nahe standen, und so viel, ach so viel für eine freiere Ausgestaltung des Deutschen Reiches von „unserm Fritz“ erhofften, trat sie durch ihren Gatten in Beziehung.*) Doch kaum 12 Jahre war MinnaCauer das Glück dieser reichen, auf geistiger Höhe stehenden Ehe gewährt; am 29. Sept. 1881 wurde ihr der Gatte nach schwerem Leiden, in dem sie ihn mit hingebender Treue gepflegt, durch den (od entrissen. Nun stand sie wieder allein auf der Welt, — noch ein- samer als damals, wo sie zum erstenmal Witwe wurde. Denn. auch das geliebte Vaterhaus konnte sich ihr nun nicht wieder öffnen. Der Vater war bereits im Jahre 1874 gestorbem nachdem er über 42 Jahre sein Seelsorgeramt in Treue ver- waltet hatte. Jetzt schien es wirklich so, als sollte für Minna Cauers Leben nun dauernd das Wort Geltung haben: *) Vergl. den Artikel „Kaiserin Friedrich“. S. 79 dieses Buches. 10 „Ich zieh' mich in mein Innres still zurück, Der Schleier fällt.“ Es folgten 7 Jahre, über denen es wie ein dunkler Schatten von Einsamkeit und Trauer liegt. Nur die Arbeit. die sie immer geliebt hatte, wurde auch jetzt ihr Irost und Halt. Sie nahm ihre Tätigkeit als Lehrerin teilweise wieder auf und gab zahlreiche Privatstunden, hauptsächlich in Sprachen. und in Geschichte. Daneben aber lockte sie ein Feld der Tätigkeit ganz besonders: das Suchen und Forschen in Ge- schichtswerken. In EduardCauers Tagebuch hatte sie nach dessen Tode einen Ausspruch gefunden, der sie tief und eigen- artig berührte: „Die Geschichte der Frau ist noch nicht ge- schrieben“, so heilt es darin, „sie muls einmal geschrieben werden, aber sie erfordert die Hingabe eines ganzen Men- schenlebens.“ Minna Cauer traute es sich damals freilich nicht zu, selbst diese Aufgabe erfüllen zu können, aber es lockte sie. der Geschichte der Frau, soweit sich nur irgend Spuren in den geschichtlichen Werken und Dokumenten finden lielen, zu folgen. Kleine Skizzen in historischer Beleuchtung sollten dann vielleicht Bausteine bilden für späteres Weiter- arbeiten. Aber das Schicksal hatte es anders bestimmt. Im Jahr 1888 trat der grole Wendepunkt in ihrem Leben ein, dals sie, — ganz gegen ihren Willen! — aus ihrer stillen Witweneinsamkeit hinausgezogen wurde in das öffentliche Teben. Immer war und blieb und ist noch heute die stille Forscherarbeit Minna Cauers liebste Arbeit, nach der sie sich immer, immer hinsehnt aus dem lauten Gewühl des Tages. Aber es traten eben grole andere Aufgaben an sie heran, denen sie sich hingibt aus einem heiligen, innern Muld heraus, wie es nur aus der Hingabe an eine grole Idee ent- springt. Die „Geschichte der Frau“ ist noch heute unge- schrieben, und Minna Cauer war es nicht mehr vergönnt. durch ihre Forschungen in alten Büchern Bausteine zu dieser Geschichte herbeizutragen. Das Schicksal hatte sie zu einer andern Aufgabe ausersehen: Sie selbst durfte mitwirken am lebendigen Fortgang der Geschichte der Frau! Wenn einst spätere Forscher die Geschichte der Frau um die Jahrhundert- wende des 19. zum 20. Jahrhundert hin schreiben, dann wer- 11 den sie überall den starken Einschlag finden, den Minna Cauer der Geschichte der Frau in dieser Zeitepoche ge- geben hat. II. Die Gründung des Vereins Frauenwohl in Berlin im Jahre 1888 bedeutet einen Wendepunkt für die deutsche Frauenbewegung und einen Wendepunkt in Minna Cauers Leben. Schon in der Zeit ihrer Ehe, also in den 70 er Jahren, hatte ihr Gatte gelegentlich versucht, sie für die Frauenfrage, namentlich für die Bildungsbestrebungen, die ihm nach seinem Berufe am nächsten lagen, zu interessieren. Aber die deutsche Frauenbewegung, oder vielmehr das Vereinswesen der Frauen, dem im damaligen Stadium etwas Enges anhaftete, stiel einen so eigenartigen, freiheitlichen Geist, wie Minna Cauer von jeher war, eher ab. Nur ein Buch fesselte sie damals: „Der Frauen Natur und Recht“, von Hedwig Dohm. Aber dies Buch wurde von den damaligen Führerinnen der Frauenbe- wegung als zu radikal und extravagant abgelehnt.*) In der Zeit ihres stillen Forschertums hatte sich dann freilich ihr Freiheitsgefühl und all ihr Gerechtigkeitsgefühl oft heild empört ob all der Unbill und Unterdrückung, die dem Frauengeschlecht durch Jahrtausende hindurch zugefügt, — aber nie war ihr der Gedanke gekommen, dal sie selbst zu einer Kämpferin gegen dies Unrecht werden könnte. Die Anregung zur Gründung des Vereins Frauenwohl ist von Männern ausgegangen. In Berlin war von freiheitlich und fortschrittlich gesinnten Männern eine „Deutsche Aka- demische Vereinigung“ gebildet worden, und einige der füh- renden Persönlichkeiten dieser Vereinigung hatten den Wunsch, auch die Frauen zu einer Betätigung in freiheitlichem und fortschrittlichem Sinne heranzuziehen. Die damaligen Ver- eine der Frauenbewegung schienen ihnen für diese Art der Betätigung nicht geeignet, denn die deutsche Frauenbewegung *) Vergl.: Aus meinen Lehrjahren. Von Minna Cauer. (Das freie Volk, 18. Dez. 1909). . 12 war in den 70er und 80 er Jahren trotz eifriger Klein- arbeit der Einzelvereine tatsächlich in eine gewisse Stagnation gesunken. Es fehlte der Zusammenhang durch grole ein- heitliche Organisationen, es fehlte die klare Herausarbeitung eines einheitlichen Programms, es fehlte ein groles, Be- geisterung erweckendes Ziel. Der Verein Frauenwohl war zunächst als Frauengruppe der Akademischen Vereinigung gedacht, und wurde zunächst auch so, d. h. in festem Zu- sammenhang mit dem Männerverein, organisiert. Erst nach einigen Jahren gab sich der Verein seine selbständige Form. Die Männer, die damals den Frauen eine so grole, schöne Aufgabe zuweisen wollten, neues Leben in die Frauenbewegung und damit in das gesamte öffentliche Leben zu tragen, hatten grolde Mühe, die geeigneten Kräfte zu finden. Mehrere der Frauen, die damals an der Spitze von Frauenvereinen in Berlin standen, lehnten die Mitarbeit an der neuen Gründung ab; meist gaben sie Überlastung als Grund an, aber der wahre innere Grund war wohl, dals sie dieser neuen Vereinsbildung kein Vertrauen entgegenbrachten. Nach vielem Drängen und Bitten und un- willig, zögernd erklärte sich schliellich Minna Cauer be- reit, die Leitung anzunehmen, — fünf Personen fanden sich zur Unterstützung ihrer Arbeit. Aus diesem kleinen Kreis ent- stand der Verein Frauenwohl, dem es in kurzer Zeit gelang. sich eine geachtete, aber auch viel bekämpfte Stellung im öffentlichen Leben zu erringen. Die Jahre, die nun folgten, von 1888 bis zur Gegenwart. bedeuten für Minna Cauers Leben Arbeit, rastlose Arbeit. oft weit über ihre Kräfte hinaus; sie bedeuten aber auch Kampf, schweren Kampf gegen Hindernisse aller Art. wie er niemandem erspart bleibt, der neue Wege bahnt. Worin unterschied sich die Wirksamkeit des von ihr geleiteten Vereins Frauenwohl von der bisher geübten Art der Wereinstätigkeit? Hier ist ein kurzer Rückblick notwendig auf die Eintstehung der organisierten bürgerlichen Frauenbewe- gung in Deutschland in den sechziger und siebziger Jahren. Bereits damals lielen sich zwei Strömungen unterscheiden: die rein auf praktische Ziele gerichteten Frauen-Erwerbsver- eine, die zwar den Frauen des Mittelstandes bessere Ausbil- 13 dungsmöglichkeiten eröffnen wollten, sich aber zum Teil sogar dagegen verwahrten, die Emanzipationsbestrebungen der Frauen zu unterstützen. Demgegenüber stellte der 1865 gegründete AlIgemeine Deutsche Frauenverein die radikalere Richtung dar; denn er wollte neben der praktischen Tätigkeit seiner Orts- gruppen auch der Idee der Frauenbewegung dienen und strebte auch eine Erweiterung der Frauenrechte an. Allmählich. aber war die praktische Kleinarbeit auch im Allgemeinen Deutschen Frauenverein das Überwiegende geworden, der Kampf für die Idee in den Hintergrund getreten, es fehlte ein groles Ziel, das die Kraft stählte und zu gröleren Aktionen anspornte. Hier bahnte nun der Verein Frauenwohl unter dem Ein- fluls seiner Vorsitzenden neue Wege des Vorgehens an. Er wollte, wic es in dem von MinnaCauer erstatteten Bericht der ersten Generalversammlung 1889 heilt, kein Verein sein, „„der nur gründen will, um sich dann in sein kleines Nest des Gegründeten wohlgefällig einzuschlielen“, nein, er wollte die Idee der Frauen- befreiung propagieren, er wollte umwälzend auf die Gemüter und altlergebrachte Anschauungen wirken, er wollte den Kampf ums Recht der Frau mit allem Nachdruck und auf allen Gebieten führen. Vor allem aber war von jeher in Minna Cauer der Sinn für geschichtliches und politisches Werden S0 stark entwickelt, dal) sie auch die Frauenbewegung nur unter diesem Gesichtspunkt zu sehen vermochte. Ihr stand von Anfang an das Ziel im Auge, dal die Frau ein politi- scher Faktor für die Eintwicklung ihres Vaterlandes wer- den mülte, und all ihr Wirken ging und geht noch heute dar- auf hin, die Frauen einzugliedern als vollberechtigte Bürgerinnen in den Staatsorganismus. So kann der Verein Frauenwohl die Ehre für sich in Anspruch nehmen, dal er als erster Verein der bürgerlichen Frauenbewegung i. J. 1894 eine öffentliche Versammlung veranstaltete mit dem Thema: „Die Bürgerpflicht der Frau“, in welcher die Forderung des Frauenstimmrechts energisch vertreten wurde. Jetzt, wo der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht ein ganzes Netz von Lokalvereinen über ganz Deutschland gezogen hat, kann man sich kaum noch vor- stellen, welche Kämpfe damals die Leiterin der Versammlung, 14 Minna Cauer, und die Rednerin Lily v. Gyzicki, um dieses Vorgehens willen zu bestehen hatten. Die Einsicht, wie notwendig die Frauen politischer Rechte bedürfen, veranlalte Minna Cauer auch, zusammen mit zwei anderen Frauen, Lily v. Gyzicki und Adele Gerhard, im Jahre 1895 die erste Petition aus bürgerlichen Frauen- kreisen um das politische Vereinsrecht einzureichen „3 ganze bürgerliche Frauen“, wie die Sozialdemokratie da- mals spottend sagte, fanden den Mut zu dieser Forderung, die erst allmählich auch von der organisierten Frauenbewe- gung aufgenommen wurde. Im Jahre 1908, also 13 Jahre nach dieser ersten Petition, kam die Erfüllung durch das neue Reichsvereinsgesetz. Will man Ideen durchsetzen, so müssen diese Ideen auch getragef werden durch starke planmällige Organisatio- nen. Das war ein anderer Gedanke, der Mina Cauer bei ihrem Wirken von Anfang an beseelte und der sie vielfach. in Gegensätze und Kämpfe zu den übrigen Vertreterinnen der Frauenbewegung brachte. Denn das Wesen der Organisation, d. h. der Sinn für Ordnung, der, wenn's sein mul, auch Ein- ordnung und Unterordnung verlangt, war und ist bei der deutschen Frauenwelt leider noch schwach entwickelt. Zu- nächst versuchte Minna Cauer für die Ideen, die der Ver- ein Frauenwohl vertrat, auch in der Provinz Stützpunkte zu finden. Ende der achtziger und in den neunziger Jahren erfolgt eine rege Vortragstätigkeit. Unermüdlich ist sie auf Reisen, oft unter schwersten körperlichen Mühen, denn ihre Gesund- heit ist nur zart, um auch in der Provinz für das Recht der Frau Mitkämpfer zu gewinnen. In einer ganzen Reihe von Städten gelingt es, Schwestervereine zu bilden, die — ähnlich wie der Verein Frauenwohl — den Nachdruck auf die Propa- gandatätigkeit in fortschrittlichem Sinne legen. Das Organisationstalent von Minna Cauer bewährte sich in diesen Jahren noch an einer anderen Stelle: Sie gehörte zu den Mitbegründerinnen der ersten Berufsorganisation bür- gerlicher Frauen, dem „Kaufmännischen Hilfsver- ein für weibliche Angestellte“ (etzt: Kaufmänni- scher erband für weibliche Angestellte, Sitz Berlin). Ein 15 tatkräftiger Kaufmann, Julius Meyer, der die Idee zu dieser Organisation gefalt hatte, wandte sich 1888 an den Werein Frauenwohl, um die Mitarbeit von Frauen aus diesen Kreisen zur Unterstützung der Arbeit der weiblichen Handels- angestellten selbst zu gewinnen. Minna Cauer hat dieser Organisation fast 20 Jahre hindurch eine Fülle von unermüdlich treuer Kleinarbeit gewidmet; aber auch führend und fördernd durch starke Initiative trug sie viel dazu bei, diesen Verband zu einer der bedeutendsten und vorbildlich gewordenen Berufs- organisationen auszugestalten. Vielen der jungen Mädchen, die sich dort zusammenfanden, trat sie auch persönlich nahe und wirkte tief auf sie ein. Sie gab in zahlreichen Vorträgen den be- rufstätigen Frauen ihr Bestes, sie war fröhlich mit ihnen bei ihren geselligen Veranstaltungen, aber sie ging auch zu ihnen, wenn sie krank daheim oder in Krankenhäusern lagen und hat an manchem Lager gestanden und Blicke tiefster Dankbarkeit aus sterbenden Augen empfangen. Wie sie dort den erwerbstätigen Mädchen und Frauen durch Schaffung einer starken Organisation in ihrem schweren wirtschaftlichen Kampf zu helfen suchte, so versuchte sie anderseits, denjenigen Frauen und Mädchen, die nicht zum Broterwerb gezwungen waren, Lebensinhalt und Vertiefung durch soziale Arbeit zu schaffen: Die später von Jeanette Schwerin und jetzt von Dr. Alice Salomon geleiteten „M àd- chen- und Frauengruppen für soziale Hilfs: arbeit“ verdanken der Initiative von Frau Cauer Anfang der neunziger Jahre ihre Entstehung. Schliellich sei hier eingeschoben, dals sich das Organi⸗ sationstalent Minna Cauers auch bei dem auf Anregung von Lina Morgenstern im Jahre 1896 nach Berlin ein- berufenen Internationalen Frauenkongrel bewährte, zu dessen Gelingen sie als 2. Vorsitzende sehr grole Dienste leistete. Eine wichtige Etappe für die Entwicklung der deutschen Frauenbewegung bildete die 1894 erfolgte Gründung des Bundes deutscher Frauenvereine. Nun hoffte Minna Cauer, dal hier die von ihr ersehnte grolzügige, einheitliche Organisation für die deutsche Frauenbewegung geschaffen würde. Der Verein Frauenwohl-Berlin suchte unter — 16 ihrer Agide von Anfang an auf eine planvolle Organisation des Bundes hinzuwirken. Bereits zur Grindung wurde ein von Minna Cauer und Elvira Castner ausgearbeiteter Orga- nisationsplan vorgelegt; die Annahme scheiterte an dem Wider- stand der älteren Richtung, und die Hoffnung. dals der Bund eine klare und grolzügige Organisation darstellen würde. wird getäuscht. Im Gegenteil! Gerade auf den Tagungen des Bundes deutscher Frauenvereine treffen die Gegensätze ZWi- schen der älteren und der neueren Richtung besonders hart, zusammen. In manchen Fragen, so namentlich in dem Kampf der Frauen um Ausgestaltung des Bürgerlichen Gesetzbuches in den Jahren 1895 und 96, wo auch der Verein Frauenwohh eine führende Stellung einnahm, gelingt es, zu einem schönen, grolszügigen Zusammenarbeiten zu kommen. In anderen Fra⸗ gen, namentlich bei Organisationsfragen für den Bund deut- scher iFrauenvereine, ebenso in der Sittlichkeitsfrage. wo Minna Cauer als eine der ersten in Deutschland für die Ideen der Internationalen abolitionistischen Föderation eintrat. kommt es zu schweren Kämpfen. Jedoch der Kampf stählt die Kräfte. Um Minna Cauer sammelte sich eine kleine Schar von Mitarbeiterinnen, die ge- rade ihrer Art zu wirken begeistert folgten, — es bildete sich ein linker Flügel innerhalb der deutschen Frauenbewe- gung, der seine feste Organisationsform in dem 1899 gegrün⸗ deten Verbande Fortschrittlicher Frauenvereine fand, dessen Hauptglied der Verein Frauenwohl-Berlin ist. Die Haupt- tätigkeit Minna Cauers in den Jahren 1899 bis 1907 liegt im Verein Frauenwohl-Berlin und im Verbande Fortschrittlicher Frauenvereine. In der Leitung des Verbandes wirkten Schulter an Schulter mit ihr in treuer Arbeit eine Reihe der stärksten Persönlichkeiten der deutschen Frauenbewegung, die dieser Organisation ein eigenartiges kraftvolles Gepräge gaben. Aller- dings bilden sich in einer Gemeinschaft besonders starker Per- sönlichkeiten auch leicht starke Gegensätzlichkeiten heraus. die mit. der Zeit ein Auseinanderleben, ein Auseinandergehen der Arbeitsgebiete bedingen. Der Verband Fortschrittlicher Frauenvereine stand ebenso wie vorher der Verein Frauenwohl unter dem Zeichen des Kamp- 2 17 fes; für die Vertreterinnen in der Provinz gehörte oft gerade- zu Mut dazu, ihre Zugehörigkeit zu diesem Verband zu beken⸗ nen. Aber trotz allem errang sich der Verband wenn auch nicht die Liebe, so doch die Achtung aller — auch der Geg- ner. „Vorbildlich sind seine Tagungen geworden, auf denen statt des ermüdenden Vielerlei und manches Kleinkrams an⸗ derer Frauentage stets nur die grölten prinzipiellen Fragen von hervorragenden Rednern und in hochstehenden Diskus- sionen erörtert wurden. Neue schwere Probleme, an denen die meisten Organisationen zunächst mit einer gewissen Scheu vor- übergingen, wurden hier mit sittlichem Ernst zum ersten Mal in breitester öffentlichkeit aufgerollt. Von solchen Proble- men nennen wir hier nur die gewerkschaftliche Arbeiterinnen- frage, die Sittlichkeitsfrage, den Schutz des unehelichen Kin- des, Eheprobleme, das Bevölkerungsproblem. Einen einschneidenden Wandel in der Geschichte des Fortschrittlichen Verbandes bedeutet die Generalversammlung 1907 in Frankfurt a. M. Der Verband war 1899 in einer ge- wissen Kampfstellung zum Bunde deutscher Frauenvereine ge- gründet worden; 1907 beschlol die Mehrzahl der Delegierten, dal sich der (erband ddem Bunde anschlielen solle. Nicht mehr mit der Kritik von aulen, sondern durch Mitarbeit inner- halb des Bundes sollte er den Bund in fortschrittlichem Sinne zu beeinflussen suchen. Dieser Beschlul entsprach der Entwicklung des Bundes. Manche Gegensätze, die frü- her zu scharfer Kampfstellung zwischen der älteren und neueren Richtung geführt hatten, waren ausgeglichen; auf vielen wichtigen Gebieten, z. B. in der Sittlichkeitsfrage, Strafrechtsreform, in sozialpolitischen Fragen usw., gelingt es, im Bunde eine einheitliche Stellungnahme aller Richtungen zu erzielen; in der heil umstrittenen Organisationsfrage War man wenigstens zu einem Kompromils gekommen, das entschieden ein Entgegenkommen an die Fortschrittlichen bedeutet. An- gesichts dieser Lage befürwortete Minna Cauer selbst den Anschluls des Verbandes an den Bund und die überwiegende Mehrzahl der Delegierten stand hinter ihr. Sie aber legte trotzdem gleichzeitig den Vorsitz nieder, weil es sich ihrer Auffassung nach nicht mit ihrer Wergangenheit vertrug, und 18 nicht mit ihrer Persönlichkeit, die jederzeit Freiheit zum Kampfe brauchte, in Einklang stand, diese neue, friedlichere Phase des Fortschrittlichen Verbandes mitzumachen. Diese Amtsniederlegung seiner Vorsitzenden war ein schwerer, nicht zu verwindender Schlag für den Fortschritt- lichen Verband. Doch Minna Cauers Überzeugung, dal dieser Abschluls für sie jetzt notwendig sei, war unerschütterlich. Sie schied von diesem Amt, aber sie schied nicht aus der Arbeit für die Frauenbewegung. Eine neue wichtige Aufgabe auf ihrem ureigensten Gebiete, d. h. auf dem Felde des poli- tischen Lebens, stieg für sie herauf. Durch den Rücktritt vom Fortschrittlichen „Verband zog sie sich teilweise zurück von den Arbeiten der allgemeinen Frauenbewegung, — nur als Vorsitzende des Vereins Frauenwohl-Berlin pflegt sie auch diese Bestrebungen nach wie vor unermüdlich weiter — un sich desto rückhaltloser für die politische Seite der Frauenbewegung, d. h. für die Erlangung des Frauenstimm- rechts einzusetzen. Wie schon gesagt, war der VVerein Frauenwohl-Berlin der erste bürgerliche Frauenverein gewesen, der die Forde- rung des Frauenstimmrechts vertreten hatte, und später war der ganze Kreis, der sich im Verbande Fortschrittlicher Frauen- vereine um Minna Cauer scharte, davon durchdrungen, dal das Frauenstimmrecht durchaus nicht die Krone, sondern im Gegenteil die Wurzel der ganzen Frauenbewegung sei, da nur mit Hilfe des Frauenstimmrechts Aussicht bestände, die Forderungen der Frauen auf den verschiedensten Gebieten in den Parlamenten durchzusetzen. Diese Auffassung, dal das Frauenstimmrecht nicht ein fernes, platonisch geliebtes Ziel sein dürfe, sondern das A und O des Kampfes bilden müsse, war einer der hauptsächlichsten prinzipiellen Unterschiede zwi- schen der älteren und der jüngeren Richtung der hrauenbewe. gung. Aber es war schwer, für dies A und O der Frauenbewegung tatkräftig zu wirken, da es lange Zeit unmöglich schien, die notwendigen Träger für den Kampf, d. h. die Organisationen. zu schaffen. Die rückständigen einzelstaatlichen Vereinsge- setze, namentlich in den grölten Bundesstaaten Preulsen und Bayern, verboten den Eintritt der Frauen in politische Ver- 2* 19 eine, — und jeder Stimmrechtsverein, der doch politisch sein mulite, wäre der Auflösung verfallen. Da kam um die Weih- nachtszeit 1901 Dr. jur. Anita Augspurg auf den Ge⸗ danken, den Sitz der Organisation in einen Bundesstaat Zu legen, der diese gesetzlichen Beschränkungen nicht hatte. So wurde Hamburg zum Sitz des Verbandes, — aber Mitglieder aus ganz Deutschland wurden selbstverständlich aufgenommen. In Süddeutschland, wo gleichfalls freiere Vereinsrechte be- standen, bildeten sich denn auch bald eigene Stimmrechts- vereine. Es war selbstverständlich, dal3 Minna Cauer von Anfang an diese Stimmrechtsbewegung auf alle Weise ge- fördert hat. Sie war unter den Personen, die den ersten Vor- stand bildeten, sie förderte die junge, mit vielen Hindernissen kämpfende Bewegung vor allem dadurch, dal die von ihr herausgegebene Zeitschrift „Die Frauenbewegung“ Publika- tionsorgan des Verbandes wurde und unerschütterlich für des- sen Prinzipien eintrat. Aber trotzdem der Stimmrechtsbewe- gung in Deutschland entschieden Erfolge sofort vom Bestehen an vergönnt waren, konnte die rechte, planmälige Arbeit der Organisation und Agitation, namentlich in Preulen, doch erst beginnen, nachdem die vereinsrechtlichen Beschränkungen ge- fallen waren. Im Frühling 1908 trat an die Stelle der vielen einzelstaatlichen Vereinsgesetze das neue Reichsvereinsgsetz. Wenn dies Gesetz auch durchaus nicht alle Forderungen frei- heitlich gesinnter Politiker erfüllt, so brachte es doch den einen Fortschritt mit sich, dal es den Frauen die Bahn frei machte für die politische Betätigung. Seit dem Frühjahr 1908 kann man also erst von einer planmälligen organisierten Stimm- rechtsbewegung in Preulien sprechen, — und heute hat es der Preulische Landesverein bereits auf mehr als 3000 Mit⸗ glieder gebracht, die in 30 Ortsgruppen organisiert sind. Als Zwischenglieder zwischen der Zentralleitung des Preulischen Landesvereins und den Ortsgruppen besteht für jede der 12 preulsischen Provinzen ein Provinzialverband, wodurch die Ar- beit dezentralisiert und den besonderen Bedürfnissen der ver- schiedenen Landesteile angepalit werden kann. Gewilz, die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse waren der Entwicklung des Preul). Landesvereins für Frauen- 20 stimmrecht günstig, — gewil, in Berlin und in den Provinzen ist eine grole Schar von Frauen mit Begeisterung und Hin- gabe für den Preullischen Landesverein für Frauenstimmrecht tätig, — aber gerade die grole Zahl treuer Mitarbeiterinnen und Gesinnungsgenossen in allen 12 Provinzen wird voll da⸗ von durchdrungen sein, dal der Vorsitzenden des Preulischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, Minna Cauer, ein Hauptverdienst an dieser schnellen grolartigen Entwick- lung zu danken ist. Wieder nahm sie die anstrengende Arbeit der Vortragsreisen auf sich, wie einst zur Zeit der Gründung der Schwestervereine Frauenwohl. Wo ein Provinzialverein sie bat, da folgte sie diesem Rufe. Im Winter 1910/11 z. B. hat sie etwa 50 Vorträge in allen Teilen Preulens gehalten. Kaum eine einzige Frauenrechtlerin in Deutschland kann ihr eine gleich intensive Propagandatätigkeit an die Seite stellen. Diese Wander-Vortragstätigkeit, die den anstrengendsten und schwersten Teil jeder Agitationsarbeit bildet, übernahm sie als hohe Sechzigerin; diese aufreibende Arbeit im Dienste einer grolien Idee lud sie auf sich bei einer durchaus nicht starken Gesundheit. Sie wirkt auf diesen Reisen oft bis zum Zusammenbruch vor Erschöpfung, und nur ihre kolos- sale Willenskraft hält sie aufrecht. „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“, kann man auch von ihr sagen. Aber mit dieser Vortragstätigkeit ist die Arbeit für die Stimmrechtsbewegung wahrhaftig nicht erschöpft. Unermüd- lich werden von ihr von Berlin aus die Provinzialvereine mit Rat und Tat durch Aussenden auch anderer Rednerinnen, mit Opfern an Zeit, Kraft und auch Geld auf alle nur denkbare Weise zu fördern gesucht. 21 In den Organisationen,, Verein Frauenwohl, Verband Fortschrittlicher Frauenvereine, Preulsischer Landesverein für Frauenstimmrecht, liegt der äulere Rahmen kür Minna Cauers Lebenswerk in den letzten 23 Jahren. Aber das Beste, Tiefste und Nachhaltigste ihres Wirkens liegt trotz alledem nicht in der Arbeit für diese Organisationen, son- III dern in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift „Die Frauenbewegung“. In diesem Blatte liegt ihre Lebens- arbeit, in diesem Blatte kommt ihre ganze starke und eigen- artige Persönlichkeit zum Ausdruck, dies Blatt stellt ihr lieb- stes Geisteskind dar. Das Blatt wurde im Jahre 1895 gegründet; von Anfang an war Minna Cauer die Herausgeberin, von der zweiten Mummer des ersten Jahrganges an trat auch Lily v. Gyzicki in die Redaktion ein, doch schied diese bereits im Jahre 1896 infolge ihres Übertritts zur sozialdemokratischen Partei wieder aus. Die Grüindung des Blattes wurde finanziell dadurch er- möglicht, dals eine Reihe von Vereinen es als Publikations- organ annahmen und die obligatorische Lieferung an alle ihre Mitglieder einführten. Aber das Blatt ist kein „Vereinsblatt“, wie es deren viele, allzu viele gibt. Der starke, freiheitliche Stempel, den seine Herausgeberin ihm aufdrückt, ist vielen Wereinen, die alle möglichen Rücksichten auf ihre Mitglieder nehmen wollen, oft zu stark. Nur eine Minderheit von VVer- einsvorständen ist es, welche die Bedeutung des Blattes zu würdigen wissen, und ihm trotz Konflikten, trotz Schwie- rigkeiten dauernd die Treue wahren. So hat das Blatt immer mehr den Charakter eines ereinsblattes, der ihm anfangs infolge der vielen Vereinsberichte noch anhaften multe, ver- loren und ist mehr und mehr ein unabhängiges Blatt geworden, das unerschrocken und durch keinerlei Engherzigkeit oder ängstliche Rücksichtnahme gehemmt, für eine freiheitliche und fortschritttliche Entwickelung auf allen Gebieten kämpft. In den Leitartikeln dieses Blattes hat Minna Cauer im Laufe der Jahre ihre edelsten und tiefsten Gedanken niederge⸗ legt. Sie werfolgt in diesem Blatte alle Erscheinungen des öffentlichen Lebens und nimmt zu ihnen vom Standpunkt der fortschrittlichen Frauenbewegung aus Stellung. „Die Frauenbe- wegung“ ist aber durchaus kein einseitig frauenrechtlerisches Blatt, sondern immer und immer behält Minna Cauer die grollen geschichtlich-phiſosophischen Gesichtspunkte im Auge, und auch alle Erscheinungen innerhalb der Frauenbewegung durchforscht sie darauf hin, wie sie sich in die gesamte grole Kulturbewegung unserer Zeit einfügen. 22 Im 2. Teil dieses Buches wird eine Auswahl ihrer Artikel geboten. Die Auswahl ist hauptsächlich nach dem Gesichts- punkt hin getroffen, Artikel zu wählen, welche Minna Cauers Gedankenwelt zur Frauenfrage, sowie zum sozialen und poli⸗ tischen Leben besonders klar widerspiegeln. In demselben Sinne fügen wir auch eine Anzahl Aphorismen bei, — es sind einige besonders schöne, eindrucksvolle Stellen aus ihren Arti- tikeln in der „Frauenbewegung“. In der „Frauenbewegung“ machte sich von Anfang an und alle Jahre hindurch ein tiefes Verständnis für die soziale Frage geltend. In einer Zeit, als in der deutschen Frauen- bewegung noch die gemeinnützige Arbeit vorherrschend war. ja. wo auch reine Wohltätigkeitsvereine zur Frauenbewegung gezählt wurden, während sie doch in Wahrheit weit ab stehen vom Kampf ums Recht der Frau, und für diesen Kampf so- gar hemmend wirken, — bringt Minna Cauer in ihrem Blatte bereits eine durch und durch sozialpolitische Haltung zum Ausdruck. Vorbeugende grundlegende soziale Reform von Staat und Stadt wird gefordert, an Stelle der oft recht dilet- tantisch wirkenden Vereinstätigkeit, ja leider muls man oft sagen: Vereins spielerei. Besonders iempört ist Minna Cauer über die aufdringlich rohe Art der Wohltätigkeit, die Feste feiert „zum Besten der Armen“. Ergreifende Artikel über diesen Punkt kehren gerade in den ersten Jahrgängen der „Frauenbewegung“ mehrfach wieder“*). In ihrer Auffassung der sozialen Frage, wie sie in den ersienJahngängen der„Frauenbewegung“ zumAusdruck kommt, findet sich manches Wesensverwandte mit den Ideen, die da- mals durch Egidy vertreten wurden. Diese grole, sittlich starke Natur konnte trotz¹ mancher Verschiedenheiten ihren Eindruck auf eine andere grole, sittlich starke Per- sönlichkeit, Minna Cauer, nicht verfehlen. In dem schönen Nachruf, den sie ihm in der „Frauenbewegung“ 1899 widmet. heilt es: „Hingerissen von seinen tief religiösen Vorträgen in den ersten Jahren seines Aufenthalts in Berlin, und von der Kraft der Liebe, mit welcher er sein Lebensmotto vertrat: *) Vergl. S. 31 den Artikel: Gegensätze. 23 „Religion nicht mehr neben unserm Leben, — unser Leben selbst Religion“ fühlte ich mich etwas fremd ihm gegenüber, als er in das politische Gebiet hinüberging, war aber immer seine warme Anhängerin, sobald er das Menschlich-soziale be- rührte.“ Sie trat durch gemeinsame Freunde auch in persön- liche Beziehung zu ihm, und in schweren Stunden, die ihr aus ihrer Kampfstellung innerhalb der deutschen Frauenbewegung erwuchsen, war er ihr ein treuer Freund und Berater. Mit besonderer Wärme tritt Minna Cauer in ihrem Blatt von jeher für alle ein, die unter dem Drucke wirtschaft- licher Mot oder politischer Rechtlosigkeit stehen. Dem Arbei- terinnenschutz, dem Kinderschutz sind eine Reihe der schön- sten, ergreifendsten Aufsätze gewidmet*). Ohne selbst zur sozialdemokratischen Partei zu gehören, won der sie manche Fragen der Weltanschauung trennen, erkennt sie in ihrem Blatte und in ihrer ganzen öffentlichen Wirksamkeit doch stets rück- haltslos an, was diese Partei gerade für alle unterdrückten Wolksschichten leistet. Und diese gerechte, vorurteilslose Haltung bekundet sie der Partei gegenüber in einer Zeit, wo diese unter dem Druck des Ausnahmegesetzes steht, oder Wo man — wie jetzt in neuerer Zeit — immer wieder versucht, in bürgerlichen Kreisen die „Sammlungspolitik“ gegen den „Umsturz“ hervorzurufen. Für die erwerbstätigen Frauen in allen Schichten setzt sie sich ein, — und hier arbeitet sie nicht nur agitatorisch in (Wort und Schrift, sondern legt, wie schon oben gesagt, mit Hand an die schwere, undankbare Aufgabe, die Frauen in Be- rufsorganisationen zusammenzuschlielen. Gerade aus dieser praktischen Arbeit heraus erwächst ihr das Verständnis für den unlösbaren Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Not und der Sittlichkeitsfr age, zwischen Hungerlöhnen und Prostitution. In einer Zeit, als diejenigen Frauen fast gesteinigt wurden, die es wagten, in das dunkelste Gebiet, die Sittlichkeitsfrage, hinein zu leuchten, beruft Minna Cauer grole öffentliche Versammlungen zur Sittlich- keitsfrage ein, vertritt sie in ihrem Blatte diese *) „Der Meuschheit ganzer Jammer“. S. 38 dieses Buches. 24 Ideen. Einen unauslöschlichen Eindruck macht ihr 1898 der Kongrel3. der Internationalen Föderation in London. Tief wirkt auf sie die Berührung mit Josephine E. Butler, der genialen Führerin dieser Bewegung, die als erste Frau dden Kreuzzug gegen die Reglementierung der Prosti- tution auf sich genommen hatte. Sie tritt für diese in Deutsch- land damals noch stark befehdete Auffassung in der Sitt- lichkeitsfrage ein, — und wird den härtesten Verfolgungen prinzipieller und leider auch persönlicher Art gerade um dieses Kongresses willen ausgesetzt. Der Zug jedoch, der in der „Frauenbewegung“ vorherr- schend ist, ist die starke Betonung der politischen Seite der Frauenbewegung. Alle Ereignisse des voli- tischen Lebens, namentlich die Vorgänge in den Parlamenten und die Wahlen, werden in der „Frauenbewegung“ verfolgt, jedoch nicht vom Standpunkt der Frauenrechtlerin, son- dern als Staatsbürgerin nimmt Minna Cauer in ihren Leit- artikeln zu ihnen Stellung*). Hier vertritt sie eine freiheit- liche, fortschrittliche, — also liberale Weltanschauung; leider freilich decken sich die idealen Grundsätze eines echten Libe- ralismus nicht mehr mit dem heutigen Parteiwesen. Die Artike! haben ferner einen starken demokratischen Einschlag, denn sie fordern das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, und zeigen einen hoffnungsvollen Glauben an die Kraft der Völker, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Dals aus all- ihren politischen Artikeln zugleich ihr soziales Empfinden spricht, ist wohl selbstverständlich. In diesen politischen Artikeln wird oft scharfe Kritik erhoben, weil eben die Entwicklung unseres Vaterlandes nicht den hohen Idealen entspricht, wie sie die Freiheitskämpfer von 1848 in der Seele trugen, wie sie viele von denen erhofften, die unter Schmerz und Jubel die Kämpfe um die Einigung Deutsch- lands im Jahre 1870 mit durchlebt haben. Aber diese harte Kritik entspringt gerade ihrer tiefen Vaterlandsliebe, die das Waterland nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch, geistig und sittlich auf einer Höhe sehen möchte, von der *) Vergl.: „Staatsbürgerin und Frauenrechtlerin“. S. 46 dieses Buches. 25 wir allerdings noch weit entfernt sind. Diese Vaterlandsliebe hat nichts zu tun mit dem sich leider oft breitmachenden Hurra- patriotismus, sie hat auch nichts zu tun mit chauvinistischer Ablehnung der Vorzüge anderer Nationen. Neben der Vater- landsliebe ist in Minna Cauer der Sinn für die interna- tionalen Beziehungen der Völker stark entwickelt, wie sie gerade auch in der internationalen Frauenbewegung zu einem schönen Ausdruck kommen. Wir geben daher im. zweiten Teil zwei Artikel wieder, die den Eindruck groler internationaler Frauentage 1895 und 1911 widerspiegeln.*) „Die Frauenbewegung“ ist ein Kampfblatt. Eine uner- bittlich scharfe Polemik wird oft geführt gegen die Gegner, und fast noch schärfer gegen die versteckten Gegner von Recht und Fortschritt, die leider sogar in den eigenen Reihen der organisierten Frauen zu finden sind. Diese Kampfes- stellung hat dem Blatte viel Feindschaft eingetragen. Aber es hat sich auf der andern Seite auch wieder zahlreiche treue Freunde erworben, welche die unerschrockene Haltung des Blattes bewundern und seit Jahren Stärkung und Freudigkeit für den Kampf der Frau ums Recht aus ihm ziehen. Manche Artikel, die auf Iagesfragen und Tageskämpfe Bezug nehmen. können selbstverständlich nur aktuelle oder historische Be- deutung beanspruchen. Aber zahlreiche Aufsätze sind in den bis jetzt erschienenen 17 Jahrgängen aufgespeichert, mit Ge- danken von solcher Schönheit und Diefe, dal sie dauernd für alle ringenden, aufwärts strebenden Geister einen Gewinn be- deuten, und diese werden es mit Dank begrülen, eine Reihe dieser Artikel hier vereint zu finden. 26 IV. In den letzten 23 Jahren, in denen ihr Leben Arbeit und Kampf im Dienste einer Idee bedeutet, ist Minna Cauer s0 fest mit der Lebensaufgabe, die sie sich gestellt hat, ver- wachsen., dalz eine Darstellung ihrer Arbeit zugleich eine Charakteristik ihrer Persönlichkeit bedeutet. Trotzdem bedarf diese Charakteristik noch einer Ergänzung durch mehr per- *) S. 68 f. dieses Buches. sönliche Züge: Denn der starke Eindruck, den Minna Cauer auf viele ausübt, geht ja gerade von ihrer persönlichen Eigen- art aus. Die Persönlichkeit kommt natürlich besonders starl bei ihren Vorträgen zum Ausdruck; sie spricht stets vollstän- dig frei, ohne Manuskript, so dal also im Augenblick des Sprechens zugleich eine schöpferische Arbeit geleistet werden mul3. Was von Minna Cauers Wesen bereits an einer ande- ren Stelle dieses Buches gesagt wurde, dal es ihr gegenüber nur ein Entweder — Oder der Sympathie oder Antipathie, aber keine Mittelgrade gibt, lält sich auch von ihrer Wirkung als Rednerin sagen. Sie gibt vielen ihrer Hörer viel, unendlich viel, — sie kann auf viele, die zuerst durch sie in die Ideen- welt der Frauenbewegung eingeführt werden, wie eine Offen- barung wirken. Und es gibt andererseits Menschen, bei denen ihre Rede die schärfste innere Gegnerschaft hervorruft, — selbst dann, wenn sie in der Sache mit ihr übereinstimmen. Diese verschiedenartige Wirkung ist vielleicht dadurch zu er- klären, dal der, der Minna Cauer als Rednerin voll emp- finden soll, auch eine künstlerische Aufnahmefähigkeit be- sitzen mul3. Minna Cauer hat eine in manchen Momenten geradezu verblüffend wirkende Ahnlichkeit mit einer der gröl- ten Künstlerinnen der Schauspielkunst, mit Eleonore Duse. Aber auch Eleonore Duse wirkt nicht auf die Masse, son- dern nur auf eine bestimmte Gemeinde, die gerade für ihre Art der Künstlerschaft empfänglich ist. So wirken auch Minna Cauers Vorträge, die durch ein lebhaftes Mienenspiel und durch die Duse-Bewegungen der Hände unterstützt werden, wie eine Art Kunstwerk auf den, der dafür Sinne hat. Wol- chen Eindruck Minna Cauer als Rednerin hervorrufen kann, selbst auf solche, die der Frauenbewegung durchaus kühl, ja gegnerisch gegenüberstehen, dafür sei die folgende treffende Charakteristik mitgeteilt, die der Berichterstatter eines na- tionalliberalen Blattes, der Kölnischen Zeitung (vom 1. Okto⸗ ber 1907), von ihr als Rednerin nach der Tagung des Fort- schrittlichen erbandes im Herbst 1907 entwarf: „Von ihnen (d. h. den Führerinnen der Bewegung. Anm. der Ver- fasserin.) verfügt nach meinem Empfinden Frau Cauer über den ein- 27 dringlichsten Vortrag. In ihrem Wort steckt tiefinnerste Wärme, die stille Glut begeisterter Überzeugung, die sich nicht ausgeben, sondern sich auf- sparen will kür grole Stunden. Sie hat etwas von einer Priesterin und Prophetin an sich, der geheime Erkenntnisse über die Tage der Zukunft geworden sind, und die mit ihren letzten Offenbarungen erwartungweckend zurückhält.“ Auch wenn sie als Vorsitzende leitet, kommt Minna Cauers Persönlichkeit stark zur Geltung. Selbst auf die stürmischste Versammlung übt sie unbewult einen suggestiven Einkluls aus. Ein Hauptzug, der ihr ganzes Wirken, sowohl in ihren Schriften wie in ihren Worten durchzieht, ist das Eintreten für die wirtschaftlich Schwachen und für die politisch Recht- losen; sie tritt leidenschaftlich für die Rechte des gesamten Volkes ein. Das Grundrecht des deutschen Volkes, das all- gemeine gleiche, direkte und geheime Mahlrecht, ist ihr wie ein Heiligtum, und sie fordert es für Preulens Männer und Frauen. Bei ihrem starken Gerechtigkeitsgefühl empört es sie, dals es in Preulen Frauen gibt, die zwar für sich poli- tische Rechte fordern, aber dem Preulischen Landesverein bei seinem Kampf um ein gerechtes Wahlrecht auch für die Männer in den Rücken fallen. So viel weiche Züge auch sonst in ihrer Natur liegen, die allerdings nur ihrem allerengsten Freundeskreise offenbar werden, im Kampfe für das, was sie als gerecht erkannt hat, ist sie hart, unerbittlich hart, und sie kennt kein Machgeben, keine Kompromisse. Aus dieser Denkungsart und Kampfesweise heraus, die kein Wanken ſund Schwanken kennt und der alles „Halbe“, verhalt ist, begreift es sich leicht, dal Minna Cauers Wirken reich an Konflikten ist. Hier liegt eine tiefe Tragik, die ihr Arbeiten oft zu einem persönlichen Martyrium macht. Es gibt Menschen, die so durch uund durch Kampfnaturen sind, dals sie sich im härtesten Kampfe am wohlsten fühlen, —— und es gibt Menschen, die zwar auch unerschütterlich treu für ihre Ideale eintreten, aber doch niemals so scharfe Geg- merschaft entzünden wie die geborenen Kampfnaturen, und die weniger agitatorisch, sondern mehr ruhig aufbauend wirken. In Minna Cauers (Wesen sind diese beiden Naturen ver- eint. Im Grunde ihrer Seele liegt Weichheit, Güte, Sehnsucht nach Harmonie, — und doch geht ihr Weg, der andern Seite 28 ihres Wesens entsprechend, durch Kampf und immer wieder Kampf. Eine ihrer schönsten Seiten, aber gleichfalls mit Iragik verbunden, ist die, dals es für sie nie ein Stillstehen, nie ein Rasten gibt. Unermüdlich ist sie in der Arbeit, unermüdlich aber auch im Forschen, Denken, Lernen, Weiterstreben. Wer aber mit so eisernem Fleils nicht nur für die Sache, sondern auch an sich selbst arbeitet, der macht auch in sich selbst eine ständige Entwicklung, ein geistiges und seolisches Worwärtsschreiten durch. Das führt aber wiederum oft zu Konflikten, denn die Menschen unserer Umgebung und die Mitarbeiter sind nun einmal nicht alle gleichmälig entwick- lungsfähig. So hat sich auch für Minna Cauers Leben schon oft das grausam-schöne Nietzsche Wort bewahrheitet: „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt. Eine eigenartige Mischung in Minna Cauers Natur, wie es in (ort und Schrift und im persönlichen Leben zum Ausdruck kommt, ist die enge Verbindung von Pessimismus und Optimismus in ihr. Von Optimismus müssen ja alle im Grund ihrer Seele erfüllt sein, die sich auf irgend einem Felde für den Fortschritt der Menschheit einsetzen, denn woher sollten sie wohl sonst die Kraft zur Arbeit, zum Kämpfen und oft auch zum Dulden finden. So ist auch Minna Cauer er- füllt von einem starken Glauben an das Walten einer höheren Gerechtigkeit, die endlich, endlich auch den höchsten Idealen der Menschheit zum Siege verhelfen wird. Aber gerade, weil sie die Ziele, für die sie kämpft und arbeitet, so hoch steclt, milst sie mit ernstem Pessimismus die schlechten Zustände der Gegenwart an diesen Idealen. Und wenn sie die politischen Zustände ihres Vaterlandes an den Ideen politischer Frei- heit milt, die sie erfüllen, oder wenn sie die sittlichen Zu⸗ stände unseres Volkslebens aus tief religiöser Gesinnung her- aus an der reinen Lehre Christi milt, muls sie eine tiefe Kluft erkennen zwischen Ideal und Wirklichkeit, und da wer- den dann ihre Morte oft scharf, bitter und anklagend. Doch was auch immer an Wandlungen, Kämpfen und Konflikten Minna Cauer beschieden war und beschieden sein wird, eins ist immer und immer das gleiche: ihre uner- 29 müdliche selbstlose Arbeit, ihre Treue und Hingebung an das, was sie als ihre Lebensaufgabe erkannt hat. Als hohe Sech- zigerin leistet sie mehr an Arbeit, als viele, viele der jüngeren Mitarbeiterinnen der Frauenbewegung. So ist sie wie das „Ge- wissen“ ihrer Getreuen, die sich um sie geschart haben, dal3 auch sie niemals nachlassen und niemals müde werden dürfen. Gleichbleibend ist auch immer das starke Verantwort- lichkeitsgefühl, das sie beseelt. Verantwortlichkeitsge- fühl soll die Frauen beseelen, die in der Frauenbewegung arbei- ten, dals sie vor allen Dingen rastlos an sich selbst arbeiten. sich selbst erziehen, um der geliebten Sache nur Hohes, Edles und reines Streben zuzuführen; Verantwortlichkeit sollen aber ganz besonders die Führenden empfinden und ein unermüd- liches Erziehungswerk an den breiten Massen der Frauen aus- üben, damit die Frauenwelt gerüstet wird für die Aufgabe, durch ihren Eintritt als Bürgerinnen in den Staatsorganis- mus zur Förderung des Guten beizutragen. Fast ein Vierteljahrhundert ist verflossen, seit Minna Cauer im Jahre 1888 in die Frauenbewegung gezogen wurde. „issen wir auch nur zu genau, wieviel die Frauen noch auf allen Gebieten zu erkämpfen haben, ein gewaltiger Umschwung in der ganzen Stellung der Frau, im Urteil der öffentlichen Meinung der Frauenfrage Fegenüber ist dennoch bereits er- zielt. Unter den verschiedenen Kulturbewegungen, die unsere Zeit erfüllen, ist kaum eine Bewegung so erfolgreich gewesen wie die Frauenbewegung. Die stärksten Ursachen für die Be- wegung selbst wie auch für ihren Fortschritt liegen allerdings im Umschwung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Aber eine Bewegung kommt nur worwärts, wenn sich-auch echte Führer- naturen finden, die sich in den Dienst der SSache stellen. Solche echten Führernaturen, solche „Helden“ wie Carlyle sie nennt, der aber damals nur an Männer dachte, sind in unserer Zeit auch unter den Frauen entstanden, so in Josephine E. Butler für die internationale Sittlichkeitsbewegung, in Susan B. Anthony für die internationale Stimm⸗ rechtsbewegung; Minna Cauer hat in ihrem Wirken manche ähnlichkeit mit diesen Naturen. „Niemals vielleicht, so lange die Welt besteht, sind solche 30 Ansprüche an den Geist der Menschheit gestellt wor- fen wie jetzt, — und dals die Frauen mitschaffen dürfen, das ist doch eins der grölten Wunder der Gegenwart“. so schreibt Minna Cauer in einem Briefe an eine Mitarbeiterin, Sie selbst hat diese Pforte, die den Frauen den Weg zum Mit- schaffen an den grölten Problemen unserer Zeit frei gibt. weit, weit öffnen helfen, — und Tausende von Frauen jetzt, und mehr noch in der Zukunft, werden es ihr danken. 31 Artikel und Aphorismen von Minna Cauer. 1. Soziale Frage. Gegensätze.*) Die Fenster in der Wilhelmstrale der Residenz waren glänzend erleuchtet, Wagen auf Wagen rollten heran, umhüllte Gestalten huschten heraus, flüchtige Blicke auf die frierende harrende Menge sendend, welche neugierig das grole Portal des Hauses umstand. Es war die Wintersaison der Gesellschaften. Schon lange hielt ich mich fern von diesem Leben, das für mich ohne Inhalt erschien. Ungern war ich daher den dringenden Bitten der freundlichen Gastgeber gefolgt, welche mir im gewöhn- lichen Leben so lieb und wert waren, im Frack und Ball- toiletten mir fremd und unnatürlich vorkamen. Der Haus- herr, sonst so ungezwungen, trat mir mit höflichem Lächeln entgegen und murmelte einige übliche Begrülungsformeln; die anmutige Wirtin, ein heiteres, frisches, liebes Frauchen hatte mit dem Brokatkleid auch die Steifheit angezogen, die ihr so wenig stand, und unter der sie sichtlich litt. Ich fühlte mich inmitten der glänzenden Toilettten, der Titula- turen, der nichtssagenden Redewendungen bald vereinsamt. *) Die Frauenbewegung v. 15. Jan. 1895. In Beobachtung und Sinnen vertieft, hörte ich plötzlich neben mir allgemeines Bewundern von jugendlichen Stimmen. Eine junge Frauenerscheinung, welche man vielleicht mit dem vielmilöbrauchten Worte „hübsch“ charakterisieren könnte, zeigte ihren Freundinnen ein prachtvolles Armband, das strah- lend den vollen Arm umgab. Der Mund der jungen Frau war etwas spöttisch verzogen. „Es ist nicht das, was ich mir wünschte,“ warf sie nach- lässig hin, „ich hatte eine viel originellere Zeichnung dafür entworfen. Das Weihnachtsfest ist mir total dadurch ver- dorben worden; ich trage nicht gern Dinge, welche alle Welt auch haben kann.“ Ich näherte mich der Gruppe. Ein sehr kostbares Arm- band, reich mit Brillanten besetzt, wurde vom Arm gestreift und den Freundinnen mit einer gewissen hochmütigen Miene gezeigt. Auch ich nahm es in die Hand. „Es liegt Ihnen nichts daran,“ fragte ich freundlich, „da es Ihren Wünschen nicht entspricht?“ „Nein,“ sagte die zarte Blondine etwas hochmütig und prüfte meine dunkle einfache Toilette, „Was liegt mir am Schmuck, wenn er nicht nach meinem Geschmack ist, ein solches Armband können viele haben, ich liebe etwas Besonderes.“ Würden Sie es mir“ geben,“ fragte ich forschend, „oder würden Sie mir vielleicht nur einen einzigen Stein daraus brechen lassen? Man lachte und sah etwas verlegen aus. „Nicht für mich,“ beantwortete ich die fragenden Blicke, „nein, nicht für mich; ein einziger Stein würde mir aber sehr viel sein, ich würde eine unglückliche Familie damit retten können.“ Mit einem etwas verächtlichen Zucken der vollen Schul- tern, und einem eigentümlichen Seitenblick auf mich befestigte die junge Frau das Kleinod wieder am Arm. In einer Minute war ich wieder allein. Ich fühlte, meine Gedanken und meine Grundsätze waren entweder veraltet oder verfrüht für die Gegenwart; für den Salon wenigstens waren Sie nicht. Ich verstand an diesem Abend Tolstoi zum ersten- mal ganz. 32 Mein Weg führte mich in eine jener Gassen, wo Wir den Ausdruck „das dunkle Berlin“ gebrauchen können. Ich hatte einen Auftrag bekommen, mich nach einem verlassenen Mädchen umzuschauen, das in einem Anfall von Verzweiflung einen Selbstmordversuch gemacht hatte. Meine Gedanken waren noch bei der Szene des letzten Abends. Ich sah die glän⸗ zenden Steine der jungen Frau, ich sah die unzufriedene Miene, ich sah das kalte Lächeln, als ich meine Bitte aus- sprach. — Ein düsteres Haus, ein noch düsterer Hof, vier Treppen hinauf, — ich Klopfte schüchtern an. Ein leises Herein er- tönte. Auf armseligem Lager lag eine schmächtige, jugendliche Gestalt mit feinen, intelligenten Zügen. Die Augen starrten mich an, die eine Hand war verbunden. Ich setzte mich an das Bett, ich wulte nicht, was ich fragen sollte. Wir blieben lange stumm. Endlich erhob sich die Gestalt etwas und suchte mir die gesunde Hand zu reichen. Das Eis war gebrochen. Es lag mir daran, den Seelenzu⸗ stand der Unglücklichen zu ergründen. Meine Mühe war nicht umsonst. Weicher uund milder wurde die Stimmung und ihr Lebensschicksal tönte an mein Ohr; ach, ein Lebensschicksal so hundertfältig schon gehört und immer dasselbe Leid, die- selben Fehltritte, dieselben Folgen. „Sind Sie denn ganz verlassen?“ fragte ich zuletzt. „Ganz verlassen,“ antwortete die müde Stimme, „nun habe ich mich selbst auch aufgegeben, ich kann mich nicht mehr achten.“ „Wenn ich Ihnen nun meine Hand reiche, damit Sie sich daran werden aufraffen können, wollen Sie sie nehmen? Ein erschütterndes Schluchzen antwortete mir. Wir besprachen, was geschehen könne, wenn sie gesundet wäre. Bald aber standen wir beide vor der bangen Frage. wer gibt die Mittel, dieses Menschenkind zu retten? — Ich sah das glänzende Armband vor mir, das die Besitzerin so unglücklich machte. Ich dachte einen Augenblick mit Neid daran; dann sah ich etwas anderes: glänzende Augen eines dankbaren, hoffenden Menschenkindes. Die prachtvollen Steine verloren ihren Glanz vor dem 3 33 Schimmer dieses Auges, in dem die Hoffnung wieder Einzug gehalten hatte. Arme Menschenkinder mit Steinen am Arm und Steinen im Herzen. Eilenden Schrittes wanderte ich nach Berlin O. Us War an den Litfalsäulen eine grolie Volksversammlung angekün- digt worden, wo das Proletariat für seine Rechte zu streiten pflegt, seine Ideale aufstellt und sie verficht, und wo die Sphinx der Gegenwart, die soziale Frage, wieder einmal, zum hundertsten Mal, Gegenstand der Besprechung sein sollte. Zum hundertsten und zum tausendsten Mal, so sagte ich mir, und doch immer dasselbe Lied von Menschenrechten, Menschen- pflichten, Menschenliebe. — Solche Wersammlungen waren mir längst bekannt. Ich stand denselben schon lange nicht mehr ängstlich gegenüber wie einst, seitdem ich einige Male „mit- aufgelöst“ war und inmitten des Volkes seinen Humor, sowie seine Gutmütigkeit und seine Geduld kennen gelernt hatte. Wohl wulte ich, dal gärende Leidenschaften brausten und tobten, wohl hatte ich mir oft die Frage vorgelegt: „Was dann, wenn dieser Strom nicht mehr in seinem Bette zu halten ist.“ doch ich hatte mir auch sofort die Gegenfrage gestellt: „Und wessen ist dann die, Schuld?“ Die Antwort fiel stets wie Zentnerlast auf meine Seele. Der Redner des Abends war ein „Bourgeois“ oder ein Bourgis, wie der (olksmund zu sagen pflegt. Es war eine bekannte Persönlichkeit. Die Worte klangen mächtig in die Versammlung hinein, Anklage auf Anklage gegen alle Schich- ten der Gesellschaft bildeten das Grundstück der Rede, und Idealbilder von herrlichen Einrichtungen, und von einem ganz anderen Menschengeschlecht wurden entworfen; dann wurden Skizzen von dem Elend der Melt ringsumher gegeben und mahnende Worte laut ausgerufen, sich selbst zuerst in Zucht zu nehmen, um eine glückliche, schöne Zukunft schnell herbei- führen zu helfen ¹. Immer und immer dasselbe Bild: Unter den Geringeren das eifrige Lauschen mit fast lechzendem Aus- druck, oder der kalte Spott bei den Aufgeklärten, oder die dumpfe Gleichgültigkeit bei den Ermüdeten. Hier und da sal) 34 auch wohl ein Bourgeois mit skeptischem Ausdruck da, be- haglich Umschau haltend und mit dem Ausdruck in den Zügen: „Es geht mich nichts an.“ — „„Jedes Kind, welches hungernd und frierend auf der Stralse uns etwas zum Verkauf anbietet, ist eine Anklage gegen uns, eine Schuld unserer trostlosen Zustände,“ so tönte es an mein Ohr und — ich verlor mich in Gedanken. Ich hörte nicht mehr zu. — Die Versammlung war zu Ende. Es war ein kalter Wintertag. Wenige Equipagen nur hielten vor der Tür, Damen in Pelze gehüllt, sprangen hinein — sie hatten anstatt im (heater auch einmal in einer Volksversammlung den Abend verbracht. Die Masse der Zuhörer zerstreute sich nicht 8so schnell, hie und da bildeten sich noch kleine Gruppen, welche sich über die Eindrücke des Abends noch nicht einigen konnten. Langsam folgte ich der Menge. — Der Bretterzaun eines Neubaues verengte den Meg und zwang die Fulgänger sich voneinander zu trennen. (Ich hörte Kinderstimmen aus dem dunklen Winkel heraustönen. Ich blieb stehen. Fünf Kinder, vier Mädchen, ein Knabe, standen dicht nebeneinander. die Köpfe in wollene Tücher gehüllt und schauten ängstlich mit grolen Kinderaugen auf die achtlos dahingehenden Passanten. Ich näherte mich der Gruppe. In demselben Augenblick trat eine ärmlich aussehende alte Frau an die Kinder heran und sprach mit ihnen, es schien, als wenn sie sich nicht verständi- gen konnten. Ich wollte herantreten, um zu vermitteln, als ich sah, wie die alte Frau forteilte, in ein naheliegendes Bäckergeschäft eintrat und mit einem Brote zurückkehrte, das sie dem ältesten Mädchen in den Arm drückte. „Nun elst,“ rief sie, „dann friert ihr nicht mehr.“ Ich näherte mich der Alten und redete sie an. Sie schüttelte den Kopf und zeigte auf ihr Ohr. Ich verstand, sie war taub. Hunderte waren aus der Versammlung geströmt, sie alle hatten die mahnenden Worte des Redners gehört, auch ich. „Jedes Kind, welches hungernd und frierend auf der Stralse steht, ist eine Anklage gegen uns. 3* 35 Ist nicht etwas anderes noch eine viel härtere Anklage gegen uns, noch eine grölere Schuld, dal wir uns diese Worte sagen lassen müssen? Die alte taube Frau war nicht in der Wersammlung gewesen. — — — Es war ein Bazar. Hochtönende Namen standen unter dem Aufruf dafür, glänzende Dinge waren zur Anlockung ver- sprochen worden. Es war das erste Mal, dal ich einen solchen Ort betrat; ein junges Mädchen, welches Verkäuferin sein sollte, hatte mit wviel liebenswürdiger Überredungskunst meine Abneigung gegen solche Veranstaltungen überwunden. Die Welt, welche mich umfing, war mir eine fremde. Heiterkeit, ja Übermut, Lachen, Scherzen, Necken, Anpreisen der Sachen und Triumph, wenn es gelungen war, einen enormen Preis zu erhalten. Strahlende Augen, glänzende Toiletten, Freude überall, allüberall — es galt ja den Armen. Ich stand in der Nähe eines Verkaufstisches, um den sich die Männerwelt drängte. Eine Blumenpracht wurde von einer üppigen Frauengestalt mit bewunderungswürdiger Kunstfertig⸗ keit des Anpreisens ausgeboten. Eine Menge von Geldstücken rollten der schönen Sirene zu. „Mer ist diese Dame,“ fragte ich einen neben mir stehen- den Bekannten, der kurz zuvor 20 Mark für eine Rose gezahlt hatte, welche er dann der schönen Verkäuferin wieder über- reichte. Er lächelte werlegen und zuckte die Achseln. „Es ist nichts für Sie, gnädige Frau,“ sagte er dann endlich und verlor sich in der Menge. Ein Bekannter hatte mir eine Telephonnachricht geschickt, dal er die Inspektion im Asyl für Obdachlose habe und mir meinen Wunsch erfüllen könne, diese Stätte kennen zu lernen, wo diejenigen hineilen, welche durch Unglück kein Heim und keinen Schutz mehr haben, oder diejenigen sich hinschleichen, welche durch Selbstverschuldung tief, tief gesunken sind und müde, abgehetzt und verkommen, dann und wann die Sehn⸗ sucht nach einem Ausruhen empfinden. Es war ein kalter Wintertag mit schneidendem Wind. Ich stand in dem grollen Portal und sah die Menge einströ- 36 men, der Beamtie sagte mir trocken: „Wir haben heute schon 1300. Bald ist kein Platz mehr.“ Ich schauderte. Welche Gestalten waren an mir worübergegangen, welch grausiges Elend in einigen Minuten! Ich dachte an den glänzenden Bazar und an das glänzende Armband. Wir betraten die Säle, eine erstickende Luft strömte uns entgegen; welch ein grauen- volles Bild der Menschheit! Ich dachte an die Worte des Redners in der Volksversammlung. Saal auf Saal, immer das- selbe Bild, und doch multe man sich sagen, es war noch eine Wohltat zu nennen, dal dieses Werk für die Ausge- stolenen vorhanden War. — Wir waren zu Ende mit dem Besuch. Nicht fremd waren mir die Bilder des Elends, des Kummers, der Verkommenheit, doch hier, ja hier verstand ich des Dichters Wort: „Der Menschheit ganzer Jammer falst mich an.“ Es waren einige Herren, welche mit mir zugleich die Besichtigung dieser Stätte unternommen hatten. Wir standen an einer (reppe, welche in den obersten Stock führte. Die Herren schienen unschlüssig zu sein und sprachen leise unter- einander. Dann erklärten sie mir, dald sie auch diesen Stock noch besichtigen wollten, doch rieten sie mir, von der Beteili- gung an diesem Besuch abzustehen. „Warum?“ war meine Frage. Man schwieg. Man beriet weiter miteinander. Ein älterer Bekannter trat zu mir mit der Bitte, von dem Besuch dieser Räume abzustehen, mit den Worten: „Es ist michts für Sie.“: Wieder dieses Wort: „Es ist nichts für mich.“ „Warum nicht“, fragte ich ernst und eindringlich, „war⸗ um ist das nichts für mich? „Dort oben sind die „Gefallenen“ Ihres Geschlechts“. war die Antwort, und er verliel mich, um den schon voran- gegangenen Herren zu folgen. „Die Gefallenen meines Geschlechts! Nicht auch die zu Fall Gebrachten? Und ieh begab mich gleichfalls zu diesen Ausgestolenen. 37 „Der Menschheit ganzer Jammer“ . . .*) Die Presse beschäftigte sich kürzlich vielfach mit dem am 16. April d. J. vom Bundesrat angenommenen Gesetz- entwurf, die Regelung der gewerblichen Kinderarbeit betref- fend. Sehen die Blätter gemäligter und konservativer Rich- tung einen ganz bedeutenden Fortschritt, der durch dieses Gesetz herbeigeführt werden kann, — wir sagen mit Absicht „Kann“ — so steht die linksliberale und sozialdemokratische Presse, besonders die letztere dem Gesetzentwurf pessimistisch gegenüber. Ein solcher Pessimismus ist angesichts der man- gelhaft vorhandenen Organe zur Durchführung dieses Gesetzes begreiflich. Wer sich aber auch nur ein wenig um die Arbei- terschutzgesetzgebung bekümmert, wer auch nur ab und zu die Gewerbeordnung zur Hand nimmt, weils ganz genau, dals zur Durchführung aller Gebote, Gesetze und Verordnungen ein Heer von Aufsichtsbeamten und -beamtinnen vorhanden sein mülte. Wie jämmerlich es damit bestellt ist, ist in die- sen Blättern oft genug betont worden. Wie viel geringer ist die Hoffnung, dal bei diesem Gesetz zur Regelung der gewerb- lichen Kinderarbeit auch nur annähernd die vorhandenen Kräfte imstande sein werden, eine. Durchführung aller Gebote resp. Werbote zu erreichen. Der Staat greift mit diesem Gesetz ernst in das Familienleben ein, er beschneidet Elternrechte, ver- langt gebieterisch Erfüllung bestimmter Elternpflichten in be- zug auf die Arbeit der Kinder, er falst die Eltern einfach als Arbeitgeber auf, und ach! welche traurigen und harten Arbeit- geber und Ausbeuter sind oft diese Eltern! Mutterliebe, Vater- fürsorge, Familienleben, Familienglück, — Worte, die uns immer und immer entgegentönen, werden beim Studium der Beschäftigung der Kinder zum Hohn und zur Phrase. Und mehr noch! Eine Empörung, ein innerer Grimm erfüllt uns, wenn wir den Arbeitgeber, den Fabrikherrn, den Gutsherrn in der entsetzlichen Ausbeutung der kindlichen Kräfte be- obachten, und wenn uns tausend und abertausend Tatsachen beweisen, wie herrlich es mit unserer Humanität, unserer christ- *) Die Frauenbewegung, 1. Mai 1902. 38 lichen Nächstenliebe, unserem sozialen Empfinden für die Schwächsten der Schwachen, für die Kinderwelt bestellt ist. „Der Menschheit ganzer Jammer“ sollte uns anpacken und nur ein Schrei der Entrüstung sollte zum Himmel steigen, wenn wir uns vergegenwärtigen, was uns aus dem vortreff- lichen, soeben erschienenen Werk von Konrad Agahd*), der Frucht neunjährigen Forschens über Kinderarbeit, ent- gegenleuchtet. , Wer ein Herz hat, der mul fragen: Frauen, deutsche Frauen, wo wart Ihr, dals man es so weit kommen liel?. „Kinderelend — grausamer Vampyr“. so ruft Agahd den Lesern in seinem Schlulswort zu, „du abscheuliches Erzeugnis der Roheit, des Stumpfsinns, der Gewohnheit, des Eigennutzes und der Not. KindermiBhandlung, du grausame Katze; Kinderausbeutung, du Fratze verwerf- licher körperlicher Behandlung — jetzt sollt ihr endlich ver- folgt werden. Es ist hohe Zeit. Wehe, wen sie schlafend findet!!!“ — Ja. wehe vor allem den Frauen, welche in eitlem Müllig- gang und Schlendrian ihr Leben vergeuden, wehe den Frauen, welche in unfruchtbaren und sinnlosen Wohltätigkeitslustbar- keiten ihr soziales Gewissen beruhigen, wehe den Frauen, welche mitschuldig sind, — diese Frauen der reichen und wohl- habenden Fabrikherren und Landwirte, die oft ein zu nach- giebiges und schwaches Herz ihren eigenen Spröllingen gegen- über zeigen und kein Erbarmen mit den Kinderseelen und Kinderkörpern der von ihnen Abhängigen und Untergebenen haben. Agahds Buch ist das Resultat vieler Studien, Enqusten, Forschungen und praktischer Arbeiten. Der Verfasser hat sein Leben, wie es scheint, dieser Aufgabe gewidmet. Ruhig und sachlich, in einfacher Weise lälst er nur Tatsachen spre- chen. Er hält mit seinem Urteil meist zurück, nur dann und wann blitzt Unmut hervor. Siebzig Jahre, sage und schreibe *) Kinderarbeit und Gesetz gegen die Ausnutzung kindlicher Arbeits- kraft in Deutschland. (Unter Berücksichtigung der Gesetzgebung des Aus- landes und der Beschäftigung der Kinder in der Landwirtschaft.) Von Konrad Agahd. Verlag von Gustav Fischer in Jena. 1902. Preis 2,40 Mk. 39 siebzig Jahre hat der Kampf gedauert, ehe der Staat sich zu diesem Gesetz entschlol, und sicherlich nicht aus erbar- mender Liebe kam er dazu, sondern er mulste dem steten Drän- gen edler Menschen nachgeben, den mutigen Kämpfen tüch- tiger Sozialpolitiker in den Parlamenten; vielleicht liefen auch Berichte ein, wie die des Generalleutnant von Horn zur Zeit Friedrich Wilhelms III., dals die Fabrikgegenden ihr Kontin⸗ gent zum Ersatz der Armee nicht mehr vollständig stellen. uund dies ist stets die Stelle, an welcher der Staat verwund- bar ist. Wir gehen hier nicht ein auf den Einwand der Arbeit- geber in Stadt und Land, dal sie die Kinderarbeit nicht ent- behren könnten; hielt doch der Bundesrat sie noch in den achtziger Jahren „im Interesse der Industrie für unentbehr- lich“, und so „frohnten“ 20 000 Kinder in den Fabriken wei- ter. Und wie „frohnten“ sie? Man lese bei Agahd im 3. Ka- pitel über den Umfang der Erwerbsarbeit der Kinder, welche der Verfasser aus den Berichten der Gewerbeinspektoren ent- mommen hat, und ein Grauen überfällt den denkenden und fühlenden Menschen. In der Landwirtschaft sind 135 125 Kinder unter 14 Jahren beschäftigt, 94 121 männliche, 41 004 weibliche; in der Industrie finden wir Kinder unter 14 Jahren in Ziege- leien, Schmiederei, Schlosserei, männliche sowie weibliche be- schäftigt, allein in der Schlosserei 2062 Knaben, 13 Mädchen; in der Weberei gibt es 1057 Knaben und 1142 Mädchen unter 14 Jahren, doch weiter: Erzgewinnung, Hüttenbetrieb, Kohlen- bau, Torfgräberei, Steinmetzen, Steinbrüche (258 Kna- ben und 44 Mädchen unter 14 Jahren). In Glashütten arbeiten 225 Knaben und 64 Mädchen. In der Verarbeitung edler Me- talle sind 244 Knaben und 220 Mädchen beschäftigt, in der Eisengielerei 181 Knaben und 15 Mädchen im zarten Alter. in der Branntweinbrennerei, in Brauereien, in Brennereien, in der Tabakindustrie 333 Knaben und 495 Mädchen. Agahd fügt die- ser. Worten nur hinzu: „ Mädchen, Kinder als Steinmetzen, in Mühlen, Brennereien, Branntweinbrennereien, als Messer- schmied, Stubenmaler, Zimmerer, Arbeiterinnen auf Gummi⸗ waren, wir haben dem nichts hinzuzufügen." 40 Eine Fülle von Material ist in dem Werk vorhanden, das nach Erhebungen des Deutschen Lehrervereins und sta- tistischer Amter zusammengestellt ist; ebenfalls sind die durch den Reichskanzler im Jahre 1888 angeordneten Erhebungen der „gewerblichen“ inderarbeit aulserhalb der Fabriken ver- zeichnet, auch sind ausführliche Tabellen über die Beschäfti- gung der Kinder in Industrie und Gewerbe aufgeführt. Wir weisen den Leser hierdurch nur auf das Buch von Agahd hin, das in ausführlichster Weise auf die Lage, die Arbeitsverhältnisse und auf das jetzt erschienene Gesetz ein⸗ geht. Dals das Gesetz nicht ganz und gar mit der Kinder- arbeit, d. h. derjenigen unter 14 Jahren, bricht, ist zu be- klagen. Die Gesetzgebung hat hier hoffentlich nur den ersten Schritt getan. Die in der Landwirtschaft und im. häuslichen Dienst beschäftigten Kinder sind in dieser Gesetzgebung ganz ausgeschlossen; man schlägt die Zahl dieser auf fast zwei Millionen an. Eigentümlich berührt es, dals man die Arbeit dieser Kleinen als eine Wohltat für sie, als eine Notwendig⸗ keit, als ein Erziehungsmittel betrachtet, 8o argumentiert we⸗ migstens der Gesetzgeber, indes Agahd auf Grund seiner und der Lehrerwelt gemachten frfahrungen nur Schäden durch die Arbeit dieser Kleinen entdeckt hat. Sie bringt körperliche und moralische Schädigungen hervor, Schädigungen für das Schulleben, Schädigungen für die Entwickelung des Kindes nach jeder Richtung hin. So bedeutsam auch der Schritt ist, den das Deutsche Reich mit diesem Gesetz gemacht hat, denn die Grundlagen desselben sind gesunde, so sollte es doch nur als der Anfang wom Anfange angesehen werden, denn will man ernstlich die Bestimmungen durchführen, so haben sämtliche Regierungen die ernste Pflicht, die Zahl der Beamten und Beamtinnen zu vermehren; freilich mülten diese auch zugleich Persönlichkeiten sein, welche den Mut haben, Übertretungen zu ahnden, Milstände aufzudecken und voller Liebe für die Kinderwelt beseelt, jeglicher Ausbeutung derselben entgegen- treten. Agahds Buch enthält aber nicht allein die Darlegungen aller Verhältnisse hinsichtlich der Kinderarbeit in Stadt und Land, sondern der Werfasser stellt für die fernere Gesetzge- 41 bung ganz bestimmte Forderungen auf, die hoffentlich von den Parlamentariern und gesetzgebenden Körperschaften nicht. unbeachtet gelassen werden. Viel Idealismus birgt sich aller- dings in Agahds Worten, dals „Deutschland der Träger der sittlichen Idee ist, dem Kinde das Recht auf Kindheit zu er- halten, zu erobern.“ Wir wollen hoffen, dals nicht wiederum 70 Jahre der Kämpfe notwendig sind, um Kinderelend, Kinder- jammer aus der WWelt zu schaffen. Warum müssen die Frauen, die Mütter der Kinder ab- seits stehen und können nicht mächtig drängen und mit der. Kraft des Herzens auf die Gesetzgebung einwirken, dal we- nigstens hierbei menschliches Gefühl und Erbarmen über Profit- sucht und Ausbeutung der Notlage den Sieg davonträgt? Und doch es gibt noch immer Tausende von Frauen, welche gleich- gültig all' den grolen Aufgaben der Frauenwelt gegenüber stehen, auch sie sind am Jammer der Kinder mitschuldig. 42 Aphorismen. „Es ringen Millionen im Elend, durch die es doch nur möglich ist, dals tausende Arten von Arbeiten ausgeführt wer⸗ den, und Millionen auf dieser Erde wissen nichts von dieser Arbeit und diesem Elend; da wird seit Jahrtausenden die Liebe gepredigt, und doch hat man es nicht weiter gebracht, als dals die Kluft in der Menschheit gröler geworden ist; da kämpft man in Wort und Schrift um einen einzigen Buch- staben in derselben, und vergilt darüber, die grole Lehre zu leben.“ (Aus: Eine Führerin der Arbeiterinnen in Lon- don. Die Frauenbewegung. I. September 1895.) „Andre Zeiten bedingen andres Vorgehen! Das Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität erlaubt wohl noch das ruhige, stille Wandern in fern abgelegenen Gegenden des Erdteiles, wo es sich wochen- und monatelang wonniglich ausruhen lält, wo der Weltflüchtige sich der Beschaulichkeit hingeben kann. Wer aber inmitten der sozialen Kämpfe der Gegenwart steht und darin lebt, der wird fortgerissen, und er hat jeden Moment seine ganze Kraft einzusetzen, um in der schnellen Flucht der Ereignisse und Erscheinungen die wichtigsten Punkte fest- zuhalten, die ihm für die Erreichung seiner Ideale die be- deutendsten sind.“ (Aus: Überblick. Frauenbewegung. 1. Sep- tember 1899.) „Die bildungshungrige, die wissensdurstige, die sozial den- kende und die für ihre Befreiung kämpfende Frau ist für die Gegenwart ein Erfordernis; wer ihre freie Entfaltung hin- dert oder die Entwickelung hemmt, begeht eine grole Schuld an sich selbst und an seinem Volke. Ein tiefer Ril geht durch die heutige Frauenwelt. Ein „Ozean der Meinungen“ trennt uns von denen, welche im Alten wurzeln, im Alten beharren. Neue Probleme gibt es zu lösen und wahrlich keine leicht zu lösenden. Bequemer ist es frei- lich, Altes nachzubeten und Altes zu preisen. Carlyle spricht von den „alten Kleidern“ der Weltgeschichte; wir fühlen uns weder berufen sie aufzutragen, noch durch neue Flicken sie auszubessern. Neue Werte haben wir zu schaffen, neue weibliche Wexte, — das kann nur geschehen durch tiefe, wahre, echte Bildung.“ (Aus: Die „bildungshungrige“ Frau. Frauenbewe- gung. 15. Juni 1902.) 43 2. Politik. Zur politischen Bildung der Frau.*) Es wird dem deutschen VVolke vorgeworfen, dals es im allgemeinen unkultiviert hinsichtlich seiner politischen Bildung ist. Das muld uns immer wieder von neuem in Erstaunen setzen, da das deutsche Volk ein wirtschaftlich tüchtiges ist. also bewiesen hat, dals es seine Geschicke ohne Bevormundung wohl zu fenken wermöchte. Überdies besitzt es im Reich ein *) Die Frauenbewegung 1. Nov. 1908. grolzügiges Wahlgesetz, durch das jeder Bürger berechtigt ist. am der Zusammensetzung seiner Volksvertretung mitzuwirken. Freilich sind die Frauen ausgeschlossen, also über die Hälfte seiner Bürger, freilich kranken manche Landesteile noch an einem trostlosen Wahlsystem, aber das alles hindert doch ein Wolk nicht, sich politisch zu bilden, sich politisch zu betätigen. Eine eigentümliche Wendung in der preulischen Thronrede beweist auch, dals die Regierung sich an kein mündiges und politisch reifes Wolk wendet: „Das Wahlrecht in Preulen“, 80 heilst fes, „soll eine organische Fortentwicklung erfahren. welche der wirtschaftlichen Entwicklung, der Ausbreitung der Bildung und des politischen VVerständnisses, sowie der Er- starkung staatlichen Verantwortlichkeitsgefühls, entspricht.“ Also kurz gesagt — Pluralwahlrecht nach Besitz und Bil- dung steht in Aussicht, vielleicht wird man politische Reife- zeugnisse nach abgelegtem Examen einführen. Die Taktik der Verzögerung wird eingeschlagen, sie lullt stets das deutsche Wolkr sehr bald wieder ein. Ein Paroli wird dieser Hinschläfe- rungstaktik nur geboten werden, wenn Männer und Frauen ihre ganze Kraft einsetzen und nicht ruhen und rasten, um das deutsche Volk politisch zu schulen. In den Arbeiterkrei- sen geschieht das unausgesetzt, die anderen Schichten des Volkes bleiben politisch ungeschult, beweisen dadurch ihr man- gelhaftes Interesse an der Entwicklung des Volks- und des Staatslebens. Wir haben jetzt eine politische Frauenbewegung, sie ist jüngsten Datums, wenigstens in bürgerlichen Kreisen. Sie hat die Aufgabe und Pflicht, ihre Anhänger für die Politik zu erziehen. Diese Aufgabe ist um so dringender, als der Ge- genwart entsprechend, fin welcher die Reaktion Trumpf ist. auch die bürgerliche Frauenbewegung im allgemeinen eine konservativ-reaktionär-klerikale Färbung anzunehmen beginnt. Die Geschichte fehrt beständig, und die Gegenwart beweist es wiederum, dals die Zeiten des Niedergangs stets starke Reaktionsgelüste aufweisen. Doch gerade dadurch entwickeln sich wiederum kräftige Impulse, diesen Gelüsten entgegenzu⸗ wirken. Auch das Hervortreten der politischen Frauenbewe- gung kann zu einem neuen starken Impuls gegen die Reaktion 44 werden. Es handelt sich nur darum, diese neue Konstellation in der bürgerlichen Frauenbewegung in die richtigen Bahnen zu lenken, eine Kristallisierung vorzunehmen, wenn man es so nennen will, um ganz bestimmte Aufgaben zu übernehmen. Diese Aufgaben bestehen in der politischen Schulung des Frauengeschlechts. Die mangelhafte politische Bildung des deutschen Volkes liegt zum Teil an dem Ausgeschlossensein der Frau vom öffentlichen und politischen Leben. Nicht leicht wird es sein, die deutsche Frau zur politischen Bildung zu führen, gerade in der Jetatzeit, die ein Bild schroffster Gegen- sätze und Haltlosigkeit aufweist. Die Zerrissenheit der Par- teien, die Schwäche des Liberalismus, der Mangel an bedeu- tenden Führern und grolzügigen Staatsmännern, die Macht- losigkeit der Volksvertretung, die Sucht nach Orden und Titeln, — alles das wird je nach Temperament und Anlage die einen verbittern und zurückscheuchen, die anderen an⸗ spornen einzugreifen, um kräftigen Gegendruck hervorzurufen, der dann (Veränderung und andersartige Entwicklung herbeizu- führen vermag. Es hat etwas Befreiendes und Erlösendes, sich in den Dienst einer solchen Aufgabe zu stellen, die bessere Zeiten anzubahnen sich bemüht. Wir möchten unsern Freunden und Anhängern das Bekenntnis hiermit ablegen, dals in den Reihen der politischen Frauenbewegung viel freudiges Arbeiten vor- handen ist, ja dal3 die Jugend sich immer mehr an dem polj- tischen Leben zu beteiligen beginnt. Das ist ein schöner Hoff- nungsstrahl! Wir möchten ferner unsern Freunden und An- hängern aufs wärmste das Studium der kommunalen Verhält- nisse ihrer Stadt empfehlen. Es ist der erste Schritt zum politischen Sichbetätigen, dals man Einfluls auf die nächsten Verhältnisse zu gewinnen versucht. Vorträge über Steuer- fragen, Finanzreform, Verfassungsfragen, Bürgerkunde, Wahl- systeme, Schulpolitik sollten überhaupt nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden. — und in Frauen- und in Män⸗ nerkreisen. denn auch diesen mangelt es beträchtlich an poli- tischer Bildung, zur Erörterung gebracht werden. Wir sind der festen Hoffnung, dals trotz alledem und alledem ein lichter Punkt durch die dunklen, schwarzen Wolken der Reaktion 45 thindurchschimmert, und dals die vorhandene Stickluft dann und wann durch frische Windstölse schon verscheucht wird. Die Politisierung der Frau, wenn in richtige Bahnen ge- leitet, wird, so hoffen wir, dazu beizutragen, der Gerechtigkeit uund Freiheit zum Siege zu verhelfen. Auch die Frau ist mün⸗ dig geworden, da sie sich wirtschaftlich selbständig zu machen bemüht ist, sie hat das Recht und die Pflicht, sich an der Entwicklung der Geschicke ihres Vaterlandes zu betätigen. Tut sie es nicht, oder tut sie es in engherzigem und egoistischem Sinne, so trägt sie die Mitschuld am politischen Niedergang und Zerfal! ihres VVolkes, denn ein Volk, das politisch un⸗ gebildet bleibt und sich einer beständigen Bevormundung unterwirft, verfällt über kurz oder lang einer inneren Ver- sumpfung oder erliegt einem aktiveren, selbstbewulteren und politisch reiferen Volke. Unsere jungen „Staatsbürgerinnen“ aber, die einst ihr politisches Recht auszuüben haben, müssen sich schon jetzt auf diese wornehmste Pflicht theoretisch und praktisch vor- bereiten. An ihnen wird es zum grolen Teil liegen, ob die Politik in Haus und Familie gepflegt wird, damit das Philister- und Strebertum besiegt werden kann, — die schlimmsten Feinde einer höheren Entwicklung im Volke. 46 Staatsbürgerin und Frauenrechtlerin.*) Die Frauenbewegung beginnt in ein Stadium zu treten, wo sie die Grenze überschreiten wird, die ihr bis dahin ge- zogen war. Die Frauen arbeiteten in erster Linie nur für ihre Rechte, sie werden auch ferner diese Linie auf vielen Gebieten festhalten müssen. Noch auf Jahrzehnte hinaus wird es Frauen- rechtlerei, spöttisch genannt Eigenbrödelei, geben und geben müssen, hie und da sogar in verstärktem Male, wie auf dem Felde der Erziehungs- und Berufsfrage, der Ehe- und Sittlich- keitsfrage, und den damit engverknüpften Problemen wie Beruf *) Die Frauenbewegung 1. Okt. 1909. (Stellenweise gekürzt.) und Mutterschaft. Die Beleuchtung ivon Frauenseite wird dabei immer stark hervortreten; viele dieser Fragen können zum Teil gar micht von männlicher Seite beurteilt oder gar gelöst werden, es bedarf dabei der energischen Betonung von seiten der Frau. Ja, eine grole Reihe von Problemen ist überhaupt nur durch die Frauen zur Sprache gebracht wor- den, — ich erinnere dabei an die Sittlichkeitsfrage, an den Mutterschutz, an diejenigen Paragraphen des Strafgesetzbuches, die sich auf das Geschlechtsleben der Frau beziehen. Jedoch, unsere Zeit ist nicht nur raschlebig, sie ist durch- glüht von tausend und abertausend Fragen und Problemen, die der Klarheit meist noch entbehren, die noch unentwirrt vor uns liegen und der Lösung harren. Eine Fülle von Strö- mungen ist vorhanden, die aber in ihrem natürlichen Laufe gehindert werden durch Festungen und Mälle — Bauten, aus alter Zeit stammend, die, wenn auch vielfach geborsten, dennoch über Nacht nicht einstürzen werden. Diese Burgen, teilweise schon Ruinen, diese Türme mit Rissen, sie werden gerade fetzt, wo man den Ansturm einer neuen Zeit zu verspüren be- ginnt, mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln ausge- bessert, verkittet und mit Stützen versehen. Vorläufig wird dieses Ausbesserungssystem noch Erfolg haben, vor allem da- durch, weil das Bürgertum diesem System bewult und unbe- wulzt seine Hilfe leiht. DDie Zeichen der Zeit sollten aber wenig. stens dem intelligenten Bürgertum die Augen öffnen, das leider zum Teil sehr gesättigt, zum Teil zu egoistisch und zu wenig politisch geschult, in den Tag hineinlebt und noch immer an die Unfehlbarkeit der Regierenden glaubt, das Allheilmittel aber in dem Grundsatz sieht: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Die politischen Konstellationen in Deutschland sind im höch- sten Grade uunerfreulich, ja trostlos. Wir geben zu. dal Über- gangszeiten stets uunerquickliche Zustände hervorrufen, aber es mul3 doch endlich auch dem unpolitischsten Menschen. ob Mann, ob Frau, klar werden, dals die Dauer solcher Verhält- nisse Deutschlands Stellung in der Welt bedenklich schädi⸗ gen wird. In diesem politischen Wirrwarr nun soll sich die Frau zurechtkinden; ich meine die denkende Frau, die über sich selbst, 47 ihre Stellung und ihre Aufgabe als Glied des Staates, wenn auch rechtloses, nachgesonnen hat. Ein groler Bruchteil der Frauenrechtlerinnen wird auf dem Standpunkt stehen: nur erst das Recht der Frau erringen zu wollen — alles andere käme dann schon. Ein Standpunkt, der zu verstehen ist. Jedoch eine Anzahl der denkenden Frauenrechtlerinnen (es gibt auch gedankenlose) sind entweder von Natur Politikerinnen oder sie haben sich zu einem politischen Standpunkt, zu einer festen politischen Überzeugung hindurchgerungen, und diese werden bei aller Betonung des Rechts der Frauen dennoch den gegebenen Verhältnissen Rechnung zu tragen wissen, und das bedeutet, sich stets klar vor Augen führen, was dem Fort- schritt dient und dem Ganzen frommt. Jeder wirkliche Fort- schritt aber, der dem Ganzen zu gute kommt, hilft auch der Frau, wenn auch oft nur indirekt. Man wird einwenden, man⸗ cher Fortschritt ist schon in der Welt gewesen und hat an der Stellung der Frau nichts geändert. Gewil! Aber es gab eben noch keine Frauenbewegung, keine derartigen wirtschaft- lichen Verhältnisse, die Millionen von Frauen in den Kampf ums Dasein hineinstielen, es gab keine grolen Organisationen von Frauen, die den Kampf ums -Recht aufgenommen hatten. Ich bin fest überzeugt, dal für die denkenden Frauen in der Frauenbewegung, und um diese allein handelt es sich da⸗ bei, innere und auch äulere Konflikte entstehen können, ob sie Nur-Frauenrechtlerin sind, oder ob die Bürgerin des Staates mächtiger in ihnen wirkt? Meines Erachtens wird die Politikerin die Bürgerin in den Vordergrund stellen bei aller Betonung des Frauenrechts, das sie selbstverständlich immer vertreten wird und mul). Bei vielen Fragen, die nur ihr Geschlecht betreffen, wird die Frauenrechtlerin stärker in ihr sprechen, bei politischen Fragen aber die Bürgerin. Ich bin aber ebenso überzeugt, dal dieser Konflikt an eine Anzahl Frauenrecht- lerinnen gar nicht herantritt. Sie wollen nichts anderes sein als Frauenrechtlerinnen, sie kümmern sich um allgemein poli⸗ tische Fragen gar nicht, sondern sind vollauf mit ihren ihnen zunächstliegenden Aufgaben, denen sie ihre Zeit und Kraft widmen, beschäftigt. Us sind tüchtige Arbeiterinnen auf ihrem Felde, vielleicht auch mutige Kämpferinnen für das Recht der 48 Frau, aber dem politischen Leben stehen sie fern. Wenn sie diese Begrenzung ihrer Anlagen erkennen, so mul man sie zu den klaren Naturen rechnen, die über sich selbst nachgedacht haben und sich kritisch gegenüberstehen. Leider aber haben wir auch Frauenrechtlerinnen, die da glauben, dal) der Kampf um Frauenrechte sie auch zur Politikerin eo ipso befähige. Das ist ein verhängnisvoller Irrtum, der schon manchen Schaden angerichtet hat. Möglich, dal die politisch denkende und politisch han- delnde Frau sich dann und wann zu der Nur-Frauenrecht- lerin im Gegensatz befinden wird. Im Hinblick auf den Fort- schritt des ganzen (Volkslebens könnte es sich ereignen, dal die Politikerin ihren Frauenrechtlerinnen-Standpunkt momentan zu unterdrücken für ihre Pflicht hält. Ich denke z. B. daran, dal es Frauen gibt, die das Dreiklassenwahlrecht in Preulien eventuell sogar nterstützen möchten, falls den Frauen da- durch das Stimmrecht werliehen würde. Das bedeutet doch nur Stärkung der reaktionären Mächte, ist also Hemmung des Fortschritts. Meiner Überzeugung nach ist eine solche Unter- stützung eines reaktionären Prinzips ein Verrat an dem Grund- recht des Volkes, worauf das Deutsche Reich beruht. Es ist aber auch ein Verrat an der Frauenbewegung selbst, denn niemals darf dieselbe irgend einer reaktionären Malönahme oder einem reaktionären Gesetze Vorschub leisten. Die echte Bürgerin des Staates und die echte Frauenrechtlerin kommen bei solchen Fragen nicht miteinander in Konflikt, wohl aber die mit Scheuklappen versehene Nur-Frauenrechtlerin, die nicht gewohnt ist, den Blick auf das Ganze zu richten. Es ist die grölte Inkonsequenz, wenigstens in Deutschland, für irgend ein anderes Wahlrecht einzutreten als das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, weil man sonst an den Grundpfeilern des Deutschen Reiches rüttelt. Vielleicht wird es dem Liberalismus einen kleinen An- stols geben, etwas ernster über die Sachlage nachzudenken, wenn er erfährt, dals die konservative Partei es sich sehr angelegen sein lälst, die Frauen ihrer Kreise zu schulen. . . . Ein Deutscher Frauenbund ist aus konservativen Kreisen her- aus gegründet worden. Ein politisch sozialer Lehrkursus für 4 49 Frauen wird dort veranstaltet. Die Vorträge umfassen das ganze Staatsgebiet, nichts wird unberücksichtigt gelassen, selbstverständlich alles im Lichte der konservativen Welt- anschauung. Betont wird nur in den Satzungen, „unbeschadet ihrer religiösen Stellung können Frauen und Mädchen Mit- glieder des Deutschen Frauenbundes“ werden. Hat sich jemals der Liberalismus so viel Mühe um die Schulung oder Heranziehung der Frauen gegeben? Nie. Die Sozialdemokratie hat ihre Frauen mächtig geschult; der Er- folg ist ersichtlich, viele Tausende von Frauen sind im letzten Jahre der Organisation beigetreten. Das Zentrum leitet seine Frauen durch die Geistlichkeit, die konservative Partei sucht energisch nachzuholen, Was lange versäumt worden ist, nur der Liberalismus versagt wie- der einmal. Und doch ist die Frauenbewegung an sich auf den Liberalismus angewiesen. Liegt dem Liberalismus daran, seine verlorene Position wieder zu erlangen, so muls er sich endlich aufraffen, Farbe zu bekennen, ob es ihm ernst damit ist, das vornehmste Recht des deutschen Volkes zu schützen, dann muls er Preuliens Wahlrecht zu stürzen versuchen. Konsequenterweise aber kann er dann nicht anders, als all seine veralteten Programme in den Papierkorb werfen, seine Organisationen, soweit er sie überhaupt hat, umändern und „last not least“ die Frau als gleichberechtigte Bürgerin im Staate anerkennen. Dann erst werden sich die politischen Frauen in seine Reihen einfügen können. Durch ihre langjährige Schulung im sozialen Kampf würden ihm tüchtige Kräfte zugeführt werden können. So wie jetzt die Dinge liegen, kann man den Frauen, die politisch denken, nicht verargen, dal sie miltrauisch und abwartend dastehen. Der Konflikt, ob die Bürgerin oder ob die Frauenrechtlerin stärker in ihr spricht, kann ausgelöst werden, wenn sie sich mitten in das politische Leben hinein- stellen kann. Das vermag sie bei der jetzigen Konstellation der Parteiverhältnisse nicht, — eben weil sie starke politische Überzeugungen besitzt, der Liberalismus aber für sie durch seine Schwächlichkeit keine Anziehungskraft haben kann. 50 Ein Markstein.*) „Dieser Tag gehört den Frauen“, so ertönte es am Sonntag. den 19. März, vom Podium der Rednertribüne, als in hundert und aberhundert Versammlungen der sozialdemo- Kratischen Partei zu den vielen Tausenden von Frauen vom Recht der Frauen im allgemeinen und vom Recht der arbei- tenden Frau im besonderen gesprochen wurde Ein grandioser Gedanke, dal an einem bestimmten Iage in Hunderten von Versammlungen in Deutschland, in Öster- reich, Belgien, Holland, Dänemark, in der Schweiz die Frauen aufgerufen werden sollten, um Stellung zum Franenstimmrecht und zum Wahlrecht zu nehmen. Der Gedanke war grol), — eine Gewilheit des Gelingens multe ihm zugrunde liegen — diese Gewilheit jst nicht betrogen worden. Auf dem Internationalen Sozialistenkongrel in Kopen⸗ hagen wurde der Beschluls für diese Veranstaltung gefalst. Partei und Gewerkschaften setzten ihre Kraft in gleicher Weise wie die Frauen der Partei zum Gelingen des Unternehmens ein. In Berlin und Vororten tagten allein 41 Versammlungen, ebenso waren an zahlreichen Orten im Deutschen Reiche gut besuchte, zum Teil überfüllte Versammlungen. In Wien war ein besonderer Freudentag, da den Frauen endlich durch An- stol ihrer Genossen das Recht, politischen Vereinen anzuge- hören, gewährt werden sollte. Der Freude darüber wurde durch einen Demonstrationszug, der über 25 000 Frauen umfalste, Ausdruck gegeben. Viele Genossen reihten sich in diesen grolartigen Stralsenzug ein. In Berlin hatte man, sicher infolge der trostlosen Erlebnisse mit der Polizei, von Stralsenumzügen abgesehen. Dennoch sah man zu den Ver- sammlungen Trupps von mehreren Hunderten von Frauen zie- hen, die alle von einem Gedanken beseelt zu sein schienen: Für uns ist der heutige Tag bestimmt, ja für uns allein. In einen dieser Züge reihte ich mich ein, um die herr- schende Stimmung der Arbeiterinnen kennen zu lernen, mich daran zu erfreuen, denn es war eine Freude, mitten unter die- *) 1. April 1911. 51 4* sen Frauen zu sitzen, denen es auf dem Gesicht stand, dals sie gelitten und gearbeitet hatten, dals sie erfüllt waren von dem Gedanken, wir gehören einer grolen Partei an, die sich für uns einsetzt. Diesem stolzen Bewultsein begegnete man be⸗ ständig in der Unterhaltung mit diesen Frauen. Und noch eins fiel auf, dal3 diese Frauen ebenso diszipliniert waren wie ihre Genossen. Diesen Wurde zugerufen, „dieser Tag gehört den Frauen“, und sofort erhoben sich die Männer von ihren Sitzen. begaben sich auf die Galerien oder in den Hintergrund des Sales, wo sie stehend den Reden zuhörten. Ein gemütliches Lachen durchschallte den Saal von seiten der Frauen und durch. ein ebenso gemütliches Lachen antworteten die Män- ner. In einer bürgerlichen Zeitung wurde das Benehmen als ein „ritterliches“ bezeichnet. Mich dünkt, es ist vielmehr ein selbstverständliches und fällt nur in unserem Volke auf, das noch nicht die natürliche Höflichkeit von Mensch zu Mensch kennt. Der Redner, den ich hörte, entwickelte in ruhiger, sach- licher Weise die Notwendigkeit des Stimmrechts für die arbei- tenden Frauen, er sprach von den Errungenschaften des Stimm- rechts in anderen Ländern, von den dadurch hervorgerufenen Gesetzen zum Schutz der Frauen und Kinder. Es braucht wohl nicht erst gesagt zu werden, dal der Redner betonte, wie das Stimmrecht für die Frauen nur auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zu ermöglichen wäre. „Her mit dem Frauenwahlrecht“, so lautete die Parole. Die Gründe dafür waren in einem Flugblatt gegeben, in wel- chem folgende Hauptpunkte aufgezählt waren: 1. „Ständig und in immer schnellerem Tempo wächst die Zahl der weiblichen Erwerbstätigen. Sie wächst schneller sogar als die weibliche Bevölkerung. Im Jahre 1882 wurden in Deutschland 5 541 517 weibliche Erwerbende gezählt, im Jahre 1895 dagegem 6578 550 und im Jahre 1907 9492 881 weibliche Erwerbstätige. 2. Der Dienst, den die Frau durch die Mutterschaft der Gesellschaft bietet, ist der höchst zu bewertende . . . . er ist aber auch ein schwerer und gefahrvoller Dienst. . . . Es sterben jähr- lich ca. 10 000 Frauen bei oder kurz nach der Geburt und mindestens 50 000 Frauen erkranken schwer an den Folgen der Geburt und der Schwangerschakt. 52 3. Die Frauen tragen zu den öffentlichen Lasten bei . . . sie haben wie der Mann direkte Steuern zu zahlen, in allen Fällen aber die indirekten Steuern bei fast jeder Kleinigkeit, die sie brauchen, Brot, bei jedem Stückchen Wurst, Tee, Kaffee usw. ist ohne Zweifel notwendiger für die erwerbstätige Frau als für den 4. Die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit Mann. lichen Differenzen, die vor dem Kaufmanns- oder Gewerbegericht aus- 5. Das Arbeitsverhältnis führt für Mann und Frau zu gewerb- zutragen sind. Aktives und passives Wahlrecht der Frauen ist dahen eine Notwendigkeit. 6. Für die Kranken-, Invaliden- und Unfallver- sicherung, vor allem für die Witwen- und Waisenver- sicherung ist die Wichtigkeit und Notwendigkeit des allge⸗ meinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zu den sozialen Körperschaften erwiesen. 7. Eine Reihe von Reichs- und Landesgesetzen, von kommu⸗ nalen Einrichtungen, verknüpfen das Interesse der Erwerbstätigen wio der Hausfrauen mit dem öffentlichen und politischen Leben: Zoll- und Steuergesetzgebung. . . . Es ist berechnet worden, dals auler der Einkommensteuer durchschnittlich jährlich 94 M. Steuern und Zölle auf den Kopf der Bevölkerung fallen.“ Dann geht das Flugblatt auf die Schulen usw. ein, auf die Landarbeiterinnen, auf das kommunale Wahlrecht, und schlielt mit der Bemerkung, dals das Frauenwahlrecht ein vor- zügliches volitisches Erziehungsmittel für die Frauen und für die Männer sei — denn es befördere die Entwicklung der weib- lichen Persönlichkeit — darum „Kampf um das Staats- bürgerrecht“! Wer im öffentlichen und politischen Leben steht, wird kaum etwas an dieser Beweisführung auszusetzen haben. Keine bürgerliche Frau, die sich ernst mit diesen Fragen beschäftigt. kann zu anderen Gründen kommen, es sei denn, dal sie unklar denkt und ohne politische sowie wirtschaftliche Kenntnisse ist. Es war daher selbstverständlich, dall auch bürgerliche Frauen ihre Sympathien in den Versammlungen aussprachen. Diese Sympathieerklärungen fanden überall freundliche und zustim- mende Aufnahme. Folgende Resolution wurde in allen Versammlungen ver- lesen und so viel ich erfahren habe, auch überall ohne Protest angenommen. 53 der durch die Kapitalistische Produktionsweise bedingten wirtschakt- „Die Forderung des Frauenwahlrechts ist die notwendige Folge lichen und sozialen Umwälzungen, die die Stellung der Frau von Grund aus umgewandelt haben. Die zirka 10 Millionen Frauen, die im gesellschaftlichen Produk- tionsprozel tätig sind, die Millionen Frauen, die als Mutter Gesund- heit und Leben aufs Spiel setzen, die als Hausfrauen die schwerstem Pflichten übernehmen, erheben mit allem Nachdruck Anspruch auf soziale und politische Gleichberechtigung. Die Frauen fordern das Wahlrecht, um teilzunehmen an der Er- oberung politischer Macht zum Zwecke der Aufhebung der Klassen- herrschaft und Herbeiführung der sozialistischen Gesellschaft, die erst das volle Menschentum dem Weibe verbürgt. Damit gewinnt die Frage des Frauenstimmrechts erhöhte Bedeutung für den Klassen- kampf des Proletariats, dem so ein mächtiger Bundesgenosse in seinem Befreiungskampfe erwächst. Die Sozialdemokratie ist die einzige politische Partei, die jeder- zeit den Kampf für die volle politische Eleichberechtigung des Weibes geführt hat und führt. Die am 19. März Versammelten erklären deshalb, dal sie sich zur Erringung des Frauenwahlrechts in die Reihen der Sozialdemo- kratie stellen und mit aller Energie und Begeisterung für die Er- oberung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahl- rechts zu allen öffentlichen Vertretungskörpern für alle über zwanzig, Jahre alten Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts kämpfen. Die Versammelten erklären weiter, unablässig an der Stärkung den sozialdemokratischen Organisation und der Verbreitung ihrer Presse zu arbeiten, da die wachsende Macht der sozialdemokratischen Partei die alleinige Gewähr ist für die Demokratisierung aller öffentlichen Einrichtungen und für die Befreiung der Arbeiterklasse von den Klassenherrschaft.“ Klara Zetkin hatte für diesen „grolen Tag“ der sozial- demokratischen Frauen ein Blatt herausgegeben, worin die bekanntesten Männer und Frauen der Partei ihre Ansichten zum Frauenwahlrecht kundgaben. Die Parteiblätter hatten Leitartikel gebracht u. a. m. — kurz, es war alles geschehen, um den Frauentag zu einem geschichtlichen Ereignis für die Frauen und für die Partei zu gestalten. Die musterhafte Organisation, die fast vollendete Art des Sichfügens, um des Ganzen willen, die Ruhe in den Ver- sammlungen, die Sachlichkeit der Redner, die Aufmerksamlreit der Zuhörer, — das alles multe auf jeden wirken, der Ge- 54 fühl und Verständnis für diese strebende und ringende Klasse besitzt. Unwillkürlich stand man unter der Suggestion der Massen, die wie von nur einem Gedanken durchdrungen War. Das Geheimnisvolle einer solchen Wirkung drängte sich uns auf, ob wir wollten oder nicht, wir fügten uns dieser eigen- artigen Wirkung. Ruhig, wie sie gekommen, schritten diese Massen, Männer und Frauen, aus dem Saal. „Singt doch“, riefen die Frauen, und das ergreifende Arbeiterlied erscholl, erst brausend, dann immer ferner und ferner, bis die letzten den Raum verlassen hatten. Sie zogen hinaus, diese Scharen, zu neuer Arbeit. Zu neuen Kämpfen, sie zogen hinaus, beseelt von dem Gedanken sicherlich, dals sie etwas Grolies erlebt hatten, mehr noch, und das ist das Wesentliche dieser Demonstration, sie alle fühlten sich verbunden durch den Willen, dal auch für sie das Leben nicht nur Mühen und Sorgen und Leiden haben dürfte. sondern auch Freuden und frohe Tage, dal auch sie und ihre Kinder Rechte besitzen müliten, um nicht durch des Lebens Last erdrückt zu werden. Mir aber tauchten bei dem Klang des Liedes, bei dem Herausziehen dieser Scharen, Bilder aus der Vergangenheit auf. Oft hörte ich Gesang solcher Massen, oft erlebte ich das Herausziehen solcher Scharen damals, als das traurige Sozialistengesetz fast Abend für Abend die Versammlungen zur Auflösung trieb. Auch damals zog die Menge anscheinend ruhig hinaus, aber innerlich voller Wut und Hal. Welche Wandlung! Damals die elendsten Bilder einer fast erliegenden Arbeiterschar, — am 19. März d. J. der An⸗ blick einer zielbewulten Menge, erfüllt von dem Bewultsein, durch harten, schweren Kampf auf dem rechten Wege zu sein, für sich und ihre Familie die Knechtschaft abschütteln zu Können. Wann aber werden wir „andern“ verstehen und begreifen. dal das „Volk“, dieses ringende, kämpfende, arbeitende Volk, auch zu uns gehört, wann werden wir „andern“ den Weg finden, um mit diesem „Volk“ zusammen Freiheit und Recht zu erringen? 55 Sollte es ein ewiges, ein ehernes Gesetz sein, dal die Menschheit niemals die höchste Stufe der Vollendung erreicht? Aphorismen. „Die Gleichgültigkeit der Männer gegen die Politik hängt eng mit der Interessenlosigkeit der Frauen für das öffentliche Leben zusammen. Da wo Gattin, Mutter und Tochter in Trivialitäten und Oberflächlichkeiten untergehen, kann kein geistig höheres Interesse in Haus und Familie erwachen. Uberal! da, wo wir eine rege Teilnahme der Frauen am gei- stigen und öffentlichen Leben der Nation beobachten, hebt sich dasselbe, da wo die Frau unfrei ist und fern vom poli- tischen Leben steht, sinkt ein Kulturvolk. Wenn wirklich ein- mal die Geschichte der Frau geschrieben werden wird, dann wird man bewahrheitet finden, dals die Unfreiheit der Frau und ihre Nichtzulassung zum öffentlichen und politischen Leben eine der wichtigsten Ursachen des Verfalls von Kultur und Sittlichkeit bildet.“ (Aus: Wessen Schuld? Die Frauenbewe- gung. 1. September 1900.) „Im Parteileben gilt, was überall im Leben sich voll- zieht: ein Auf und Ab, ein Steigen und Fallen, Entwicklung und Stagnation. Aber das politische Parteileben ist noch immer kein ausschlaggebendes Zeichen von wahrer, echter, groler Waterlandsliebe; nur dasjenige Volk zeigt die wahre Gröle, das sein politisches Parteileben so auszugestalten versteht. dals die Parteien sich nicht untereinander zerfleischen, son- dern dal diese Parteien durch den Volkswillen gezwungen werden, grole Ziele im Dienst des Vaterlandes ins Auge zu fassen und der Erreichung derselben zuzustreben sich bemühen.“ (Aus: Vaterlandsliebe. Die Frauenbewegung. 1. April 1907.) „Die Vertreter des Staates und die Politiker können durch ein Volk, das stark rechtlich und sittlich empfindet, zur Umkehr ihrer Denk -und Handlungsweise gezwungen werden. Wir Frauen als neuer Faktor im Staatsleben dürfen auch 56 nicht ein Titelchen von unserem Rechts- und Sittlichkeits- empfinden aufgeben. Weder in unsern eigenen Reihen, noch sonst im öffentlichen Leben darf nach dieser Richtung hin je das geringste Zugeständnis gemacht werden. Geschieht es, so reihen wir uns in die alltägliche Philistermoral und schaffen nur eine Vermehrung der sittlichen Durchschnittsqualitäten, die die Macht höher stellen als das Recht, und Moral und Moralbegriffe in der Politik als Utopie ansehen.“ (Aus: Poli- tik und Moral. Die Frauenbewegung. 15. August 1907.) 57 3. Kulturgeschichte. Religion. Die Geschichte der Menschheit.*) Die Völker ewiger Urzeit. Ein Geschichtswerk von Kurt Breysig zu studieren, ist eine Freude für denjenigen, dem Geschichte mehr ist als Hah- lenaufzählung und Schlachten oder Kriegstaten und Bewun⸗ derung einiger Staatsmänner und Souveräne, sondern der darin Entwicklung von Rassen, Völkern und Nationen sieht, eine Quelle des Genusses, denn es bringt eine Förderung des Geistes, des Gemütes, ja selbst des innersten Seelenlebens. Kurt Breysig besitzt nicht allein die so seltene Kunst der plastischen Dar- stellung, er besitzt auch eine andere Kraft, die nie versagt, die der Liebe zu dem Gegenstande, den er zu behandeln sich vor- nimmt. Keine Seite dieses Gegenstandes bleibt unbeachtet, Auleres und Inneres, Groles und Kleines, Bedeutendes und Unbedeutendes, kurz alles erfährt dieselbe eindringende und liebevolle Behandlung. Ein Mann der Missenschaft spricht zu uns, denn er forscht und gräbt, bis er zum Urgrund der Verhältnisse und der Geschehnisse hindurchdringt; ein Seher und Schauender, also der wahre Geschichtsschreiber, lält *) Titel des Werkes von Kurt Breysig. Besprochen in der „Frauen⸗ bewegung“ v. 15. Juli 1909. uns in die Tiefen des Menschengeistes blicken und eröffnet uns dadurch neue Perspektiven, um die Entwicklung der ein- zelnen Völker verstehen zu lernen. So gewinnen wir Achtung vor Kulturen, die auf anderen Lebensbedingungen beruhen, die hervorgerufen sind durch verschiedene wirtschaftliche Ver- hältnisse, Klima, Boden u. dergl. mehr, doch immerhin Kul- turen, uns fremd, aber nicht weniger lebens- und entwicklungs- fähig, wenn auch in anderer Weise. Kurt Breysigs Vorhaben, eine Geschichte der Menschheit zu schreiben, ist ein grol- artiges Unternehmen. Schon vor diesem ersten Bande stehen wir voller Erstaunen, eine solche Fülle von Wissen ist darin enthalten. Nichts langweilt dabei, denn nirgends ist ein dok- trinäres, trockenes Wiedererzählen oder gar Aneinanderreihen von Begebenheiten, sondern lebendige Schilderungen, Leben, reiches Leben wird uns vorgeführt. Grols, weitblickend, tiefforschend, alles umfassend, so hat der Verfasser sein Werk angelegt; hoffen wir, dals ihm Kraft und Mulse bleibt, sein Vorhaben unermüdlich fortzusetzen. Es wird dann dazu beitragen, die modernen Menschen eine grole Strecke Weges vorwärts zu bringen, denn nur das Eindringen in die Entwicklung der einzelnen Völker von der Urzeit bis auf die Gegenwart wird es dem jetzigen Geschlecht möglich machen — und hierbei denken wir in erster Linie an das deutsche Volk — sich selbst kritisch zu beurteilen. Breysig warnt häufig in diesem ersten Bande vor dem Dünke1 der Europäer andern Völkern gegenüber, und wir gehen wohl nicht fehl, wenn er besonders unser VVolk dabei im Auge hat, da wir im Begriff sind, uns an der Weltpolitik energisch beteiligen zu wollen. Wollte ich auf alles eingehen, was an diesem Werke fesseind ist und neue Gesichtspunkte aufstellt, wodurch nach mancher Richtung hin andere Anschauungen hervorgerufen werden, wie die bisher geltenden, so dürfte ein Broschüre daraus entstehen. Mir lag, abgesehen von dem allgemeinen Interesse, das dieses Werk erregen muls und beanspruchen kann. hauptsächlich daran, zu erkunden, inwieweit das Frauen- geschlecht in seiner Entwicklung von dem Forscher beriel- sichtigt werden konnte. Das Studium des Frauenlebens bietet 58 immer die allergrölten Schwierigkeiten. Der Faden reilt be- kanntlich immer wieder ab und kann oft erst nach grolen Zeiträumen wieder aufgefunden werden. In diesem seinem Riesenwerke durfte der Verfasser gerade diese Seite der For- schung nicht unberücksichtigt lassen, da seine Grundsätze hin- sichtlich der Geschichtsschreibung und sein Ziel bei diesem Werke ihn zwingen, mit ganz besonderer Sorgfalt den sich darbietenden Quellen nachzugehen, um sie in das richtige Sirombett zu leiten. An dem, was Breysig nun hier bietet, ist viel für uns zu lernen, denn bei keinem Abschnitt wird das Leben der Frauen unbeachtet gelassen. Was immer auch Breysig behandelt, sei es Beschreibung der Bodenbildung oder des Klimas, sei es Wirtschaftsleben, seien es die Anfänge eines Gemeindelebens, oder wenn er eingeht auf Lebens-, Seelenanschauungen. auf Dichtung, Kunst, Gesang, Tanz, Feste, überall wird die Stel- lung der Frau innerhalb all dieser hundertfachen Fragen be- rücksichtigt. Das Resultat ist aber durchweg selbst da, Wo Mutterrecht vorhanden ist, ja wo z. B. in einer oder andern Gruppe sogar zuweilen die Frauen Häuptlingswürde beklei- den: „völlige Unterordnung der Frau unter den M ann“. Professor Breysig führt uns in diesem Werke „die rote Rasse“ vor; er beweist im ersten Hauptteil das Recht dieser Wölker auf Geschichtsbeschreibung. Er spricht auch hier von Europäerdünkel, welcher die Geschichte nur als eine Europäer- Geschichte ansehen will. Die Behauptung, dals die „Natur- völker““, wie der an sich irrefiihrende Schulausdruck lautet oder die „Milden, wie man sie noch dünkelhafter auf gut europäisch bezeichnet“, keine Geschichte haben sollen, entkräftet Breysig sehr richtig mit dem Hinweis, dal man doch auch unsern Vorfahren eine Geschichte zugebilligt hat. Auch sie waren einst Naturvölker oder Wilde. „Die Kindheit des Menschen- weschlechts. die die Völker höherer Stufen längst vergessan haben,“ sie ist hier noch in blühendem Leben zu beobachten. Freilich, ewig würde dieser Zustand auch bei dem kindlichsten der Völker nicht geblieben sein; nur insofern die grausame Unterbrechung durch Völkertod oder Europäisierung diese 59 Fortentwicklung für alle Zukunft unterbunden hat, dürfen diese Glieder unseres Geschlechts genannt werden; Völker der Urzeit.“ Dieses Versenken in die Urzeit dieser Kultur, hier speziell der roten Rasse und unter dieser wieder der Kolum⸗ bianer, Bewohner der Nordwestkiste Nordamerikas, hat einen ganz besonderen Reiz. Das Studium von Land und Leuten, ihrer Gebräuche, Sitten und Gewerbearbeiten versetzt uns einerseits in die Kindheit des Menschengeschlechts, deckt uns aber auch andererseits Ungeahntes auf, nämlich den wun- derbaren Zusammenhang von vielem, dem auch wir noch heute anhängen und erklärt uns, wie das Menschengeschlecht trotz der Entwicklung und trotz seiner Kultur noch lange nicht von seinen Kindheitsideen losgelöst ist. Von ganz besonderem Interesse ist für uns der Einblick in die Gebräuche und das Familienleben der Kolumbianer. Die Form des Zusammenlebens ist die Sonderfamilie, d. h. „die Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft eines Mannes mit einer oder mehreren Frauen, die miteinander in ständigem. für die Frauen ausschliellichem Geschlechtsverkehr stehen . . . Der Geschlechtsverkehr ist durchaus nicht züigellos . . . Die Zurückgezogenheit ihrer Mädchen ist bekannt und die feile Hingabe von verheirateten Frauen, die am Meere vielleicht erst von den Weilsen eingebürgert worden ist, dort aber unter Zu- stimmung der Männer neuerdings stark im Schwange geht. ist bei ihnen selten und wird hart bestraft.“ Wir sehen auch hier wieder die unheilvolle Einwirkung der Weilen auf die Maturvölker. Breysig spricht von der besseren wirtschaftlichen Lage der Frauen als Ursache der Erscheinung einer höheren Sittlichkeit, einzelne Gebräuche deuten sogar auf eine grole Selbstzucht bei den Männern hin. Solange den Völkern jede Menschenkraft im wirtschaftlichen Kampfe nicht allein eine Notwendigkeit, sondern ein Gewinn war, solange die Schar gering war und in der Vermehrung ein Machtfaktor lag, so- lange galt auch die Frau als ein Wertobjekt. Eine rechtliche Stellung erwarb die Frau jedoch dadurch nicht. Das so viel gepriesene Mutterrecht schaffte der Frau nach Breysigs For- schungen keine ebenbürtige, noch viel weniger eine überlegene Stellung dem Manne gegenüber. Breysig definiert das Mutter- 60 recht als „ein Oheim- oder ein Neffen-, ein Mutterbruder- Recht“. Von groler Bedeutung ist für den Verfasser das In- zuchtsverbot und Anheirats gebot. Meines Erach- tens werden hier körperliche und seelische Zustände berührt, die wohl für einen Hauptanteil an der Entwicklung aus den primi⸗ tivsten Verhältnissen zu höherer Stufe die Ursache bilden. Freilich, das Inzuchtsverbot geschah nicht von Ursprung an aus höheren sittlichen Gefühlen heraus, um eine edlere Rasse zu züchten, sondern wie Breysig sagt, aus Gier der Männer nach fremden Meibern. Dennoch entstand, wenn auch erst nach langen Zeiträumen, Gesetz und Regel daraus: „Was man durch eine Reihe von Menschenaltern wünscht, macht man sich zuletzt zum Gesetz.“ Und, so fährt Breysig fort, wohl an die Starrheit und Verknöcherung mancher Gesetze der Gegenwart denkend, „dies ist nicht die schlechteste Erund- lage eines Sittengesetzes, besser jedenfalls als die Überliefe- rung einer Regel, für die alle seelischen Voraussetzungen längst dahingeschwunden sind, die man aber aufrecht erhält, weil sie durch das Herkommen, vielleicht gar durch eine Glaubenssatzung gebilligt worden ist. Mit besonderer Liebe vertieft sich Breysig in die kind- lichen Glaubensideen dieser Urzeitvölker; mit einer gewissen Wehmut beklagt er das Zerstören all dieser Phantasien, dieser Märchenwelt, die in wunderbaren Gebilden sich den Zusammen- hang des eigenen Ichs mit der Um- und Allwelt zu verschaffen und bei ihren Gebräuchen, Festen, Tänzen und Spielen diese eigenartige Verquickung von Wirklichkeit und Phantasie zum Ausdruck zu bringen versucht. Es erscheint mir stets, auch in den andern Werken Breysigs, eine seiner stärksten Seiten zu sein, dalz er es so meisterhaft versteht, sich in das Seelen- leben der Völker derartig zu versenken, dals er ihr innerstes Wesen zu erfassen versteht und immer auf das Wertvollste unseres Menschendaseins Achtung gibt, inwieweit das Gemüt ausschlaggebend ist und inwieweit bei den Völkern das künst- lerische Empfinden Einfluls auf die Gestaltung des inneren und äulderen Lebens besitzt. Breysig beklagt mit Recht die Entnüchterung unseres Lebens, den Mangel an Poesie und 61 Phantasie, die Kühle des Gemütslebens und das Ubergewicht des Verstandes. Bei aller künstlerischen Vollendung, die uns durch die Technik ermöglicht wird, sind wir nach Breysig arm an Seele, arm an Gemüt, arm an Phantasie geworden. Im zweiten Buch dieses ersten Bandes behandelt der Verfasser die Nordländer Amerikas. Es ist ein ergreifendes Bild, das uns hier vom Menschenleben vorgeführt wird. In der Einleitung sagt der Forscher: „Ein Übermal von Schwierig⸗ keiten des Bodens, von Unbilden der Witterung kann auf den Schultern eines Volkes als so schwere Bürde lasten, dal es unter ihr zusammenbricht, richtiger, dal es unter ihr sich nie zu aufrechter Haltung, geschweige denn zu starker Tat auf- recken kann.“ Dennoch weils Breysig uns in diese Eisregionen derartig einzuführen, dal wir die eigenartige Pracht dieser Eisregionen kennen, bewundern und lieben lernen, dals wir selbst an dem unendlich einförmigen und düsteren Dasein der Grönländer, an ihren Festen, Spielen und Gebräuchen teil- nehmen und auch hier, wo das Leben kaum noch Leben zu nennen ist, dennoch Spuren reicher und innerer Lebenskräfte entdecken. Also auch hier wahres, echtes Menschentum in seiner grölten Ursprünglichkeit, vielleicht gerade deshalb nor- males echtes Menschentum, da es unberührt von den Aus- wüchsen und Schädlichkeiten unserer modernen Kultur ge- blieben ist. „Die ersten Grönländer“, so berichtet Breysig. „die man nach Dänemark verschleppte, sind auf Fluchtver- suchen, die sie, um die Heimat wiederzusehen, unternahmen, oder aus unstillbarer Sehnsucht nach dem Land der Väter, gestorben. Die winterlichen Wüsten in der Nachbarschaft des Pols aber haben dieses (olk erfüllt mit der stillen Anmut seiner Lieder und Tänze, seiner Sitten, seiner Scelen.“ — Wir legen das Werk aus der Hand, das uns 80 tiefe Einblicke in die Kindheitsgeschichte der Menschheit gewährt, und stellen uns die Frage, indem wir an die Ausrottung, Zer- störung und Untergrabung all der Völker durch die brutalen Machtgelüste der Europäer und der Kulturvölker, wie sie sich zu nennen pflegen, denken, mit welchem Recht durfte das geschehen? Und wenn wirklich edle Motive dabei hier und da ausschlaggebend gewesen sind, warum suchte man nicht 62 zu entwickeln, zu erhalten, auszubauen? Warum Zerstörungs- wut? Waren und sind diese Völker nicht auf eine höhere Stufe zu bringen, — das wäre erst durch ein verändertes Werhalten der zivilisierten Welt zu beweisen — so sollte man wenigstens das Eigenartige, das ihnen Ursprüngliche, das Gute ihres Wesens zu erhalten versuchen, und ihnen die un- glückseligen, für diese Völker entschieden ungeeigneten Er- rungenschaften unserer Kultur nicht aufdrängen. Ein Beweis wahrer KKultur wäre es, wenn wir endlich so weit kämen, nicht immer unterjochen und zerstören zu wollen, sondern zu entwickeln und auszubauen. Breysigs grolartiges Werk wird hoffentlich dazu beitragen, um Achtung, ja Ehrfurcht vor jenen Völkern zu gewinnen, die, wenn auch noch auf nie- driger Stufe stehend, dennoch reiche und tiefe Quellen des Seelenlebens in sich bergen. 63 Das Gesicht Christi.*) In tiefschwarzem Umschlage liegt ein Roman Kretzers mit oobigem Titel vor mir. Fremd mutet der Titel an, fremd das Aulsere; mahnend steht darauf das Motto: „Mene, mene tekel upharsin.“ — Wenn man Kretzersche Romane zur Hand nimmt, so kann man überzeugt sein, dals man sich dadurch Stunden ernster Lektüre verschafft. Kretzer ist Realist, er wagt mit Genialität uns Bilder vorzuführen, welche, weniger künstlerisch vollendet, ans zurückstolen mülten. Der Verfasser versteht aber So lebenswahr und so packend zu schildern, dals man plötzlich wie hellsehend in dem Menschengetriebe der Gegen- wart steht. Aufgerüttelt bis auf den letzten Nerv, weil man bei dem Studium seiner Bücher nicht, soll man am Menschen- geschlecht verzweifeln, oder soll man mit ganzer Kraft. mit heiliger Elut, mit rücksichtsloser Offenheit in den Kampf für Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit eintreten. Soll man, darf man hoffen, dals die Menschheit sich zum Höheren hinauf- arbeitet? *) Die Frauenbewegung, 15. Mai 1897. Solche und ähnliche Gedanken beschäftigen mich stets bei einem Lesen von Kretzers Büchern; zögernd ging ich auch dieses Mal an die Lektüre, nichts lockte dazu; denn es stölt mich in der modernen Literatur nur zu leicht zurück, wenn die erhabene und heilige Persönlichkeit unseres christlichen Religionsstifters in oft so falscher Weise in das Gewirr der Menschengedanken hineingezogen wird. Wir haben, so ist mein Empfinden, seit Jahrtausenden ein solches Zerrbild aus der Lehre und aus der Persönlichkeit Christi gemacht, dals wir Jahrtausende bedürfen, um diese Sünde wieder gutzu- machen. — „Die Kinder erkannten Ihn zuerst.“ So beginnt das Buch. Welch eine Wahrheit in diesem Satz! In einer stillen Abendstunde nahm ich das Buch zur Hand, ich las und las; nichts konnte mich davon abbringen, oftmals war es mir, als wenn auch mir das Gesicht Christi erscheinen müsse; scheu blickte ich mich um, angstvoll forschte ich in meinem Innern, ob ich zu denjenigen gehörte, welche die Züge dieses milden Gesichts zu Schmerz, Zorn, Anklage und Verzweif- lung gebracht hätten. Eine mächtige Wandlung ging in mir vor. Als ich das Buch in später Nachtstunde aus der Hand legte, sagte ich mir: die Menschheit, der einzelne sowohl, wie die Gesamtheit, wersteht es nicht, Wort und Tat in Über- einstimmung zu bringen, nur einer verstand es, in dem die Vervollkommnung der Menschheit verkörpert ist: Christus. Seitdem gehe ich durch die Menge und suche und forsche. ob die gewaltige Lehre der Christenheit verstanden worden ist, die Lehre der Liebe und Gerechtigkeit. — Wenn die In- teressenpolitik unserer Parteien und, damit verbunden, Hetzerei und Verleumdung, so trostlos die Gegenwart zerreilsen, dann wünsche ich diesen Männern, die für Religion, Ordnung und Sitte zu kämpfen vorgeben, dals zwischen ihnen plötzlich, wie es in Kretzers Roman bei den hochtönenden Phrasen der Geistlichen, der Armenpfleger, der Vertreter der Religion und der Barmherzigkeit geschieht, Christus auftauche, und sie alle entsetzt auseinander fliehen; denn seine Züge tragen in solchem Moment den Stempel des Zornes und der Verzweiflung. Wenn ich die entsetzlichen Gegensätze der Gegenwart mir ab- 64 sichtlich tief einpräge, um nicht lau und schwächlich zu wer- den, dann empört mich der Luxus der Reichen, das lieblose Aburteilen der Elenden, Gefallenen, das Zögern von Regierung und Leitern unseres VVolkes, grole und allgemeine Abhilfe zu schaffen. In den Gerichtssälen, in den Landtagen, in den Reichstagen, in den Kirchen, in den Versammlungen aller Parteien und aller Gesellschaften mülte, wie es in Kretzers Roman so ergreifend geschehen ist, plötzlich das Gesicht Christi mahnend, warnend, zürnend, mildernd, versöhnend, erscheinen. Die Idee des Kretzerschen Romans, die Religion der Gerech- tigkeit und der Liebe einmal daraufhin zu prüfen, ob sie in der Tat ausgeübt wird, ist meines Erachtens das Bedeutende und Erschütternde in den grolartig geschilderten Szenen des sozialen, speziell des hauptstädtischen Lebens von Berlin. . . . In den letzten 'agen ist die Welt erschüttert worden durch eine der furchtbarsten Katastrophen, das Brandunglück. in Paris, das viele Opfer unter der reichen und vornehmen Welt gefordert hat. Voller Grauen liest man die Beschreibun- gen, mit tiefster Erregung hört man von den Szenen des Jam- mers und des Schmerzes. Die Beteiligten glaubten im Dienst. der Menschheit zu stehen, sie glaubten Werke der Barmherzig⸗ keit auszuüben, indem sie in lauter und prachtstrotzender Bazartätigkeit christliche Wohltätigkeit auszuführen meinten. Luxus, Uppigkeit, Heiterkeit, Freude, Glanz — ein Bild des modernen Denkens und Empfindens über christliche Liebes- tätigkeit —. eine Viertelstunde darauf: Elend, Jammer, Schmerz, Verzweiflung, — alles gleichgemacht durch den grauenvollen Tod im Flammenmeer. Ob das Gesicht Christi bei diesem Feste der Wohltätigkeit freudig auf die Menge herabgeblickt hätte, die in seinem Namen dort Werke der Barmherzigkeit auszuführen wähnte? „Die linke Hand soll nicht wissen, Was die rechte tut.“ — Man will, so heilst es. den Opfern dieses Brandunglücks ein Denkmal setzen, weil sie im Dienst für die Menschheit hingerafft wurden. Im „Dienst für die Menschheit?“ Das Gesicht Christi würde sich schmerzerfüllt verhüllen müssen. Wort und Iat in Übereinstimmung zu bringen, die Mensch- heit daraufhin zu prüfen, ob die Taten den Worten der Reli- 5 65 gion, Ordnung und Sitte entsprechen, Liebe und Gerechtig- keit nicht zur Phrase werden lassen: dann erst wird das Gesicht Christi für die Bekenner aller Religionen ein leuchtendes werden. Friede auf Erden!*) Die wundervolle Legende von dem Gesang der Hirten bei Christi Geburt wird nun bereits bald zweitausend Jahre den Völkern mitgeteilt, und ebenfalls beinahe zweitausend Jahre hat man das heidnische Fest als den Geburtstag des Herrn gefeiert, das Heidentum mit seinem Symbol des licht- geschmückten grünen Baumes ist durch die Idee des Christen- tums won dem lichtbringenden Heiland der Welt verklärt worden. Und doch ist überall das Heidentum noch vertre- ten. Das Christentum, das den inneren Menschen allein be- trifft, ihn auf seine reine Gesinnung hin prüft, das dazu be- stimmt ist, eine Weltreligion zu werden, ist in enge, schwer rasselnde Ketten geschmiedet, und Tausende und Abertau- sende lösen sich entweder gänzlich und für immer los von ihm, oder vertiefen sich in die Schönheitsformen des heiteren Heidentums, um dort Genüge für ihr inneres Leben zu suchen. Wer trägt daran die Schuld? So wird immer und immer wieder gefragt, und da die Mehrzahl der Menschen nicht gern in die Tiefen eindringt, begeht man nach wie vor mit un⸗ endlicher Verkennung der Botschaft das Geburtsfest Christi. Er wäre der Letzte gewesen, seine Geburt so feiern Zu. lassen, wie es geschieht, denn das Weihnachtsfest ist für den denkenden und empfindenden Menschen ein Schmerzensfest. Friede auf Erden! So sangen die Hirten und so singen auch heute noch die Menschen, und Unfriede überall, im Staat, im Volk, in der Kirche und in den Familien. — Friede auk Erden! So spricht ein gewaltiger Herrscher, und alle Staaten rüsten energischer denn je zum Kriege. — Friede auf Erden! So verkündet der Pfarrer von der Kanzel herab *) Die Frauenbewegung, 15. Dezember 1898. 66 und verdammt diejenigen, welche nicht streng seines Glaubens sind. — Friede auf Erden! So rufen auch die Frauen. sie treten begeistert für die Friedensidee ein, und fachen unter sich den Unfrieden an. Wer die ganze einfache Reinheit der Lehre Christi verstan- den hat und sie als unverlierbares Eigentum besitzt, der weil3, was das Wort „Friede“ bedeutet. Es ist ein Klang aus den innersten Tiefen des Menschen, dieser Klang aber tönt immer, nicht nur am Weihnachtsfest, und dieser Klang hat nichts zu tun mit dem, was die Welt mit Frieden bezeichnet. Das Weltgetriebe wird niemals den Satz „Friede auf Erden“ zur Wahrheit machen können; der einzelne Mensch nur allein ver- mag es in sich, für diesen Menschen bedarf es nicht des rau- schenden Freudenfestes, das durch die schrillen Gegensätze, welche es wachruft, nicht mit der hohen und reinen Gesinnung der Lehre Christi zu vereinbaren ist. Und doch, es liegt ein so wunderbarer Zauber im Weih- nachtsfeste, im Tannengeruch, im Lichterglanz, im Kinder- jubel; diesem Zauber entzieht sich nur der, welcher alles ver- loren hat. Für ihn ist das Weihnachtsfest ein Schmerzens. fest. Und solcher Einsamen gibt es Tausende. Möchten alle diese Einsamen den inneren Klang „Frieden mit sich selbst voll in sich erklingen hören! 67 Aphorismen. „Laute Wohltätigkeit! Wie lange noch wird sie im Mamen des Christentums getrieben werden? — Doppelte Moraſ! Darf noch ein einziger sich Christ nennen, welcher dieselbe heuchlerisch duldet?“ (Aus: Weit ab vom Christentum. Die Frauenbewegung. 1. Juli 1897.) „Die klardenkenden Frauen, die durch das Leben gestählt sind, oder die Frauen, die die hohe Aufgabe der Frau erkannt haben in Haus, Familie und Staat, die lösen sich von dem Einflulz der Geistlichkeit und der orthodoxen Kirche los. Sie werden Gottsucherinnen Wie ein Jatho, wenngleich ein Spruch- kollegium sie nicht treffen kann, sie werden den Mut haben, 5* ihrer innersten Religiosität nach zu handeln und werden nicht. in schwächlicher Angstlichkeit ihre Überzeugungen verleug- nen, wie es leider jetzt von Männern in hervorragender Stel- lung geschieht. Es werden nicht viele Frauen sein, die diesen Mut haben. Bei dem grölten Teile der Frauen ist Kirchen- gehen Mode, Gewohnheit, am Sonntag einige Stunden ange- nehm zu verbringen. Für einen kleinen Teil nur ist es inneres Bedürfnis. Die denkenden und Klar empfindenden Frauen lehnen sich gegen die Abhängigkeit von der Geistlichkeit und der Kirche auf und leben ihr eigenes, religiöses Leben für sich. Unwahr aber ist es zu behaupten, dal nur die kirchlichen Frauen religiös sind, ebenso unwahr und falsch ist es, von unserem Ar- beitervolke als einem irreligiösen zu sprechen.“ (Aus: Ernste Zeiten. Die Frauenbewegung. 1. Sept. 1911.) 68 4. Eindrücke von internationalen Kongressen. Eindrücke aus dem Internationalen Kongreß der Women's Christian Temperence Union in London.*) Hier sitze ich in der alten Memorial-Hall, wo die Re- daktion des Woman's Signal ist, um, die Pause zwischen zwei Versammlungen ausnutzend, eine kurze Übersicht von dem zu geben, was ich bis jetzt erlebt, gehört und beobachtet habe. Rings umher tobt das Londoner Leben, mein Blick fällt auf Dächer und Schornsteine und nur hier und da hat man eine Kleine Aussicht auf die endlose Wagenreihe und auf die für London so charakteristischen „Bulz“, welche den Eindruck von fahrenden Litfalsäulen machen; denn es ist alles eher darauf zu erkennen, als die Linie, welche man zu benutzen wünscht. Meine Gedanken fliegen über die See, zu meinem ge- liebten Vaterlande hin und ich sende diesen Gruls unserer *) Frauenbewegung vom 1. Juli 1895. (Stark verkürzt.) Dies war die erste internationale Tagung, der Minna Cauer beiwohnte. (Anm. d. Herausgeberin.) „„Frauenbewegung“ mit dem Wunsche, dal) auch wir einst einen solchen internationalen Kongrel abhalten können, um zu beweisen, was Frauen vermögen, wenn sie durch eine grole Organisation verbunden sind. Gestern war der Tag der Begrülung; der Sonntag war dazu gewählt, sicherlich mit Absicht, denn alles und jedes, auch dieser Kongrel trägt einen durchaus kirchlich-religiösen Charakter. Schon dals er in einer Kirche (City Temple) ab- gehalten wird, beweist, wie anders hier die Dinge liegen als bei uns. Als ich meiner liebenswürdigen Wirtin, Mrs. Pearsall- Smith, meine Verwunderung darüber ausdrückte, antwortete sie in ihrer klugen und immer schlagenden Weise: „That is not the church“ (Es ist nicht die Kirche), damit meinte sie, es ist nicht die Staatskirche, sondern es sind frei organisierte Gemeinden, welche ihre Tore für solche weltlichen Dinge öffnen. Der Raum des City Temple enthält ungefähr 2000 Plätze, doch lange vor Beginn der Begrülsung waren Gänge und Empo⸗ ren übervoll, so dal wohl weit über 2000 Personen die statt- liche mit Fahnen aus aller Herren Länder geschmückte Kirche füllten. Auf der grolen breiten Plattform, welche in eng- lischen Kirchen unter der Orgel sich ausbreitet und im Red- nerpult nach vorn hin ausläuft, hatten viele Delegierte Platz genommen, allerdings konnten bei der Menge derselben nur eine geringe Anzahl diese Bevorzugung genielen. Leise Orgel- klänge erfüllten den Raum; plötzlich ein Brausen der Menge. faschentücherschwenken, Händeklatschen und Willkommen- rufen — die Präsidentinnen, Führerinnen betreten die Platt- form: Lady Henry Somerset an der Spitze mit Mil Frances Willard und der ältesten 80jährigen Pionierin Mrs. Steward, welche in England diese Temperenzbewegung begonnen hat. Es hatte für mich etwas Ergreifendes, als ich diese drei Frauen so begrülst sah, es war der unmittelbare Impuls der Freude, der Dankbarkeit und auch wohl des Stolzes, dals diese Frauen sich und ihre Fähigkeiten in den Dienst des Ganzen ge⸗ stellt haben. „In den Dienst des Ganzen“ — diesen Satz möchte ich als symbolisch für den Kongrels hinstellen. Vieles mutet mich fremd an, vieles würde ich für unser Vaterland 69 unmöglich halten, vieles möchte ich nicht einmal so haben, wie es hier ist. doch drei Dinge sind's, welche mir einen tiefen Eindruck bei diesem Kongrel machen: Die grolen Gesichts- punkte, welche aufgestellt werden, das einmütige Zusammen- wirken bei aller Verschiedenheit der Arbeit und die Offen- heit und Freiheit der Sprache. — Mils Frances Willard sollte zuerst eine Anrede halten, sie, die alle ihre Kräfte diesem Werke in ihrem Vaterlande Amerika gegeben hat, und jetzb in Eingland in gleicher Weise arbeitet. Alle ihre Kräfte, sage ich und zwar bis zur Ermattung ihres ganzen Menschen. Es war für mich und wohl für alle Anwesenden tief ergreifend, als sie auftrat und schon durch ihre feine, höchst sympathische Erscheinung ganz allein wirkte. Wie ein schmerzliches Lied erklang es, als sie mit verschleierter Stimme Morte wärmster Begrülsung sprach und die Kürze ihrer Anrede dadurch ent- schuldigte, dalö sie sich zu ermüdet fühle, um alles das zu sagen, was sie auf dem Herzen habe. Die wenigen Sätze, die sie sprach, zeigten die Bedeutung dieser Frau, die in ihrer edlen Weiblichkeit uund in ihrem tiefen Empfindungsleben liegt, und wohl alle hatten den Wunsch, dal es dieser Frau, welche kaum 50 Jahre zählt, noch vergönnt sein möchte, wieder mit frischer Kraft ihre Arbeitsfelder zu übernehmen. Sie bat eine der Jüngsten, welche in diesem Werk jetzt tätig ist, statt ihrer über die Arbeit, wie sie jetzt in Amerika ausgeübt wird, 2u sprechen und es rief eine tiefe Ergriffenheit hervor, als sie mit den Worten endete: „Für die kommende Generation haben wir gearbeitet, wir müssen glücklich sein, wenn die Jugend unsern Platz einnimmt. 70 Nachschrift — Dienstag: Gestern abend waren wir in einem entzückend arrangierten jungen Mädchenklub, dessen Präsidentin die schöne und noch ganz jugendliche Mrs. Russe! ist. Junge Mädchen und Kinder zeigten uns, wie sie zusam- men arbeiteten. Die junge Präsidentin in the „chair“ zeigte schon alle Anlagen einer kommenden Führerin, auch sie De- herrscht die parlamentarische Form, und selbst den Kindern wird sie beim Unterricht, dem wir beiwohnten, angewöhnt. Heute war ein aufregender Morgen. Englands Frauen brachten die Frage der „Lynchjustiz“ in Amerika zur Diskussion. Eine lange, zuweilen bis aufs höchste sich steigernde Erregung kam zum Ausdrucl in der Diskussion. Das grölte Interesse riefen drei Negerinnen hervor, von denen zwei geradezu kul- minant gegen diese Justiz sprachen, mithin für ihre eigene Rasse, da das „Iynchen“ sich hauptsächlich gegen diese richtet. Zuweilen drang leise ein Klang von Eifersucht der beiden Nationen hindurch, aber nur leise. Die grolle Sache siegte; bei der Abstimmung war ein einstimmiges Veto gegen diese Art und Weise der Volksjustiz. Grandios war der Ein⸗ druck, als die einstimmige Wiederwahl Lady Henry Somersets als Präsidentin des Women's Christian Temperence Union mit- geteilt wurde. Ein minutenlanger Jubel folgte dieser Bekannt- machung. Die Einmütigkeit in allen grolen Fragen trat mir heut besonders auch in der Debatte über das Frauenblatt „Women Signal“ entgegen. Man erklärte sich einstimmig für das Blatt und fragte bei der Herausgeberin Lady Henry Somerset an. in welcher Weise man das Blatt, auler der Agitation dafür, noch unterstützen könne. Dieselbe erklärte, dal nun die Zeit gekommen sei, wo sie ohne Gefahr den verschiedenen Vereinen die erantwortlichkeit überlassen könne, Anteilscheine zu übernehmen. Man gab eine einmütige Erklärung ab, das Blatt als Organ aller „branches“ anzunehmen und Lady Somerset. welche bis jetzt die ganze Geldsorge getragen, dadurch zu entlasten, dals die verschiedenen Zweige Anteilscheine noh- men würden, welche von 20 M an ausgegeben werden sollten. Immer und immer flogen meine Gedanken über das Meer. „Im Dienst des Ganzen,“ das tritt hier so wundervoll hervor. Ich weil nun, was wir von Englands Frauen zu lernen haben. Nicht die Art und Weise ihrer Arbeit, diese ist für jedes Land eine andere, sondern das Vergessen alles kleinlichen Denkens und Handelns im Hinblick auf die Wohlfahrt des Ganzen. Wann werden Deutschlands Führerinnen dieser Überzeugung Ausdruck geben? Mittwoch. Der heutige Tag galt der Worlds Wo- mens Christian Temperence-Union, die beiden ersten gehörten 71 nur den britischen Frauen. Ich blicke in später Abendstunde zurück auf das, was wir erlebt haben, und es gibt nur ein Wort dafür: Es war grol — grols nach allen Richtungen hin. — Der ungeheure Raum von Oueenshall, der mehr als dreitausend Menschen falt, war von früh bis spät angefüllt. Mil Frances ¹Willard war „in the Chair“, wie es hier heilt, d. h. sie war Präsidentin. — Was für eine Frau! Heute abend weil) ich, was wir in Deutschlands Frauenbewegung haben müssen, um vorwärts zu schreiten; eine solche Frau fehlt uns. Trotz ihres angegriffenen Körpers, trotz ihrer geschwächten Stimme hat diese Frau diesen Tag ausgehalten und diese Riesen-Versamm- lung geleitet; immer liebevoll, doch immer fest, für jeden ein freundliches Wort, und doch die Sache stets überschauend, immer zum Scherz aufgelegt und doch mit so unendlich tiefem Ernst. Was war denn wohl das Grole an diesem Tag? War es Mils Frances Willards wunderbare Rede, eine Rede, wie ich noch fnie solche weder von einer Frau noch von einem Manne gehört habe? Waren es die interessanten Berichte aus allen Ländern, war es die Stimmung der Delegierten und des Publikums zusammen, welche sich in einigen Momenten bis zum Jubel erhob, wie z. B. beim Auftreten von Mr. McLaren. der eine kurze Zeit sich von der Sitzung des Parlaments zu dieser Versammlung begeben hatte, um derselben mit über- zeugender Kraft zuzurufen: „Nur das Stimmrecht wird es Eucl Frauen möglich machen, alles das durchzusetzen, Was in dieser grolartigen Organisation geplant ist.“ Und wer be- schreibt die Ergriffenheit aller, als Mil3 Frances Willard gleich darauf hinweis, dals die Mutter dieses Mannes eine der ersten gewesen ist, welche für das Stimmrecht der Frauen einge- treten war? War es die Grolartigkeit der Führung von Mil Frances Willard, oder die Hingebung aller an eine herrliche Sache? Es war alles in allem. Für mich war es hinreilend und doch tief schmerzlich; hinreilend, weil ich sah, was Frauen zu leisten vermögen, wenn sie den Blick auf die Sache richten; tief schmerzlich, denn Deutschlands Frauenbewegung steht noch weit, weit zurück. Als Mrs. Mclaren, Vertreterin des Stimmrechts hier, bei ihrem Bericht den Satz aussprach: „Es gibt Länder, wo die 72 Frauen noch so zu leiden haben, dals sie nicht einmal die Frei- heit der Vereinigung im öffentlichen Leben haben, wie z. B. in Deutschland“, da ertönte aus allen Kehlen ein „shame“. Wir aber dachten an unsere Erfahrung, als wir den Mut hatten, für eine Anderung der Vereinsgesetze einzutreten; Deutschlands Frauen hatten keinen Ruf „shame“ für die Sache, sondern nur Angriffe für unser Tun. Und hier müssen wir hören, wie man drüben entrüstet ist! — Der Moment aber, als Mil Frances Willard uns beide, die „deutschen Schwestern“, bei der Vorstellung der Dele- gierten an die Hand nahm und dann, sich zwischen uns stellend, ihre Hände auf unsere Schultern legte mit den Worten: „Here they are these brave sisters of dear old Germany“ und ein Brausen durch die (ersammlung ging, da waren wir für vieles, vieles entschädigt, was unser Vaterland den deutschen Frauen antut. 73 Stimmungsbilder aus dem VI. Internationalen Frauen⸗ stimmrechtskongreB in Stockholm vom 12.—17. Juni.*) Es ist in der Iat keine leichte Aufgabe, aus der Fülle der Eindrücke, die der Kongrel in Stockholm bot, das Wesent- lichste herauszufinden, um es zur Darstellung zu bringen, — es können nur Momentaufnahmen sein und zwar individueller Art. Wohl eine jede Teilnehmerin dieser fast unübersehbaren Versammlung wird das ihrer Natur nach Besondere und Eigene bei den Verhandlungen, Versammlungen und Darbietungen in den Vordergrund xücken, wird das betonen und hervorheben, wobei sie am meisten empfunden oder was ihr den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck gemacht hat. Internationale Kongresse, wie die des Weltbundes für Frauenstimmrecht, sind mehr eine Heerschau, die eine Über- sicht von der Entwicklung und dem jeweiligen Stand der Ver- *) Frauenbewegung vom 1. Juli 1911. hältnisse geben soll, als dal man bedentende positive Er- gebnisse der Verhandlungen erwarten darf. Schon allein die Sprachenverschiedenheit hindert daran, dal die Verhandlungen bis in die Tiefe gehen können, ebenfalls verlangt die Rück- sichtnahme auf die Verhältnisse der einzelnen Länder eine ge⸗ wisse Reserve, um nicht Verletzungen und Kränkungen hervor- zurufen, denn bei aller Einmütigkeit des Zieles darf der Welt- bund niemals in irgend einer Weise in die in jedem Lande anders liegenden Bedingungen zur hrreichung dieses Zieles eingreifen. Man überlege nur einmal, wie grundverschieden in jedem Lande das Wahlrecht ist, man überlege nur dabei, wie himmelweit auseinander die Lage der Frauen ist. 2. B. in den VVereinigten Staaten, England, Australien, der skandi- navischen Länder einerseits und der Frauen in Bulgarien, Ser- bien usw. andererseits. Nur der vornehmen, gerechten, ruhigen und sachlichen Leitung der allverehrten und beliebten Präsidentin des Weltbundes für Frauenstimmrecht, Mrs. Chap⸗ man Catt, gelingt es, die so verschiedenen Geister zusammen- zuhalten, den leisesten Milston zu beseitigen, so dals immer wieder die Harmonie heraustönt. Diese von der Präsidentin ausströmende Macht der Persönlichkeit ist etwas Wunderbares. Man weil nicht, was man bei Mrs. Chapman Catt mehr be- wundern soll, die stets gleiche Ruhe in der Leitung. die vol- lendete Gerechtigkeit in der Handhabung derselben, die feine Liebenswürdigkeit und die vornehme Würde, oder das reiche Wissen und das klare politische Urteil. Alles das klang aus der Eröffnungsrede heraus. Diese Rede gibt gewissermallen den Auftakt zu dem Kongrel. Weihevoll wurde sie eingeleitet in der mit reichem Fahnenschmuck aller Länder geschmückten Musikhalle, als das weilgoldene Banner von den Studentinnen üiberreicht wurde. Der Inhalt von Mrs. Chanman Catts Rede sei hier im Auszuge wwiedergegeben, denn sie umfalst das Wesentliche in der Entwicklung der Frauenstimmrechtsbewe- gung in den dem Weltbund angeschlossenen Ländern . . . . . (Es folgt ein längerer Auszug aus der Rede. Eine deutsche Übersetzung der Rede erscheint demnächst in den Flug- schriften des Preulsischen Landesvereins für Frauenstimm- recht. Anm. d. Herausgeberin.) 74 „To the wrong that needs resistance, To the right that needs assistance, To the future in the distance We give ourselves“ Mit diesen Worten schlol die Präsidentin ihre weitum- fassende Rede. Ein kaum endenwollender Beifall erscholl, die Fahnen entfalteten sich, die Menge erhob sich — ein unver- gellicher Augenblick für alle, die ihn miterlebt haben. Der Minister des Aulseren, Taube, hatte der ganzen Rede beigewohnt; der Parlamentarier Beckmann hatte vor der Rede der Präsidentin den Kongrel begrült. Und eine zweite Gestalt fesselte Auge und Sinn auf die- sem Kongrelz: Selma Lagerlöf! Wer sie in ihrer eeinfachen Würde, ihrer stillen Gröle und ihrer feinen Bescheidenheit beobachten konnte, wer das Glück hatte, mit ihr auch persön- lich zu verkehren, wer in diese tiefen, nach innen blickenden Augen geschaut hat, der hat empfunden, dal ein seltener, weit- schauender und edler Mensch vor ihm gestanden hat, eine Persönlichkeit, die alles Leid und alles Hohe, allen Kummer und alle Freuden der Menschheit versteht, durchdenkt und mitempfindet. Solche Naturen müssen dazu kommen, fest zur Frauenbewegung zu stehen, können nicht anders als das Ziel derselben vertreten. Selma Lagerlöf, die gefeiertste Dichterin der Welt. wohnte von Anfang bis zu Ende dem Kongresse bei; kaum, dal man sie bemerkte, so zurückhaltend war ihr Auftreten. Selma Lagerlöf's Vortrag im Opernhause war der Höhepunkt der so, interessanten mächtigen Versammlung, wo viele (ausende von Frauen den Rednerinnen zuhörten. Sie sprach schwedisch, dennoch verstand man sie, ihr weiches schönes Organ, das alle Empfindungen der Rednerin zum Aus- druck brachte, trug dazu bei, dald man innerlich bewegt und ergriffen wurde und sich willig dem Auf und Ab der Rede fügte. Ihr Vortrag löste eine so gewaltige Menge von Gefühlen aus, dal3 die lauschende Zuhörerschar wie gebannt sal, kein Laut war vernehmbar. Die Rednerin fesselte nicht durch Schlagworte, sie verlangte nicht nach Beifall, sie löste 75 Tiefinnerliches, Ewiges in ihren Zuhörern aus. Was sagte sie denn eigentlich? Selma Lagerlöf schilderte das Leben der Frau seit Jahrtausenden in Haus und Familie, sie zeichnete in zart-poetischen Bildern ein Idealheim und stellte dann Fragen. ob bei den veränderten Verhältnissen die Staaten Sorge ge- tragen hätten, die Schwachen zu schützen, den Elenden Zu helfen, die Wankenden zu stützen. Sie zeichnete die Hilfe, die die Frau überall dem Manne und dem Staat gegeben habe. Sie ging auf das Schwankende im jetzigen Staatsleben ein, auf das Eindringen der Frau in dasselbe, damit der Staat sich kür alle zu einem frohen und glücklichen Heim entwickeln könne usw. Selma Lagerlöf — Mrs. Chapman Catt, beide in jeder der ihnen eigenen Weise national im höchsten und besten Sinne des Wortes und international, weil nicht einseitig das Leben der Völker anschauend! Zwei solchen Führerinnen folgt man gern, weil sie gerecht, selbstlos, grols und gütig ein hohes Ziel vor Augen haben und selber ihren Worten nachleben. Waren es so die höchsten Momente, diesen beiden Frauen zu lauschen, so verlangte doch der Kongrel immer von neuem das Teilnehmen an allerlei Fragen, die die Frauen aller Länder beschäftigen. Da wurde über das Verhalten der Presse geklagt, ein Zentralprel-Bureau wurde vorgeschlagen; es wird angekündigt, dals sich eine internationale Männerliga für Frauenstimmrecht gebildet habe. Es wird angeregt, dals jedes Land eine Zusammenstellung der für Frauen geltenden Gesetze verfasse, und ein Zusammenarbeiten mit den Frauen aller Par- teien wird befürwortet, sobald der Kampf um das Frauenstimm- recht heil und aussichtsvoll ist. Es wird Protest erhoben, dal das Wort „allgemeines“ Wahlrecht nur für das Männerwahl- wahlrecht gelten soll. Ein Dankschreiben an die Regierung von Australien wird beschlossen wegen ihrer warmen Empfeh- lung an die Regierungen, das Frauenstimmrecht einzuführen, einer Sympathieerklärung für die Friedensbewegung wird zu- gestimmt. Sehr interessant waren die Berichte der Delegier- ten aus denjenigen Ländern, wo die Frauen das Stimmrecht schon haben: Australien, Neu-Seeland, Finnland, Norwegen und in den Vereinigten Staaten. Aus all den Berichten geht 76 hervor, dals die Frauen in erster Linie auf bessere Lohnver- hältnisse, auf Kürzung der Arbeitszeit, auf Mutter- und Kin⸗ derschutz hingewirkt haben. Eine lebhafte Debatte rief die Frage hervor, ob die Frauen sich an politische Parteien anschlielsen oder aulerhalb derselben sich nur der Aufgabe der Frauenbewegung und der Stimmrechtsbewegung widmen sollten. Die Ansichten darüber in fast allen Ländern waren geteilt. Es kam auch zu keiner Klarheit über diesen Punkt. Jedes Land wird wohl erst seine Erfahrungen darin machen müssen. Die Politikerinnen werden sich mit der Zeit wohl von den Nur-Frauenrechtlerinnen schei- den, doch wie gesagt, die Ansichten differierten bei allen Rednerinnen. Es würde viel zu weit führen, wenn wir hier auf alles ein- gehen wollten, was angeregt und beschlossen worden ist. Ein „Report“ über diesen 6. Weltbundkongrel wird erscheinen und wird ein vollkommenes Bild von den Anträgen und Be- schlüssen geben . . . . . . Soll ich nun etwa noch eingehen auf den wunderbaren Empfangsabend im Grand Hotel, der einer italienischen Nacht glich, oder soll ich von den Gesängen von Sven Scholander und seiner Tochter Lisa erzählen, von den schwedischen Tänzen, von dem herrlichen Zusammensein in Hasselbacken, den einzig⸗ artigen Ausflügen nach Saltsjöbaden und zum Schlol3 Grips⸗ holm? Niemand, der dies alles miterlebt und mitgenossen hat, wird diese Stunden vergessen, — so reich an Eindrücken durch die wundervollen Schönheiten der Natur und so viel- seitig durch die Unterhaltung mit liebenswürdigen Menschen aus den werschiedenen Nationen. Vergessen aber darf ich nicht der weiblichen studentischen Jugend, die in ihrer male- rischen weilien Tracht und den breiten blau-gelben Schärpen, in ihren weilen Mützen solchen heiteren Eindruck machten, und so mnermüdet ihrer Pflicht oblagen. Von früh bis spät waren sie zur Stelle, immer bereit zu helfen, zu ordnen, und immer freundlich und liebenswürdig. Stundenlang hatten sie oft bei den grolen Versammlungen das schwere Banner zu halten. Sie standen wie Wachen bis tief in die Nacht, sogar vor dem Podium im Volkshause, wo die Sozialdemokratie zu 77 Wort kam uund den Kongrelmitgliedern wie dem Volke die Motwendigkeit des Frauenstimmrechts dargelegt wurde. Kein Geringerer als der Bürgermeister von Stockholm, Lindhagen, der Sozialist ist, sprach zu den Versammelten, seine Schwester, auch Sozialistin, leitete die Versammlung. Welche Gedanken strömten dabei auf uns ein, als wir das mit reichem Blumenschmuck versehene Podium erblick- ten, davor wie Schildwachen die Studentinnen und dazu Worte von sozialdemokratischen Rednern und Rednerinnen. Deutsch- lands Untergang würde prophezeit werden, wenn solche un- erhörten Dinge bei uns vorkämen; die Studentinnen würden schlankweg aus der Universität auf Nimmerwiedersehen ver- schwinden. Es gibt eben Völker, die frei und grols denken. Im Ausland empfindet man oft mit tiefem Schmerz, dal3 Deutsch- land sich irrt, wenn es glaubt, in der Welt voran zu sein. Und so von Herzen fröhlich sind wir mit dieser jungen Welt gewesen nach dem grolartigen Fest in Hasselbacken. Wer von uns, der dieser kleinen Machfeier beiwohnte, wozu plötzlich diese junge Schar einlud, wird nicht gern dieser Stunden gedenken, die wir bei Gesang und fröhlichen Reden unter der Jugend verlebten. Der Kongrel in Stockholm war vollendet organisiert; die Schwedinnen haben ein Meisterwerk geleistet. Die Gast- freiheit war bewundernswert. Wenn auch die Stadt 3000 Kronen beigesteuert hatte, so war damit doch nur die Unter- lage gegeben. Es wurde uns mitgeteilt, dal jedes Stimm- rechtsmitglied je eine Krone zum Ausgleich der Kosten bei- getragen habe. Ein nachahmungswertes Beispiel! Der nächste Kongrels wird in zwei Jahren in Budapest stattfinden. „Die Staaten sind in ein Schwanken geraten“, so sagte Selma Lagerlöf. „Unser ist der Sieg“, so sprach Mrs. Chap- man Catt. Liebe zum eigenen Lande trat bei allen hervor, ein Gefühl aber beseelte uns — über dem allen steht der grolie internationale Gedanke des Zusammenhanges aller Völ- ker und damit verbunden der Kampf der Frauen um ihre Rechte und ihre Freiheit. 78 Aphorismus. Miemals, so lange die Welt besteht, sind zwei so grol- artige Bewegungen in die Erscheinung getreten, wie wir sie jetzt erleben — Arbeiter- und Frauenbewegung —. Niemals aber auch haben wir in der Weltgeschichte bis jetzt werzeichnen können ein so starkes Rechtsgefühl, so tiefgehendes soziales Empfinden, so das Pflegen eigenartiger nationaler Entwick- lung und doch dabei das Hinneigen der Völker, sich mitein- ander zu verständigen, um nicht durch blutige Taten Hals und Groll hervorzurufen, sondern um durch gemeinsame Arbeit den Fortschritt der Menschheit zu fördern. Wer die Freudigkeit besitzt, in dem jetzigen Wirrwarr die Quellen herauszusuchen, die trotz allem rein und klar sprudeln, wer sich sagt, dalz es unnatürlich ist, die Welt in Maffen starren zu sehen, bei der entschiedenen Haltung der Wölker, diese Unnatur zu beseitigen, der wird bereit sein, trotz aller Enttäuschungen an seinem Teil mitzuarbeiten, den Völ- kern Frieden für ihre Entwicklung zu schaffen und den Mächten im Staat ein Halt zuzurufen, wenn aus dem Volke unverständ- lichen Gründen verderbenbringende Gefahren heraufbeschworen werden.“ (Aus: Die Annäherung der Völker. Die Frauen- bewegung 1. April 1909.) 79 5. Zum Gedächtnis grober Menschen. Kaiserin Friedrich.*) Aus persönlichen Erinnerungen. Das Hinscheiden der hochbegabten Fürstin ruft unwill- kürlich die Zeiten wieder wach, in welchen die Kronprinzessin als zukünftige Herrscherin des Deutschen Reiches eine um 80 bedeutendere Beachtung in der Offentlichkeit erfuhr, als man wulöte, welche feste und klare Stellung die hohe Frau zu den verschiedenen Seiten der sozialen Frage einnahm. Die Kron- *) Die Frauenbewegung v. 15. August 1901. prinzessin des Deutschen Reiches hat niemals ihre An- sichten verleugnet, als Kaiserin des Deutschen Reiches durchlebte sie nur eine kurze, qualerfüllte Zeit, als Kaise- rin-Mitwe trat sie bald gänzlich in den Hintergrund, für eine Natur, wie die der verewigten Fürstin, sicherlich eine mit schweren, inneren Kämpfen verbundene Stellung. Sie zeigte aber auch hierbei ihre ganze Charakterstärke. Von dem Augenblick an, wo sie nicht mehr als regierende Herrsche- rin galt, verschwand sie nach und nach leise, fast unmerklich aus dem öffentlichen Leben der Gegenwart. Nur selten noch erschien sie in der Hauptstadt, noch seltener sah man sie in der Offentlichkeit; zurückgezogen lebte sie auf ihrem Schlosse Friedrichshof, bis die tückische Krankheit ihre anscheinend so kräftige Konstitution durch schmerzvolles Leiden unter- grub und dahinraffte. Kaiserin Friedrich war ein Charakter, eine festgeprägte Persönlichkeit. Jeder, der jemals zu ihr durch Arbeit in Be- ziehung trat, fühlte das sofort. Sie war ein starker Geist, der schnell den Kernpunkt jeder Sache erfalste, allerdings impulsiv leicht erregbar, doch scharfblickend, geistvoll, immer bemüht, die Zeitströmungen zu verstehen; kleinliche Auffas- sung lag ihr fern; die grolen Gesichtspunkte fand sie schnell heraus, sie War somit eine geborene Herrscherin mit allen Licht- und Schattenseiten derselben. Dals man bei der Kaiserin Friedrich am preulsischen Hofe die letzteren nur sah und sehen wollte, ist bei den eigentümlichen Verhältnissen desselben nicht zu verwundern, dals man die ersteren nicht zur Geltung kommen liel, ist aus demselben Grunde ebenfalls erklärlich. Die Kronprinzessin, ihrer Stellung nach, war, wie gesagt, eine zu bedeutende Persönlichkeit, um sie unbeachtet zu lassen; sie selbst aber war zu stolz und freimütig, um immer Vor- sicht in ihrer überaus schwierigen Lage zu üben. Im Hof- leben, wenn noch nicht an herrschender Stelle stehend, ist es gefährlich, seinen Charakter durch feste Grundsätze und bestimmte Ansichten zu dokumentieren, die Kronprinzessin trug mithin durch ihre Anlagen viel zu ihrem so tragischen Geschicke bei, und als dasselbe sich zu einer wahrhaft ergrei- fenden Tragödie in ihrer kurzen Herrscherinnenzeit gestaltete. 80 ertrug sie alles mit Charakterfestigkeit, Würde und bewun⸗ dernswerter Kraft. — Es ist oft in verschiedenen Kreisen die Frage aufgeworfen worden, ob die Frauenbewegung in Deutschland eine Förde- rung durch die Kaiserin Friedrich als Herrscherin erfahren haben würde. Nach mancher Richtung hin jedenfalls. Das Eine steht fest: Verständnis hätte sie der Bewegung entgegen- gebracht, studiert hätte sie dieselbe, ihre Stellung für und wider den verschiedenen Seiten der Frage gegenüber hätte sie freimütig bekannt. Manches würde der Frauenbewegung leichter geworden sein, zu erreichen, manches würde bei der Servilität unserer malgebenden Kreise zu bedenklichen Kon- sequenzen geführt haben; man würde um irgend einer schnell hingeworfenen impulsiven Aulerung willen manches in die Tat umzusetzen versucht haben, ohne dabei die damit verbun- denen Folgen in Erwägung zu ziehen. Es war mir vergönnt, einige Jahre hindurch unter der Kronprinzessin auf einem bestimmten Felde zu arbeiten, später dann an den Teeabenden teilzunehmen, zu welchen die Fürstin auch noch als Mitwe bei ihrem kurz bemessenen und seltenen Aufenthalte in Berlin diejenigen Frauen einlud, welche ent- weder einst mit ihr zusammen gearbeitet hatten, oder welche an der Spitze von Institutionen standen, deren Protektorin sie War. Es waren fast durchweg bürgerliche Frauen. In liebenswürdiger, an den Schicksalen jeder einzelnen teil- nehmenden Weise, hin und wieder humoristisch oder leise ironisch sich über Tagesfragen auslassend, so gab sich die Fürstin an diesen Abenden, wo sie sich wohl zu fühlen schien. und sich sicherlich mehr als Mensch zeigte, wie in dem grolen Zeremoniell des höfischen Lebens, dem sie bekanntlich so viel wie möglich auszuweichen suchte. Menschlicher aber noch zeigte sich die hohe Frau im persönlichen Verkehr, welcher durch die Arbeit eintrat. Hierbei lernte man ihre ganze Eigen- art kennen, ihre grole Begabung zu organisieren und erkannte bald ihren freien Blick für die sie umgebenden (Verhältnisse und die Strömungen der Zeit. Im Anfang der achtziger Jahre war die Judenhetze wieder einmal mit einer gewissen Heftigkeit in den Vordergrund ge- 6 81 treten; mein Mann nahm damals als Stadtschulrat von Berlin Stellung dazu in öffentlichen Reden, da man die Judenfrage in die höheren Schulen hineinzutragen sich bemühte. Der Kronprinz Friedrich Wilhelm wie seine Umgebung traten be- kanntlich gegen diese Hetzerei auf. Bei dem letzten Vortrage meines Mannes vor seinem Tode, welchem derselbe Lessings Ideen über Religion zugrunde gelegt hatte, erschien in fast ostentativer Weise der Kronprinz mit Gemahlin und ihr Hof. Von dieser Zeit an trat der Kronprinz und seine Gemahlin in Beziehung zu meinem Manne. Diese Beziehungen wurden dann später in wohlwollender Weise auf mich übertragen, im An⸗ denken an den Verstorbenen, den das hohe Paar schätzen ge- lernt hatte. Die Kronprinzessin hatte auch wohl dabei die Absicht, mich für die Arbeiten einer Neuausbildung von Krankenpflege- rinnen zu gewinnen, da ich der Kronprinzessin als Leiterin einer ins Auge gefalten gröleren Organisation für Krankenpflegerinnen nach englischem Muster eine Jugend- bekannte von mir, Luise Fuhrmann, vorgeschlagen hatte, die sich später als eines der genialsten und bedeutendsten organi- satorischen Talente auf diesem Gebiete erwies, leider aber zu früh durch den Tod ihrem erfolgreichen Wirken entrissen wurde. Das, was der Kronprinzessin bei dieser Neuschöpkung vorschwebte, ist teilweise durch das schnell emporgeblühte Wiktoriahaus in Berlin verwirklicht worden. Der jetzige Kampf um die Stellung der Krankenpflegerinnen wird nach und nach die Vollendung der Idee der Fürstin zeitigen. Sie wollte die Krankenpflege als Beruf für die Frauen. Sie sprach es unum- wunden in den Sitzungen aus, welche sie in musterhafter Weise leitete, dalz das Diakonissentum nicht für jedermann sei, dal3 aber, um eine weltliche Krankenpflege zu schaffen, nur die beste und gediegenste Ausbildung ein Aquivalent für das fest organisierte und von aulsen her so geschützte Diakonissentum bieten könne. In den persönlichen Audienzen, welche mir, der damaligen Schriftführerin dieser Neuschöpfung, zu teil wurden, empfand ich oftmals die grole geistige Stärke und Begabung der Fürstin. Ihre Unterhaltungsgabe war fesselnd 82 und bedeutend, zuweilen scharf und verurteilend, sobald es sich um Engherzigkeit und kleinliche Auffassung handelte. So verurteilte die hohe Frau oft in bitterer Weise die klein- bürgerlichen Ansichten der deutschen Frauen; es wurde ihr herzlich schwer, damit zu rechnen. Sie beschuldigte nicht die Verhältnisse dafür, sondern sie klagte die deutsche Frau an. dals dieselbe nicht verstanden hätte, sich eine einflulreichere Stellung zu erringen. Erweiterung der Berufstätigkeit der Frau, Teilnahme an gemeinnütziger Arbeit, die beste und ge- diegenste Ausbildung, — alles das wurde von der Kaiserin immer und immer als Mittel zur Hebung des Frauengeschlechts betont. Die Kaiserin vertrat den Gedanken und sprach den- selben offen aus, dals der Einfluls der Frau auf allen Gebieten ausschlaggebend sei, erniedrigend oder erhebend, herunter- ziehend oder bildend, hemmend oder fördernd. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, verlangte sie eine allgemeine Hebung des Frauengeschlechts. Nicht für politisches Stimmrecht der Frau würde sie vielleicht eingetreten sein, aber sie forderte die Teilnahme der Frau an dem ganzen grolen öffentlichen Leben. Bei ihrem beständigen Bemühen, ihrer Zeit Verständ- nis entgegenzubringen, würde die Fürstin auch neuen Rich- tungen und Strömungen der Frauenbewegung Rechnung ge- tragen haben.. Von Natur besal die Kaiserin eine hohe poli- tische Begabung, sie vermochte es schwerlich, sich in die IIn- reife und Unzulänglichkeit einer unpolitischen Denkweise hinein- zufinden. Kaiserin Friedrich ist oft und vielfach millverstanden worden, auch von den deutschen Frauen, man stand der geist- vollen Frau vorurteilsvoll gegenüber, man sah in ihr die Eng- länderin und nicht die deutsche Fürstin. Was bei einer längeren Dauer ihres Herrschertums die Oberhand gewonnen hätte, entzieht sich der Beurteilung. Die Fürstin war stets bemüht. deutsche Art zu verstehen. Das, was man von preulischen und deutschen Prinzessinnen stets verlangt, wenn sie in ein fremdes Land ziehen, — deutsches Denken und Empfinden fest- zuhalten und zu pflegen, machte man der Kaiserin Friedrich zum bittersten Vorwurf, weil sie englisches Denken und Emp- finden nicht verleugnete. Allen voran in der Verketzerung 83 6* der Fürstin waren in der schwersten Zeit ihres Lebens die kon- servativen Blätter, welche jetzt beim Hinscheiden derselben nicht genug des Lobes aussprechen können. Man verlangte von der hohen Frau preulische Denkweise, die Beurteilung aller Werhältnisse von preulischen Gesichtspunkten aus. Das vermochte sie nicht, sie hätte denn Untreue an sich selber üben müssen. Nichts ist dieser Fürstin an menschlichem Leid, Kummer und Kämpfen erspart worden, auch das nicht, in ihrem edlen Streben um die Hebung des deutschen Frauengeschlechts von demselben verkannt zu werden. Man folgte der herrschenden Stimmung, nicht einer gerechten Abwägung der Charakter- eigenschaften dieser geistig hoch bedeutenden Frau. 84 Eine Kämpferin für Recht, Wahrheit und Freiheit.*) Die Hoffnung, welche am 10. März an SusanAnthonys Lager so freudig sich Bahn brach, dal die grole Lebenskraft und starke Konstitution die Krankheit überwinden würde, hat sich nicht bewahrheitet. Susan Anthony erlag einer plötzlich eintretenden Herzschwäche am 13. März. Ihre nächsten An⸗ gehörigen und Freunde umstanden ihr Lager. Reverend Anna Sham, welche auf Wunsch der Kranken noch herbeigerufen wurde, erhielt die letzten Bestimmungen und empfing die letzten, mit vollem Bewultsein ausgesprochenen Worte: „Mehr als 66 Jahre harten Kampfes habe ich ausgeführt, und doch ist nur so Wenig Freiheit erreicht worden; zu sterben, ohne den vollen Erfolg zu sehen, ist grausam.“ Anna Shaws Entgegnung: „Doch dieser glänzende Kampf hat das Leben der Frauenwelt überall verändert,“ brachte der Kranken den letzten Trost, der sich in den Worten kundgab, „dann habe ich nicht umsonst gelebt“¹. Nein, sie hat nicht umsonst gelebt, aber Susan Anthony teilte das Schicksal derer, welche ihr ganzes Sein für eine grolse Idee einsetzen und durch schwere Enttäuschungen hin- *) Frauenbewegung v. 15. April 1906. durchgehend, am Ende ihres Strebens nur bekennen können: Die Idee war grol, das Menschengeschlecht aber war klein. Susan Anthony war eine jener Naturen, welche aus sich selbst alles schöpfen, welche nicht anders können, als Wahr- heit suchen und Wahrheit in schlichter, klarer, überzeugender Weise verkünden. Sie war keine Gelehrte, und doch wulite und kannte sie viel, das volle, ganze Leben war ihre Lehrmeisterin. Sie war eine geborne Rednerin, denn aus ihrem Impuls heraus. immer die Situation erfassend, wulöte sie zu fesseln, wenn es sein mulste durch Schärfe und Rücksichtslosigkeit den Gegner treffend, sobald er vom Wege des Rechts und der Wahrheit abwich. Alles was an Gesinnungslosigkeit, Mangel an Mut, niedrige Denkart und illovales Verhalten erinnerte, fand keine Gnade vor ihren Augen, schonungslos wulte sie dann zu geileln durch Ironie, Satire und bitteren Ernst. Alles aber, was an Grölse, Edelsinn und Gerechtigkeit mahnte, fand von ihr die grölte Anerkennung und Bewunderung dem Freunde und dem Feinde gegenüber. So ist Susan Anthony im wahren Sinne des Wortes eine Erzieherin für das öffentliche Leben in ihrem Volke gewesen. Grol und unvergellich steht sie da als Vor- und Mitkämpferin für die fundamentale Idee der Frauenbewe- gung; grols und unvergellich steht sie da als die Erzieherin zu sittlichen Grundsätzen im öffentlichen Leben und im schweren Kampfe für die Idee. Nie kannte sie andere Waffen als die der Wahrheit, Gerechtigkeit und des sittlichen Mutes. Wo sie Niedertracht und Gemeinheit fand, wich sie, jedoch erst dann, wenn ihre edlen Waffen erschöpft waren. Mrs. Chapman Catt hat am Grabe von Susan Anthony gesagt, sie war vielleicht die grölte Frau ihres Jahrhunderts, nicht allein durch das, wofür sie lebte, kämpfte und litt, sondern mehr noch durch die Gröle und Lauterkeit ihres Charakters. Ein volles Lebensbild von Susan Anthony zu geben, ist hier unmöglich. Was sie mit ihrer treuen Gefährtin Mrs. Elizabeth Cady Stanton erlebt, erstritten und gewirkt hat, das haben diese beiden treuen Kämpferinnen in dem Werke niedergelegt, welches in vier dicken Bänden vorliegt: „The History of Woman Suffrage“. Eine seltene Vereinigung bieten diese beiden Frauen, so verschieden in ihren Charakteren, ja auch in ihren 85 Erscheinungen, ebenso verschieden in ihrer Lebenslage und. in ihrem Lebensgang, doch fest und innig verbunden für das grolse Werk und für diese die ganze Welt umfassende Idee der Befreiung der Frau. Mrs. Cady Stanton war die ergiebigste Schreiberin, Susan Anthony dagegen die Sammlerin aller Doku⸗ mente, Flugschriften, Gesetze usw. Auf der Plattform waren sich beide Frauen gleich, — sie wirkten begeisternd, weil sie von ihrer Idee erfüllt waren, sie sprachen von dem, was ihr Herz und ihre Seele beherrschte, sie sprachen aus ihren Er- fahrungen heraus, sie standen inmitten des öffentlichen Lebens. alles Kleinliche und Engherzige fand keine Gnade vor ihren Augen, und so, wenn auch oft enttäuscht, bitter verfolgt und noch bitterer verdächtigt, schritten diese beiden Frauen vor- wärts, unbeirrt, niemals entmutigt, bis der Tod dieses herrliche Band zerrilz. Susan Anthony aber wanderte weiter, umgeben von einer Schar treuer, jüngerer Anhängerinnen, die mit gleichem Mut wirkten, um die grole Idee der Befreiung der Frau immer weiter und weiter in alle Lande, über den ganzen Erdball zu tragen. Susan Brownell Anthony war am 15. Februar 1820 in Adams in Massachusetts geboren, sie war die Tochter eines Quäkers, also Angehörige der Gemeinde, welche die Gleichbe- rechtigung der Geschlechter anerkennt. Mit 15 Jahren war sie Lehrerin und kämpfte für die Hebung dieses Standes. Sie schlolz sich der Temperenzbewegung an, trat für die Befreiung der Sklaven ein, wirkte dann, da sie die Vergeblichkeit aller Frauenarbeit einsah, wenn die Frauen nicht als gleichberech- tigte Bürgerinnen des Staates galten, nur noch für den Kampf zur Erreichung des Frauenstimmrechts. Unermüdlich bahnte sie den Weg dafür, unermüdlich, ohne Rast und Ruh eilte sie in ihren jüngeren Jahren von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort, sie drang in die unwegsamsten Stätten ein, da, wo einsame Farmer wohnten, sie scheute nichts, weder die Staatsgewalten noch die vornehmen Klassen, — überall trat sie mit uner- schrockenem Mut auf als freie Bürgerin eines freien Landes, überall die Wahrheit und das Recht mit zündenden Worten verkündend. Keine Beschimpfung, keine Verdächtigung, keine Werfolgung, keine, und auch die gehässigsten Angriffe nicht. 86 hielten sie von diesem Kampfe ab. Sie ermüdete niemals, jede Niederlage rief in ihr erneute Kraft hervor. Oftmals be- siegt, stand sie dennoch immer als Siegerin da. Wir Anhängerinnen des Deutschen Verbandes für Frauen⸗ stimmrecht haben Susan Anthonv wohl in dem ergreifendsten Moment gesehen, den sie erleben konnte. Sie war im Jahre 1904. trotz ihres hohen Alters noch nach Europa herüber- gekommen, um einerseits den Weltbund für Frauenstimmrecht zu gründen, und andererseits dem Internationalen Frauenkon- grels beizuwohnen. Niemand von uns, der damals die Freude hatte, eingehender und persönlich mit ihr zu verkehren, als es im Getriebe eines Kongresses möglich ist, wird es vergessen, wie schlicht, wie heiter, wie hoffnungsfreudig diese Greisin über alles dachte, und wie sie es verstand, mit aller Kraft noch zu wirken, sobald es sich um die ertretung der Idee handelte. . Es gehört nicht hierher, darzulegen, wie alles und alles versucht worden war, um Susan Anthony gegen die deutschen Führerinnen des Frauenstimmrechts einzunehmen; es ist unsere Pflicht, hier festzulegen, dals Susan Anthony nicht allein mit grolser Achtung für dieselben geschieden ist, sondern dal sie ihnen Liebe und Freundschaft zuteil werden liel3. Der grölte Moment ihres Lebens, der ergreifendste für alle, die diesen Moment miterlebt haben, war der, als die Greisin aufrechtstehend mit dem Hammer in der Hand (der von den Frauen des Staates Mvoming, als erstem Staat, welcher den Frauen das Stimmrecht verlieh, zur Gründung des Weltbundes für Frauenstimmrecht gestiftet war) durch den Hlammerschlag die Gründung verkündete und dann mit bewegter Stimme zu uns sprach. Eine tiefe Ergriffenheit ging durch die Reihen, eine nie endenwollende Begeisterung brach hervor. Das Werk ihres Lebens sah Susan Anthony besiegelt, die Frauen aller Tänder verpflichteten sich für die Rechte und für die Be- freiung der Frau durch die Erkämpfung des Rechts als Bür- gerin des Staates einzutreten. Wir haben uns am 4. Juni 1904 verpflichtet, die Be- freiung der Frau im Namen der Wahrheit und der Gerechtig⸗ keit zu erkämpfen. Diese grolle Führerin ruht nun von ihrem 87 langen, mühevollen Kampfe aus, diese Streiterin für Wahr- heit und Recht. Wir aber haben ihr Werk fortzusetzen. Das (aterland ehrte diese einst so verfolgte und 8so oft. verdächtigte und beschimpfte Frau bei ihrem Hingang wie eine der ersten des Landes. Die Fahnen wurden auf Halbmast. gesenkt, alle Glocken der Stadt läuteten, in der Kirche von Rochester wurde die Leiche ausgestellt und Stunden um Stun- den defilierte das Volk an dem offenen Sarge vorüber, bei welchem Studentinnen Wache hielten. — Ein grolses Werk hat diese Frau begonnen, sie hat die Wege gebahnt und gezeigt, wie das Werk zu vollenden ist. Susan Anthonys letztes Wort, als sie im kleinen Kreise in Berlin Abschied von uns nahm, lautete: „Nur wenn die Frauen immer loval denken und loval handeln, wird ihre Sache siegen“, — dieses letzte Wort sei uns in unserm schweren Kampfe allzeit die Richtschnur unseres Empfindens, Denkens. und Tuns! 88 K Druck: W. & S. Loewenthal, Berlin C. 19. Die Frauenbewegung Herausgegeben von Minna Cauer. Verlag: W. & S. Loewenthal, Verlagsbuchhandlung, Berlin C. 19 Grünstr. 4 Die Frauenbewegung erscheint am 1. und 15, jeden Monats und ist durch alle Buchhandlungen, Postämter, sowie durch den Verlag zu beziehen. Die Frauenhewegung behandelt alle politischen, sozialen and kulturellen Fragen der Gegenwart mit Beziehung auf das Leben der Frau und gibt einen Überblick über die gesamten Frauenbestrebungen des In- und Auslandes. Die Monatsbeilage „Zeitschrift für Frauenstimmrecht" berichtet üben die aktuellen Ereignisse der Stimmrechts- bewegung aller Länder. Preis für beide Blätter zusammen vierteljährlich nur 1 Mk. Probenummern gratis durch das „Pressekomitee Frauenbewegung". Berlin W., Neue Winterfeldtstr. 17. K A13. 3064 K