Yx 25491 P. 1891.1746. Plein air. Roman von H. Dohm. Berlin 1892. Verlag von F. & P. Lehmann. Plein air. Plein air. Roman von H. Dohm. Berlin 1891. Verlag von F. & B. Lehmann W., Körnerſtraße 2. Ex Biblioth.Regia Berolinensi. Die Gräfin Stella Ronald Büren war von einer mehrſtündigen Ausfahrt noch nicht zurückgekehrt. Man erwartete ſie jeden Augenblick. Es war ein eigenartiger Salon, den die Kammer⸗ jungfer eben öffnete, um nach dem Kaminfeuer zu ſehen. Ein Theil des Raumes wurde von einem rieſigen japaniſchen Schirm eingenommen, der bis zum Plafond reichte. Eine perſiſche Ampel hing von dem Geſtell des Schirmes herab, halb verſteckt von der braungoldenen Palme, die ſich um den Stock des Schirmes ſchlang. Darunter ſtand die Chaiſelongue. Eine Decke von crémefarbenem, ſchimmerndem Sammet mit phantaſtiſcher Blumenſtickerei lag darauf; das Kiſſen war von dunkel⸗ rothem Sammt, mit uralter Goldſtickerei eingefaßt; auf dem Tiſchchen vor der Chaiſelongue befand ſich die reizende kleine Büſte eines Kindes, eine ſeltene Vaſe mit einem duftenden Veilchenſtrauß, allerhand Bücher. Die Polſter in dem Salon, von lichtem, ſilberdurchwirktem Stoff, wirkten wie zarter Nebeldunſt unter den ſonnigen 1. Farben der orientaliſchen Decken, die darüber lagen oder hingen. Tiſche, Stühle, Möbel, darunter kleine, offene Bücherſchränke, Alles war von graziöſer Schnitzerei, Ebenholz mit bunten Intarſen. Auf dem Schreibtiſch eine Fülle der eleganteſten Utenſilien, jedes kleinſte Geräth eine Entfaltung von Phantaſie und Kunſt. Von dem dunklen Majolika⸗Ofen leuchtete aus einem antiken Gefäß ein wildphantaſtiſcher Makart⸗ ſtrauß herab. Fremdartige Vögel ſchwebten in den Falten ſchwerer Sammetportieren. Wohin das Auge fiel, überall alte Stickereien auf verblichenem, vornehmem Sammet, die Stickereien aber mit ſo vollendeter Kunſt und in ſolcher Farbenſchönheit ausgeführt, als hätte eine heilige Thereſe oder Agate ſie in einer Verzückung geſtickt, Blumen und Arabesken hatten etwas viſionäres. Größere echte Kunſtwerke fehlten gänzlich in dem Gemach. Faſt naiv nahm ſich zwiſchen all' der Pracht ein lebendiges Dompfäffchen in einem einfachen Bauer aus. Am Tage der Verlobung hatte es Graf Ronald Büren ſeiner Braut geſchenkt. Es pfiff die Melodie zu dem Lied: Es vergeht kein Stund' der Nacht, wo nicht mein Herze wacht und Dein gedenkt u. ſ. w. Später, ſo oft Stella mit der Hand leiſe über das Bauer ſtrich, pfiff das Vögelchen immer dieſelbe Melodie. Hinter dem Schreibtiſch, der ſeitwärts vom Fenſter in einer Ecke ſtand, waren die bronzenen Leuchter, die die elektriſche Beleuchtung vermittelten, durch friſche Palmen und blühende Gewächſe halb verborgen. Zwiſchen den Pflanzen ſchienen die großen, phan⸗ 2 taſtiſchen, roſigen Rieſenblumen, denen das elektriſche Licht entſtrömte, hervorzuwachſen. Die ganze Wand hinter dem poeſievollen Arrangement beſtand aus einem bis zur Decke reichenden Spiegel, der Blumen, Palmen, Licht wiederſtrahlte und dem Raum eine geheimnißvoll reizende Vertiefung gab. Durch eine einfache Vor⸗ kehrung ließ ſich das elektriſche Licht in verſchiedenen Farben herſtellen. Der Charakter des Salons, obwohl er der Mode⸗ richtung Rechnung trug, war von phantaſtiſcher Koketteric, von träumeriſcher Pracht. Doppelte Vorhänge an den Fenſtern ſchloſſen die Außenwelt ab. Etwas Blumiges, an Indien, den Ganges, an Heine'ſche Gedichte Er⸗ innerndes hatte dieſer Salon. Wer konnte ihn be⸗ wohnen? Sicher nicht eine Frau von kühnem Geiſt und ergeizigem Wollen, eher eine zarte Mimoſe, die ein Leben für ſich lebt, die poetiſche und litterariſche Be⸗ dürfniſſe hat, die viel träumt, eine große Sehnſucht im Herzen trägt, und natürlich ſehr reich iſt. Es konnte auch keine Seele ſein mit dem großen, edlen Durſt zu wiſſen, zu erkennen. Auch würde man kaum auf eine der vornehmſten Damen der Ariſtokratie geſchloſſen haben. Alles Verblichene, Vornehme, Uralte der Einrichtung hatte einen univerſellen, exotiſchen Charakter, nichts ahnenhaft Ueberliefertes. Auf dem Stammgut des Grafen in der Mark, in dem alten Roccoco⸗Schloß, da befanden ſich die Ahnenſäle, in denen der ariſtokratiſchen Urgroßmütter Hausrath und die Standesreliquien auf⸗ bewahrt wurden. Ein Wagen hielt vor dem Portal des Hauſes, das 1* 3 in der Nähe des Königsplatzes gelegen, in reichem Roccocoſtil erbaut, mit ſeinem parkähnlichen Garten den Charakter eines Palaſtes hatte. Gleich darauf trat die Gräfin in den Salon. Sie ließ den koſtbaren Pelz zu Boden fallen. Sie war todtmüde. Während die Kammerjungfer ſich mit dem Pelz beſchäftigte, richtete ſie raſch verſchiedene Fragen an ſie: ob der Friſeur die Perrücken, ob die Schneiderin das griechiſche Gewand und die rothen Fracks ab⸗ geliefert, ob der Diener die Gräfin Holm zu Hauſe getroffen. Die Kammerjungfer bejahte die Fragen und reichte der Gräfin eine Anzahl Briefe und Karten. Sie öffnete einige, durchflog ſie und legte ſie dann zu den übrigen in eine Vaſe. Es war inzwiſchen zu dunkel geworden um zu leſen, der kurze Dezembertag neigte ſich zu Ende. Die Kammerjungfer half der Herrin beim Ablegen des ſchweren Tuchkleides und hüllte ſie in ein Negligée von crémefarbenem Sammet, das mit dunklem Kamtſchatka⸗ pelz verbrämt war. Ob die gnädige Gräfin noch etwas wünſche“ Die Gräfin verneinte. Um ſechs Uhr befahl ſie die Dinertoilette. Die Kammerjungfer entfernte ſich. Gräfin Stella ſtreckte ſich auf der Chaiſelongue aus und barg ihr ſchönes, blondes Haupt in den weichen Kiſſen mit der Abſicht, ein paar Stunden zu ſchlafen. Sie drehte das helle, elektriſche Licht aus und entzündete in einer zierlichen Cryſtal⸗Ampel neben der Chaiſelongue, ein zartes, mattgrünes Licht, das wie Mondlicht auf ſie niederfloß. Sie liebte 4 es, mit dem elektriſchen Licht zu ſpielen. Je nach ihrer Stimmung wechſelte ſie die Farben. Stundenlang konnte ſie träumend unter dem flimmernden grünlichen Schimmer auf der Chaiſelongue liegen. Ein ander Mal ließ ſie aus Blumen, Kronleuchtern, Lampen, ein weißes, ſtrahlendes Lichtmeer den Raum durchfluthen, oder ſie ließ alle Farbeu durcheinander ſprühen, grün, roth, weiß; die Cryſtalampel glitzerte dann wie ein Rieſen⸗ brillant in brennendem Perlmutterglanz. Auch bei Tage zauberte ſie ſich Farbenwunder in ihrem Salon. Hinter den Sammetvorhängen, an den Fenſtern, befanden ſich noch andere leichte Vorhänge von halbtransparenter Seide. An einem der Fenſter war die Seide von lichtem Gelb, an dem anderen von roſiger Farbe. Zog ſie nun, wenn die Sonne ſchien, dieſe Vorhänge zu, ſo war ein Theil des Salons von zartem Goldton übergoſſen, während der andere in zärt⸗ lich roſigem Dämmer verſchwamm. Augenblicklich empfand ſie ihre große Müdigkeit wie ein Behagen. Sie hatte ein Recht auf Ruhe. Seit fünf Stunden hatte ſie angeſtrengt gearbeitet, im Dienſte der Menſchheit. Sie allein war die Schöpferin des großen Bazars, der morgen Abend in den Räumen des reizenden kleinen Leſſingtheaters in Scene gehen ſollte. Seit vier Wochen widmete ſie all' ihre Kräfte dieſem Unternehmen. Sie war von Pontius zu Pilatus gefahren, ſie hatte Berge von Schwierigkeiten abgetragen, Intriguen ge⸗ ſponnen und vereitelt, ſie hatte geſchmeichelt, correſpondirt, mit einem Wort, ſie war ganz in ihrem Elemente ge⸗ 5 weſen, dem Elemente einer brennenden Aufregung, eines raſtloſen, energiſchen Thuns. Zehn Minuten lag ſie mit geſchloſſenen Augen, im Halbſchlummer, ein feſter Schlaf blieb ihr verſagt. Im Halbtraum ſpannen ihre Gedanken weiter und weiter an den Seidenfäden ihrer Triumphe, an den Netzen, in denen ihre Gegnerinnen ſie gern verſtrickt hätten, und die ſie alle zerriſſen hatte oder zerreißen würde. Das Bazar⸗Koſtüm ihrer vornehmſten Gegnerin, der Gräfin Aglaya Holm kannte ſie; ſie fand es geſchmacklos. Sie lächelte darüber im Halbſchlaf. Als ſie die Augen wieder öffnete, lag ſie eine Weile ſtill und ließ den phantaſtiſchen Reiz des Zimmers auf ſich wirken; das Feuer im Kamin flackerte auf, hier und da einen Gegen⸗ ſtand hervorhebend, dann ſank es zuſammen, Alles in purpurne Dämmerung hüllend. Es fiel ihr ein, daß Jemand, der ſie einmal lange geliebt, ſie mit einem Kaminfeuer verglichen hatte, dem gierigen, unerſättlichen Feuer, das ſo leidenſchaftlich emporlodert, aber immer neues Brennmaterial braucht, von einer Viertelſtunde zur anderen, wenn es nicht verlöſchen ſoll. Jetzt fiel der Feuerſchein auf die Copie einer Land⸗ ſchaft von Böcklin, die ſie beſonders liebte: das Schloß am Meer. Ein düſter romantiſches Schloß hart am Strande. Dämmerung. Ein einſames, halb verhülltes Weib blickt hinab in die Brandung. Eine ſo unermeß⸗ liche, geheimnißvolle Melancholie liegt in der Haltung des Weibes, deſſen Antlitz man nicht ſieht. Wird ſie zurückkehren in das düſtere Schloß? Wird ſie hinab⸗ tauchen in das unergründliche Nichts? Stella identi⸗ 6 fizirte ſich unwillkürlich mit dem Weibe, das da wie vor einem Verhängniß ſtand. Sie hatte häufig ſolche Anwandlungen, die ſchöne, gefeierte Stella. Mitten im Genuß, im vollen Geſell⸗ ſchaftstaumel überkam ſie plötzlich eine Sehnſucht nach Einſamkeit, aber nicht nach der Einſamkeit in ihrem Boudoir, nein, nach einer wilden Einſamkeit, im Sturm auf dem Meere, oder auf Bergeshöhen über ſtarrender Felswand. Sie ſprang auf, ſie hatte jetzt keine Zeit zum Träumen. Es wurde ihr zu warm. Sie wollte das Fenſter öffnen, als eine Stimme vom Treppenhauſe her ſie feſtbannte, die Stimme des Grafen, ihres Gatten. Wollte er zu ihr? Sie lauſchte einen Augenblick, die Stimme verhallte. Ein Mißbehagen, ein fröſtelndes, beſchlich ſie. Wie hatte ſie es nur warm finden können! Sie warf einige Scheite Holz in den Kamin. Und wie das Feuer luſtig aufpraſſelte, da ſchwand auch ihr Un⸗ behagen. Ja, Nahrung braucht die Flamme, dachte ſie, Nahrung auch die Flamme in mir. Und die blauen Augen, — ſie waren nicht groß, aber von intenſivem Blau — das ganze Geſicht leuchtete auf in Lebenskraft und Luſt. Ja, leben wollte ſie! ein volles, flammendes Leben! Aber wie? wo? Ihre Augen ſchweiften wie ſuchend umher. Das Bild eines Mannes trat vor ihre Scele. Er war um ihretwillen vor drei Jahren in die weite Welt gegangen. Sie hatte ihn fortgetrieben, weil eine neue Leidenſchaft ſie ergriffen: die Religion. Sie hatte ſich mit Gebetbüchern um⸗ geben und daran gedacht, katholiſch zu werden. In ſtrengen, frommen Uebungen, die zuweilen an Askeſe 7 ſtreiften, hatte ſie eine Art Wolluſt gefunden. Sie lächelte, als ſie daran dachte, wie lange nun ſchon all die Gebetbücher in der Roccocokommode ruhten — bei den anderen Antiquitäten. Nun war Clemens Secking wieder da, erſt ſeit wenigen Tagen. Er hatte ſie bei ſeinem erſten Beſuche verfehlt, und gleich darauf zwei wundervolle japaniſche Coſtüme geſchickt zur eventuellen Verwendung für den Bazar. Heute, ſpäteſtens morgen würde ſie ihn wiederſehen. Ob er ſie verändert finden würde? War ſie älter geworden in den drei Jahren? Sie entzündete alle Flammen und blickte in den Spiegel. — Nein, ſie war unverändert, ſchön und jung, jung genug! Eine abſurde Vorſtellung, daß man mit achtunddreißig Jahren nicht jung iſt, als ob die gleiche Zahl von Jahren ein gleiches Alter bedeutete. Es giebt Frauen, die ſind mit dreißig Jahren ſo alt, wie andere nicht mit fünfzig. Das Alter iſt etwas ganz Individuelles. Ueberall gilt der Schein, nur hier ſollte er nicht gelten? Und es iſt nicht einmal Schein; ihre Schönheit iſt wahr und blühend, kein welkes Blatt darin. Wie man ein Bild bewundert, ſo hing ihr Auge an dem eigenen Antlitz in objectiver Schauluſt. In der That, ſie war eine plaſtiſche, eine ausgezeichnete Schön⸗ heit. Mit der goldenen Haarfluth, der Walkürengeſtalt, den edlen, reinen Zügen, eine Erſcheinung wie aus der nordiſchen Götterſage. Sie hatte ein leiſes Klopfen an der Thür überhört. Jetzt öffnete ſich ſacht die Thür. 8 „Mama, darf ich eintreten? es iſt wegen der Coſtüme . . . Ein leiſer Unmuth flog über Stella's Züge. — „Komm her, Lis.“ Sie ſtellte die Tochter neben ſich vor den Spiegel. — „Neulich wurde behauptet, Du wärſt einen ganzen Kopf kleiner als ich; kaum einen halben ſagte ich. Siehſt Du, ich hatte recht, kein halber Kopf iſt es. Heloiſe lachte. „Du brauchſt uns gar nicht zu vergleichen, Mama, um zu wiſſen, daß Du tauſend Mal ſchöner biſt als ich.“ Die Gräfin ſah ärgerlich aus. Mußte dieſe kleine Tochter ſie auch immer durchſchauen? Heloiſe aber hatte recht. Die Mutter war ſchöner als ſie. Die Tochter hatte feine Züge, klare, braune, etwas kühle Augen, eine hohe, runde Stirn, eingerahmt von dem bräunlich blonden, glattgeſcheitelten Haar. Das Haupt trug ſie, vielleicht etwas zu ſtolz, auf einem langen, blüthenweißen Hals. Ihre Lippen waren zu blaß. Ihre Hände auffallend ſchön. Sie glich einer jungen Novize. — „Nun, was willſt Du, Lis?“ fragte die Gräfin freundlich, aber doch mit verhaltener Ungeduld. Heloiſe wollte nur fragen, welches von den beiden japaniſchen Coſtümen ſie Irene geben ſolle, die ſie jeden Augenblick zur Anprobe erwarte, das blauc oder das rothe? Irene war Helviſes Couſine und Freundin. „Frage Irene, welches Dir am beſten ſteht, 9 antwortete die Mutter, „das⸗ gieb ihr; Du biſt dam ſicher, daß das andere Dir beſſer ſteht. Die Gräfin hatte ſich wieder in die Chaiſelongue zurückgelehnt. „„Geh aber jetzt, Lis, ich bin tödtlich abge⸗ ſpannt. —„Laß mich noch ein Weilchen hier,“ bat die Tochter, „es iſt ſo ſchön und behaglich bei Dir.“ Sie zog einc Schicht orientaliſcher Kiſſen an die Chaiſelongue, ließ ſich darauf nieder, und machte der Mutter Vorwürfe, daß ſie ſich zu ſehr anſtrenge. „Du biſt zu ehrgeizig, Mama, mußteſt Du denn die ganze Mühe auf Dich allein nehmen? Wieviel Billets haſt Du heute geſchrieben? Wieviel Berühmtheiten haſt Du aufgeſucht? „Zahlloſe,“ ſeufzte die Gräfin.. „Giebt es zahlloſe Berühmtheiten?“ fragte lächelnd Heloiſe. — „Um Aphorismen, witzige Verschen für unſern Bazar zu liefern, iſt man bald berühmt genug. Sieh nur die Ernte!“ Sie zeigte auf einen gewaltigen Stoß von Schriftſtücken in einer Urne. Während die Tochter in den Papieren blätterte, ſetzte die Gräfin ihr auseinander, daß nicht die Menge der Briefe und Beſuche das Anſtrengende ſei, aber die paſſenden Briefe zu ſchreiben, die rechten Worte zu finden, das erfordere Zeit und Nachdenken. Bei vielen aller⸗ dings genügten ein paar conventionelle Zeilen; das Wappen über der Karte, die Gräfin als Unterſchrift und das parfümirte Papier thäten das Uebrige, um dem 10 Betreffenden die pikanteſten Glühlichter für die Bazar⸗ poſt zu entlocken. Die Gräfin hatte unter Anderm auch ein Poſt⸗ bureau hergerichtet, in dem für die höchſten Preiſe ſo viel Geiſt losgeſchlagen werden ſollte, als man gratis kriegen konnte. „Andere,“ fuhr ſie fort, wären freilich nur mit Schmeichelei einzufangen geweſen. Sie hätte dabei ein ganz cmpfehlenswerthes Recept: einen gangbaren Feuilletoniſten etwa, der den Tagesbedarf an Witz für die Leſer einer Zeitung paſſabel decke, nenne ſie einen zweiten Heine, einen Künſtler, der kaum am Rand einer inention honorable ſtehe — Raphael, einen Dichter, der ſeiner Harfe ab und zn ein paar tönende Jamben entlocke — Schiller u. ſ. w. — „Aber Mama, ſolche Unwahrheiten, wie kannſt Du ſie nur über die Lippen bringen?“ Wenn überhaupt, meinte die Gräfin, ſo heilige in dieſem Falle der Zweck die Mittel. Gäbe es einen edleren Zweck: ein Heimathshaus für die armen, alten Lehrerinnen. — „Aber Mama, der Bazar iſt ja für die Ueber⸗ ſchwemmten . . . Ganz recht, ſie hatte es verwechſelt. — „Mußteſt Du denn ſo viele Leute perſönlich aufſuchen? — „Gewiß. Es giebt unter den Rittern vom Geiſte Leute, die ſo faul oder ſo hochmüthig ſind, daß ſie auf einen Brief garnicht reagiren, die aber für perſönliche Huld und Liebenswürdigkeit empfänglich ſind, und merk⸗ 11 würdig, es ſcheint je größer der Geiſt, je höher iſt die Etage, in der der Geiſtesinhaber wohnt, faſt Alle, die ich aufſuchen mußte, wohnten drei Treppen hoch. Ich begreife dieſe Vorliebe für die dritte Etage nicht. — „Vielleicht,“ meinte Heloiſe, „hält man das Wohnen ſo hoch oben für geſünder in den Häuſern, wo ſo viele Menſchen wohnen.“ Möglicher Weiſe, meinte die Gräfin, ſpiele auch der Preis dabei eine Rolle. Manches Drollige und Unangenehme wäre bei dieſen Beſuchen mit unter⸗ gelaufen, z. B. Hausfrauen in Küchenſchürzen, die ſelbſt die Thüren geöffnet, und bei ihrem Anblick ſchreckhafte kleine Schreie ausgeſtoßen, im Entrée ſeltſame Gerüche von Kohl, Seife, Kinderſtube und Tabak. In engen Corridoren hätte ſie warten müſſen bis der betreffende Dichter ſeine Pantoffeln mit friſch gewichſten Stiefeln, und ſeinen Schlafrock mit einem, auch nicht gerade präſentablen Kleidungsſtück vertauſcht hätte; bei Künſtlern wäre es meiſt ein brauner Sammetrock geweſen, natürlich mit Oelflecken, vermuthlich harmoniſch abgetönten. Und die Salons dieſer Leute! Dieſe Möbel! Mahagoni mit grünem Rips, Mahagoni mit rothem Rips, Maha⸗ goni mit blauem Rips; einmal wäre es ſogar lila Rips geweſen. — Heloiſe bedauerte dieſe ſo klugen und an⸗ ſtändigen Leute, die ſich lebenslang mit ſolchem Rips und ſolchem Eſſen, und oft ſo vulgären Namen behelfen müßten. Ein häßlicher Name, meinte ſie, entſtelle wie ein ſchlechtſitzendes Kind, und es müſſe Einer ſchon ſehr berühmt ſein, um die Scharte eines „Bulle“ oder „Bolle“ auszuwetzen, und es wäre doch für Schiller und 12 Goethe ein rechtes Glück geweſen, daß ſie ſo gute Namen gehabt. Die Gräfin ſtimmte zu, war aber der Meinung, daß die Gewohnheit wohl die Leute mit ihrer inferioren Situation ausſöhne. — „Aber weißt Du, Mama, es wäre doch viel hübſcher geweſen, wir wären bei dem Bazar unter uns geblieben. Warum mußteſt Du ſo viele Mädchen und Frauen aus Bürgerkreiſen und ſo viel Schauſpielerinnen auffordern mitzuwirken? — „Das verſtehſt Du nicht. Es liegt ein pikanter Reiz in der Vermiſchung der Stände; Excluſivität iſt langweilig;“ „Darum haſt Du auch bei den Anordnungen das Mögliche in Contraſten geleiſtet, Mama! Der Fürſtin Ansbach die kleine dicke Frau des Deſtillateurs als Gehülfin zu geben! Und unſerer graziöſeſten Elfe, der Ingeborg, die compakte Conditorsfrau. Das mag ja ſehr viel Ehre für dieſe Frauen ſein, aber für uns . . . „Staffage“, unterbrach ſie die Gräfin, „ein Hinter⸗ grund, von dem wir uns reizend abheben werden. Uebrigens habe ich bei meiner Auswahl unter den Töchtern des Landes einzig und allein an den Erfolg des Bazars gedacht, und nur Schönheit, Reichthum und Talent auf die Liſte geſetzt.“ Heloiſe wollte noch Einwendungen machen. „Du täuſcheſt Dich auch über unſere Cavaliere“ unterbrach ſie die Gräfin. „Ihrer viele würden gar nicht auf den Bazar kommen, wenn wir unter uns 13 blieben. Wir kennen ſie ja auswendig, das wiſſen ſie. Dieſen jungen, guten, unbekannten Mädchen aber, dieſen Gretchen, Martchen, Trudchen, denen entlocken ihre ſtereotypen Galanterien und ihre auswendig gelernten Bonmots noch ein Erröthen oder Lächeln. Solche kleinen Auffriſchungen thun ihrem Selbſtbewußtſein wohl, und den armen Lehrerinnen kommt es zu gut.“ ¹— „Den Ueberſchwemmten, corrigirte Heloiſc. „Aber weißt Du, Mama, daß Du reizend in dieſem Negligée ausſiehſt? Schade, daß Du nicht ſo auf den Bazar kommen kannſt.“ Die Tochter war immer voll Bewunderung für die Schönheit der Mutter. — „Ich möchte mich gerne revanchiren, Du Schmeichelkätzchen“, ſagte die Gräfin liebenswürdig und ſtreichelte die Wange der Tochter. „Laß nur erſt den Bazar vorüber ſein, dann will ich auch ernſtlich an Deine Verheirathung denken.“ ¹ — „Ach Mama“, ſagte Heloiſe, ohne eine Spur von Malice, „dann kommt doch erſt das Ordensfeſt, zu dem Dein Coſtüm noch nicht fertig iſt. Die Gräfin, mit ihren Gedanken beſchäftigt, über⸗ hörte Heloiſes Worte. „Eigentlich iſt es merkwürdig“, meinte ſie, „daß Du nicht ſchon ſelbſt auf die Idee gekommen biſt, Dich zu verlieben; haſt Du doch die Auswahl unter der Elite unſerer Jugend.“ — „Vielleicht“, antwortete Heloiſe mit einem An⸗ flug von Sentimentalität, „iſt es doch wahr, was ſo oft behauptet wird, daß man nur einmal lieben kann. 14 „Mehr verlange ich ja auch nicht von Dir. „Aber das iſt ja ſchon geweſen, Mama, vor langer Zeit, ſo um meinen ſechszehnten Geburtstag herum, und ich bin jetzt zwanzig Jahr. Ich hatte oft ſchon Luſt, Dir zu beichten, aber dazu gehört ſo eine kamin⸗ feuerverklärte Dämmerſtunde wie dieſe jetzt, und dazit gehört, daß die Sache lange, lange her iſt, ſo daß die liebe Beichtmutter nicht mehr böſe ſein kann über eine Sünde, die — verjährt iſt. Verſprichſt Du, nicht böſe zu ſein? — Die Gräfin verſprach's. „Erzähle nur“, ſagte ſie mit halbgeſchloſſenen Augen, „wird die Geſchichte langweilig, um ſo beſſer für meine Nerven.“ 77 „Erinnerſt Du Dich noch an Papa's Sekretär: fragte Heloiſe. „Ach, der war's? Beinahe begreife ich es. Mit ſeinem bartloſen Geſicht, ſeinem kurzgeſchorenen Kopf und ſeinen gelben Augen ſah er halb wie ein Mönch, halb wie ein Romeo auf der Bühne aus, dieſer — Gottfried Hinze, ſo hieß er ja wohl? Und eine ideal angehauchte Vergangenheit hatte er ja auch.“ — „Alſo dieſem jungen Schwärmer galt Deine erſte Neigung?“ „Das heißt, er natürlich fing an Mama, habt Ihr denn gar nichts bemerkt?“ „„Nein.“ „Ich wußte es gleich, ich wußte es ganz beſtimmt. Er liebte mich anfangs nur ſo aus der Ferne. Er hat ſo ſonderbare Augen, wie von Cryſtall. Darin ſtand 15 groß und leſerlich, was er dachte, und daß es nur Edles, Gutes war, ſtand auch darin. „Eine recht paſſende Lectüre für Dich. „Ich war ſechszehn Jahr alt“, entſchuldigte ſich Helviſe. Nach einer Pauſe fuhr ſie zögernd fort: „Es iſt etwas recht Unangenehmes zwiſchen uns vorgefallen. „Mein Gott, was denn?“ fragte die Gräfin, ſich plötzlich mit Intereſſe aufrichtend, „ſage mir Alles, Alles — ——" „Alles — ja — das iſt ein Kuß!““ — Eine tiefe Röthe zog über das Geſicht des jungen Mädchens. Die Gräfin lehnte ſich wieder in die Kiſſen zurück und ſagte: „Weiter nichts? Wirklich nichts „Aber es iſt nicht ganz ſo arg, wie Du denkſt Mama, er weiß nämlich nicht, daß ich weiß, daß er mich geküßt hat.“ „Wie denn? Wie iſt das möglich?“ fragte die Gräfin. „Da kommt eben das Romantiſche. Weißt Dut, es war auf unſerem Gut, in Buchwald; wir gingen an unſerem See auf und ab, und er ſprach — es genirte mich, was er ſprach, weil es zu tief war, und ich es nicht recht verſtand; ich war ſo verlegen, und in meiner Verlegenheit ergriff ich als Stab und Stütze eine Waſſerlilie und wollte ſie pflücken. Sie ſtand ganz am Rand des See's. Der Boden war ſchlüpfrig, und als ich mich vorneigte, glitt ich aus und fiel der Waſſerlilie vor die Füße. Vor Schreck verlor ich einen Augenblick 16 die Beſinnung; als ſie wiederkam, lag ich auf dem Raſen unter einem Weidenbaum und ehe ich noch Zeit hatte, die Augen zu öffnen, fühlte ich auf meinen Lippen einen Kuß. Ich hielt die Augen noch eine Weile geſchloſſen, aber er küßte mich nicht wieder. Ich war innerlich ſo böſe auf ihn, als ich aber die Augen aufmachte und ich ſah ihn an und er mich, da merkte ich, daß ein Kuß doch etwas ganz Beſonderes ſein muß, ſo etwas Magi⸗ ſches, denn ich war ganz plötzlich in ihn verliebt, ſehr verliebt.“ „Ich hoffe, Ihr habt niemals über dieſen kindiſchen Streich miteinander geſprochen?“ „Nein doch; nur hier und da wechſelten wir ein Wort, ein ſcheinbar gleichgültiges, aber das, was in ſeinen Augen zu leſen war, das wurde lauter, viel lauter, ich las gar nichts Anderes mehr. Und das dauerte Monate, dauerte ſo lange, bis Irene und die Anderen dahinter. kamen. Da war es aus mit dem Zauber. Sie neckten mich und nannten mich „Frau Hinze.“ Ich war ſehr böſe darüber. Und einmal, in Buchwald, Du erinnerſt Dich vielleicht, wir hatten einen weiten Spazier⸗ gang verabredet. Ihr waret vorausgefahren, Du mit Herrn von Secking, wir jungen Leute wanderten durch den Wald, und ich weiß heute noch nicht, wie es kam, mit einem Mal war Gottfried Hinze neben mir, und wir waren Beide ganz allein. Was er zuerſt ſagte, weiß ich nicht mehr, aber dann kam etwas, das habe ich zwar auch nicht behalten, aber der Sinn war un⸗ gefähr: er liebe mich, ich glaube, er ſagte, grenzenlos, ſeine Liebe ſei unermeßlich, ich glaube er ſagte, wie 2 17 das „irmament, und er wollte auch ein großer und berühmter Mann werden, ſo ein Pionier, der ſeiner Zeit neue Bahnen vorſchreibt, und Schranken und Vor⸗ urtheile gäbe es für ihn nicht, und eine Comteſſe ſei am Ende doch auch nur ein Menſch — er drückte ſich natürlich ganz anders aus. Und wie er das ſagte! Seine Stimme klang wie „Orgelton und Glockenſang“ und etwas ſo ſonnenhaft Sieghaftes war in ſeinen Blicken, und ich weiß nicht, was geſchehen wäre, wenn nicht plötzlich aus einer Seitenallee Irene mit den beiden Königſteins hervorgebrochen wäre; ſie hatten uns wohl ſchon länger beobachtet. Die Königſteins raunten mir wieder das ominöſe „Frau Hinze“ in's Ohr. Irene aber rief im Vorübergehen meinem Freunde einen „Guten Morgen, Herr Kunze“ zu, ſetzte aber gleich hinzu: oder heißen Sie Hinze? Wie ſoll man denn behalten, ob Einer Hinz oder Kunz heißt? Hinz und Kunz ge⸗ hören zuſammen wie Kreti und Pleti.“ Damit liefen ſie alle Drei fort mit einem Lachen — wie toll lachten ſie. Ich ſah wohl, daß mein Freund todtenblaß ge⸗ worden war. „Mißfällt Ihnen mein Name auch ſo ſehr?“ fragte er mich. Warum zog er auch gerade in dieſem Augenblick ein Taſchentuch hervor, eins von grober Leinewand mit einer großen, rothen Nummer — Du begreifſt, Mama, davor mußte jede Illuſion ſchwinden. Außerdem be⸗ merkte ich, daß Irene in Hörweite ſtehen geblieben war, ich hätte ſonſt vielleicht doch nicht ſo geantwortet, wie 18 ich es that, nämlich mit einem lauten vernehmlichen „Ja.“ Ich hatte aber nicht den Muth, ihn dabei an⸗ zuſehen, und als ich endlich aufblickte, — war er fort. Ich habe nie wieder mit ihm geſprochen. Einige Tage ſpäter erfuhr ich, daß er von Papa den Abſchied er⸗ beten und erhalten habe. Nur noch einmal ſah ich ihn flüchtig, im Wagen, als er zur Station fuhr. Ich ging zu Fuß. Er ſah mich mit großen, kranken Augen an und grüßte mit ſo traurigem und doch ſtolzem Ernſt. Ich kam mir in dem Augenblick ſo klein vor, vielleicht war's auch nur, weil ich zu Fuß ging und er in der Equipage ſaß. Wie gut, wie ſehr gut, dachte ich, daß er nicht weiß, daß ich weiß, daß er mich geküßt hat. - Sie blickte nachdenklich in die verglimmenden Holz⸗ ſcheite. Daß die Gräfin ſanft eingeſchlafen war, hatte ſie gar nicht bemerkt. Sie dachte an die ideal ange⸗ hauchte Vergangenheit Gottfrieds. Sie wußte, er war der Sohn eines Bauern, der auf einem der Güter ihres Vaters tagelöhnerte. Außer Gottfried waren noch vier andere Kinder da geweſen, eine ſchwere Laſt für die Eltern, deren Gemüth ſich unter Noth und Sorgen verhärtete. An Gottfried, der ein träges, ſeltſames Kind geweſen, nicht von ihrer Art, hatten ſie ihren brutalen Unmuth ausgelaſſen. Der Graf, der einige Wochen im Sommer auf dieſem Gute zuzubringen pflegte, war ſchon verſchiedene Male Zeuge von Mißhandlungen geworden, die das Kind erdulden mußte. Der Knabe mochte zwölf Jahre alt ſein, als der Graf wieder einmal an des Bauern Gehöft vor⸗ 2* 19 überging, und ſich durch wüſtes Jammern und Schreien vom Hofe her, bewogen fühlte, einzutreten. Er ſah den Bauern mit einem großen Schlachtmeſſer in der Hand, wüthend auf Gottfried eindringen. Das Kind krümmte ſich am Boden in Todesangſt und ſchrie unauf⸗ hörlich: „Nein, nein, ich thu's doch nicht! Ich thu's nicht! Lieber todt, ja, ich will todt ſein! Der Graf erfuhr, daß der Knabe eher todt ſein wollte, als dem Vater beim Schlachten eines Schweines helfen. Der Graf, ergriffen von dem Jammer des Kindes, das ſeine Kniee umklammert hielt, hatte ihn mit ſich genommen und auf ſeine Koſten erziehen laſſen. Gottfried hatte ſich als eigenartig begabt erwieſen. Er ſtudirte ſpäter Medizin. Bei einer Operation, an der er als Student theilgenommen, hatte er ſich eine leichte Blutvergiftung zugezogen, und mußte die ſtrengen Studien für einige Zeit aufgeben. Damals war es, daß der Graf ihn als Sekretär zu ſich gerufen. Heloiſe hatte ihre erſte junge Liebe bald vergeſſen gehabt. Nur als ein Jahr ſpäter ihr Vater erzählte, daß ſein früherer Sekretär unheilbar erkrankt ſei und ſterben müſſe, da war die Erinnerung wieder eine Weile in ihr lebendig geworden, und auch jetzt ſah ſie ihn noch zuweilen — im Traume, aber immer ſeltener und ſeltener. „Glaubſt Du Mama“, ſagte ſie nach einer Weile, „daß er im Ernſt daran gedacht hat, ich könnte ſeine Gattin werden! Sie hatte ſich der Gräfin zugewendet und ſah jetzt, daß ſie ſchlief. Sie war betrübt darüber. Wie wenig 20 Intereſſe doch die Mutter an ihrem Seelenleben nahm, ja, eigentlich gar keins. Sie war immer eine freundliche Mutter geweſen, aber launenhaft, ungleich, zuweilen zärtlich, überſtrömend zärtlich, aber nur auf Tage oder Stunden, als wäre auch das Mutterglück für ſie nur eine leidenſchaftliche Zerſtreuung, ein vorübergehender Rauſch. Es waren Zeiten gekommen, wo ſie das Kind faſt zu vergeſſen ſchien. So konnten keine wahrhaft herzlichen Beziehungen zwiſchen ihnen Wurzel ſchlagen, und ihr Verhältniß war ein äußerliches geblieben, wenn es auch Stunden vertraulicher Ausſprache und intimen Geplauders nicht ausſchloß. Warum Heloiſe den verſchloſſenen kalten Vater mehr liebte als die Mutter, hätte ſie nicht ſagen können. Seltſamerweiſe war in ſeinem Weſen, ihr gegenüber, viel von der Art der Mutter, nur mit dem Unterſchiede, daß er ihr nie eine Liebkoſung zu Theil werden ließ. Und doch — im Ton ſeiner Stimme, in ſeinem Blick war zuweilen etwas Inniges, in der Art, wie er ihr die Hand auf den Kopf legte und ihr in die Augen ſah, eine verhaltene Zärtlichkeit; warum verhalten? Das begriff ſie nicht. Es war immer, als wehre er ſich gegen ſein Herz, als wolle er nichts Liebe⸗ volles darin aufkommen laſſen. Als Heloiſe alt genug war, um ſelbſt zu denken und zu beobachten, glaubte ſie die Urſache dieſer wechſelnden Stimmungen ihrer Eltern gefunden zu haben, gefunden in ihrer glückloſen Ehe; eine kalte, vornehme Ehe wie viele andere auch. Sie bewohnten ihre be⸗ ſonderen Zimmer, ſahen ſich faſt nur bei der Tafel, die 21 Unterhaltung war dann einſilbig, froſtig, trotz des leb⸗ haften Temperaments der Gräfin, das überall ſonſt Leben und Reiz um ſich her verbreitete. Der Graf ſchüchterte ſeine Gattin offenbar ein, er ſchlug leicht einen ſarkaſtiſchen Ton an, und ſie war noch leichter verletzt und gereizt. Wie iſt es nur möglich, dachte Heloiſe, daß dieſe beiden ſchönen, klugen und guten Menſchen, die von der Vorſehung für einander beſtimmt ſchienen, ſich nicht lieb haben? Einmal hatte ſie verſucht durch ein⸗ ſchmeichelnde Worte hinüber und herüber eine Annäherung zwiſchen Beiden herbeizuführen, war aber von dem Vater ſchroff zurückgewieſen worden. Dieſe Beziehungen der Eltern zu einander waren der einzige Mißton im Leben der Tochter. Alles Uebrige war, als hätten nur gute Feen an ihrer Wiege geſtanden. Jeder ihrer Wünſche war ihr, ſo lange ſie zurückdenken konnte, erfüllt worden. Alles, was raffi⸗ nirter Lebensgenuß nach außen und innen bieten kann, war ihr von jeher zu Theil geworden. Herrlich ge⸗ ſchmückte Wohnräume, eine mit jedem Luxus ausgeſtattete Tafel, die eigenartigſten, koſtbarſten und immer wechſeln⸗ den Toiletten, die Equipage mit den Atlaspolſtern, das Alles gehörte für ſie zum Leben wie die Luft, die ſie athmete, ein anderes Leben konnte ſie nicht denken und ſie hätte es auch nicht ertragen. Ihr Sinn für die vornehmſten und reichſten Lebensformen ging ſo weit, daß ſie ſich in beſcheideneren Räumen, bei weniger be⸗ güterten Standesgenoſſen unbehaglich fühlte. Sie hatte eine ſchöne Stimme, alles war zu ihrer Ausbildung 22 gethan worden, und mit ihrem ruhig klaren, vielleicht etwas kühlen Vortrag erntete ſie in den Salons lebhafte Bewunderung. Sie hätte dazu des Geſanges nicht bedurft, ohnedies wäre der eigenthümlich reizvollen Tochter des Grafen Ronald Büren, die zugleich eine der reichſten Erbinnen war, unbegrenzte Huldigung zu Theil geworden. In Geſellſchaften nahm ſie eine reſer⸗ virte Haltung an, zu Hauſe aber, oder im kleinen Kreiſe Bekannter, konnte ſie ganz ſo übermüthig ſein und ſo herzlich plaudern, wie andere junge Mädchen auch. Von der Mutter mochte ſie den Hang zu oft wechſeln⸗ den Stimmungen geerbt haben, auch den zu Meditationen; nur erſchien ſie praktiſcher und correkter als die Mutter, weniger phantaſiiſch, ihre Beobachtung war ſchärfer, ihr Verſtand geregelter und klarer. Man machte ihr den Vorwurf hochmüthig zu ſein, und es kurſirten dar⸗ über allerlei Anekdoten in der Geſellſchaft. Man ſah ſie nie in der Stadt oder auf Spazier⸗ gängen, wo viele Menſchen verſammelt waren zu Fuß gehen. Die Vorſtellung, daß irgend eine unſaubere Erſcheinung ihr Kleid ſtreifen, ein unverſchämter Blick ſie treffen könne, erfüllte ſie mit Widerwillen. Nur wo es ganz einſam war, oder im Garten ihres Hauſes ging ſie ſpazieren. Sie war exkluſiv wie eine königliche Hoheit. Heloiſe hatte, vor ſich hin träumend, ihren Kopf an das Kiſſen der Chaiſelongue gelehnt, als die Thür vorſichtig geöffnet wurde, und ein junges Mädchen den Kopf hereinſtreckte. Mit einem Blick auf die ſchlum⸗ mernde Gräfin winkte ſie Heloiſe hinauszukommen. Die Gräfin aber erwachte. 23 „Komm nur herein, Irene, ich ſchlafe nicht mehr.“ Comteß Irene Ronald Büren, die Nichte der Gräfin war ſchlank und groß, ſie hatte ein blaſſes, auffallend weißes Geſicht, einen kleinen, purpurrothen Mund und kleine dunkle Augen, die wie ſchwarze Perlen aus dem weißen Geſicht leuchteten. Auffallend fein gezeichnet waren die Augenbrauen. Das braune Haar trug ſie hochaufgekämmt nach japaniſcher Art, über der Stirn mit einem Pfeil zuſammengeſteckt. Die Lippen und die Augen beherrſchten das Geſicht. Es war etwas Nixen⸗ haftes an ihr, auch in ihrer ſpringenden Lebhaftigkeit, ihrer eindringlichen und doch graziöſen Koketterie. „„Natürlich komme ich wegen des Coſtüms,“ ſagte ſie, nachdem ſie der Gräfin die Hand geküßt. Wie iſt die Loſung? blau? roth?“ „Blau für Heloiſe,“ antwortete die Gräfin, „ſie hält das Coſtüm für beſcheidener, ihr ange⸗ meſſener.“ „Aber Tante, Deine töchterliche Lilie hat ja gar kein Talent zum Veilchen, indeſſen — Euer Wille geſchehe.“ Sie könne gar nicht ſagen, fuhr ſie fort, wie ſehr ſie ſich auf den Bazar freue, ſo einmal, gewiſſermaßen bei offener Scene von einem leibhaftigen Publikum applaudirt zu werden, das ſei ſo etwas für ihrem Gau⸗ men. Uebrigens würde ihr kleiner japaniſcher Laden ein bijou werden. Sie ſei dem Beſitzer des Eſchenheim'ſchen Geſchäfts ſo um den Bart gegangen — was um ſo verdienſtvoller wäre, da ſelbiger rothfuchſig ſei — bis 24 er ihr ſeine ſchönſten orientaliſchen Teppiche und Rari⸗ täten hergeliehen. Natürlich müſſe man ihn ſpäter gebührend belohnen, und ſie hoffe einen „Kommerzien⸗ rath“ vom Miniſterium loseiſen zu können. Plötzlich unterbrach ſie ihren Redefluß: „Herr Gott, ich habe ja Mama vergeſſen, ſie wartet im Em⸗ pfangsſalon an einem Tiſche mit Album's, und Album's ſind ihr ein Greuel. Sie wollte durchaus der An⸗ probe beiwohnen, damit nichts zu decolletirtes mit⸗ unterliefe.“ Sie hielt die Gräfin, die ſich erheben wollte, mit der Bemerkung zurück, daß die Mutter nicht im mindeſten darauf gerechnet habe, von der lieben Tante, am Vor⸗ abend ſo großer Ereigniſſe, empfangen zu werden. „Für Deine Mutter habe ich immer Zeit, ſagte die Gräfin mit einem graziöſen Lächeln, während ihre Augenbrauen ſich leicht zuſammenzogen. Irene rief die Mutter herein. „Na,“ ſagte die Gräfin Charlotte Ronald Büren im Eintreten, „alſo morgen wird wirklich dieſer Jahr⸗ markt der Eitelkeit losgelaſſen, ich wundere mich nur, daß Sie, (zur Gräfin gewendet) Hühnchen, noch am Leben ſind bei all' den Plackereien; na, hoffentlich geht nach all' dem Gegackere das Legen der goldenen Eier prompt von ſtatten.“ Man war an die Originalität in Erſcheinung und Art der Dame zu ſehr gewöhnt, um ſich darüber zu wundern. Sie war groß und ſtark gebaut, das Geſicht beinahe häßlich: zuſammengekniffene Lippen, eine auf⸗ fallend große, wenn auch fein profilirte Naſe, kleine, 25 ſehr kluge, faſt unbewimperte Augen. Sie ging in Kleidern, die von ihrer Kammerjungfer angefertigt wurden, die dieſe Kammerjungfer aber um keinen Preis getragen haben würde. Die einfachſten Stoffe und unſcheinbarſten Farben waren ihr gerade gut genug. Im Sommer, an Badeorten, ſah man ſie mit grauen oder braunen abgetragenen Regenmänteln, eine Taſche am Arm; wenn es windig war oder regnete, ein Tuch um den Kopf. Ihre Züge, ihre Haltung aber drückten eine ſo ariſtokratiſche Sicherheit aus, ein ſo naiv ſublimes Selbſtbewußtſein, daß es Niemand in den Sinn kam ſie für inferior zu halten. Nicht immer machen Kleider Leute; zuweilen kann man das Sprüchwort umkehren: Leute bringen Kleider zur Geltung; es müſſen nur in den Kleidern wirkliche Leute ſtecken. Ihr Weſen entſprach ihrer Erſcheinung. Sie war von einer ſtaunenswerthen Aufrichtigkeit, von einer Rückſichtsloſigkeit, die bis zur Grobheit gehen konnte. Ihre Sprechweiſe war nachläſſig, derb, mit Vorliebe gebrauchte ſie ſtarke Ausdrücke. Lachte man zuweilen über die „unverfrorene Gräfin“, ſo kam das Lachen doch nicht vom Herzen, der Reſpekt, den ſie einflößte, war mit Furcht gemiſcht. Es beſtand einige Aehnlichkeit zwiſchen Mutter und Tochter. Auch Irene affichirte Freimuth, nur war ihre Freimüthigkeit von jener hinterhaltigen Art, die ſehr wohl weiß, wie weit ſie gehen darf ohne anzuſtoßen; auch benutzte ſie die Offenherzigkeit nicht ſelten als Deckmantel, um kleine Bosheiten geſchickt zu lanciren. Sie war nur Imitation — nicht Natur wie die Mutter — aber eine 26 geſchickte und gefällige. Für Gräfin Stella ſchwärmte ſie offiziell. Hinter ihrem Rücken aber nannte ſie ſie ſelten anders als die „Senſationstante“. Gräfin Stella hatte auf den Ausfall ihrer Schwägerin mit einem matten Lächeln geantwortet. „Eine tolle Idee, dieſe Bazare“, fuhr letztere fort, „des Schweißes der Edlen nicht werth. Streicht das „3“ aus dem Wort, und Ihr trefft das Richtige: baar! baar! Eine ordinäre Knauſerei dieſe Bazare. Eine Hand ſoll die andere waſchen. Ihr gebt den Noth⸗ leidenden Geld und ſie verſchaffen Euch Amüſements. Unnobel! Unnobel!““ Gräfin Stella antwortete ihrer Schwägerin etwas gereizt, daß ſie nicht nöthig hätten, wie unbemittelte Bourgeois, ſich ihre Amüſements nothdürftig zuſammen⸗ zuleſen. Abgeſehen davon, daß ja die eine Form der Wohlthätigkeit die andere nicht ausſchlöſſe, wäre gerade das Gegentheil von dem wahr, was Gräfin Charlotte zu glauben vorgäbe. Darin gerade läge der Reiz der Bazare, daß die Kehrſeite der Beluſtigung der Reichen, das Glück der Armen ſei. Bei einem Diner z. B. fiele kein Broſaue vom Tiſche der Reichen für die Armen ab. Die Bazare wären ein idealer Typus, wie die Feſte der Bevorzugten ſein müßten. So würde ſie es z. B. für recht und billig halten, wenn bei einem Jagdver⸗ gnügen das erlegte Wild unter die Armen des Diſtrikts vertheilt würde . . . Gräfin Charlotte unterbrach ſie mit lautem Lachen: „Schöne Idealiſten ihr! meinetwegen an den Laden⸗ tiſch mit Euch! Verkauft aus Leibeskräften, ſtellt eure 27 Waaren. und eure Perſonen aus und laßt euch für fünfzig Pfennig Entrée anglotzen. „Am erſten Tage beträgt das Entrée drei Mark“ warf Irene ein. Heloiſe hatte ihrer Tante zugenickt. „Ich gehe auch nur Mama zu Gefallen hin“, ſagte ſie. „Ich begreife nicht, wie man ſo gern etwas im Spaß ſein möchte, was Einem im Ernſt verhaßt iſt. „Verkäuferin! noch dazu im Coſtüm! „Du brauchſt nicht ariſtokratiſcher zu ſein als Deine Mutter“, ſagte Gräfin Stella mit einem eigenthümlich ironiſchen Zucken um die Mundwinkel. Irene drängte zur Anprobe. Ihre Mutter erhob ſich. „Ich bin neugierig“, ſagte ſie, „wie ſich die⸗Rotüre in Wichs werfen wird.“ „Und Du, Mamachen, wenn Du morgen in meiner Bude ein Glas Thee trinken willſt, wirſt Du Dich hoffentlich mir zu Ehren, auch ein bischen „auf⸗ donnern“, ſagte Irene, die Sprechweiſe ihrer Mutter nachahmend. „Das fehlte mir“, antwortete die Unverfrorene, „ich brauche keine Abzeichen und Attribute, wie Neptun etwa ſeinen Dreizack“, — ſie unterdrückte „die Miſtgabel“ die ihr auf der Zunge ſchwebte — oder Aeskulap ſeine Medizinflaſche, oder was es ſonſt war, damit das Publikum merkt, wen es vor ſich hat. Das iſt ja gerade unſer Vorzug, daß man ſich's bequem machen kann, ſich kleiden, wie man will, ohne in den Verdacht zu kommen, daß man es aus Pauvreté thut. „Eines ſchickt ſich nicht für Alle“, ſagte Gräfin Stella mit ſanfter Indolenz, unter der ſie die ſtarke 28 Antipathie gegen die Gräfin Charlotte verbarg. „Ich z. B. würde mich immer ſo reizend wie möglich kleiden, und wenn ich noch ſo alt und noch ſo arm wäre. Häßliches, mag es in Coſtümen, in Sprache oder Weſen zum Ausdruck kommen, widerſteht mir. „Na, da habe ich's gut gekriegt“, lachte die Schwägerin. Sie fragte dann, wer die dritte Japanerin in der Bude ſei, da die Mikado⸗Tradition doch die Drei⸗ zahl verlange. „Die kleine Elſa Burger, die Malerstochter, und wir hätten Adda Bulowska haben können“, ſagte Irene mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihre Couſine, „aber Heloiſe wollte ſie nicht.“ „Ich wollte Adda Maier nicht. „Ach ſo, wohl zur Strafe, weil ſie ins Volk hinab⸗ geſtiegen, und ſich den Banquier und ſeine Million gelangt hat?“ fragte Gräfin Charlotte. „Ja — darum.“ „Und ſie hätte ſo gut zu uns gepaßt, die kleine, pikante Adda“ . . . bedauerte Irene, „ſie iſt wie ein Schnapsgläschen ⸗ „Und es iſt auch echter Liqueur darin“, ſetzte Gräfin Charlotte hinzu, „aber wie iſt mir denn“ — wendete ſie ſich an Heloiſe, „Du haſt doch ſo gut wie Irene im vorigen Winter eine Einladung zu einer Soirée bei Adda angenommen? „Ich hatte mich durch ihre Bitten bewegen laſſen“ entſchuldigte ſich Heloiſe, „ich habe es bereut.“ „Bereut? warum? iſt da 'was Schreckliches paſſirt 29 „Schlechte Formen“, antwortete Heloiſe, „ſind für mich Schreckliches. Mir war den ganzen Abend über, als befände ich mich in einem ungelüfteten Raum voll ſtarker Parfüms, ſo etwas Uebertünchtes war's. Irene meinte, ſie habe ſich über all das, was Heloiſe geärgert, köſtlich amüſirt. Und ſie erzählte: Gleich bei ihrem Eintreten da wäre es wie ein feierliches Rauſchen durch den Saal gegangen, wie wenn ein paar Olympier zu armen Sterblichen herab⸗ gekommen wären. Es hätte nicht viel gefehlt, ſo hätte man Spalier gebildet und Tuſch geblaſen — für die Gräfinnen. Und dann hätte der Wirth ſich bei ihnen entſchuldigt, daß er aus Familien⸗ rückſichten ſeinen Schwager und ſeine Schweſtern habe einladen müſſen, Leute mit irgend einem häßlichen Namen, den ſie vergeſſen hätte, und mit einem Laden irgendwo, wo irgend etwas ganz vulgäres verkauft wurde, Mützen oder Unterröcke, es könnten aber auch Corſets geweſen ſein. Heloiſe wäre bei dieſer Rede dunkelroth geworden, theils wegen der taktloſen Entſchuldigung dieſes, von ihrer blaublütigen Jugendfreundin an⸗ geheiratheten Plebejers, theils über die Verwandtſchafts⸗ bande Addas mit der Corſetverkäuferin. Im Laufe der Soirée hätte ſich ihnen dann unter Anderen ein eleganter junger Mann vorſtellen laſſen; ſeine Unterhaltung, eine recht anregende und intereſſante, habe ſich um ſeine Reiſen gedreht, die ganz Europa umfaßten. Schließlich habe er ihnen ſeine Karte gegeben und — um ihre Kundſchaft gebeten — ein Weinreiſender. Ferner: eine ältliche Dame hätte um die Ehre 30 gebeten, ihnen, den jungen Mädchen, vorgeſtellt zu werden, und habe ſie dann mit den indiskreteſten Fragen förmlich bombadirt. Unter Anderem habe ſie Tante Stella's Alter wiſſen wollen; die Tante könne doch mit einer erwachſenen Tochter unmöglich ſo jung ſein, wie ſie ausſähe, ſie kenne ſie von den Theaterpremieren her, und ob es nicht Tantes Toilette geweſen, deren Be⸗ ſchreibung ſie in der Voſſiſchen Zeitung geleſen. Und ſie habe auch einmal in Marienbad mit einer Gräfin Görſchen⸗Steinrück eine längere Unterhaltung gepflogen, auch die Baronin ſo und ſo kenne ſie, und eine Groß⸗ nichte von ihr würde ſich wahrſcheinlich nächſtens mit einem Herrn von Könneritz verloben u. ſ. w. Es wäre dann immer toller gekommen. In einem leeren Neben⸗ zimmer hätten ſie einen Lohndiener getroffen mit einer Flaſche Sekt vor dem Munde. Dieſes harmloſe Genre⸗ bild habe dem Faß von Heloiſens Geduld den Boden aus⸗ und ſie in die Flucht geſchlagen. Und als ſie, Abſchied nehmend, ſich den Wirthen genaht, da ſei das Unſagbare, das Grauenhafte geſchehen: Der Vater des Wirths, der daneben ſtand — ein hülfloſer Greis, der auch an Wochentagen mit irgend etwas handelt, — habe ſie auf die Schulter geklopft — auf eine decolletirte!“ „Hatte er Handſchuhe an?“ fragte Irenens Mutter. „Ich glaube. „Na alſo. Die Blicke unſrer Cavaliere auf den Schultern unſerer jungen Damen klopfen oft noch viel indiskreter. 31 „„Adda“, ſagte Gräfin Charlotte, „iſt ein geſcheutes, kleines Frauenzimmer; ſie wird ſchon allmählich mit den alten Gewohnheiten und Bekannten ihres Millionärs aufräumen. Gut Ding will Weile haben! Die unverfrorene Gräfin war vielleicht die verſtockteſte Ariſtokratin von Allen. Sie machte ſich aber doch über⸗ all gern populär. Die Vorſtellung, ſie könne ſich etwas vergeben, kam ihr niemals. Was ſie thun wollte, das durfte ſie thun, ſie, die geborene Fürſtin Dietrichſtein. „Nun, wie wirſt Du Dich denn morgen Adda gegenüber verhalten?“ fragte ſie Heloiſe, „Du weißt doch, daß ſie als Verkäuferin auf dem Bazar iſt. „Ich werde ſie zu vermeiden ſuchen“, antwortete Heloiſe. Sie nahm die Anzeichen nervöſer Ungeduld in den Mienen ihrer Mutter wahr. Stella hatte ſchon lange keinen Antheil mehr an der Unterhaltung genommen. Ihr Kopf ruhte müde in dem Kiſſen, und immer häufiger blickte ſie auf die Uhr, die auf dem Kaminſims ſtand. Heloiſe erinnerte, daß es die höchſte Zeit zur Anprobe ſei, die drei Damen verließen das Boudoir der Gräfin. Im Vorzimmer trafen ſie Clemens Secking. Er wollte ſich eben bei der Gräfin melden laſſen. Er hatte ein langes, ſchmales und blaſſes Geſicht; durch ſein in der Mitte geſcheiteltes Haar zogen ſich Silberfäden, die auf der Stirn eine weiße Locke bildeten. Der ſtarke, braune Schnurrbart zog ſich tief herab; er ſah vornehm 32 und blaſirt aus. Seine Kleidung war nachläſſig, charakteriſtiſch war eine Art brannen Bindfadens, die ihm als Uhrkette diente. Zwiſchen Thür und Angel überſchütteten Gräfin Charlotte und Irene den Weltumſegler mit allerhand, nicht ernſt gemeinten Fragen über die von ihm um⸗ kreiſten Welttheile: ob er das Schlangenbändigen gelernt, ob ſeine Löwenjagden ergiebig ausgefallen ſeien. Sie erkundigten ſich nach dem Nirvana, nach der indiſchen Wittwenverbrennung, nach des Canadiers Gaſtfreund⸗ ſchaft, ob die Memnonsſäulen noch klängen, und ob er nicht ein paar Pagoden, oder wenigſtens einen kleinen, phantaſtiſch angezogenen Hinduknaben als Diener mitgebracht habe. Herr von Secking beantwortete ihre Fragen mit Humor. Er habe nirgends etwas beſonders Neues gefunden. Die Damen wüßten ja ſelbſt am beſten, daß Europa ein viel ergiebigeres Feld für Schlangen⸗ bändigung böte als Aſien — und was für Schlangen! direkte Abkömmlinge der Paradieſesſchlange. Und wo⸗ zu Pagoden mitbringen? wohin man in Europa blicke, nichts als Pagoden. Und was das Nirvana betreffe, die Anbetung des heiligen Nichts, man brauche nur einen Blick in unſere Polizeiberichte zu werfen¹ Schopenhauerſche Schule in Blüte. Und ſelbſt Memnons⸗ ſäulen erklängen bei uns, wenn die Morgenröthe ſich zeige. — Sein Blick ruhte bei den letzten Worten auf Heloiſe, die ſchweigend, in ungeſuchter Grazie an einer dunklen Marmorſäule lehnte, die einen tanzenden Satyr in Bronze trug. Ihre langen, ſchlanken weißen Finger 3 33 ruhten ineinander verſchlungen auf den Füßen des Satyrs. Ohne den Contraſt dieſer grotesken Figur mit der lilienweißen und reinen Erſcheinung Heloiſes, hätte ihn vielleicht die eigenartige keuſche Schönheit des jungen Mädchens, die während ſeiner Abweſenheit erblüht war, nicht ſofort gefeſſelt. „Und Sie haben nichts zu fragen, Comteß richtete er das Wort an ſie. „Warum haben Sie die Weltumſegelung unter⸗ nommen?“ fragte ſie, um nicht ſtumm zu bleiben. Ich ſuchte in den anderen Welttheilen etwas, das ich in Europa verloren hatte. „Damit können Sie nur Ihr Herz meinen“, rief Irene, „das iſt der einzige Gegenſtand, den man zu⸗ weilen hundert Meilen von dem Ort entfernt, wo man ihn verloren hat, wiederfindet. Nachdem ſie noch ihr lebhaftes Bedauern über den nicht mitgebrachten Hinduknaben geäußert, der als Lock⸗ vogel in ihrer Bude auf dem Bazar unbezahlbar geweſen wäre, gab man die Belagerung des intereſſanten Reiſenden auf. Auf der Schwelle aber kehrte Irene noch einmal um. „Eine einzige Frage noch. Wie waren Sie mit Ihrem Reiſegefährten, unſerm lieben Götz Gottersberg zufrieden? Sie wiſſen, er wäre beinahe unſer rechter Vetter geworden, wenn er anſtatt aus der erſten, aus der zweiten Ehe ſeines Vaters ſtammte. Hat er viel Abenteuer gehabt? von ſchwarzer Couleur, oder leder⸗ ſtrumpfartige, oder — mit Schlangen verknüpfte 34 Ein verhaltenes, intenſives Intereſſe ſprach aus ihren letzten Worten. Eine Liebeständelei zwiſchen ihr und dem jungen Götz war durch ſeine Reiſe, welche ein Jahr dauern ſollte und zwei Jahre umfaßte, unter⸗ brochen worden. Heimlich hoffte ſie jetzt auf eine Fortſetzung und einen ernſten Abſchluß des Spiels. „Ich denke“, antwortete Clemens auf ihre Frage, Freund Götz wird wie Jeder, der Europas Staub von den Füßen ſchüttelt, etwas europäiſchen Ballaſt in Hinterindien und Umgegend gelaſſen haben.“ Irene folgte endlich den anderen Damen, die das Zimmer ſchon verlaſſen hatten. Clemens ſtand einen Augenblick in ſich gekehrt, dann ſchritt er — zögernd — über die Schwelle zu der Frau, die er ſo leidenſchaftlich geliebt hatte, und die er möglicherweiſe — — nein, er hatte überwunden. Die Spannung, in der ſich die Gräfin während der letzten Viertelſtunde befand — ſie hatte die Stimme des Freundes im Nebenzimmer erkannt — war aufs höchſte geſtiegen. Ihre Nerven vibrirten. Sie ſtand mitten im Zimmer, den Blick auf die Thüre gerichtet, als er eintrat. Sie wollte ihm entgegen, ſie ſchwankte, er legte ſtützend ſeine Arme um ſie. Ihr Kopf ſank auf ſeine Schulter, ein Blick voll Hingebung traf ihn ins Herz. In ihrer großen Bewegung ſahen Beide nicht, daß die Thür ſich hinter ihnen öffnete. Heloiſe erſchien auf der Schwelle, einen Moment, ſie hatte die Mutter noch etwas fragen wollen; ſie verſchwand ſogleich, die Thür geräuſchlos hinter ſich zuziehend. 35 „Stella, ja oder nein?“ Clemens ſagte es mit einem faſt wilden Blick. Sie trat ſchnell von ihm zurück. Auch er be⸗ herrſchte ſich ſofort, ein ſpöttiſcher Zug kräuſelte ſeine Lippen. „Clemens, Niemand iſt mir lieber als Sie. ich habe Sie entbehrt in der langen Zeit, ſo ſehr ent⸗ behrt. Nur — wir ſind zu ähnlich, als daß wir je zuſammenkommen könnten, wie Sie es wollen. Zwei gleich unglückliche Temperamente vereinigt. .. Er unterbrach ſie mit kalter Ironie. — „Phraſe, Stella, Phraſe! Sie könnten ebenſo gut meinen, zwei Blauäugige paßten nicht zuſammen. Sie ſind für Gegenſätze, z. B. ein Hungriger und ein Satter, die würden zuſammenpaſſen, bei Leibe nicht zwei Hungrige. Ich aber ſage, zwei Hungrige finden eher die Nahrung, die ſie brauchen, als ein Satter und ein Hungernder. Ueber Raum und Zeit, über das Weltmeer, über die Ewigkeit dreier Jahre habe ich den Hunger mit zurück⸗ gebracht. Ich hungere noch immer, — nach Ihnen, ich Narr! Und noch immer wollen Sie ſich von dem Grafen nicht ſcheiden laſſen „Nein, ich will nicht. Er ſah ihr forſchend und finſter in's Geſicht. — „Was für eine geheime Macht hindert Sie denn daran? Stella, zuweilen denke ich, daß Sie, die ſchöne, ſtolze Stella den Mann noch immer — — — „Falſch! falſch!“ fiel ſie ihm heftig in's Wort; eine fieberhafte Röthe kam und ſchwand von ihrem Geſicht. 36 Clemens trat wieder nahe zu ihr heran; ſeine Stimme ſank zu einem leidenſchaftlichen Flüſtern herab. „Stella, ich kenne alle Ihre Gedanken, Ihre Impulſe; Ihre Impulſe ſind gut, ſtark, natürlich, aber Sie ſind feige! Feige ſind Sie. Sie haben mir an⸗ gehört, Sie waren mein, ſo und ſo oft in Ihrer Phan⸗ taſie, in Ihren Träumen, Ihren Wünſchen; vorhin erſt, als Ihr Kopf an meiner Bruſt ruhte, waren Sie mein — feige ſind Sie — feige! „Nicht feige; ich habe nur einen unüberwind⸗ lichen Widerwillen gegen Häßliches, Sittenloſes. Die Vorſtellung heimlicher Ausgänge, dichter Schleier, all' des Apparats zu einem Rendez⸗vous, das Einver⸗ ſtändniß der Kammerjungfer wo möglich — abſcheulich⸗ nein — nie — nie! —⁴“ „Schluß! Schluß Stella!“ unterbrach er ſie, das romantiſche Spiel iſt zu Ende. Sie wollen von mir, was unſterblich iſt, meine Seele, was ſterblich und materiell iſt, ſtoßen Sie zurück. Wir gehören aber zu⸗ ſammen, meine Seele und mein Leib. Genug des Sturms und Drangs. Ich bin vierzig Jahr alt. Leben Sie in Frieden, Stella. Ich verheirathe mich. „Mit wem?“ fragte Stella, ihre Lippen zitterten. „Es iſt ein liebenswerthes Geſchöpf, ein edles junges Weib.“ „Das Sie nicht lieben. „Ich werde es lieben. „Schön! „Nicht wie Sie, Stella. Eine lilienfingrige Ma⸗ donna, und ich glaube auch mit dem Temperament der 37 heiligen Jungfrau. Treue und Edelſinn ſind auf ihrer Stirn geſchrieben. „Sie haben ſie natürlich vor drei Jahren ſchon gekannt? „Gewiß. Vielleicht nehme ich ſogar Ihre Hülfe in Anſpruch, wenn ich ſo feſt auf Ihre Freundſchaft bauen kann, wie Sie auf die meinige. Stella lag in einem Fauteuil geſchmiegt. Sie hatte die Hände im Nacken gefaltet, ſo daß die zurückfallen⸗ den, weiten Aermel ihres Gewandes ihre wunderſchönen Arme frei ließen. Während Clemens die letzten Worte in conventionell gleichgültigem Tone ſprach, hatte Stella, wie zufällig ſpielend, an den Schrauben des elektriſchen Lichts gedreht und plötzlich fluthete es wie Abend⸗ ſonnengold durch das Gemach; das rothe Licht floß über ihr weißliches Sammetkleid, über ihr goldenes, wirres Haar, und wie verklärt trat ihre Geſtalt aus der Dämmerung, die bis jetzt geherrſcht, hervor. Aphro⸗ dite ſelber, dachte Clemens; er wollte gewaltſam die Blicke von ihr wenden, er vermochte es nicht. Es war ein weicher, vibrirender Ton in ihrer Stimme, als ſie jetzt ſagte: — „So ſoll dieſes Wiederſehen ein Abſchied ſein, Clemens? Ich kann's nicht glauben. Wenn ich Ihnen nun ſagte, daß ich Sie“ — — — „Liebte?“ Er lachte kurz auf. „Sagen Sie es nur, ich glaube es doch nicht. Und wenn auch — Ihre Liebe würde immer nur wie eine Oaſe ſein, dazwiſchen lange, wüſte Strecken, wo man verdurſtet oder eine Reiſe um die Welt machen muß. Ihrer armen Seele fehlt 38 der große Zug nach „Plein air“¹, der das ganze moderne Leben beherrſcht, Malerei, Dichtkunſt, Geſellſchaft. Könige und Kaiſer ſelbſt ſtreifen uralte Gebräuche und Vorurtheile ab, und ſuchen plein air in freiſter Ent⸗ faltung ihrer Perſönlichkeit. Und vor allem das Weib“ — — Der Eintritt der Kammerjungfer unterbrach ihn. Die Hand, die Stella Clemens zum Abſchiede reichte, war kalt. Stella ſtand, als er gegangen war, mit herab⸗ hängenden Armen vor dem Kamin, der Kammerjungfer nicht achtend und blickte ſtarr in das verglimmende Feuer. Als aber jetzt einige halbverkohlte Holzſtücke wieder aufflackerten, da gewann auch ihr Blick wieder Leben und Feuer. Nein, ſie wollte ihn nicht aufgeben; ſie will kämpfen um ihn, kämpfen mit dem liebenswerthen Geſchöpf, das er gewählt hat. Sie liebt den Kampf, ſie liebt Alles, was Leben und Erregung iſt; nur keine Windſtille, lieber Sturm, wenn auch Sturm auf offenem Meere. Aber — liebt ſie denn Clemens? Sie weiß es nicht. Aber ſie braucht ihn und ſeine bedingungsloſe Anbetung; ſie braucht ihn wie ihre Pariſer Toiletten, wie ihre Schönheit, wie die Feſte, wie einen Spiegel, der ihr zeigt, daß ſie noch immer ſchön iſt und jung. Clemens von Secking war gegangen voll Zorn, das alte Leid im Herzen. Alles war, wie es geweſen. Würde er nie dieſer lächerlichen Leidenſchaft für die alternde Frau Herr werden? Er wollte das letzte ver⸗ ſuchen. Im Vorzimmer, als er Heloiſen geſehen, die er als ein halbes Kind verlaſſen und nun hold erblüht 39 wiedergefunden, war ihm eine Inſpiration gekommen. Sie gewann jetzt beſtimmtere Geſtalt. Clemens war in der Geſellſchaft gefürchtet und doch geſucht und umworben; gefürchtet, weil er rück⸗ ſichtslos, intolerant, Jeden, der in den Kreis ſeiner Beobachtung trat, mit ſeinen ſatyriſchen Ausfällen, ſeinem Witz anfiel. Er durfte rückſichtslos ſein, er lebte in ſtolzer Unabhängigkeit, ohne Beruf, ohne Familie, er brauchte Niemand; er war ohne Ehrgeiz, ohne Eitelkeit. Er ſaß, wie ein Recenſent im Theater, der Geſellſchaft gegenüber, und machte ſeine Notizen, nur mißfällige, über die Spielenden; er that es unwillkürlich, gleich⸗ gültig, weder in böswilliger Abſicht, noch um mit ſeinem Esprit Effekt zu machen. Er war gleichgültig gegen Alles, und einigermaßen ſtolz auf ſeine Gleichgültigkeit. Weder an Politik, noch an dem litterariſchen und künſtleriſchen Aufſchwung der Zeit nahm er Antheil, obwohl er die Tragweite der Bewegung verſtand und zu würdigen wußte. Das Weib, das er ſeit ſo vielen Jahren leiden⸗ ſchaftlich liebte, ſchien ſeine ganze Seele zu abſorbiren. Geſucht und umworben war er, weil er die Leute amüſirte, weil er reich war und hauptſächlich, weil man wußte, daß er nur in der ausgewählteſten Geſellſchaft verkehrte, ſein Erſcheinen in einem Hauſe alſo ein vollgültiger Beweis war, daß das Haus zur Elite gehörte. Um halb ſieben, wie gewöhnlich, fand ſich das gräfliche Paar mit der Tochter beim Diner zuſammen. Eine diſtinguirtere Erſcheinung als Graf Albrecht Ronald⸗ 40 Büren war kaum denkbar. Er war groß und ſchlank, mit kahler Stirn und einem blonden Vollbart. Die faſt wimperloſen Augen mit den ſchmalen, kaum ſicht⸗ baren Augenlidern, blickten, während er ſprach, meiſt ins Leere oder vor ſich hin; fixirten ſie aber ausnahms⸗ weiſe Jemand, ſo war der Blick fascinirend. Stella fürchtete dieſen Blick. Die Unterhaltung bei der Tafel pflegte froſtig und einſilbig zu ſein, nur zu⸗ weilen gewürzt durch Sarkasmen des Grafen, die ſich gegen die nie raſtende Thätigkeit Stellas richteten, oder durch die liebenswürdigen Bemühungen Heloiſens, die Eltern zu erheitern. Heute aber war Lis die froſtigſte und einſilbigſte von den Dreien, während der Graf in ſeinen Sarkasmen agreſſiver ſchien als ſonſt. Stella fragte ſich, ob wohl die Rückkehr ihres Anbeters, die Urſache ſeiner Schärfe ſein mochte. Ein ſchweres Schickſal hatte von früh an auf Graf Albrecht gelaſtet. Es begann ſchon mit ſeiner Geburt, die ſeiner Mutter das Leben koſtete. Er war kaum zwei Jahre alt, als ſein Vater, ein edelgeſinnter, aber ſchwacher Mann, ſich zum zweiten Male verheirathete. Auch dieſer zweiten Ehe entſproß ein Sohn. Albrecht wurde von ſeiner Stiefmutter gehaßt; ſie haßte in ihm den Erben des Majorats, ſie haßte ihn, weil er ſchön war, ſie haßte ihn, weil er überhaupt da war. Er hatte eine Schweſter, Ulla, die ein Jahr älter war als er, und die den Bruder leidenſchaftlich liebte. Sie wurde aber in einem vornehmen Stift erzogen, er ſah ſie nur ſelten. Der Vater vermochte nicht, den Sohn vor den Wirkungen des Haſſes ſeiner Gattin zu ſchützen. 41 Albrecht war ein warmherziges, leidenſchaftliches Kind geweſen, nicht von hervorragenden Geiſtesgaben, aber pflichtgetreu, ehrlich, wahr. Sein Stiefbruder Horſt, eine unſympatiſche Erſcheinung, zeichnete ſich durch Intelligenz aus, zeigte aber von früh an einen gewiſſenloſen Leicht⸗ ſinn. Albrecht wurde der Prügelknabe ſeines Bruders; und allmählich verwandelte ſich der freimüthige, lebhafte Knabe in einen ſtörriſchen, trotzigen Geſellen, der Haß mit Haß vergalt. Als er von einer Krankheit befallen wurde, verwahrloſte man ihn. Unter dem finſteren Mißtrauen, daß man ſeinen Tod gewollt, wuchs ſein Haß. Und er durfte nicht einmal klagen. Man hatte ihm geſagt, der Vater ſei herzkrank, die kleinſte Auf⸗ regung könne ihm den Tod bringen. So mußte er mit verſchloſſenen Lippen das Aergſte hinnehmen, was man ihm anthat. Später erfuhr er, daß die Krankheit des Vaters eine Erdichtung ſeiner Stiefmntter geweſen war. Bis zu ſeiner Mündigkeit hielt man ihn in ſtrengſter Abhängigkeit. Noch ſehr jung verliebte er ſich in ein reizendes, überaus kokettes Mädchen und verlobte ſich mit ihr. Kurz vor der Hochzeit kam Ulla, ſeine Schweſter zum Beſuch. Eines Tages theilte ſie ihm mit, daß die Braut ſeiner unwürdig ſei, ſie unterhalte ein Liebesverhältniß mit Horſt, ſeinem Stiefbruder. Die Heirath ſcheiterte. Albrecht hätte den Bruder ge⸗ tödtet, wenn nicht der Vater, der jetzt in der That ſchwer erkrankt war, den Schwur von ihm erzwang, ſich niemals an ihm rächen zu wollen. Er wehrte ſich wie ein Verzweifelter gegen den Schwur und leiſtete ihn doch ſchließlich. Seine Braut verſchwand, und er hörte 42 nichts mehr von ihr. Ungeſühnt mußte bleiben, was man an ihm verbrochen. Der Vater ſtarb. Er ge⸗ langte in den Beſitz des Majorats. Er war reich, vor⸗ nehm, ſchön, in der Blüte der Jugend, und ſchon war ſein Weſen zerſtört, ſeine Seelenkräfte waren gebrochen. Das Gefühl ungeſühnten Unrechts zehrte an ſeinem Mark. Seine Schweſter hatte ſich inzwiſchen mit einem der glänzendſten Cavaliere, dem Fürſten Andreas Gottersberg vermählt, den ſie anbetete. Sie war es, die von ihrem Gatten veranlaßt, Graf Albrecht ein Jahr ſpäter auf ein blühend ſchönes Mädchen aufmerkſam machte, das anfing Aufſehen in der Geſellſchaft zu erregen: Stella von Brüning. Das junge Mädchen war eine Waiſe. Ihr Vater war ſchon vor ihrer Ge⸗ burt geſtorben. Mit einer kränklichen Mutter hatte ſie auf einem einſamen Gut, fern von allem Verkehr, ihre Kindheit verlebt. Sie hatte eben das fünfzehnte Jahr erreicht als ihre Mutter ſtarb. Eine Tante, eine ſelbſtſüchtige, gewiſſenloſe Perſon, die ſich nothgedrungen ihrer annehmen mußte, vertraute ſie der erſten beſten Gouvernante an. Albrecht war von Stellas Schönheit bezaubert; über ihrem, damals ſtillem Weſen, lag ein Hauch von Melancholie, der den Glanz ihrer Schönheit lieblich dämpfte. Dennoch wären ſie bei ſeiner verdüſterten Stimmung vielleicht nie zu einander gekommen, wenn nicht ein Zufall ihnen zu Hülfe gekommen wäre. Es war auf einem Ball, den zu beſuchen Ulla den Bruder halb gezwungen hatte. Hinter einem Vorhang ver⸗ borgen, folgten ſeine Blicke jeder Bewegung der reizenden 43 Stella. Er ſah wie ſie mit Jemand plaudernd zwiſchen zwei Armleuchtern ſtand; ein Windzug von einem halb⸗ geöffneten Fenſter her fuhr über die Kerzen, im nächſten Augenblick flammte Stellas goldenes Gelock auf. Ehe noch ein Anderer es bemerkte, war er auf ſie zugeſtürzt, hatte ſie an ſich geriſſen und die Flamme mit ſeinen Händen erſtickt. Dabei hatte er ſich nicht unerheblich verletzt. Eine halbverbrannte lange goldene Locke war in ſeiner Hand geblieben; er hatte ſie an ſeiner Bruſt geborgen. Wenige Tage ſpäter war Stella ſeine Braut. Ein zweiter Liebesfrühling erſchloß ſich ihm, berauſchender, duftiger als der erſte. Albrecht liebte in Stella nicht nur das reizende Weib, er liebte in ihr ſeine Verſöhnung mit dem Schickſal. Er war damals der Geſandtſchaft in Madrid attachirt worden, und ſchon nach zwei Monaten folgte Stella ihm als ſeine Gemahlin an den Ort ſeiner Beſtimmung. Ein Jahr unausſprechlichen Glücks wurde ihnen zu Theil. Da erkrankte die Schweſter, Fürſtin Ulla, ſie erkrankte tödtlich. Sie rief den geliebten Bruder an ihr Schmerzenslager, nach Berlin. Sie ſtarb. Als ein völlig Anderer kehrte Albrecht nach Madrid zurück, als ein der Gattin und dem Leben Entfremdeter. Anfangs ſchrieb Stella ſeine Verwandelung dem Schmerze über den Verluſt der Schweſter zu; da die Zeit aber keine Macht darüber hatte, mußte ſie wohl oder übel einen anderen Grund annehmen. Ihre zärtlichen Bemühungen, das Räthſel ſeines Grams zu löſen, erfuhren nur kalte Abweiſungen. Sie gab ſchließlich alle Annäherungsverſuche auf. Graf Albrecht ſchied aus der diplomatiſchen 44 Carriére. Er nahm ſeinen Wohnſitz in Berlin, ließ ſich in's Herrenhaus wählen und wußte die einflußreiche Stellung, die er ſich durch ernſte, umfaſſende Studien unter den Agrariern erwarb, zn behaupten. Allmählich wurde der Graf für Stella ein völlig Fremder, deſſen Gegenwart ſie beklemmte, deſſen Blicke und Worte ſie fürchtete. Ganz frei fühlte ſie ſich nutr, wenn er auf Reiſen war. Eine Scheidung vor ihm zur Sprache zu bringen, wie es Clemens ſo oft leiden⸗ ſchaftlich von ihr verlangt hatte, hätte ſie nie gewagt. Sie hatte bei dieſer Vorſtellung eine Empfindung wie etwa ein Reiſender in den Alpen, der zwiſchen Schnee⸗ feldern leiſe auftritt, um nicht durch eine Erſchütterung die über ihm hängende Lawine in's Rollen zu bringen. An jenem Tage vor dem Bazar, als ſie bei der Tafel ſaßen, äußerte der Graf gegen ſeine Gemahlin, während es in ſeinem Geſicht ironiſch zuckte, daß er die Genugthuung habe ihr ein Ereigniß in Ausſicht ſtellen zu können, nämlich das Hinſcheiden ſeiner Tante Gisberte. Gisberte war eine frühere Hofdame von fünf und achtzig Jahren, die ſchon ſeit langer Zeit nur noch vegetirte. Stella ſah erſchreckt aus. — „Ich hoffe — ſie wird doch nicht“ — ſie ſtockte. „Vor dem Bazar ſterben“, ergänzte der Graf ihren Satz. „Sie hat immer ſo viel Takt und Zartgefühl im Leben gehabt, die Gute, ich denke, ſie wird den beſt⸗ möglichen Zeitpunkt wählen, um das Zeitliche zu ſegnen, alſo unmittelbar nach dem Bazar, ſo daß Dir Niemand das Recht verkümmern kann, einige Wochen ſpäter auf dem Carnevalsfeſt Deinen Triumphwagen zu beſpannen. 45 Er hatte augenſcheinlich eine Freude daran, ſie zu reizen. Stella wollte eine böſe, verletzende Antwort geben, als aber ſein Blick ſie traf, ſenkte ſie die Augen, und wieder empfand ſie jene eigenthümliche Unruhe, die ihr dieſer eiſige Blick jedesmal verurſachte. — „Und Euer Dompfäffchen“, wendete ſich der Graf nach einer Weile an Lis, „krächzt er noch immer ſein Rabenlied? „Iſt es nicht unheimlich, Papa“, antwortete Lis, „wie unſer Pfäffchen ganz plötzlich eines Tages ſein ſüßes Lied verlernt hatte und das andere, düſtere ſang? Mama war wochenlang melancholiſch darüber. Ein flüchtiges Lächeln, das nicht gut war, glitt über des Grafen Züge. Stella hatte vor Jahren einmal geklagt, das Dom⸗ pfäffchen wollte nicht mehr ſingen, ſie fürchte, es ſei krank. Graf Albrecht, der wußte, daß der Vogel an Altersſchwäche litt, hatte ihn heimlich mit einem ganz jungen Vogel gleichen Gefieders vertauſchen laſſen, und er ſelbſt hatte ihm die neue Weiſe gelehrt, deren Text Stella kannte: „Vergiftet ſind meine Lieder — wie könnt es anders ſein — Du haſt mir ja Gift gegoſſen in's blühende Leben hinein.“ „Und Euer Weltumſegler, der wieder da iſt, fuhr der Graf, immer noch zu Lis gewendet, fort, hoffentlich hat der nicht auch ſein altes ſüßes Lied verlernt? Lis wurde roth in die Seele ihrer Mutter hinein. „Er iſt zurückgekehrt, um ſich zu verheirathen,“ warf die Gräfin nachläſſig hin. Lis ſah die Mutter überraſcht an. 46 „Mit wem?“ fragte ſie unwillkürlich. „Den Namen weiß ich nicht. Er nannte ſie eine lilienfingrige Madonna.“ Ihr Blick war zufällig auf die Hände der Tochter gefallen, die dem Vater eine Orange ſchälte, und von den Händen wanderte der Blick weiter bis zu der hohen, weißen Stirn des jungen Mädchens. Glich dieſe uicht einer lilienfingrigen Madonna? Konnte er ihre Tochter im Sinne gehabt haben? Sie ſtand ſchnell auf und entſchuldigte ſich damit, daß jede Minute ihr koſtbar ſei. Als ſie fort war, ſchien Heloiſe aufzuthauen, ſie ſchmiegte ſich an den Vater; ihr Herz war voll Zärt⸗ lichkeit für ihn, ſeitdem ſie in jenem fatalen Augenblick die Thür zum Boudoir ihrer Mutter geöffnet. Sie fühlte ein Bedürfniß, ihm Liebes zu erweiſen, ſie ſprach und erzählte mit Anmuth und Esprit von den Ereigniſſen des Tages; ihr Geplander war ſo herz⸗ erfriſchend, daß der finſtere Ernſt des Grafen daran ſchmolz, er lächelte und ſtreichelte ihre Wange und ihr ſeidenes Haar. Ergriffen von einer ſo ſeltenen Liebes⸗ bezeigung, ſchlang ſie ihre Arme um ſeinen Hals, und das Geſtändniß ihrer Zärtlichkeit für ihn wollte ſich von ihren Lippen ſtehlen, als er ſich heftig von ihr losmachte. Sie ſah ihn erſchreckt an. „Ich bin leidend, mein Kind, es gilt nicht Dir, nicht Dir! aber laß mich! Er eilte in ſein Studirzimmer; in der Einſamkeit dort arbeitete Graf Albrecht oft halbe Nächte hin⸗ durch. Es war eine trockene Arbeit, für ihn wenigſtens, 47 weil er nicht mit dem Herzen dabei war. Er arbeitete nur, um zu arbeiten, um nicht wahnſinnig zu werden, in der ohnmächtigen Wuth über ſein Schickſal, das jedesmal ſeine Hand lähmte, wenn er ſie zum Schlage erheben wollte. Er verzehrte ſich in der Einſamkeit, zu der er ſich doch ſelbſt verdammte. Ja, er wollte allein ſein, er wollte an Nichts, an Niemand ſein Herz hängen, er würde ja doch immer nur Die lieben, die das Kainszeichen trügen. In der Welt verkehrte er nur ſo viel, als unumgänglich nöthig war; mit ſeinem Bruder zuſammenzutreffen, wäre ihm unerträgliche Pein ge⸗ weſen. Und er hatte ſehen müſſen, wie dieſer verhaßte Bruder nach ſeiner Vermählung mit der reichen Fürſtin Dietrichſtein von Stufe zu Stufe ſtieg und als Unter⸗ ſtaatsſekretär die Anwartſchaft auf ein Miniſterporte⸗ feuille hatte, während er, Graf Albrecht, im Schatten blieb. Und das Aergſte: er war ohne männlichen Erben, während der Knabe des Bruders, der Erbe ſeines Majorats, kräftig heranwuchs. Oft, wenn er bis zur Erſchöpfung gearbeitet hatte, warf er plötzlich Feder und Bücher fort, und ſeine Ge⸗ danken nahmen immer denſelben Weg, den ſie ſeit ſo vielen Jahren ſchon gegangen. Fort und fort brütete er über einen finſteren Plan, den er in allen Details ausgearbeitet, und wie ein Schachſpieler bis in die kleinſten Züge berechnet hatte, einen Plan der Rache. Es war kein gemeines Rachegefühl, das ihn dazu trieb, es war ein Prozeß, den er im Namen der gött⸗ lichen Gerechtigkeit gegen das ungeſühnte Unrecht führte, 48 Und er war ſicher, ihn zu gewinnen. Konnte er nicht alle treffen, ſo ſollte die Eine büßen für Alle. Er ſpielte mit dieſem Plan wie das Raubthier mit ſeiner Beute, in grauſamer Liebkoſung. Immer neue Combinationen erſann er. Nie ſah er weiter in die Zukunft, als bis zu dieſem Punkt der erfüllten Rache. Wie wenn auf dem Meere durch ſchwarzes Gewölk ein Sonnenſtrahl bricht, und die rothe, rollende Gluth über einen Waſſer⸗ ſtreifen ſich breitet, während rechts und links das bleierne, kalte, todte Meer iſt, ſo färbte die Leidenſchaft ſeines Rachegefühls allein die bleierne Oede ſeines Lebens. An jenem Abend begab ſich Gräfin Stella früh zur Ruhe. Sie wollte am anderen Tage ſchön und friſch ſein, dazu brauchte ſie Schlaf, viel Schlaf. Sie fand ihn nicht. Wirr und wüſt kreuzten ſich in ihrem müden Gehirn Gedanken und Pläne, düſtere Vorſtellungen und leidenſchaftliches Wollen. Sie nahm Chloral wie gewöhnlich, aber eine ſtärkere Doſis als ſonſt. Dann ſchlief ſie feſt und traumlos. Am nächſten Abend um ſechs Uhr wurde der Bazar eröffnet. Der Anblick des kleinen, eleganten Theaters war in der That feenhaft; überall Lorbeer⸗ und Tannen⸗ bäume, üppige Blumen. Die Logen waren in wahre Schmuckkäſtchen von kleinen Buden umgewandelt, die Verkäuferinnen, zum Theil reizend, in entzückenden Coſtümen; dazu das Gewoge der Menge, das Licht⸗ meer, das den Saal durchflutete, das Rauſchen der Muſik, das Duften der Blumen, ein ganzes von zauber⸗ hafter Wirkung, Bilder wie aus „Tauſend und einer Nacht“, entrollten ſich. Die japaniſche Loge, die Poſt 4 49 und die Darſtellung der vier Jahreszeiten trugen den Preis davon; der Preis war ein Goldregen. Jede kleine Bude trug eine Inſchrift. Die japaniſche Loge ſtrotzte von orientaliſchen Werthgegenſtänden aus dem Eſchenheim'ſchen Geſchäft. Schirme, Fächer und ſelt⸗ ſame Gefäße in leuchtenden Farben, an der Decke eine farbige Ampel, deren Licht durch eine große, rothe Blume gedämpft wurde. Die dritte Verkäuferin, Elſa Burger, mit ſilberblondem Haar und roſigen Farben war ein großes, ſchlankes junges Mädchen. Daß man ſie „die kleine Burger“ nannte, war nur ſo eine facon de parler unter den Ariſtokraten, um ihre beſcheidene Stellung in der Geſellſchaft zu markiren. Die drei reizenden Mädchen als Japanerinnen waren durch die Raumverhältniſſe gezwungen, dicht an⸗ einander geſchmiegt zu ſtehen, ganz à la three little maids from school — ein entzückender Effekt. Elſak Burger hatte ihr Schweſterchen mitgebracht, ein aller⸗ liebſtes fünfjähriges Kind, das vor der Bude ſtand mit kleinen Theebüchschen, und jeden Vorübergehenden anrief: „meine gnädigen Herrſchaften, ein Büchschen Thee für zehn Pfennige“ und als die Prinzeſſin Friedrich vorüberging, da rief ſie auch: „Kaufen Sie ein Büchschen Thee für zehn Pfennige, gnädige Dame,“ und die Prinzeſſin war eine menſchliche Prinzeſſin und lachte und ſtreichelte das Kind und kaufte ein Büchschen Thee für zehn Pfennige. Gräfin Wartenburg, Schwieger⸗ tochter einer der hervorragendſten Perſönlichkeiten bei Hofe, hatte auch ein bildhübſches, braunlockiges Töchterchen zur Hand, das zwiſchen Albums und Statuetten auf 50 einem Tiſche auf einem Stühlchen ſaß, und von jeden Paſſanten, der ſich von ihr das Händchen wollte geben laſſen, als Aequivalent eine Mark forderte. In glänzendſter Weiſe war das Poſtbüreau in⸗ ſcenirt. Darüber ſtand: „Trockenplatz für Thränen. Frau von Radatzin ſaß am Schalter. Die Coſtüme heſtanden aus einem Rock von crémefarbener Seide, darüber hochrother Moiréfrack, vorn ausgeſchnitten, mit einer Rieſenſchleife von weißem Tüll darauf, weiße Perrücke, kühner Dreimaſter aus rothem Sammet mit Federbuſch und Poſtabzeichen. Außer den Damen, die im Büreau ſaßen, ſchwebten hübſche junge Mädchen durch den Saal, die offene Briefe und Zeitungen ver⸗ kauften, und alle möglichen Leute an die Poſt lockten, um Briefe in Empfang zu nehmen. Die Loge der Gräfin Stella, die den Sommer darſtellte, war in eine Roſenlaube verwandelt worden. Mitten unter den Blumen hing das Bauer mit dem Dompfäffchen. Stella ſelbſt, in einem rothſchimmernden crépe de chine Gewand von griechiſchem Schnitt, mit Guirlanden von friſchen Roſen, war von dityrambiſcher Schönheit. Ihre Laube wurde der Sammelplatz der Elite der Geſellſchaft. Die Prinzen des königlichen Hauſes waren ihre Stammgäſte. Ein wahres Turnier der Galanterie ſpielte ſich in der Roſenlaube ab; Stella hatte einen succés foll. Das Publikum verhielt ſich anfangs mehr ſchau⸗ als kaufluſtig. Die Meiſten waren um der vornehmen Welt willen gekommen, um gewiſſermaßen die perſönliche Bekanntſchaft einer Gräfin Holm, einer Ronald Büren, 4* 51 einer Schwiegertochter des Miniſters und mancher Anderen, die ſie aus den Schilderungen des Berliner high life kannten, zu machen. Keine hervorragende Dame der ariſtokratiſchen Ge⸗ ſellſchaft fehlte. Gräfin Aglaya Holm hielt im phantaſtiſchen Zigeunercoſtüm eine Tombola. Dieſes Coſtüm, das Stella geſchmacklos gefunden, war mindeſtens curios. „Warum hat Gräfin Holm ein ſchwarzes Coſtüm ge⸗ wählt?“ fragte eine Dame. „Aber nein,“ antwortete man, „es iſt ja roth.“ In der That waren roth und ſchwarz ſo ſinnverwirrend ineinander verwebt, daß ſich die Farbe nicht feſtſtellen ließ. Die originelle Gräfin war eine Imitation der cosmopolitiſchen Fürſtin Moroſina, die in Paris lebte und durch ihre Excentricitäten beide Hemisphären in Erſtaunen ſetzte. Gräfin Aglaya lenkte eigenhändig ein Viergeſpann, ſie gab Feſte von ausge⸗ ſuchter, oft abſurder Originalität, z. B. einen Ball, auf dem alle Gäſte als Dienſtboten zu erſcheinen hatten, während die Dienſtboten die Gäſte in Herrſchaftstoilette bedienten. Sie beabſichtigte ſogar in einer Saiſon eine Soirée mit den Allüren einer Trauerfeierlichkeit. Die Damen ſollten in wallendem Crepp mit weißen Kränzen erſcheinen, ein Choral ſollte das Feſt eröffnen. Den Contraſt zwiſchen der Champagnerſtimmung, die früher oder ſpäter eintreten mußte und der düſteren Toilette dachte ſie ſich als den Gipfel des Pikanten. Da dieſer Einfall aber an dem Widerſtand der Eingeladenen ſcheiterte, ſprang ſie zu einem Tingeltangel über, in den ſie ihre Salons verwandelte. Einmal hatte ſie den Einfall in einem Sarge 52 ſchlafen zu wollen und nur, als man ſie daran erinnerte, daß Byron das lange vor ihr gethan, ließ ſie die Idee, als abgedroſchen, fallen. Sie hatte eine Paſſion für Prinzen von Geblüt, für Männer von auffallender Schönheit und für ver⸗ kommene Genies. Sie fehlte bei keinem Hoffeſt, bei keiner Leichenfeier hochſtehender Perſönlichkeiten, ja, ſelbſt in Krankenzimmern traf man ſie, wenn die Krankheit gefährlich, aber natürlich nicht anſteckend war. Sie fehlte bei keiner Parade, keinem Wettrennen, ja, einmal war ſie ſogar verſteckte Zeugin eines Duells geweſen. Bei ihrer Tombola verſuchte ſie die Beſucher durch un⸗ heimliche Gewinne in Schrecken zu ſetzen. Einen jungen Ruſſen, der für einen Nihiliſten galt, ließ ſie einen kleinen Galgen von Marcipan gewinnen, einen Dichter eine von ihr verfaßte maliciöſe Rezenſion ſeines neueſten Buches. Mit ihren Excentricitäten ſchadete ſie eigentlich niemandem als ihrer majorennen Tochter, deren ver⸗ ſchleierten, züchtigen Blicken und anmuthvoller Reſer⸗ virtheit keiner traute. „Seit dem ſenſationellen Er⸗ folg von Ibſens Geſpenſtern, ſind die jungen Männer ſehr vorſichtig in der Wahl ihrer Schwiegermütter ge⸗ worden“ ſagte Frau von Währinger, die auf dem Bazar Bücher verkaufte. Frau von Währinger gehörte zu den beliebteſten Damen der vornehmen Welt, obgleich ſie den Ruf einer Ultra⸗Emancipirten genoß. Ihre Emancipation beſtand hauptſächlich in der Ungeſchminktheit ihrer Rede. Was ſie ſagte, war 53 zuweilen ſo cyniſch, daß man es kaum für Ernſt halten konnte, und es war ein ſtillſchweigendes Uebereinkommen, ihren Cynismus für einen amüſanten Sport gelten zu laſſen. Je lauter ſie ihre Liebhaber proklamirte, um ſo weniger glaubte man daran, oder fingirte wenigſtens, es nicht zu thun. Katzenhaft funkelnde graugrüne Augen gaben ihrer ſonſt wenig ſchönen Phyſiognomie Reiz. Ihre bon mots, ihre geiſtreichen Apercus wurden colportirt. Stella wurde von ihr eine Danaide genannt, ihr Herz ſei ein leckes Faß, in das ſie unausgeſetzt Liebe ſchöpfe, die wieder hinauslaufe, ehe ſie Gebrauch davon gemacht. Sie pries ſich glücklich, daß ſie nicht mit Kindern behaftet ſei: So lange Kinder klein blieben, wären ſie ja unter Umſtänden ein ganz nettes Spielzeug, erwachſen aber, meiſt mittelmäßige oder untergeordnete Menſchen, mit der Neigung an der Exiſtenzberechtigung der Eltern, die in ihren Augen immer alte Leute ſeien, zu zweifeln. Sie erklärte ſich ſelbſt für einen „Anachronismus. Sie wäre eigentlich als Altgriechin zur Welt gekommen, und gehöre einem Zeitalter an, in dem man zugleich Muſe und Hetäre ſein könne. Als Aspaſia — das war ſie mindeſtens in ihrer Meinung — hatte ſie ſich natürlich mit einem Perikles verſehen. Als gegen⸗ wärtigen Inhaber dieſer Charge nannte man den alten Fürſten Andreas. Sie hätte ſich gern einmal zu Gunſten von Clemens Secking verändert. Der Zufall wollte es aber, daß auch Gräfin Aglaya ein Auge auf den Nonchalanten, wie ihn Gräfin Charlotte nannte, 54 geworfen hatte, und ſo machte es ſich ganz von ſelbſt, daß die beiden Damen Krieg führten, mit wechſelnden Chancen. Frau von Währinger erklärte die Ehe linker Hand für die einzige gute und aufrichtige, weil keine Neben⸗ abſicht dabei im Spiele wäre. Sie fand zahlreiche Bewunderer, die entzückt waren, ihre geheimen Gedanken mit ſo viel Elan affichirt zu ſehen. Ein anderer Typus der Ariſtokratie, Gräfin Suſanna Ferneß, eine glühende Wagnerianerin, verkaufte auf dem Bazar im Coſtüm der Elſa, Noten und muſikaliſche Inſtrumentc. Sie ſpielte ſelbſt ſehr gut Klavier und umgab ſich mit den Notabilitäten der Künſtler⸗ und Schriftſtellerwelt. Ihre Ambition war ein Salon in franzöſiſchem Stil des vorigen Jahrhunderts, à la Recamiere oder Madame d'Epinay. Was ihr zu die⸗ ſem Unternehmen an Geiſt und Charakter fehlte, erſetzte ſie durch ſtrahlende Liebenswürdigkeit und liebliche Blondheit; ſie war kaum hübſch, aber von ſchlangen⸗ hafter, holdſeliger Anmuth. Genies hielt ſie für Ebenbürtige der Ariſtokratie, aus ihren Reihen wählte ſie ihre Intimen. Ab und zu ließ ſie aber auch mäßige Schriftſteller oder Künſtler als Genies paſſiren, wenn es ihr nützlich ſchien, denn trotz ihrer Holdheit war ſie praktiſch und berechnend. Sie verſtand, die Geiſter, die ſie rief, nicht nur zu gebrauchen, ſondern ſie auch wieder loszuwerden, zur rechten Zeit. Etliche dienten ihr einfach zur Dekoration ihres Salons, etliche Andere, vornehmlich Schriftſteller, wurden an⸗ gehalten, in den Journalen Reklame für ihre Günſtlinge 55 oder für die Politik ihres Gatten zu machen; mit Männern der Wiſſenſchaft unterhielt ſie ſich gern und angelegentlich, behufs Erwerbung poſitiver Kenntniſſe in der Litteratur, Phyſik u. ſ. w., und die naiven Gelehrten fühlten ſich äußerſt geſchmeichelt, ihr dieſen Gratis⸗ Unterricht ertheilen zu dürfen. Frau von Währinger erzählte von ihr, daß ſie im Sommer auf ihrem Gute Schwäne vor ihr Boot ſpanne, und daß ſie, wie Iſolde, geheime Liebestränke braue, die ſie meuchlings renitenten Virtuoſen verſetze. Wahr iſt, daß Wenige ſo verſtanden wie ſie, Leiden⸗ ſchaften zu erregen. Eigenthümlich war ihr Gang, ein ſanftes, hingleitendes Vorwärtsſchieben, den Oberkörper leicht vornübergeneigt, als ob ſie Arme ſuche, ſtützende, in die ſie ſich ſchmiegen könne. Neben ihr verkaufte Frau von Lauen Kinder⸗ garderobe, eine treffliche rechtſchaffene Frau, die nur an zu viel Mußeſtunden krankte, in denen ſie dichtete, was hr den Beinamen „Diotima“ eintrug. Ihr vermeintlicher Dichterruhm war ihr etwas zu Kopfe geſtiegen, da die Kritik ihre harmloſen Sächelchen jedesmal mit auf⸗ richtigem Entzücken als ein Ereigniß in der Litteratur begrüßte. Das geſchah ihrem Gemahl zu Liebe, der für eine ſehr einflußreiche Perſon am Hofe galt. Daß dieſer Gemahl jedesmal fuchswild wurde, wenn ihm dieſe gedruckten Lobhudeleien über die Dichtungen ſeiner Gattin, durch die er ſich compromittirt fühlte, zu Geſicht kamen, konnten die freundlichen Rezenſenten natürlich nicht wiſſen. 56 Bemerkenswerth unter den Damen war auch die verwittwete Geheimräthin von Radatzin, die in Corre⸗ ſpondenz mit verſchiedenen, etwas paſſirten, aber deſto ariſtokratiſcheren Berühmtheiten ſtand, von denen eine ſogar an den Stufen eines Thrones ſtand. Sie hatte den lyriſchen Schwung aus der Schiller⸗ und Goethezeit, verabſcheuete Ibſen und Zola, entging aber trotzdem der Mediſance nicht. Boshafte ſagten, weil ſie für das moderne Leben nicht Geld und Geiſt genug habe, hätte ſie ſich auf die Vergangenheit und — ihren Liebhaber zurückgezogen. Alle dieſe Ariſtokratinnen hatten etwas gemeinſames, ſtereotypes: Daſſelbe liebenswürdige Lächeln, dieſelben däniſchen Handſchuhe, dieſelbe ſouveräne Sicherheit, die ſich hinter dem Ladentiſch ebenſo zu Hauſe fühlt wie im Salon, denſelben leichtblinzelnden Blick von oben herab, wenn ſie mit Leuten ſprachen, die ſie für untergeordnet hielten; dieſelbe laute Art, über die Köpfe der un⸗ betheiligten Bürgerlichenhinweg, ihre Privatunterhaltungen zu führen. Sie verſtanden es „unter ſich“ zu bleiben. Ihre ganze Haltung drückte aus: Der Bazar ſind wir, Ihr Andern ſeid nur geduldete Gäſte oder Staffage. Die Bürgerlichen fühlten ſich in die Ecke gedrückt. Die Stolzen, die Heißſporne und die Millionärinnen unter ihnen ſuchten ſich dieſes Drucks zu entledigen, in⸗ dem ſie ebenſo laut ſprachen, wie die Ariſtokratinnen, und ebenſo ſouveräne Allüren zur Schau trugen. Es fehlte ihnen aber die Natürlichkeit und Sicherheit dabei, und in ihrem Ton drang eine leichte Gereiztheit durch. 57 Die erwähnten Ariſtokratinnen waren faſt alle hoch⸗ begabt, voll Temperament und Intelligenz, aber verdorben durch Müßiggang, durch die Atmosphäre der Geſellſchaft. Auf Feldern, die brach liegen, wächſt Unkraut. Als Männer geboren hätten ſie wahrſcheinlich mit Erfolg den Degen, die Feder oder den Taktſtock geführt; ſie hätten im Beſitze eines Portefeuille oder eines Lehr⸗ ſtuhls dem Staate und der Wiſſenſchaft zur Zierde gereicht. Auf dieſe vornehmen Damen concentrirte ſich das Intereſſe des Publikums. Eine auffallend zarte blonde Schönheit, und eine andere prächtige Erſcheinung mit märchenhaften, dunklen Augen, einem Teint wie von Atlas und blau⸗ſchwarzem Haar, erregten offenbar Enttäuſchung, als man erfuhr, daß ein einfaches Fräulein Schulz und eine ebenſo ein⸗ fache Frau Bernauer dahinter ſtecke. Es gab aber im Publikum auch Naive, die von den Perſönlichkeiten nichts wußten, und die nur aus allgemeiner Neugierde gekommen waren. Sie ſtarrten die Damen auf's ungenirteſte, zuweilen auf's zudring⸗ lichſte an, faßten die Aufforderung etwas zu kaufen als eine beleidigende Zumuthung auf, zuckten mit den Achſeln, lächelten etwas höhniſch und gingen ohne irgend eine Antwort vorüber. Die Verkäuferinnen am Buffet, zum Theil den vor⸗ nehmſten Familien angehörend, wurden vielfach für wirkliche Kellnerinnen gehalten, ſo fabelhaft echt ſahen ſie in den altdeutſchen Ringelhauben und in den ſchwer⸗ fälligen Röcken aus. Es kam vor, daß Jemand, der 58 ein Schinkenbrödchen nahm, ſich beklagte, daß zu viel Fett an dem Schinken ſei, und ein Anderer von dem Preiſe etwas abhandeln wollte, kleine ſcherzhafte Aben⸗ teuer, die die allgemeine Luſtigkeit nur erhöhten. Ja, es war luſtig, rieſig luſtig, ein voller Erfolg, darüber war nur eine Stimme. Clemens von Secking erſchien auf dem Bazar mit der Abſicht, ſich Heloiſen zu nähern. Sie empfing ihn kalt. In der japaniſchen Haartracht, die ihrer Eigen⸗ art nicht entſprach, war ſie zwar eine fremdartig inter⸗ eſſante Erſcheinung, aber nicht annähernd ſo reizvoll wie die roſenumgürtete Fee in der Blumenlaube, die ihn allmählich in ihren Zauberkreis hinüberlockte. Er fühlte, daß er gegen den Strom kämpfte, daß ſeine Kraft bald ermatten und er hinabtauchen würde in den Abgrund, dem er hatte entrinnen wollen. Ex rächte ſich an Stella für das Joch, das ſie ihm auf⸗ zwang, durch Epigramme. Ueber der Roſenlaube ſtand als Inſchrift: „Je mehr ich gebe, je mehr auch hab ich.“ Er ſchlug ihr andere, paſſendere Inſchriften vor, z. B.: „All' meine Roſen, ſie ſind Lüge, ich winde Kränze nur um Aſchenkrüge.“ Oder: „Der Dorn an der Roſe der Bazar⸗Wohlthätigkeit iſt die Eitelkeit.“ Oder: „Zwei Fliegen mit einer Klappe. „Wieſo?“ fragte Stella. „Aus dem Scherflein für die Armen ſchlagen Sie für ſich ein Capital heraus — Maſſenhuldigungen. Sie konnte ihm nicht gleich antworten, ein neuer Prinz war in Sicht. Die Mitglieder des königlichen Hauſes waren für die vornehme Welt, was die vor⸗ 59 nehme Welt für das Publikum war — Magnete. Clemens mußte ſich zurückziehen. Er ging von einer Loge zur andern. Trotz ſeiner gewöhnlichen abſoluten Gleichgültigkeit gegen irgend welchen Erfolg, kokettirte er jetzt mit ſeinem ſcharfen feingeſchliffenen Geiſt, den er in allen Farben ſpielen ließ. Wohin er kam, wurde gelacht, lebhaft geplaudert, gewitzelt. Zuletzt nahm er in einer, der Roſenlaube benachbarten Loge Platz, wo die Gräfin Hohenfels mit einigen Gehülfinnen Wäſche verkaufte. Obgleich er ſich erſt ſeit wenigen Tagen wieder in der Stadt befand, war er doch ſchon an courant aller umlaufenden Mediſancen. Die Damen hatten ſich eben darüber gewundert, daß Frau von Wildberg, die als Orientalin Teppiche verkaufen ſollte, im Roccoco⸗ Coſtüm erſchienen war. Ob er den Grund dieſer Metamorphoſe kenne? — Clemens kannte ihn. — Frau von Wildberg habe noch in der zwölften Stunde entdeckt, daß ihr das orienta⸗ liſche Coſtüm nicht ſtehe, und kurz entſchloſſen habe ſie wegen einer eben verſtorbenen Stiefgroßmutter ihres Mannes bei dem Bazarvorſtand um Entbindung von der zu bunten orientaliſchen Tracht nachgeſucht. Zu einem Roccococoſtüm, das discrete Farben zulaſſe, habe ſie ſich verſtehen wollen. „Und wie rührend hat ſie ihr Coſtüm gewählt, fuhr Clemens fort. „Sehen Sie hin! Tranſcendentales bleu mourante, und was verkauft ſie? Urnen, Vaſen, Nachtlampen, Flaſchen, all' ihre Geräthe gleichen Aſchen⸗ krügen, — zum Gedächtniß der verſtorbenen Schwieger⸗ Stiefgroßmutter.“ Alle lachten. 60 „Da wir gerade bei Trauerfällen ſind,“ ſagte Gräfin Hohenfels, „wiſſen Sie auch, was oder wer mag nur die arme Urſula Barnikow bewogen haben, am Bazar theilzunehmen? Alle Welt weiß doch, daß ſie, nachdem Baron Stauffer ſich in ſo obſtinater Weiſe der Verlobung mit ihr enthalten hat, in unheilbare Melancholie verfallen iſt: Clemens behauptete, ſie habe die Einladung auch nur unter dem Vorbehalt angenommen, daß man ihr ab und zu einen Weinkrampf geſtatten, und ihr ſelbſt eine leichte Ohnmacht nicht verübeln wolle. Vom Poſtbüreau her kam eine Dame beſuchsweiſe in die Wäſche⸗Loge mit der Senſationsnachricht, daß ein Banquier Steiner für ein Glühlicht, noch dazu ein ungereimtes, zweihundert Mark bezahlt habe. „Will er Comerzienrath werden?“ fragte eine der Gehülfinnen. „Iſt er ſchon. „Alſo geheimer: „Nein, einen Orden. „Wir haben alle unſere Steckenpferde. „Die meiſten nur Steckeneſel,“ bemerkte Clemens trocken. „Stella, die jedes Wort in ihrer Laube gehört und ab und zu ein paar Worte auf ein Blatt Papier ge⸗ kritzelt hatte, flüſterte jetzt einer vorübergehenden Zeitungs⸗ verkäuferin etwas zu. Die junge Dame näherte ſich Herrn von Secking und erſuchte ihn an die Poſt zu kommen, um einen für ihn poſtlagernden Brief in Empfang zu nehmen. Als er das an ihn adreſſirte 61 Schreiben öffnete, fand er nur einige Aphorismen darin. „Bosheit iſt der Geiſt der Herzloſen.“ — „Wo kein Loth iſt von Gemüthe, ſteht das Epigramm in Blüthe.“ Clemens lächelte befriedigt. Stella hatte die Apho⸗ rismen eigens für ihn gedichtet. Er näherte ſich wieder der japaniſchen Loge, wo er den jungen Fürſten Götz Gottersberg traf. In dem ſchlanken jungen Mann mit den leuchtenden blauen Augen und dem lachenden Munde war noch etwas von der Ungebundenheit eines Menſchen, der lange auf Reiſen geweſen, etwas vom Naturzuſtand der Seele, die ſich nicht gleich in das conventionelle europäiſche Geleiſe zurückfinden kann. Als befände man ſich mitten im Carneval, warf er den Verkäuferinnen kleine Sträußchen und Confekt zu, er ſpielte mit einem Ball, den er in einer Spielwaarenbude erſtanden, in die Logen hinein, ſprach in allen möglichen Sprachen ein amüſantes Kauderwelſch mit den Damen. „Hier kauft man das Glück Anderer,“ ſtand über der japaniſchen Bude. „Ich bin der Andere,“ ſagte er im Eintreten, „was koſtet mein Glück? „Wenn Vetter Durchlaucht großmüthig ſind, zwei⸗ hundert Mark,“ ſagte Irene und reichte ihm einen koſt⸗ baren Fächer. „Sind Fächer ein Glück! „Ja wohl, wenn man der Abkühlung bedarf Er griff nach dem Fächer; natürlich bedürfe er der Abkühlung, wo das Feuer ſechs ſchöner Augen u. ſ. w.“ Irene entzog ihm den Fächer wieder, ſeiner faden Schmeicheleien wegen. Sie ſuchte eine Weile unter 62 den Verkaufsgegenſtänden, und überreichte ihm dann einen zierlichen kleinen Blaſebalg, als paſſendſten An⸗ kauf für einen rothangemalten Eiszapfen, wie er einer ſei. „Auf Ihr Haupt die Folgen,“ lachte er, die Spitze des Blaſebalgs gegen ſein Herz kehrend. Er theilte ſeine Aufmerkſamkeit zwiſchen Irene und der ſilber⸗ blonden Elſa, die jedes Mal, wenn er ſie anredete, er⸗ röthete. Mit Heloiſe wechſelte er nur wenige conventio⸗ nelle Worte. Der Ernſt, den ſie bewahrte, contraſtirte mit der allgemeinen Stimmung und berührte ihn un⸗ ſympathiſch. Ihre feine Schönheit ließ ihn kalt. Sie fühlte es, ein kleiner Stachel ſenkte ſich in ihre Seele. Irene ſchien durch die Gegenwart des jungen Fürſten förmlich elektriſirt, ſie war wie eine Rakete, ſo luſtig praſſelte ihr Witz. Götz knüpfte die ſchöne Rieſen⸗ blume von der Ampel und ſteckte ſie als Orden an, er köpfte eine Pagode und benahm ſich überhaupt ſehr koſtſpielig, denn Irene ließ ihn für alle Extravaganzen zahlen. Als herantretende Käufer die Plauderei unter⸗ brachen, erſtand er in Stellas Laube drei wundervolle Roſen, die er den drei Japanerinnen brachte. „Ich glaube, Comteß,“ ſagte Götz einmal zu Heloiſe, „daß Sie die einzige Dame hier ſind, die keinen Bazarrauſch hat. Heloiſe gab es zu. Sie könne ſich nicht darin finden, als Ausſtellungsobjekt zu dienen. „Aber für die Ueberſchwemmten,“ warf Irene ein, „und wenn das Anſtarren Bewunderung iſt! Uebrigens 63 Du ſollſt ſehen, wie ich aus den Indiscretionen, die Dir zuwider ſind, Capital ſchlage. Eine Wucherſeele bin ich und ſtamme ſicher von Raubrittern ab. Das bischen Theeverkauf bringt uns ohnedies auf keinen grünen Zweig.“ Und als wieder ein Herr vorbeiging, der die Damen mehr als ſich mit feiner Sitte vertrug, fixirte, rief ſie ihn an. Der Herr trat ſchnell näher. „Mein Herr, für Ihre indiscreten Blicke drei Mark, wenn ich bitten darf — für die Ueberſchwemmten. Der Herr, ſehr verlegen, entſchuldigte ſich, zahlte und verduftete, wie Irene ſich ausdrückte. Noch ſchlimmer ging es einem Anderen, einem Bekannten aus ihren Kreiſen. Als er bei ſeiner Süßholzraspelei ſich zu dem Wunſche verſtieg, der Handſchuh auf Irenens Hand ſein zu dürfen, zog ſie den Handſchuh aus. „Ich opfere Ihnen den Handſchuh — es iſt der Rechte — bitte zwanzig Mark; zahlen Sie, ehe ich mich auch des linken entledige, der koſtet 25 Mark. Fortan mußte jedes Compliment baar geſühnt werden. Sämmtliche Fächer wareu in einer Stunde aus⸗ verkauft. Ein ſchüchternes Männchen trat heran, er wollte nur eine Kleinigkeit kaufen, etwa einen Holz⸗ fächer für fünfzig Pfennige. Irene bedauerte, daß die Fächer ausverkauft ſeien, empfahl ihm aber eine reizende Pagode für den Spott⸗ preis von dreihundert Mark. Götz amüſirte ſich ausnehmend, man hörte nicht auf zu lachen. Elſa Burger mußte ihm eine Taſſe Thee nach der andern einſchenken. 64 Heloiſe kam ſich wie ausgeſchloſſen vor. Ein freundlicher, ältlicher Herr ging an der Loge vor⸗ über. In einem unbeſtimmten Gefühl von Depit bot ſie ihm die ſchöne Roſe, die ſie eben erſt von Götz erhalten hatte, zum Kaufe an. „Nur drei Mark, mein Herr.“ Der ältliche Herr nahm die Roſe, ſteckte die Naſe hinein, ſog den Duft ein, fand ſie zu theuer und gab ſie ihr zurück. Sie trat hochmüthig zur Seite, die Roſe fiel zu Boden, ſie ſchob ſie mit den Fußſpitzen fort. Götz ſah es und empfand es als Beleidigung. Er bemerkte ſeinen Vater in der Menge und winkte ihn heran. Der alte Fürſt Andreas war in ſeinem ſechszigſten Jahre noch ein ſchöner Mann, geſchmeidig, mit klaren, brauen Augen und roſigem Teint. Sein dunkler Schnurrbart contraſtirte mit dem vollen, faſt weißen Haar. Er war ſeiner Zeit einer der gefährlichſten Don Inans, und als Miniſter des Innern eine der einflußreichſten Perſönlichkeiten des Staats geweſen. Neben ſeinen bedeutenden Fähigkeiten verdankte er ſeine Erfolge der Kunſt der Berechnung, ſeinem unbeirrbaren Verſtande. Der Verſtand war, ſeiner Meinung nach, die Majeſtät, der alle anderen Kräfte ſich unterzuordnen hätten. Der Obhut des Verſtandes hatte er auch das⸗ jenige Gut anvertraut, das er am höchſten ſchätzte: die Geſundheit. „Was nützt mir Champagner,“ pflegte er zu ſagen, „wenn ich ihn nicht vertrage und Waſſer trinken muß, was Einfluß, Macht, wenn ich lieber ſchlafen als regieren möchte.“ Er beobachtete auf's ſchärfſte die 5 65 Funktionen ſeines Körpers, und ſobald der Verſtand ihm die kleinſte Störung ſignaliſirte, ſchritt er energiſch ein. Beobachtung und Nachdenken hatten ihn zu der Erkenntniß geführt, daß die Gunſt der Mitmenſchen eine beſſere Staffel zum Emporkommen ſei, als That⸗ kraft und Leiſtungen, und der Verſtand hatte ihm dar⸗ über Aufſchluß gegeben, wie er ſeine Nebenmenſchen zu behandeln habe, um ſie ſeinen Zwecken dienſtbar zu machen; nach ſorglicher Abwägung und Auswahl unter den Qualitäten, die ihn zum Ziele führen konnten, hatte er derjenigen Eigenſchaft die Palme zuerkannt, die ihm die geringſten Opfer auferlegte: der Liebenswürdigkeit. Er wurde ein Virtuoſe in der Ausübung derſelben. Seine unwiderſtehliche Liebenswürdigkeit entwaffnete alle Feindſeligkeit und verſchaffte ihm ein Portefeuille. Als Politiker wand er ſich wie eine Schlange. Unter verſchiedenen Regierungsformen behielt er ſein Portefeuille; überall vertrat er das conciliante Element, er verſtand es, mit Beredtſamkeit für eine Sache einzutreten, die ihm vollkommen gleichgültig war. Eigentlich war ihm alles gleichgültig, was über ſein perſönliches Wohl hinausging. Schließlich fiel er durch eine allzu große Liebenswürdigkeit, die er einem Gegner des allmächtigen Miniſterpräſidenten erwieſen hatte. In milder Weiſe pflegte er Vergehen und Schwächen ſeiner Nebenmenſchen zu entſchuldigen, affichirte aber für ſich ſelbſt ſtrenge Grundſätze, und in der That vermied er ſorgfältig jede ſtrafbare, ja incorrecte Handlungsweiſe, ſowohl im Privat⸗ wie im öffentlichen Leben. Sein Gewiſſen hielt genau Schritt mit den 66 Landesgeſetzen. Ein einziges Mal hatte er ſich in jüngeren Jahren gegen die Stimme der Vernunft von ſeiner Leidenſchaft fortreißen laſſen, und ein Vergehen begangen, das er tief bereute wegen der unangenehmen Folgen, die Jahre lang einen Schatten auf ſeine ſonnigen Pfade geworfen hatten. Clemens meinte, der Fürſt Andreas habe nie Frühling, nie Sommer gekannt, bei ihm ſei immer Winter geweſen, allerdings ſonniger Winter, und eines Tages werde er nicht ſterben, ſondern erſtarren. Er machte auf ſein beſtändiges Lächeln auf⸗ merkſam, das wie ein kalter, blaſſer Sonnenſtrahl auf einer Schneelandſchaft wirke. Seit dem Tode ſeiner zweiten Gemahlin, der Schweſter des Grafen Albrecht, war jeder Verkehr zwiſchen ihm und der Familie Ronald⸗Büren abgebrochen worden. Gerüchtweiſe verlautete, er habe durch ſeine Treuloſig⸗ keiten ſeine Gemahlin zur Verzweiflung und iu den Tod getrieben, und man fand darin die Erklärung für den Bruch zwiſchen den beiden Familien. Götz, ſein Sohn erſter Ehe, wurde nur zu großen Feſtlichkeiten in das gräfliche Haus geladen. Auf dem Bazar plauderte Fürſt Andreas in der japaniſchen Loge eine Weile mit den jungen Mädchen. Er bovorzugte augenſcheinlich Irene. Heloiſe, die ſich gleicherweiſe von Vater und Sohn zurückgeſetzt fand, ſah nicht ungern, daß Adda Maier zu ihr herankam. „Kommt Muhamed nicht zum Berge, ſo kommt der Berg zu Muhamed,“ rief die kleine zierliche Adda ſchon von weitem, „obgleich ich für einen Berg etwas winzig 5* 67 bin, und japaniſche Prophetinnen giebt's am Ende auch nicht. Heloiſe nahm Adda's Einladung, am Büffet eine Erfriſchung mit ihr einzunehmen, an. „So, jetzt wollen wir uns einmal ausſprechen, ſagte Adda, als ſie in einem lauſchigen Winkel, hinter Lorbeerbäumen, vor ihrem Caviarbrötchen ſaßen, „jetzt habe einmal den Muth Deiner Meinung und beichte, warum Du den Schwur der Freundſchaft, den wir einſt ausgetauſcht, gebrochen, und mirden Laufpaß gegebenhaſt. Heloiſe war verlegen, ſie ſuchte Ausflüchte, aber alles, was ſie vorbrachte, lief darauf hinaus, daß Adda ja mit ihrer Verheirathung freiwillig ihren Kreiſen ent⸗ ſagt habe. „Freiwillig!“ rief Adda, „Gott bewahre, der Noth gehorchend, nicht dem eignen Triebe. „Noth?“ ſagte Heloiſe erſtaunt, „haſt Du denn Noth gelitten? „Du meinſt, weil wir doch unſer tägliches Brot hatten; ach Gott, unſer tägliches Brot bedeutet doch für Jeden etwas anderes, für mich gehören z. B. ſeidene Strümpfe und eine Loge im Theater zum täglichen Brot. Ich ſchwöre Dir, ich hätte auch lieber einen Prinzen geheirathet! „So — und den jungen Ferſen, den Du geliebt haſt? Haſt Du vergeſſen, daß ich Deine Vertraute war? „Ach ja, er war zu nett, der liebe Jörg, aber — noch ärmer als nett. Das war's ja eben. Ich mußte eine Mauer zwiſchen uns aufrichten. Die Mauer iſt 68 etwas dick gerathen; aber wollen wir wetten, in kürzeſter Friſt befindet ſich mein guter, dicker Guſtav auf dem Wege, ein ſchlankes Rohr zu werden. Heloiſe ſah etwas ſpöttiſch drein: „Du kommſt mir wie Eſau mit ſeinem theuer erkauften Linſengericht vor. Adda wiegte ihr Köpfchen wie ein alter Philoſoph und machte: „Hm, hm! Sei Du nur erſt einmal arm, kriege zum Mittageſſen Leber mit Kohl oder Milchreis mit aufgebratenem Rindfleiſch. Glaubſt Du, daß der Entſchluß, Frau Maier zu werden, mir leicht geworden iſt? Ich ſtand lange am Scheidewege, am ſogenannten Rubicon. Die Baronin Eichborn iſt Schuld daran, daß ich hinüber hüpfte und mich unter die Goldflügel meines Guſtav flüchtete. Du kennſt doch die Eichborn, die ihren Vetter geheirathet hat, und die Beide arm wie Kirchenmäuſe ſind: Heloiſe bejahte. „Die Baronin hatte mich zu einem ihrer Thees eingeladen. Sie giebt nämlich Thees, die gute, arme Baronin. Ich traf dort verſchiedene andere gute, arme Baroninnen. Sie hatte ſich ſo große Mühe gegeben, und es war für ihre kleinen Verhältniſſe auch Alles ganz ordentlich und nett. Nur der Thee war ſo dünn, ſo dünn; aber ein Diener ſervirte ihn, ſie ſparten ſich den Diener vom Munde ab. Die Butter war ſchlecht, aber mit dem Familienwappen verſehen, die Fautenils waren von entlegenen Ilrahnen durchgeſeſſen, die Krönchen aber darauf friſch polirt. An einer Meißenertaſſe war der Henkel angekittet, die Küchelchen ſtammten von den beiden letzten jour fixes; genug, alles war ſo fadenſcheinig, ſo 69 mühſelig. Und die Baronin, während ſie den Thee bereitete, hatte ſchwarze Handſchuhe an, um ſich doch irgend welche Allüren zu geben, gerade als wäre ſie eine obscure Frau „von“ in Perleberg oder Prenzlau. Du haſt ſie wohl vorhin in der Bude, die den Herbſt darſtellt, bemerkt. Sie hat den Herbſt gewählt, weil der mit einem braunen Wollenkleid und einem Gehänge von wildem Weinlaub und den Apfelſinen, von denen ſie ihren Kindern noch ein paar mitbringt, billig her⸗ zuſtellen iſt. Siehſt Du, Lis, der Anblick dieſer über⸗ tünchten Miſere hat bei mir den Ausſchlag gegeben. Man mag noch ſo blaublütig ſein, Armuth iſt immer, als wäre man in eine entlegene Provinz verſchlagen wo der Strom der Zeit nur ſo als fades Wäſſerchen vorbeiſickert.“ „Ich weiß nicht,“ ſagte Heloiſe, „wie ich leben würde, wenn ich arm wäre; das aber weiß ich, um nichts in der Welt wäre mir das Glück meiner Geburt feil. Süßwaſſerfiſche können nicht im Seewaſſer leben. „ „Gott ſei Dank ſind wir keine Fiſche mit ſolchen meergrundtiefen Verſchiedenheiten. Die Formen zwiſchen unſersgleichen und Guſtavsgleichen variiren ein wenig. Formen aber ſind doch nur etwas Aeußerliches. „Doch nicht ganz. Ich meine, daß feine Formen ſich auch auf die Geſinnung erſtrecken. Wer nie Plumpes, Häßliches, Indiscretes ſagt, wird es auch nicht denken.“ „Theorie — graue. Ich bin für grüne Lebens⸗ bäume mit — goldenen Früchten. Mein guter Dicker verfeinert ſich zuſehends, und ſeine Corſets⸗ und Mützen⸗ 70 ugnaten ſteigen aus dem Orkus ihrer Hinterſtuben nicht mehr in unſere Salons. Willſt Du wetten, in fünf Jahren — es kann auch etwas länger dauern — habe. ich wieder das Recht, meine Butter mit einem Wappen zu verſehen, dem Wappen derer von Bulowska⸗Maier⸗ felde! Das „felde,“ das wir uns anhängen, deutet das Rittergut an, das wir uns demnächſt zulegen werden. Natürlich bedarf es, um ſo weit zu kommen, vieler, vieler Opfer für das Gemeinwohl. Na, die Vorſehung wird ja auch weiter für Ueberſchwemmungen und aller⸗ hand andere Landes⸗Calamitäten ſorgen, wo man ſeine ſplendide adlige Seele an betreffender Stelle zur Kenntniß bringen kann. Uebrigens, Prinz Heinrich hat für hundert Mark Puppen bei mir gekauft. Du compromittirſt Dich alſo nicht, wenn Du mit mir umgehſt. Ich empfange jeden Mittwoch. Kommſt Du! Heloiſe war unſchlüſſig. „Du triffſt den Fürſten Andreas nebſt Sohn bei mir. Irene iſt Stammgaſt — —“ Adda's Gehülfin erſchien am Eingang des Büffet⸗ zimmers, die Herrin zurückzurufen; man konnte ohne ſie nicht fertig werden. Adda entlockte Heloiſen eine Zu⸗ ſage, dann begaben ſich die Damen auf ihre Poſten zurück. Einige Bewegung entſtand im Saale, als der Baron Stauffer ſich blicken ließ, wegen ſeiner etwas wüſten Mähne, kurzweg der ſtruppige Baron genannt. Baron Stauffer war ein geaichter, in allen Sätteln gerechter Spiritiſt. Er ſchlenderte durch die Räume, die Hände in den Taſchen. Ab und zu machte er vor einer der Damen der Ariſtokratie, die er kannte, Halt, und zog, 71 anſtatt des erwarteten Portemonnais, eine Schrift aus der Taſche, um die betreffenden Damen zum allein ſelig⸗ machenden Glauben des Spiritismus zu bekehren. Je nach der Seelencomplexion der Dame verſetzte er ihr eine leichtere oder eine ſchwerere Glaubenslehre. Frau von Währinger, der Urſkeptikerin ſuchte er durch eine Schrift beizukommen, die einen der berühmteſten eng⸗ liſchen Naturforſcher, Namens Crooke, zum Verfaſſer hatte. Der feine Kopf caleulirte, wenn nichts anderes, ſo würden Namen bei ihr verfangen. Er hatte die Rechnung ohne den deutſchen Gelehrten und Spiritiſten Zöllner gemacht, der in Geiſtesgeſtörtheit zu Grunde gegangen war. Natürlich wurde nun der Spiritismus jedes berühmten Gelehrten auf eine geſtörte Gehirn⸗ funktion zurückgeführt. Die Gräfin Holm belehrte er über den „Periſprit, die halbmaterielle Hülle, die der Geiſt nach dem Tode annimmt; an Stella aber, die er für mediumhaft begabt hielt, trat er mit einem Schriftchen heran: „Die Todten ſind nur ſogenannte Todte, ſie leben! Man lachte, amüſirte ſich und die Damen waren ſehr ſtolz auf ihren Skepticismus. Nur die Baronin Eichborn lieh dem Spiritiſten ein williges, und ſogar entzücktes Ohr, als er ſie mit den Materialiſationen von Stoffen und Spitzen bekannt machte, die für ſeine spirits Kinderſpiel wären. Wenn ihr ein spirit Valen⸗ ciennerſpitzen materialiſirte! da wäre ſie ſchön raus für die Ballfeſte der Saiſon. Immer glänzender entwickelte ſich das Bazarleben, immer höher ſtieg die Luſt an dieſem Jahrmarkt der 72 Eitelkeit. Was für eine Nerven⸗ und Willenskraft be⸗ wieſen aber auch all' dieſe verwöhnten, reizenden Damen. Fünf Stunden hintereinander waren ſie liebenswürdig, fünf Stunden lächelten ſie ſirenenhaft, und prieſen mit Silberſtimmen ihre Waaren an. Ziffermäßig ließ ſich hier der Werth, den die Geſellſchaft jeder einzelnen Per⸗ ſönlichkeit zuerkannte, feſtſtellen. Eine klingende Schmeichelei war jedes Markſtück, das in ihre Kaſſe fiel. Goldſtücke bedeuteten faſt eine Liebeserklärung, und Hundertmark⸗ ſcheine — eine Paſſion. Als Gräfin Stella nach dieſem erſten Bazar⸗Abend ihr Boudoir betrat, war ſie wie berauſcht, ſtrahlend in der Sonne des Erfolges. Alles, was ſie ſonſt bedrückte und quälte, hatte ſie vergeſſen, es war ein ganzer, voller Triumph geweſen. Sie wußte auch, Clemens war zu ihr zurückgekehrt. Sie ſchlief, ſeit langer Zeit zum erſten Mal einen tiefen traumloſen Schlaf, — ohne Chloral. Mutter und Tochter hatten während des Abends kaum ein Wort mit einander gewechſelt. Als Heloiſe ſchlafen ging, fand ſie die Roſe, die ſie fortgeſtoßen, in ihrer Schärpe; ſie hatte ſie, als Götz nicht da war, unwillkürlich aufgehoben, es wäre ſchade darum geweſen ein ſo ſeltenes Exemplar. Auch jetzt noch, halb verblüht, duftete die Roſe. Sie ſtellte ſie in ein Glas Waſſer. Am zweiten Tage des Bazars war Heloiſe nicht erſchienen, ſie hatte ſich entſchuldigen laſſen. Irene war argerlich darüber. Zwei Japanerinnen machten, ihrer Meinung nach, keinen Effect. Das Publikum verlangte die Dreizahl, auch war ſie dem Glauben nicht abgeneigt, 78 daß Heloiſe ihr zur Folie diene! Sie bat Götz, ſich in das Ronald Büren'ſche Palais zu begeben, die pflicht⸗ vergeſſene Deſerteurin einzufangen, und ſie todt oder lebendig in ihrer Loge abzuliefern. Sie ſtellte ihm zu dieſem Zweck den Wagen ihrer Mutter, der vor der Thür hielt, zur Verfügung. Götzes Erwiderung, daß man ſein Erſcheinen für indiscret halten, in keinem Fall aber mit ihm fahren würde, ließ ſie nicht gelten. Ein Bazar, meinte ſie, wäre eine Art Carneval, bei dem „die Bande frommer Scheu“ zu lockern und über die Stränge zu ſchlagen, wenn nicht geboten, ſo doch erlaubt ſei. Ungern willfahrte Götz. Er vermißte Heloiſe nicht; im Gegentheil, die japaniſche Bude erſchien ihm heute noch heiterer und amüſanter, als am Tage zuvor. Im gräflichen Palais angekommen, ließ er ſich bei der Comteß anmelden. Der Diener öffnete ihm den Salon. Aus dem Muſikzimmer, das neben dem Salon lag, hörte er eine lebhafte Stimme, die Jemandem Befehle zu ertheilen ſchien, und dann in ein helles, ſympathiſches Lachen ausbrach. Behutſam öffnete er die Thür. Mitten im Zimmer ſtand Heloiſe, ihm den Rücken zukehrend. Sie ſpielte mit einem allerliebſten, kleinen Seidenpinſcher, den ſie über einen Stock ſpringen ließ. Sie trug ein Kleid von lichtbraunem Halbſammet, mit einer breiten, überfallenden, crémefarbenen Spitze, die den Hals frei ließ. Ihre Bewegungen, wie ſie ſich ſeit⸗ wärts bog oder vornüber neigte, waren von vollendeter Anmuth. Eine kleine Locke, die aus der ſeiden⸗ ſchimmernden Flechte hervorquoll, kräuſelte ſich auf dem ſchlanken, blüthenweißen Halſe. 74 Es iſt nicht wahr, dachte Götz, daß man ſich nur in ein ſchönes Geſicht verlieben kann. Das Geſicht der Comteß hatte ihm keinen Eindruck gemacht. Von dieſem Schwanenhals aber mit der goldigen Locke konnte er den Blick nicht losreißen. Während Heloiſe im Spiel das Hündchen lockte, war ſie der Thür immer näher gekommen, und er mußte ſchnell zur Seite weichen, wenn ſie ihm nicht in die Arme fallen ſollte. Plötzlich ſah ſie ſich Schulter an Schulter mit ihm. Im erſten Augenblick wurde ſie blaß vor Schreck, dann nahm ſie einen Anlauf, ihm mit hochmüthiger Verwunderung über ſein unangemeldetes Erſcheinen zu begegnen, wurde daran aber theils durch Jips drollige Capriolen, theils durch den bewundernden Blick des jungen Mannes, den ſie auffing, verhindert. Halb ernſthaft, halb ſchalkhaft rief ſie dem Hündchen zu: „Faß, Jip, faß!“ indem ſie auf Götz wies. Das Thierchen aber, entſchieden jeder Grauſamkeit abhold, begnügte ſich, an den Spitzen ſeiner Handſchuhe zu zerren, was ſich ſo drollig ausnahm, daß Beide laut auflachten, und lachend fragte ſie, was denn Jip und ihr die Ehre ſeines Beſuches verſchaffe. Er richtete ſeinen Auftrag aus. „Nein, ich komme nicht mit“, ſagte Heloiſe, „ich bin ja auf dem Bazar ganz überflüſſig, aber ganz. Ich glaube, ich habe nicht für drei Mark Bazartalent und zur Japanerin noch weniger. Ja, Irene, die war reizend? nicht wahr? Während ſie ſprach, zerrte ſie das Hündchen an den Ohren. 75 „Ganz charmant“, antwortete Götz, „ſie ſchlägt die luſtigſten Triller und ihr Witz kommt bis zum hohen C.“ „Woraus aber nicht folgt, daß ſie nicht auch ernſt ſein kann.“ „Dann würde ſie mir nicht gefallen. Es wäre, wie wenn ich im Theater einen luſtigen Schwank ſehen wollte, und rothe Zettel kündigten an, daß die Vor⸗ ſtellung nicht ſtattfinden könne, und man gäbe ein klaſſiſches Stück. Rothe Zettel ſind immer eine Ent⸗ täuſchung, ſelbſt wenn dabei für Gutes, Beſſeres ein⸗ getauſcht wird.“ „Allons, Jip! allons!“ Heloiſe hielt den Stock ganz hoch, ſo daß ſie bei den poſſirlichen Sprüngen, die Jip unternahm, um über den Stock zu kommen, von Herzen lachen mußte. Sie brauchte einen Vorwand für die innere Luſtigkeit, die ſich plötzlich ihrer bemächtigt hatte. „Ich habe meiner Couſine verſprochen, Sie mitzubringen.“ „Bitte, laſſen Sie mich hier. Es iſt vielleicht recht albern von mir, aber ich komme mir immer in einer Menſchenmaſſe ſo verloren vor, wie ein Tropfen im Meer, als triebe ich irgend wohin, ins Weite und Breite, und ich ſuche nach mir, und bin voll Angſt, ich könnte mich nicht wiederfinden.“ Götz bemerkte jetzt zum erſten Mal einen lieblichen Zug um ihre blaſſen Lippen, der dem Anfang eines Lächelns glich. Er wollte etwas Liebenswürdiges antworten, als er ſich der Beleidigung, die ſie ihm am Tage vorher zugefügt, erinnerte. —„Dieſe Empfindungsweiſe,“ — ſagte er, ſchein⸗ bar harmlos, aber doch in der Abſicht, ſie zu verletzen 76 „überraſcht mich bei Ihnen. Bei allzu ſelbſtbewußten oder ſelbſtſüchtigen Naturen würde ich es verſtehen, wenn Sie nicht im Stande wären ſich als Theil eines Ganzen zu fühlen, weil Sie immer nur ein Ganzes für ſich ſein wollen —“ Er brach plötzlich ab. Sein Blick war auf eine Roſe gefallen, die in einem Glaſe Waſſer auf dem Flügel ſtand — ſeine Roſe. Sie wollte einige erklärende Worte über die Roſe ſagen und fühlte doch, daß ſie umſonſt ſein würden. Es ließ ſich nicht ungeſchehen machen. Thränen traten ihr in die Augen, erpreßt, theils von der Demüthigung, die in dieſem Augenblick ihr Stolz erfuhr, theils von der Erregung, die den Menſchen ergreift, wenn uner⸗ wartet etwas Bedeutſames, Entſcheidendes in ſein Leben tritt. Sie hatte Angſt zu erröthen und erröthete nur um ſo tiefer, und ſie wußte, daß er es ſah. Die kurze Pauſe, die entſtand, verwirrte ſie vollends. „Ich gehe nicht ohne Sie, Comteß,“ ſagte er endlich. Seine Haltung war verändert, ſeine Stimme klang leiſer, als fürchte er etwas zu ſtören. Sie ſchien es nun auch für ſelbſtverſtändlich zu halten, daß ſie mitkommen müſſe. „Und Ihr Coſtüm?“ fragte er. „Ich kleide mich nicht um. Ich laſſe meine japaniſchen Landsmänninnen im Stich. Der Baronin Eichborn fehlt eine Gehülfin, ich gehe zu ihr. Jip, gieb dem Herrn Pfötchen zum Abſchied: 77 Der unartige Jip aber zog es vor, an ſeiner Herrin emporzuklettern und ihr die Wange zu lecken. Götz packte das Hündchen und warf es unſanft auf ein Polſter. Heloiſe empfand ausnahmsweiſe kein Mitleid mit dem winſelnden Thierchen. Einige Minuten ſpäter ſaßen ſie nebeneinander im Wagen. Die beiden, ſonſt ſo weltläufigen jungen Menſchen konnten ſich einer Schüchternheit, die ſie ver⸗ ſtummen machte, nicht erwehren, und doch empfanden ſie den Reiz dieſer Verſchüchtertheit. Als ein vorüber⸗ gehender, ihnen bekannter Herr ſie etwas erſtaunt grüßte, erwiderte Lis den Gruß mit einem befangenen und doch frohen Lächeln. In der Loge der Baronin Eichborn wurde ſie freudig empfangen, und mit weißen und roſafarbenen Aſtern geſchmückt. Bei Irene entſchuldigte ſich Lis mit ihrer Kammerjungfer, die von einem Ausgang nicht rechtzeitig zurückgekommen ſei, ſie habe weder ihr Coſtüm allein anlegen, noch ihre japaniſche Friſur ohne Hülfe herſtellen können. Irene zuckte die Achſeln und ſagte ſpöttiſch: „Es gefällt Dir beſſer, Frühling im Herbſt zu ſpielen, anſtatt dritte Japanerin zu ſein.“ Sie legte den Nachdruck auf das Wort „dritte. Ganz anders erſchien Heloiſen heute der Feſtſaal. Heute war ja wirklich überall blühende Luſt, wunder⸗ voll Feſtliches in dem Hin⸗ und Herwogen der Menge, in dem von Licht, Duft und Muſik durchflutheten Raum. Und heute hatte auch ſie Erfolg. Das Wort Irenens „Frühling im Herbſt“ fand überall ein Echo. All' die 78 Nabobs und Prinzen aus der Roſenlaube kamen en passant auch zu ihr, als Käufer. Adda rief einmal zu Irene hinüber: „Lis empfängt ja heute die Créme der Geſellſchaft in ihrer Bude. „Ja, Créme läuft leicht zuſammen,“ antwortete Irene mit ihrem ſchlagfertigen Witz. Sie war innerlich heftig bewegt. Was war zwiſchen Lis und Götz vorgefallen? Sie hatte ſofort die Veränderung im Weſen des jungen Fürſten bemerkt. Zwar hielt er ſich auch heute viel in der japaniſchen Bude auf, er zeigte ſich aber zerſtrent, nicht annähernd ſo übermüthig wie am Tage zuvor. Zuſehends ſtreifte er ſeine fremdländiſche Ungebundenheit ab, und wurde allmählich wieder er ſelbſt, der etwas reſervirte Cavalier, deſſen kühle Vornehmheit und vollen⸗ dete Anmuth in Wort und Haltung den Neid ſeiner Standesgenoſſen erregte. Er erwies auch heute der ja⸗ paniſchen Loge alle möglichen Aufmerkſamkeiten, merk⸗ würdigerweiſe aber entlehnte er ſeine kleinen Gaben aus⸗ ſchließlich der Herbſtloge: Prachtexemplare von Georginen und Aſtern, einmal brachte er auch einen ſeltenen Apfel. Etwa ein Paradiesapfel? fragte Irene, hat vielleicht eine Schlange dabei ihre Hände im Spiel gehabt: „Haben Schlangen Hände: „Mitunter ſogar Lilienfinger,“ warf Irene leicht hin. Götz fühlte ſich peinlich berührt. Kaum war ein Wohlgefallen an einem reizvollen Weſen in ihm erwacht, ſo fiel ſchon der Mehlthau des Neides, der Mediſance darauf. 79 „Ich glaube, ich benehme mich abſcheulich bos⸗ haft,“ ſagte Irene, ſich ihrer Unart bewußt, „ich ſchäme mich auch ſchon;“ und graziös, ganz à la little school maid hielt ſie ſich einen großen, rothen Fächer vor's Geſicht, und dann, von einem guten Impuls getrieben, flog ſie zur Herbſtbude hinüber, umarmte Lis und bat ſie, nicht böſe zu ſein, ſie habe Bosheiten gegen ſie ausgeheckt, aber ſie ſei nun einmal eiferſüchtig wie Othello, und neidiſch auf all' ihre Prinzen, während ſie ſelbſt ſich zumeiſt mit dicken oder älteren Stammgäſten wie Guſtav Maier und dem alten Fürſten Andreas behelfen müße. Den Kummer, daß der junge Fürſt aufgehört hatte, ihr Stammgaſt zu ſein, vertraute ſie Lis nicht an. Götz hatte vor zwei Jahren geglaubt, Irene ernſt⸗ haft zu lieben. Als er dem Vater ſeine Abſicht, ſie zu heirathen, mittheilte, hatte die alte Excellenz gelächelt, wie man etwa über den drolligen Einfall eines Kindes lächelt. „Mein lieber Götz“, hatte er geſagt, „ich werde nie einer ernſthaften Neigung Deinerſeits Oppoſition machen, nur bitte ich Dich, lege zwiſchen Dein Wollen und Dein Handeln, zwiſchen Wunſch und That eine Spanne Zeit. Ich will Dir eine Epiſode aus meinem Leben erzählen. Ich ging ins neunzehnte Jahr als ich drauf und dran war, wegen einer unglücklichen Liebe den Tod im Waſſer zu ſuchen. Schon ſtand ich zum Sprunge bereit. Zufällig war es kalt an dem Tage. Ich zögerte einen Augenblick, dieſer Augenblick rettete mir das Leben, denn ich benutzte ihn zu einer blitz⸗ ſchnellen Reflexion: Thor, in zehn Jahren, wenn Du 80 dann noch am Leben wäreſt, würdeſt Du über dieſen knabenhaften Selbſtmord lachen. Zwar empörte ſich meine Leidenſchaft gegen meinen Verſtand, aber eine Art Neugierde, meine Reflexion auf ihre Wahrheit hin zu prüfen, gewann die Oberhand. Ich ſprang nicht. Meine Reflexion war falſch geweſen. Ich brauchte nicht zehn, ſondern nur ein einziges Jahr, um über dieſen romantiſchen Streich, der glücklicherweiſe unausgeführt blieb, zu lachen. Alſo lieber Götz, warte ein einziges Jahr. Irene iſt voll Weltreiz. Daß ſie der intimeren Reize für das Haus entbehrt, halte ich für wahr⸗ ſcheinlich. Außerdem bringt ihr noch junger Vater all⸗ mählich das Vermögen der Familie durch, Du haſt nur ein mäßiges Einkommen, und Dein Vater gehört zu den Langlebigen. Götz wollte etwas erwiedern. Fürſt Andreas bedeutete ihn durch eine Gebärde, ihn ausreden zu laſſen. „Liebſt Du Irene wirklich, gut, nichts zu machen. Du mußt dann für dieſe ernſthafte Thorheit Deine Haut zu Markte tragen, ob mit oder ohne meinen Segen, wird zum Glück oder Unglück Deiner Ehe nichts bei⸗ tragen. Iſt Deine Liebe aber, wie ich glaube, nur eine Caprice, nun, ſo wirſt Du ſie, wie ein Kind die Milch⸗ zähne, ſchmerzlos verlieren. Mein Rath als Freund und Vater: ſchließe Dich der Weltumſegelung Secking's an. Für die Rückreiſe gebe ich Dir glänzende Empfehlungen an verſchiedene europäiſche Höfe! Die Erfahrungen und Bekanntſchaften, die Du dort machen wirſt, können Deiner ſpäteren diplomatiſchen Carriere von unberechenbarem Nutzen ſein. 81 6 Götz wußte, das hinter der ſcheinbaren Bonhomie ſeines Vaters eine harte Energie ſich barg, und er fügte ſich, um ſo mehr, als er die Einwände ſeines Vaters ſür berechtigte hielt. Götz war durch und durch eine ariſtokratiſche Natur. Ein gewiſſer Adel des Denkens und Empfindens, Takt und Zartſinn zeichneten ihn aus. Es fehlte ihm nicht an großmüthigen Impulſen, obwohl er berechnend war. Allem Extravaganten abhold, zeigte er in ſeinem Thun und Reden ein edles Maß. Er war Meiſter der Form. Was ihn in der Tiefe aufregen mochte, Zorn, Leiden⸗ ſchaft, Sinnlichkeit, an der Oberfläche duldete er es nicht. Er ſcheute ſich verletzt zu werden, und vermied es Andere zu verletzen. Er kam von der Weltumſegelung zurück, mit dem Bewußtſein, die Neigung für Irene überwunden zu haben. Er ſchlug den kameradſchaftlichen Ton eines nahen Verwandten mit ihr an, hoffend, daß ſie ſeine Empfindungsweiſe theilen werde. Irene fehlte es an feinem Verſtändniß. Sie deutete die herzliche Art ſeines Verkehrs mit ihr nach ihren Wünſchen. Es war ſchon ſpät, als Graf Albrecht ſich auf dem Bazar zeigte. Dort zu erſcheinen war gewiſſermaßen eine Verpflichtung der Ariſtokratie. Er wollte nur acte de présence machen, einige hundert Mark für irgend welchen Tand ausgeben, und ſich dann zurück⸗ ziehen. Wie ſeine Augen flüchtig über den Saal ſchweiften, begegneten ſie dem Blick ſeiner Gattin. Er empfand etwas Widerwärtiges. Die Ausſtellung ihrer Schönheit verletzte ſeinen Stolz. Eilfertig machte er die 82 pflichtſchuldigen Einkäufe, und war im Begriff den Saal zu verlaſſen, als ein Bekannter ihn anredete, und ihn im Geſpräch wieder in den Saal hineinzog. Un⸗ vermuthet ſah er ſich ſeiner Gattin und der Roſenlaube gegenüber, an deren Eingang Clemens die Honneurs machte. Stella, in ihrer gehobenen Feſtſtimmung, litt heute nicht unter der Scheu, die ſie ſonſt in Gegenwart ihres Gatten beengte. Sie forderte ihn mit Anmuth auf, ſich dem Sommer huldvoll zu erweiſen. „Was bietet mir der Sommer?“ fragte er mit zer⸗ ſtreutem Lächeln. Sie beſann ſich einen Augenblick und griff dann nach dem Käfig mit dem Dompfaff. „Nur hundert Mark.“ Sie ſtrich leiſe mit der Hand über den Kopf des Vogels hin und reichte ihm den Käfig. Er hielt ihn kaum in der Hand, als ſein melodiſches Pfeifen erklang, die Melodie zu dem Text, die das erſte Dompfäffchen gepfiffen: „Es vergeht kein Stund' in der Nacht“ zc. Graf Albrecht war überraſcht, bewegt. So viel Mühe hatte ſich Stella ge⸗ geben, ihm das alte Lied aus der Zeit ihrer Liebe wieder einzuſtudiren! So ganz wie aus einer anderen Welt, ſo. ſüß und weltfern tönte die Melodie in den Bazarlärm hinein. Es glitt wie ein wehmüthig zärtliches Erinnern über ſeine Züge. Er hielt den Käfig noch in der Hand, den Blick Stella zugewandt, als Fürſt Andreas an der Roſenlaube vorüberging. Heiteren Angeſichts grüßte er das gräfliche Paar. Graf Albrecht bewegte kaum die Augenlider zum Gegengruß, und in 6* 83 dem Blick, den er ihm nachſandte, lag das Funkeln eines kalten Haſſes. Er ſtellte das Vogelbauer zurück, legte hundert Mark auf den Tiſch, und verließ den Bazar, ohne ſeine Gemahlin noch eines Blicks oder eines Wortes zu würdigen. „Ich zahle die höchſten Preiſe für alte Sachen“ ſagte Clemens, „verkaufen Sie mir den Vogel, ich lehre ihn ein anderes Lied: „O lieb, ſo lang Du lieben kannſt — —" „Wollen Sie damit andeuten, daß ich voraus⸗ ſichtlich auf dem nächſten Bazar im weißen Haar, als Winter, Weihnachts⸗Schäfchen verkaufen werde, außer ſtande noch jemand als Sommer Roſen ins irdiſche Leben zu flechten?“ Sie ſagte es mit Zorn, einem ſcheinbar geſpielten, der Zorn aber war wirklich in ihr. „Der Vogel iſt nicht verkäuflich, um keinen Preis“ fügte ſie hinzu, als er noch einmal die Hand nach dem Dompfäffchen ausſtreckte. „Ach ſo“, ſagte er, „alſo doch! Er zuckte die Achſeln und begab ſich in die Herbſtloge. Heloiſe empfing ihn noch kälter als am Tage vorher. Er war aber einmal in der Geberlaune, und überbot ſich in Sarkasmen und geiſt⸗ reichen Sentenzen, ſo daß die Baronin Eichborn heimlich dachte, der wilde Wein müſſe ihr vortrefflich ſtehen. Stella aber blieb für den Reſt des Abends zerſtreut, und erſt die Erſcheinung des Prinzen Georg, der zur Schlußfeter erſchienen war, und ihr die letzten Roſen 84 für einen exorbitanten Preis abkaufte, gab ihr die gute Laune zurück. Sie durfte hoffen, die höchſte Einnahme erzielt zu haben, und als Siegerin aus dem Bazarkampf hervorzugehen. Stella war beneidet, bewundert, nachher in den Zeitungen geprieſen worden. Das war amüſant geweſen, aufregend — für drei Tage. Was nun? Wohin mit ihrer flackernden Intelligenz, wohin mit ihrer Seele, die ſie immer, wie die Währinger ſich ausdrückte, vierſpännig beſpannte zu einer kleinen Spazierfahrt, für die ein Pony ausgereicht hätte. Immer ins Blaue — ins Blaue. Ihre Bildung, ihr Sinn für Kunſt, Wiſſenſchaft, waren ohne Vertiefung. Politik langweilte ſie. Ihre Phantaſie konnte ausſchweifend ſein, begehrlich, üppig. In Wirklichkeit aber ſchreckte ihre im Grunde reine Natur vor jeder Zügelloſigkeit, vor laſterhaftem Beginnen zurück. Immer war ſie auf der Flucht vor zwei Gefahren, und immer mehr fühlte ſie ihr Nahen: Die Leere und das Alter; beide waren eins für ſie. Selbſt ihr Genre von Schönheit wurde ihr zeit⸗ weiſe läſtig, langweilig. Sie fand ſich zu ſtatuen⸗ haft, zu groß, zu blond. Sie wäre lieber reizend, pikant, klein geweſen. Sie hätte ſich gern in Spitzen gehüllt, oder poetiſch einfache Gewänder ohne allen Schmuck ge⸗ tragen, etwa ein weißes Muslinkleid, von einem ſilbernen Gürtel zuſammengehalten; ſie mußte aber, ihrem Alter, ihrer Stellung und ihrer Erſcheinung entſprechend ſchwere Stoffe und koſtbaren Schmuck anlegen. Zuweilen, wenn ſie gar keine Ruhe fand, verließ ſie Abends zu Fuß, in Begleitung ihrer Kammerjungfer, 85 das Palais. An einem ſternenklaren Abend unternahm ſie einen ſolchen Ausflug. Sie ſchritt ſchnell dahin über den hartgefrorenen Boden, bis ſie an den ſtillen Platz kam, auf dem die Matthäikirche ſteht. In der Kirche war Abendgottesdienſt. Durch die bunten Kirchenfenſter fiel ein gedämpfter warmer Schimmer auf den weißen Schnee draußen. Die Orgel ſpielte. Rufend, ver⸗ heißungsvoll zitterten die Töne des Chorals durch den kalten Froſt. Vor einem der Häuſer, die den Platz einfaſſen, hielt ein dürftiger Leichenwagen. Aus dem Keller des Hauſes wurde ein Sarg mühſam und polternd die enge Stiege emporgetragen. Ein paar Leute, dar⸗ unter Kinder, kamen hinterher, ſchandernd vor Kälte in den dünnen Mäntelchen. Die Frau trug einen Kranz von Blech, und das ſchwarze Gefährt raſſelte ſchnell über den kniſternden, gefrorenen Boden, unter den vornehm feierlichen Orgelklängen, an den bunten ſtrahlenden Kirchenfenſtern vorbci, viel ſchneller als üblich, ſo ſchnell, daß die Leute kaum folgen konnten und im raſchen Gehen der blecherne Kranz an den Knieen der Frau aufklapperte. Mit großen Augen, die genußheiſchend an dem düſteren Bilde hingen, verfolgte Stella den Leichen⸗ wagen, während der Choral ihr ins Ohr tönte; es war, als gehöre das zuſammen: hier draußen Elend, Tod, die unter die Erde wollen, dort drinnen Lobgeſang, der aufſteigt — zum Himmel, und vielleicht — wer weiß es — jene arme Seele, die dem Körper entflohen, emporträgt — wohin? Befriedigtkehrte Stella heim, ſiehat ihre Emotion gehabt. 86 Vor drei Jahren hatte ſie ſich der Religion in die Arme geworfen. So viel Beſſere und Klügere als ſie, hatten im Schoße der Kirche Frieden und Läuterung gefunden, warum wurde ihr die Gnade des Glaubens nicht zu Theil? Ach, ſo leidenſchaftlich gern hätte ſie auf dem gleißenden Marmor einer wunderſchönen Kirche, uinter dem feierlichen Klange der Orgel gekniet, die weißen Hände über einem Gebetbuch von dunklem Sammet gefaltet. Sie dachte zuweilen an das Märchen von Peter Schlemil, der ſo unglücklich war, weil er keinen Schatten hatte. Sie hatte keine Vergangenheit, keine Zukunft, ſie wollte beides nicht haben! Sie ſchloß die Augen davor. Das Feſt heute, der Ball morgen, die Oper übermorgen, nichts als die gegenwärtige Saiſon. Sie glich in ihrer Jagd nach Genuß dem Wanderer, der ſich im Walde vor einem Ueberfall oder irgend einem Spuk fürchtet, und laut zu ſingen anhebt, um ſeine Furcht zu übertönen. Der Vergleich paßte nicht ganz, ſie fürchtete ſich am meiſten vor ſich ſelbſt, vor einem inneren Spuk. Sie wollte ſich nicht auf ſich ſelbſt beſinnen, ſie wußte, es müſſe dabei etwas ſo Schmerzliches, ſo Elendes zu Tage kommen, daß ſie hindern würde zu leben, und leben will ſie um jeden Preis. Warum rettet ſie ſich nicht an das Herz des Mannes, der ſie liebt! Nur darum nicht, weil ſie das Unerlaubte ſcheut? Aber weiß ſie denn, ob ſie ihn liebt? Vielleicht iſt dieſe Neigung auch nichts Anderes, als die Sehnſucht ihr Gemüth zu beſchäftigen. Und ſchon ſinnt ſie Anderes, Höheres, um dieſer Leere zu entfliehen. Vergebens hat ſie an die Pforten 87 des Himmels geklopft, jetzt klopft ſie an die des Geiſter⸗ reichs. Unter dem Schleier des Geheimniſſes hat ſie mit Gräfin Aglaya Spiritiſten⸗Verſammlungen beſucht. Man hat ihr geſagt, daß, um zur Geiſterwelt in ein ſympathiſches Verhältniß zu treten, man leicht vibrirende, empfindſame Nerven haben müſſe. Ihr kräftiger, geſunder Körper iſt alſo ein Hinderniß für ſpiritiſtiſche Manifeſtationen. Sie fängt an, wenig und immer weniger Speiſe zu ſich zu nehmen und magert ſichtlich ab; mit Schrecken bemerkt ſie, daß ſie dabei an Schönheit und Jugendlichkeit verliert. Sogleich verzichtet ſie auf den ätheriſchen Leib, und bald iſt ſie blühend wie zu⸗ vor. Um ſo mehr ſucht ſie all' ihré Seelenkräfte zu concentriren, um ſich für ſpiritiſtiſche Nervenreize zu dis⸗ poniren. Sie greift ſogar einige Male zu Morphium, die Pſyche aus dem feſten Gefüge des Körpers ein wenig zit lockern. Wenn ſie auf ſpiritiſtiſchem Wege die Gedanken des Grafen Albrecht ergründen könnte! Oft, in der Einſamkeit ihres Zimmers, an Abenden einer geſteigerten, exaltirten Stimmung, hüllt ſie ſich in weiße, wallende Gewänder; ſie löſt ihr reiches goldenes Haar und löſcht alles Licht, bis auf das zartgrünliche, mondſcheinartige, oder ſie löſcht auch dies, ſo daß nur der glühende Dämmer vom Kamine her ſie magiſch um⸗ ſchimmert. Sie ſchreitet dann langſam auf und ab, mit weitgeöffneten Augen und wartet auf etwas, nicht auf etwas Beſtimmtes, aber auf irgend etwas Unaus⸗ ſprechliches. Sie will etwas fühlen, tief wie die Ewigkeit, weit über alles Menſchliche hinaus, die 88 Geburt eines großen Gedankens, einer Empfindung über Lebensgröße; eine Geiſterbeſchwörung, die ſie treibt, bis ſie unverſehens gähnt und merkt, daß ſie müde iſt. Sie ruft dann wohl ihre Kammerjungfer her⸗ bei, läßt ſich ſo prächtig wie möglich ankleiden und fährt zu irgend einem Feſt, wo ſie alle Welt durch Geiſt und Liebenswürdigkeit bezaubert. Einige Stunden ſpäter liegt ſie in ihrem Bette mit einem verächtlichen Zucken um den Mund über die ſchale Geſellſchaftskomödie, an der ſie Geſchmack gefunden hat. Wenige Tage nach dem Bazar ſtarb die Tante Gisberthe. Stella hüllte ſich vom Kopf bis zu den Füßen in ſchwarzen wallenden Krepp. Sie kniete unter Lorbeerbäumen und Blumen am Sarge der Verblichenen, die Augen feucht von Thränen. Als ſie in der Dämmerung heimkehrt, ſchreitet ſie geſenkten Hauptes durch den beſchneiten parkähnlichen Garten ihres Hauſes, mit dem Saume ihres Gewandes den gefrorenen Weg fegend, ganz, wie ſie es auf einem Bilde geſehen hat: ein Weib in ſchleppenden Trauergewändern, die durch eine entlaubte Allee ſchwer dahinſchreitet, während Schneeflocken leiſe auf ihr ſchwarzes Gewand rieſeln. Affectation und wirkliche Empfindung fließen bei Stella ſo ineinander, daß ſie ſelbſt nicht im Stande geweſen wäre, ſie zu unterſcheiden. Sie erlebt die Trauer wie eine Elegie, aber wie eine in Verſen. Sie trauert wirklich, nicht um die ungeliebte Tante, ſondern um das allgemeine Sterben, darum, daß auch ſie ſterben muß. Die Idee des Todes iſt in dem Krepp, iſt in dem Thränenſchimmer ihrer Augen. Sie nimmt ſich aber in 89 acht, daß ihre Thränen nicht über die Wangen fließen. Thränen verderben den Teint. Nach acht Tagen iſt ihre Luſt an der Trauer vorbei. Sie vertauſcht den Crepp mit ſchwarzem Sammet, öffnet ihren Salon wieder und ſchreibt an Clemens, den ſie entbehrt hat, er möge kommen. Der Crepp der Mutter hatte auch die Tochter in Mitleidenſchaft gezogen; ſie mußte während der Trauer auf Geſelligkeit verzichten. Ausnahmsweiſe hatte ihr indeſſen die Gräfin, auf Adda's eindring⸗ liches Bitten, geſtattet, den „jour“ dieſer ehrgeizigen jungen Dame zu beſuchen. Es war ihr recht, wenn ihre téte à téte mit Heloiſe, die in die Nach⸗ mittagsſtunden fielen, ſo viel als möglich beſchränkt wurden. Die Entfremdung zwiſchen Mutter und Tochter wuchs allmählich, die Tochter trug die Haupt⸗ ſchuld daran. Die Gräfin las in Heloiſens Augen Befremden über die Länge des Creppſchleiers, über Alles und Jedes, was ſie that. Das war läſtig. Die Plauderſtunden vor dem Diner, am Kaminfeuer, die man bis zu Clemens Ankunft regelmäßig innegehalten hatte, wurden unmerklich kürzer, die Plauderei wurde froſtig, einſilbig. Graf Albrecht ſah die wachſende Entfremdung und ſein Blick ruhte oft auf Frau und Tochter mit einem eigenthümlichen Ausdruck, der etwas Grauſames hatte. Adda Maier kämpfte für ihren Salon mit der Cnergie einer jungen, thatkräftigen Seele, bei der die geſellſchaftliche Exiſtenz auf dem Spiele ſteht. Es galt nicht nur Indemnität für ihre Heirath zu erlangen, 90 ſondern auch dieſen Maier von Stufe zu Stufe, vom Commerzienrath über den Geheimrath hinweg zum Ordensträger und zur Nobilitirung zu befördern. Die weltkundige kleine Adda kannte ſehr wohl die Mittel und Wege, die zu dieſem Eldorado führen. Im erſten Jahre hatte ſie mit ihren Soiréen Fiasco gemacht; in kluger Selbſtbeſchränkung begnügte ſie ſich deshalb in dieſer Saiſon mit live o clock tea's, eine engliſche Geſellſchaftsform, die die Anweſenheit des Hausherrn nicht nur nicht erfordert, ſondern ſeine Abweſenheit ſo⸗ gar vorausſetzt. Gelegentlich dieſer Thees beabſichtigte Adda den Grundſtein zu ihrer geſellſchaftlichen Stellung zu legen, und inzwiſchen gewann ſie Zeit, die Erziehung ihres Guſtav, die ſchon ſchöne Reſultate aufzuweiſen hatte, zu vervollſtändigen. Hatte ſie ihn doch ſchon im erſten Jahre der Ehe durch zweckmäßige Diät dahin gebracht, um fünf Pfund ſchlanker, das heißt, eleganter zu werden. Er fing bereits an, nach ihrer Anweiſung die Recenſionen über diejenigen Bücher zu leſen, die den Geſprächsſtof für die Saiſon lieferten. Sie hatte ihm bei muſikaliſchen oder rhetoriſchen Genüſſen das Einſchlafen, und wenn in der Converſation letzte und vorletzte Fragen gelöſt wurden, das Gähnen abgewöhnt. Dagegen hatte ſie ihm regelmäßige Bäder, einen manicure (Perſon, die die Hände ſoignirt) und ein monocle angewöhnt. Sie hatte erfolgreich angekämpft gegen ſeine Brillant⸗ knöpfe und Ringe, und gegen ſeine knarrenden Stiefel. O, ſie ſah roſig in die Zukunft, die kleine Adda. Ihr Salon war bildhübſch. Die Wanddekoration 91 Gobelins, Beleuchtung — elektriſch, die friſchen Blumen — aus Nizza. Mächtige Holzſcheite flammten in einem Kamin von Onyx, das Waſſer ſummte in einem Keſſel von alter, getriebener Silberarbeit, Pafüm zartes Heliotrop, Möbel — wie nur das erſte Tauſend der upper ten thousand ſie haben konnte, ihr Porträt von dem Maler, der angenblicklich die höchſten Preiſe nahm, Theetaſſen von durchſichtigem chineſiſchen Porzellan, die Taſſe zehn Mark. Adda ſelbſt bewegte ſich wie ein allerliebſtes Porzellanpüppchen, nur etwas zu unruhig hin und her, zwiſchen all' den Herrlichkeiten, in Erwartung ihrer Gäſte. Die Unruhe war erklärlich, durfte ſie doch heute zum erſten Mal auf die fine fleur der Geſellſchaft rechnen. Auf dem Bazar hatte ſie die alten Beziehungen ihres elterlichen Hauſes wieder angeknüpft, und dann allerhand Lockmittel erſonnen, um die einflußreichſten Damen der Ariſtokratie für ihren Salon zu gewinnen. Zur Erlangung des Geheimen⸗Commerzienraths bot der Gatte der Frau von Währinger die meiſten Chancen. Für die Ordensverleihung hatte ſie Diotima ins Auge gefaßt. Am meiſten lag ihr aber an der Gräfin Suſanne Ferneß, von deren Gunſt — wie ſie fälſchlich annahm — die Nobilitirung abhing. Sie war unermüdlich geweſen, irgend eine muſikaliſche, lebendige oder ſachliche Curioſität für die Gräfin aufzutreiben, und es war ihr gelungen. Dar⸗ auf hin hatte ſie — das Geheimniß der Curioſität wahrend — die vornehme Wagnerianerin eingeladen und eine Zuſage erhalten. Für Diotima hatte ſie einen gefälligen und begabten Kritiker eingefangen. 92 Irene, mit der ſie intim war, hatte verſprechen müſſen, ihre Mutter, die geborene Fürſtin Dietrich⸗ ſtein, zum Mitkommen zu bewegen. Gräfin Charlotte, die ſonſt Addas Einladungen zu ignoriren pflegte, hatte diesmal acceptirt. — aus Gründen. Sie wollte beobachten, wie Irene gewiſſe Lehren, die ſie ihr nachdrücklichſt eingeſchärft, befolgen würde. Ungefähr Folgendes hatte ſie ihr geſagt: „Du mußt heirathen, mein armes Kind, und zwar je eher, je lieber, wenn Du in Zukunft nicht am Hungertuche oder am Maforat Deines Bruders nagen willſt. Was Du einmal erben wirſt, trägt die Katze auf dem Schwanze fort. Zum Heirathen gehört aber, wenn man das Pech hat, ein Weib zu ſein, ein Mann, und zwar für Dich ein reicher, Ebenbürtigkeit ſelbſtverſtändlich. Solche Ehemänner wachſen aber nicht, wie die Pilze, aus der Erde, ſie müſſen vielmehr im Schweiße des Angeſichts erworben werden. Ich habe drei Partien für Dich in petto. Erſtens der junge Fürſt Gottersberg. Ich weiß, Du biſt vernarrt in ihn, es ſcheint aber, daß er bei Deiner Couſine ſein Schäfchen ins Trockene bringen will, was ich ihm nicht verdenke; ihr Geizkragen von Vater giebt ihr eine glänzende Mitgift, während der Deine — na Schwamm d'rüber! Irene ließ den Kopf hängen, und ihre Augen um⸗ florten ſich. Sie liebte Götz wirklich. „Na“, tröſtete die Mutter, „noch iſt Polen nicht verloren, und wenn auch — über ſo'n kleines Herzens⸗ Malheur wächſt ſchnell Gras. 93 „Vorüber — vorüber, Mama, und der Zweite „Clemens von Secking.“ Irene ſchlug die Hände zuſammen. „Aber Mama, der iſt doch in feſten Händen, alle Welt kennt ſeine Paſſion für die Senſationstante.“ „Ach was! Die gute, goldblonde Schwägerin kann über Nacht grau und er vernünftig werden.“ „Wenn Dein Dritter nicht mehr Chancen bietet — „Er bietet ſie — haſt Du Vorurtheile gegen ältere Herren? „Im allgemeinen, jd.. „Im beſonderen hoffentlich nicht. Wenn ich ein junges Mädchen wäre, und der alte Fürſt Andreas wollte mich haben, mit allen zehn Fingern würde ich zugreifen; alt nenne ich ihn nur, weil er Götzes Vater iſt, im Grunde iſt er eben ſo jung oder jünger als ſein Sohn.“ Irene ſtarrte in hellem Erſtaunen ihre Mutter an. Dann blitzte es plötzlich boshaft in ihren Augen auf. „Poſſe oder Trauerſpiel, was mache ich dar⸗ aus, Mama? Ich — die Stiefmutter von Götz! Ha! ich könnte ſein Erbtheil in Hüten, Roben und Brillanten verpraſſen, ich könnte ihn krank ärgern — — Das wäre Poſſe. Oder Trauerſpiel? Don Carlos! ich, der Erisapfel zwiſchen Vater und Sohn! ich, die ſchöne junge Königin, ſetze meinem Philipp Hörner auf, platoniſche natürlich.“ „Und ich wäre dann wohl Marquis Poſa?“ lachte die Gräfin. 94 „Du? nein, Mephiſto!“ Sie unterbrach ſich ärgerlich. „Wie komme ich nur dazu, Spaß zu machen! Ach, Mama, was für häßliche Gedanken kommen einem, wenn man nichts mitkriegt. Götz hat mir auch ſchon angedeutet, daß es meiner Natur an Vornehmheit fehle; ich möchte aber Lis an meiner Stelle ſehen; wenn einem Alles von ſelbſt in den Schoß fällt, dann iſt es keine Kunſt, vornehm zu bleiben, und ſich als Madonna zu geriren.“ Sie hatte ihre Thränen kaum noch zurückhalten können, und war hinausgeeilt. Trotzdem waren die Lehren der Mutter nicht in den Wind geſprochen. Die beiden Damen kamen als die erſten Gäſte. Irene zeigte ſich überaus heiter und animirt, nur ein wenig forcirt. Bald nach den Gräfinnen Ronald Büren trat Clemens mit Götz in Adda's Salon. Die Wirthin fragte Clemens, mit einem Seitenblick auf Götz, ob er in den letzten Tagen Comteß Heloiſe geſehen, ſie wäre nicht ſicher, ob die Freundin ihr Verſprechen, ihren jour zu beſuchen, halten würde. Er komme eben aus dem Palais der Gräfin, antwortete Clemens, die Comteß müſſe jeden Augenblick erſcheinen, ſie ſei ſchon in Geſellſchafts⸗Toilette geweſen: lichtgrauer Cachemir mit Silberſtickerei. „Lis verſteht immer, diſtinguirt auszuſehen“ ſagte Adda. „Jawohl“, beſtätigte Irene, „wenigſtens immer anders, als die Anderen; und die Natur unterſtützt ſie, merkwürdig in dieſem Beſtreben. Ihre Stirn iſt etwas höher, ihre Finger ſind etwas länger, ihr Kragen iſt 95 etwas breiter und ihre Naſe etwas ſchmaler als bei uns gewöhnlichen Sterblichen, gerade genug, um aufzufallen, ohne abſurd zu erſcheinen.“ „Und trotz dieſer Mängel oder vielleicht gerade wegen dieſer Mängel“, ſagte Clemens, „wirkt ſie wie eine Hollbein'ſche Madonna.“ „Ja, aber wie eine von Holz“, warf Irene ein, die gereizt von dem mißbilligenden Ausdruck in Götzes Zügen, viel weiter ging, als ſie wollte, „man merkt es nur nicht, weil der Rahmen eitel Gold und Edelſtein iſt — —“ Sie brach mitten im Satze ab. — „Weh, mir boshaftem Geſchöpf! Thee, Adda, Thee! ich erſticke ſonſt vor Bosheit und Reue.“ Alle lachten. Heloiſe trat ein, mit der vornehm reſervirten Anmuth, die ihr eigen war, und die nichts Unedles in ihrer Nähe aufkommen ließ. Irene lief ihr entgegen und küßte ſie. „Nimm dieſen Jadaskuß, Lis, ich Neid⸗ hammel bin ſchon wieder über Dich hergefallen. „Ich bin Dir nicht böſe,“ lächelte Lis, „wem Gott Witz giebt, dem giebt er auch Malice. Witze haben das mit Revolutionen gemein, daß man ſie nicht mit Roſen⸗ waſſer macht.“ Die Unterhaltung wurde allgemein. Man plau⸗ derte über die Vorkommniſſe auf dem Bazar. Irene wußte aber bald Götz in ein beſonderes Geſpräch zu verflechten. Sie war erfahren in den kleinen Künſten der Koketterie. Während er mit ihr plau⸗ derte, Gleichgültiges, hielt ſie das Köpfchen geſenkt, die Augen blickten ſeitwärts mit dem Ausdruck herzigen Lauſchens, als ob ſie eine Liebesbotſchaft ver⸗ 96 nähme. Da er ſtand, und ſie ſaß, mußte er ſich, ſprechend, zu ihr niederneigen. Sie ließ ſich eine chineſiſche Malerei auf ihrem Fächer von ihm erklären, und ihre Köpfe waren ſo nahe aneinander, daß ihr Haar ſich faſt be⸗ rührte. Lis würde das ſehen, ſo hoffte ſie, und in der That Lis ſah es, ohne direkt hinzublicken, während ſie mit Anderen ſprach. Götz gewann es nicht über ſich eine ablehnende Haltung Irene gegenüber anzunehmen. Daß ſie ihn liebte, rührte ihn. Mit Höflichkeit darauf zu antworten, war das wenigſte, was er thun konnte. Adda unter⸗ brach das Separatgeſpräch, indem ſie ihren Gäſten, und vor Allem Götz mittheilte, daß ſie die reizende kleine Burger eingeladen habe, ſie hoffe, man werde davon entzückt ſein, Götz Gottersberg nicht am wenigſten, der der Kleinen ja ſträflich den Hof gemacht habe. Götz proteſtirte. Er halte es für ein poſitives Un⸗ recht harmloſen jungen Mädchen den Hof zu machen, und ihnen damit eine falſche Vorſtellung von ſeinen Ge⸗ fühlen beizubringen, für ein um ſo größeres Unrecht, wenn der Hintergedanke einer ernſten Bewerbung abſolut ausgeſchloſſen ſet. „Warum ausgeſchloſſen?“ fragte Adda, „ſind Sie ſo vorurtheilsvoll, daß Sie ein bürgerliches Mädchen nicht heirathen würden: „Ich würde ein bürgerliches Mädchen nicht heirathen, wie ich nicht im Auslande leben möchte. Das Ausland kann ſchöner, begehrenswerther ſein als mein Vaterland, aber man ſehnt ſich doch immer nach der Heimath zurück. Gewiſſe Sitten, Anſchauungen und 97 7 Qualitäten, durch die Tradition vieler Geſchlechter ver⸗ erbt, laſſen ſich weder abſtreifen, noch erwerben; ſie ſind uns in Fleiſch und Blut übergegangen und machen einen Theil unſeres Weſens aus. „Möglicherweiſe einen ſehr unweſentlichen Theil, warf Clemens ein. „Wer weiß,“ meinte Götz nachdenklich. „Und könnte eine Bürgerliche ſich nicht acclima⸗ tiſiren?“ fragte Adda. „Möglich,“ antwortete Götz, „aber warum ſolche Experimente machen, die auch äußerlich Dornen in unſer Leben ſtreuen würden.“ „Und wenn Sie ſich nun rettungslos in ein bürger⸗ liches Mädchen verliebten? Oder glauben Sie nicht an den coup de foudre? „Doch, ich glaube daran,“ ſagte Götz und ſein Blick ſtreifte Heloiſe. „Er hat mich ſogar einmal getroffen. „Iſt das lange her?“ Irene fragte es, indem ſie ihren Fächer geräuſchvoll zuklappte. „Nicht ſehr lange. Aber ſo ein Blitzſtrahl pfleat uns doch nicht gleich an allen vier Ecken in Brand zu ſtecken; oft beleuchtet er nur ein Terrain, das bis dahin im Schatten lag. Steht über dieſem Terrain „Ver⸗ botener Eingang,“ ſo bleiben wir wohl ſtehen, blicken ſehnſüchtig über den Zaun, gehen aber doch ſchließlich vorüber. Warum verlieben wir uns ſo ſelten in Prin⸗ zeſſinnen und mögen ſie noch ſo liebreizend ſein? weil wir im voraus wiſſen — —" „Daß ſie für uns ſind, was Caviar für die Menge iſt,“ unterbrach ihn Gräfin Charlotte. 98 „Und wenn der coup de foudre einen erreichbaren Gegenſtand enthüllt: „Ja dann — dann käme der Blitz direkt aus dem Schooß Gottes, als ein Wegweiſer — zum Himmel, dann“ — — er unterdrückte das Innige, was ſich über ſeine Lippen drängen wollte und ſchlug einen leichten ſcherzhaften Ton an, als er noch einmal betheuerte, daß er nicht im Entfernteſten daran gedacht Fräulein Burger den Hof zu machen. Heloiſe hatte ſich mit keinem Wort an der Unter⸗ haltung betheiligt. Sie hatte ſtill, ſeinen Worten lauſchend, in einer Haltung, die ihr eigenthümlich war, dageſeſſen, aufrecht, ohne ſich anzulehnen, die Hände im Schooß ineinander gefaltet, mit den klaren braunen Augen geradeaus blickend. Eine zarte Röthe der Erregung färbte ihre Wangen. Sie erſchien dem jungen Fürſten wie der Typus der Jungfräulichkeit. „Was ſagſt Du denn dazu?“ wandte ſich Irene an ihre Couſine. Ehe Lis antworten konnte, traten andere Gäſte ein. Allmählich erſchienen Frau von Währinger, ein jüngerer Diplomat mit kahlem Scheitel und ohne Ausſicht auf Carriere, weil die Güte ſeiner Connexionen nicht Schritt hielt mit dem Mangel ſeiner Fähigkeiten, die Baronin Eichborn, ein exotiſch ausſehender Attaché der ſpaniſchen Geſandtſchaft, welcher Letztere von Adda freudig bewill⸗ kommt wurde „als die Morgenröthe, die der Sonne vorausgeht“, meinte Frau von Währinger. Die Sonne war nämlich Gräfin Suſanne Ferneß, in deren Gefolge der Spanier als Herold oder Trabant niemals fehlte. 7* 99 Es bildeten ſich lebhaft plaudernde Gruppen; Irene, die im Mittelpunkt einer dieſer Gruppen ſtand, brachte das Geſpräch wieder auf Elſa Burger, auf die ſie beinah ebenſo eiferſüchtig war wie auf Lis. Sie er⸗ zählte, daß ſie der Kleinen geſtern begegnet ſei. Sie hätte Ueberſchuhe angehabt, — wären es die Galoſchen des Glücks geweſen, ſo müßte ihr Glück groß ſein, ſo groß wie ein kleiner Oderkahn; und die Handſchuhe an den Händen, mit denen ſie beim Straßenübergang den puffligſten, komiſchſten Regenmantel aufgerafft, wären von — reinſter Baumwolle geweſen. „Es kann auch Halbſeide geweſen ſein“, milderte Gräfin Charlotte. „Halten Sie baumwollene Handſchuhe für un⸗ moraliſch?“ fragte Clemens in ſeiner trockenen Art. Aber nein, im Gegentheil, es gäbe garnichts Achtungswertheres als baumwollene Handſchuhe, aber ſie ſeien — „Ausland“, parodirte Irene Götze's Worte. „Wenigſtens da, wo das Schöne zu Hauſe iſt, bekräftigte Adda. „Sie mögen Recht haben, meine Damen“, ſagte Clemens ironiſch. Schönheit iſt wirklich oft nur eine Kleiderfrage. Ich will Ihnen ein Beiſpiel erzählen. Ich ging einmal im Seebad am Strande ſpazieren, weiter als Badegäſte zu gehen pflegen. An einer ein⸗ ſamen Stelle ſprang ein Mann ins Waſſer, um zu baden. Ich betrachtete ihn mit entzückten Blicken; er war von vollendeter Schönheit und Kraft, das Bild eines jungen Herkules, eines Gottes. Ich ging weiter. Als ich auf dem Rückweg wieder an die Badeſtelle kam, 100 traf ich denſelben Menſchen, der eben ſeine Kleider an⸗ gelegt hatte, dürftige, ſchlechtſitzende Kleider. Wie ordinär ſah der Menſch aus, nicht die Spur einer Gottähnlichkeit. „Was wollen Sie damit ſagen?“ fragte man ihn. „Daß Kleider — Verkleidungen ſind.“ Die Damen wandten ſich von Clemens ab. Die Erzählung kam ihnen beinahe unanſtändig vor; be⸗ ſonders unwillig zeigte ſich die Baronin Eichborn, die in oſtenſibler Weiſe aufſtand. Sie gerieth aber aus der Scilla in die Charybdis, nämlich in die Nähe des kahlen Diplomaten mit ungenügenden Connexionen, der ſie fragte, ob ſie glaube, daß Frau Adda noch frei wäre? „Wie denn?“ antwortete die gute Baronin erſtaunt. „Sie wiſſen doch, daß Frau Maier verheirathet iſt ³, „Ich meine ja — linker Hand frei. „Wie können Sie es wagen eine ſolche Frage an mich zu richten. Frau Adda iſt moraliſch unantaſtbar. „Nun — nun, man würde ihr mildernde Umſtände zuerkennen, es würde ihr ſogar ein gewiſſes Relief geben, wenn ihre Wahl auf Jemand fiele“ — Die Baronin flüchtete ſich zu Lis, die mit dem Spanier planderte. Er trat bei der Annäherung der Baronin zurück. Sie bewunderte Heloiſes Toilette. Ob die Silber⸗ ſtickerei wohl ſehr theuer wäre?. „Ich weiß es nicht,“ antwortete Lis etwas hoch⸗ müthig. „Ich lege übrigens gar keinen Werth auf Toilette“ bemerkte die Eichborn, — ſie legte im Gegentheil großen 101 Werth darauf, wie auf Alles, was ſie nicht haben konnte, — „ich habe ja meine Kinder. „Na, kommen Sie mal her, Sie Grachenmutter“ rief ihr Gräfin Charlotte zu, „Sie fragten mich neulich nach einer billigen Theequelle. Ich habe Adreſſen für Sie.“ Während die beiden Damen in einer Ecke des Salons ökonomiſche Angelegenheiten erörterten, regalirte Frau von Währinger an der entgegengeſetzten Seite die Geſellſchaft mit Anekdoten aus dem Eichborn'ſchen Salon. Sie ſetze als bekannt voraus, daß die gute Baronin anſtatt trinkbaren Thees und ſonſtiger materieller Genüſſe, den Gäſten ihre Kinder vorſetze. An dem letzten Thee⸗ tage nun habe plötzlich der kleine Karl oder Wilhelm — ſie habe vergeſſen wie er heiße — an zu weinen ge⸗ fangen. „Was iſt Dir, mein Kind?“ habe man ihn gefragt. — „Die fremden Leute“, ſchluchzte der kleine Kerl, „eſſen allen Kuchen auf, und dann kriegen wir gar nichts.“ Und das Schweſterchen, das daneben ſteht, heult auch: „Sie ſollen garnicht kommen, die Leute, Mama ſagt, wenn Niemand zum Thee kommt, dann ladet ſie uns zum Thee ein — wir kriegen nie Thee.“ Frau Währinger hatte mit ihrer Erzählung keinen Erfolg. Man lachte zwar, fand aber doch einer ſo reizenden Kindernaivität gegenüber ihre Malice nicht angebracht. Die Dame, ärgerlich über den Widerſpruch, wandte ſich dem exotiſchen Attaché zu, der ſie durch die Mittheilung einer pikanten Anekdote für den Mißerfolg entſchädigte. Er ſei kürzlich im Atelier eines Malers 102 geweſen, der nichts anderes male als reizendſte Jeſus⸗ kinder und lieblichſte Engelsköpfe. Im Atelier hätten ſich zufällig die eigenen, ziemlich häßlichen und ver⸗ wahrloſten Kinder des Malers aufgehalten. Er habe dem Maler ſeine Verwunderung darüber ausgeſprochen, daß all' ſeine gemalten Kinder ſo liebreizend, die eigenen aber wüſt ausſähen. Das käme daher, hatte der Maler geantwortet, die Jeſuskinder mache er bei Tage, und“ — — Die letzten Worte flüſterte der Attaché Frau von Währinger ins Ohr, die hell auflachte. „Sie Hidalgo“, drohte ihm Gräfin Charlotte, die in der Nähe ſtand, „wenn ich bitten darf, keine im⸗ portirten Drolligkeiten, auf deutſch Cochonnerie. Das Flüſtern und das Lachen hatte den Diplomaten mit dem Mangel an Fähigkeiten, der Unrath witterte, herbeigelockt. Man enthielt ihm aber die Pointe der Anek⸗ dote vor. Frauvon Währingerfragteihn, obergeſtern„, Fran⸗ cillon“ im Theater geſehen hätte, ein Dumas'ſches Stück, das ſoeben einen ungewöhnlichen Erfolg davongetragen. Ja, antwortete er, leider habe er ſich verleiten laſſen dieſe unmoraliſchſte Frechheit, die je über die Bühne gegangen, mitanzuhören. Er habe ſich ſträflich dabei gelangweilt, wie alle Welt. „Was!“ rief Gräfin Charlotte, „gelangweilt? Ich habe mich in meinem Leben noch nicht ſo gut im Theater amüſirt. Alle Welt, ſagen Sie, hält das Stück für unmoraliſch? Alle Männer, meinen Sie wohl, und zwar dieſelben Faxenmacher, die bei den unanſtändigſten Operetten oder Poſſen, wie „Mascotte“ oder „Die Marquiſe“ in Wonne planſchen. 103 räthſelhaft“, flötete Diotima. „Aber dieſer Gegenſatz der Meinungen iſt ja ganz Adda. „Dumas ſtellt die Theſe auf, daß die Ehe für „Die Löſung des Räthſels iſt ſehr einfach“, ſagte die Männer ebenſo verbindlich ſein ſoll, wie für die Frauen. Das gefällt natürlich den Frauen ebenſo ſehr, wie es den Männern mißfällt. „Ein wahrer Abgrund von Unmoralität“, ſpottete Clemens, „den Männern das angeſtammte Privilegium der Untreue antaſten zu wollen.“ „Die Männer haben auch bereits die Polizei zu Hülfe gerufen“, ließ ſich Gräfin Charlotte wieder hören, um das Stück verbieten zu laſſen. Die Polizei ſoll den Floh Inicken, den Dumas den Frauen in's Ohr ſetzt. Ich könnte ihn abknutſchen dafür, dieſen Dumas. Irene, die ſich den Anſchein gegeben hatte, an dieſer für junge Mädchen ungeeigneten Unterhaltung nicht Theil zu nehmen, fing plötzlich an das Couplet aus Orpheus: „Wir kennen Dich, Jupiterlein“, zu trällern, worauf der junge Diplomat ohne Ausſicht auf Carriere ſich ihr lebhaft und ſympathiſch zuwandte. Die Mutter warf ihr einen ärgerlichen Blick zu und fragte, um dem Geſpräche eine andere Richtung zu geben, die eben geräuſchvoll eintretende Gräfin Aglaya, wie die junge Schauſpielerin gefallen habe, die vor einigen Tagen zum erſten Male als „Nora“ auf⸗ getreten war. Sie habe einen ſenſationellen Erfolg gehabt, ant⸗ wortete Gräfin Aglaya. „So gut hat ſie geſpielt; 104 verliert ſie ihren Rock, und hakt ihn wieder zu mit einer „Das weniger. Aber denken Sie, im zweiten Akt Geiſtesgegenwart, und dabei ſchnurrt ſie ihre Rolle ruhig weiter. Das Publikum war geradezu enthuſiasmirt — eine Debütantin — was ſagen Sie: Man hatte nicht Zeit, etwas zu ſagen, denn aller Augen richteten ſich auf den Eingang, wo in dieſem Augenblick Gräfin Ferneß erſchien, von Adda freudig bewillkommnet. Mit der ihr eigenen bezaubernden An⸗ muth, mit dem ſonnigen Lächeln, das auf ihrem Antlitz permanent war, begrüßte ſie die Wirthin und die Gäſte, jedem ein paar huldvolle Worte ſpendend, ganz in der Art einer regicrenden Fürſtin. Dann wandte ſie ſich an die Wirthin: „Nun, Frau Adda,“ — man nannte ſie allgemein mit dem Vor⸗ namen, um ihr nicht immer, wie Gräfin Charlotte ſich ausdrückte, ihre Méſalliance unter die Naſe zu reiben, „waren Sie geſtern in dem Concert meiner Protégé's, das ich leider nicht beſuchen konnte?“ Die Protégés waren ein belgiſcher und ein italieniſcher Muſiker. Adda ſchämte ſich, eingeſtehen zu müſſen, daß ſie ein Concert verſäumt habe, bei dem die ganze Ariſtokratie anweſend war. Frau von Währinger berichtete an ihrer ſtatt, man habe ſich ansnehmend amüſirt. „In Folge eines Miß⸗ verſtändniſſes war der Flügel anſtatt in die Philharmonie in die Singakademie gebracht worden. Bis erherbeigeſchafft wurde, vergingen drei Viertelſtunden. Da hatten wir erſtens: die komiſche Situation, zweitens: die wilde Verzweiflung der ausländiſchen Concertgeber, drittens: die verkürzte Muſik; immerhin drei Emotionen in unſerer gefühlsarmen Zeit. 105 „Apollo, du hörſt's,“ deklamirte die muſikaliſche Gräfin, die ſich ſchon ſeit einigen Minuten erſt neu⸗ gierig, dann enttäuſcht umgeſehen hatte. „Wo bleibt denn die verſprochene muſikaliſche Curioſität: Adda wies nach der Thür. Auf der Schwelle ſtand ein junger Mann. Man ſah ſich erſtaunt an. Hier und da wurde ein Kichern vernehmbar. Seine Geſtalt war klein und gedrungen, jede Bewegung eckig, ſein Geſicht häßlich: ſlaviſch ſemitiſcher Typus, ſchwarzes, ſtraffes Haar, braungelber Teint, breite Naſe, große un⸗ ruhige Augen. Er trug einen ſchlechtſitzenden Sammt⸗ rock, keine Handſchuhe. Er ſah aus wie ein Menſch, der nicht recht weiß, wo er ſich befindet, und was man von ihm erwartet. Seine Haltung war wie ein Suchen nach dem Gleichgewicht. Bald neigte er ſich zur Seite, bald vornüber, nur aufrecht ſchien er nicht ſtehen zu können. Keine Spur von Schüchternheit und Verwirrung war in ſeinen Zügen zu leſen, als man ihn vorſtellte: „Herr Iſaak.“ Er nahm den dargebotenen Sitz ein. Die liebenswürdige Anſprache der Wirthin und einiger Anderer beantwortete er einſilbig, unruhig; ſeine Blicke ſchweiften über die Anweſenden mit der Gleichgültigkeit des Hochmuths, mit einem Wort, er benahm ſich ganz ſo, wie man es von einem Genie erwarten durfte, und zwar ohne jede Affektation. Gräfin Suſanna trat zu ihm. Sie begann mit ihm über Muſik zu ſprechen; bei ihren erſten Worten zerſtreut, wurde er bald aufmerkſam, es entwickelte ſich ein lebhaftes Geſpräch. Vor ihrem ſonnigen Lächeln ſchwanden allmählich die dunklen Schatten aus ſeinem häßlichen Geſicht, in ſeinen Augen 106 begann es zu flackern, zu leuchten, und Gräfin Suſanne machte die Beobachtung, daß allmählich all' die hübſchen, eleganten Cavaliere neben dieſem häßlichen Knirps un⸗ bedeutend erſchienen. Ob auch der exotiſch ausſehende Attaché? Sie kannte dieſen Othello und vermied es ſeinen Blicken zu begegnen. Man überließ den Virtuoſen der Wagnerianerin und plauderte lebhaft durcheinander. Ein leiſer, erſchreckter Ausruf der Gräfin Ferneß lenkte die Aufmerkſamkeit wieder auf das muſikaliſche Paar. Das Geſpräch der Beiden, das von Muſik aus⸗ gegangen, war allmählich perſönlicher geworden. Die Gräfin hatte den Virtuoſen nach ſeinem Entwickelungs⸗ gang gefragt. Er hatte ihr ein wirres, zuſaminenhang⸗ loſes und doch intereſſantes Bild ſeines Lebens entrollt. „Ich bin ein Komet,“ ſagte er am Schluß, „ein Ding ohne Kern. Ich habe keinen Platz in der Weltordnung, ich gehe nur ab und zu, und in den Zwiſchenräumen — er ſtarrte vor ſich hin. „Wo halten Sie ſich auf in den Zwiſchenräumen: „In einem transcendentalen Daſein, wo ich unter⸗ tauche in einem großen Feuerſtrom“ — — Seine Blicke kehrten zu ihr zurück und bohrten ſich mit einem ſeltſam verzehrenden Ausdruck in ihr Antlitz. „Ja, all' mein Blut iſt Zündſtoff, ein Funke und meine Seele ſteht in Brand. Ihr Lächeln — Sie lächeln ſinnbethörend, ja, bethörend — den Thoren. Er hatte die Hand der Gräfin ergriffen und einen langen, brennenden Kuß darauf gedrückt. War das die Veranlaſſung ihres erſchreckten Ausrufs geweſen oder die drohenden Mienen des Spaniers, der plötzlich dicht 107 hinter ihrem Fauteuil auftauchte? Gräfin Suſanne erhob ſich haſtig und forderte den Virtuoſen auf, zu ſpielen. Er trat ſofort an den Flügel. Schon nach den erſten Takten begriffen die Hörer, daß der Virtuoſe wirklich ein Genie war, eine jener Seelen, die mit Dämonen ringen. Er ſpielte den Abſchiedsgeſang der Brünhilde, ging aber allmählich zu dithyrambiſchen Im⸗ proviſationen über, die in einen Strom flammender Leidenſchaft die Hörer mit fortriſſen. Etliche von den Gäſten ſprangen wie elektriſirt auf. Gräfin Suſanne ſaß dem Flügel gegenüber und ſeine brennenden Augen hafteten an ihr, während er ſpielte, ohne ſie einen Augen⸗ blick loszulaſſen. Man athmete kaum. Und das iſt das Wunderbare großer Muſik, daß ſie uns plötzlich von aller Trivialität erlöſt. Götz hatte neben Irene geſtanden, als das Spiel begann. Sie bedeutete ihn mit einer Gebärde, neben ihr Platz zu nehmen. „Wunderbar — wunderbar, flüſterte ſie einige Male. „Nein,“ antwortete Götz, „der Menſch thut einem Gewalt an. Ich will Wagner, ich will nicht Herrn Iſaak hören, er ſpielt zudringlich.“ Bald verſtummte aber auch ſein Spott, und wie die Anderen verfiel er dem Zauber dieſer Weltſprache der Poeſie. Mechaniſch war er aufgeſtanden und unwillkürlich näherte er ſich dem Fauteuil, in den Lis ſich geſchmiegt hatte, mit ge⸗ ſchloſſenen Augen, in traumſeliger Verſunkenheit. Sie ſchien ſeine Nähe zu fühlen. Ohne die Augen zu öffnen, wandte ſie ihre Geſtalt ihm zu. An jener Stelle 108 aber, wo Brünhilde in den Flammenruf voll tödtlicher Leidenſchaft ausbricht: „Starke Scheite ſchichtet mir dort, ſchlug ſie voll die Augen auf, und ihre und Götzes Blicke begegneten ſich in demſelben Ausdruck ſeligtrunkenen Schmerzes, und es war, als könne es nicht anders ſein. Die höchſt geſpannte Empfindung weiß nichts von Scheu und Zurückhaltung. Die Seele, aller Verkleidung bar, ſteht da im Feierkleide der Wahrheit. Gräfin Suſanne konnte auf die Dauer die Blicke und die Muſik des Virtuoſen, beide wie in Feuer ge⸗ taucht, nicht ertragen. Sie trat erſt allmählich und leiſe hinter den Flügel und entfernte ſich dann geräuſchlos. So ſchnell wie möglich ließ ſie ſich im Vorzimmer den Pelz umwerfen, winkte abwehrend und kühl dem Attaché, der ihr gefolgt war und fuhr davon mit einem un⸗ heimlichen Schreck im Herzen, halb Triumph, halb Furcht. Als der Virtuoſe ſie nicht mehr ſah, ſchauerte er in ſich zuſammen; er ſpielte noch einige Takte, dann brach er plötzlich ſeine Improviſationen mit einer ſchrillen Diſſonanz ab. Er blickte verwirrt um ſich, als könne er ſich auf irgend etwas nicht beſinnen, ſtammelte ein paar unverſtändliche Worte, machte eine verlorene Verbeugung und war fort, ehe die Wirthin ihm noch ein Wort des Dankes oder des Abſchieds ſagen konnte. Man war einigermaßen verſtört. Das iſt in einer Geſellſchaft das Unzweckmäßige der Muſik, wenn ſie be⸗ deutend iſt: man ſcheut ſich, unmittelbar darauf in die Niederungen platter Converſationen herunterzuſteigen, und doch reichen die geiſtigen Mittel der Leute ſelten 109 aus, ſich länger als eine kurze Spanne Zeit auf der Höhe poetiſcher Exaltation zu erhalten. So war es auch hier. Verſchiedene Anläufe, den unterbrochenen Geſellſchaftsklatſch wieder aufzunehmen, fanden keine Fortſetzung. Zwar erkundigte ſich die Eichborn im Intereſſe ihrer kleinen Töchter, wieviel Honorar Herr Iſaak wohl für den Unterricht nähme? „Eine Mark für die Stunde“, hatte Clemens ernſt⸗ haft geantwortet. „Das iſt aber billig“, hatte ſie erfreut ausgerufen. Aber auch dieſe Naivität hatte nur einen vorüber⸗ gehenden Erfolg. Man trennte ſich. Frau Adda war mit dem Erfolg ihres Thees nur halb zufrieden. Sie beſchloß den Virtuoſen nicht wieder einzuladen. Das verbot ſich übrigens von ſelbſt. Acht Tage ſpäter las ſie in der Zeitung, daß der geniale Virtuoſe, Emanuel Iſaak, abermals einer Heilanſtalt für Nervenkranke über⸗ geben worden ſei. Gräfin Suſanne zweifelte nicht, daß ſie die Veranlaſſung dieſes Unglücks ſei. Die brennenden Augen des jungen Pianiſten verfolgten ſie, der verliebte junge Spanier wurde deſſen gewahr. Mit Lis hatte Götz während des Nachmittags nur wenige Worte gewechſelt. Und doch hatte dieſes un⸗ geſtillte Verlangen, miteinander zu ſprechen, dieſe flammende Muſik, in der ſich ihre Seelen begegneten, ſie mehr einander genähert, als die längſten Unter⸗ haltungen es hätten thun können. Götz überließ ſich willig dem Gefühl wachſender Neigung. Heloiſe war zugleich eine glänzende Partie. Sie beſaß alles, was ein junger Mann in ſeiner Poſition nur wünſchen konnte. 110 Beim Abſchied, als Lis und Irene zuſammen⸗ ſtanden, hatte er die jungen Mädchen gefragt, ob ſie auf dem neuen See Schlittſchuh liefen. Als ſie bejahten, ſprach er die Hoffnung aus, ſie in den nächſten Tagen dort zu treffen. Auf der Treppe deutete Irene auf Götz, der vor ihnen herging, und flüſterte Lis zu: „Er hat ſich kürz⸗ lich einen Korb geholt, wo, ſage ich nicht“ — ihr ſelbſtbewußtes Lächeln ließ keinen Zweifel über die Korbſpenderin — „hüte Dich vor einer Verlobung aus Depit.“ Die beiden Comteſſen, von einem Diener und dem halberwachſenen Bruder Irenens begleitet, beſuchten jetzt täglich die Eisbahn auf dem neuen See, wo ſie Götz trafen, und wo ſich zwiſchen zwei bis fünf Uhr die vor⸗ nehme Welt Berlins Rendezvous gab. Götz lief abwechſelnd mit den beiden jungen Mädchen. Lis dachte zuweilen an das, was Irene ihr von Götz geſagt hatte. Sie glaubte nicht recht daran, und doch hatte die Einflüſterung nicht ganz ihren Zweck verfehlt. Ihre Haltung, Götz gegenüber, blieb reſervirter, als es ſonſt der Fall geweſen wäre. Der köſtliche friſche Eislauf indeſſen erzeugte ein ſolches Vollgefühl von Kraft und Geſundheit, daß die Jugendluſt die Schranken der ſelbſt gezogenen Reſerve bald durchbrach. Längere Unterhaltungen konnte man bei dem raſchen Laufen nicht führen, nur ab und zu eine Bemerkung, Zurufe, Lachen; aber man glitt Hand in Hand unter den klingenden Märſchen der Militärkapelle über die große, gleißende, glatte Fläche, die weiß ſilbern im 111 Sonnenlicht aufblitzte, vorbei an den Zuſchauern, die die Ufer dicht beſetzt hielten. Die friſche Röthe auf den Geſichtern der jungen Damen, ihre graziöſen, pelzbe⸗ ſetzten Coſtüme, die wehenden, bunten Fahnen, es war ein Bild fröhlichen, herzerfriſchenden Treibens. Irene war eine der beſten Läuferinnen. Lis verſtand keine Kunſtſtücke, ſie war ſogar ziemlich unſicher auf dem Eiſe, und die Sorgfalt, mit der Götz ſie ſchützte vor dem Hinfallen, vor dem Zuſammenſtoß mit anderen Laufenden, war für Beide eine heimliche Luſt. Seine Kennerblicke folgten aber auch mit Vergnügen den Schlangenwindungen Irenes, die in der Kunſt des Holländerns mit Gräfin Aglaya wetteiferte. Gräfin Holm war eigentlich nach hergebrachter, und beſonders nach Fran von Währingers Schätzung, zu alt für ſolche Luſtbarkeit. „Ach was Unſinn!“ ſagte ſie, „ſo lange ich noch im Stande bin mich zu verlieben, werde ich wohl auch Schlittſchuhlaufen dürfen. Die Beine müſſen Schritt halten mit dem Herzen. Ich pfeife auf ſolche Vor⸗ urtheile, wie Gräfin Charlotte ſagen würde.“ — Wenn Jemand in dieſen Kreiſen den Drang fühlte, ſich derb auszudrücken, ſo that er es meiſtens mit dem Vorbehalt, „wie Gräfin Charlotte ſagen würde.“ Jahrhunderte lang, meinte Aglaya, habe es ge⸗ dauert, bis Frauen überhaupt auf's Eis durften, ob es etwa wieder Jahrhunderte dauern ſollte, bis zur Auf⸗ hebung der Altersſperre? Greiſe mit ſilberweißen Bärten bewundere man auf dem Eiſe und zu Pferde, und Frauen, die noch nicht einmal in der Lage ſeien, ſich die Haare färben zu müſſen, verlache man. 112 Merkwürdigerweiſe brach die originelle Gräfin nur mit ſolchen Vorurtheilen, die ihr Vergnügen ſtörten. In dieſem Fall gab ihr ſelbſt die etwas prüde Diotima recht, ſie hielt das Schlittſchuhlaufen für durch⸗ aus rein, ſo rein, daß ſelbſt eine Nonne es ausüben könne; nur widerſprach die raſche Bewegung in den weiten Kleidern ihrem äſthetiſchen Gefühl, ſie enthielt ſich deshalb des Laufens, und ließ ſich in einem Schlitten über die Eisfläche fahren. Die arme Diotima erreichte damit nichts, als daß man das größte Mißtrauen in die elegante Form ihrer Beine ſetzte. Ja, man ſchmiedete ſogar ein Complott mit dem Spiritiſten, der das Eis, wie damals den Bazar, unſicher machte, indem er von Zeit zu Zeit einer holländernden Dame in die Schlitt⸗ ſchuhe fiel, und ihr eine Geiſterphotographie überreichte, auf der ein weißer Fleck oder ein crémefarbener Dunſt hinter der photographirten Perſon, den Beweis liefern ſollte, daß ein unſichtbarer Zweiter — der Geiſt nämlich — während des Photographirens mit dem Photographirten Huckepack ſpielte. Dieſer ſtruppige Baron nun ſollte, mit oder ohne Hülfe der spirits, Diotimas Schlitten umwerfen, wobei ſich dann aller Wahrſcheinlichkeit nach die Beine der Dichterin manifeſtiren würden. Der Spiritiſt wies aber das Anſinnen, mit dem Bemerken, daß ſeine Geiſter keine Kobolde ſeien, entrüſtet zurück. Eine Gruppe von Bekannten ſtand zuſammen, als Lis und Götz ſich zu ihnen geſellten, um einen Augen⸗ blick auszuruhen. 113 8 „Wie ſchön iſt das Laufen,“ ſagte Lis tief auf⸗ athmend, „ich habe immer das Gefühl, als hätte ich Flügel. Gräfin Aglaya, die eben mit dem jüngſten Lieutenant vorbeiſchnurrte, hörte Heloiſes Worte und rief, ihren Lauf hemmend: „Ja Flügel, aber Gott ſei Dank, Flügel an den Füßen. Säßen ſie an der Schulter, ſo wären wir Engel, und ich könnte in dieſem Zuſtand die Währinger mit meinem Holländern nicht blaß vor Neid machen.“ „Das Schönſte bei dieſer pfeilſchnellen Bewegung, ſagte Götz zu Lis, indem ſie weiterliefen, „iſt, daß wir dabei ganz auf eigene Kraft geſtellt ſind. Zu Pferde, auf der Eiſenbahn verhalten wir uns mehr oder weniger paſſiv. Blicken Sie auf die Zuſchauer Lis! ſieht es nicht aus, als kröchen ſie langſam und trübſelig dahin: Und weiter flogen ſie, ſchneller als zuvor, unter den letzten fahlen Sonnenſtrahlen, die matt über das Eis huſchten, während die letzten Töne des Marſches hinter ihnen verhallten. In dem Häuschen auf dem Eiſe, das zur Aufbewahrung der Geräthe diente, wurde eine Lampe angezündet; wie ein Stern glänzte das Licht hinaus über die Fläche. Sie liefen lange lautlos, Hand in Hand, ſie liefen bis an den entfernteſten Saum der Eisbahn, wo es einſam war. Sie ſahen in der Ferne Irene mit ihrem Bruder, die ſie ſuchten, und Eines that vor dem Anderen, als bemerkten ſie die Suchenden nicht. Den Rückweg pflegten ſie zu Fuß zurückzulegen. An einem beſonders ſchönen Nachmittag waren die jungen Mädchen im Begriff die Eisbahn zu verlaſſen. Heloiſe hatte die Schlittſchuhe bereits abgeſchnallt und wartete 114 auf Irene, als ein Cavalier aus ihren Kreiſen Irene bat, nur noch ein einziges Mal zu holländern. Sie konnte dem Verlangen zu glänzend nicht widerſtehen. „Aber ich kann nicht auf Dich warten,“ wandte Lis ein, „es iſt zu kalt ohne Schlittſchuhe. „Geh nur mit Götz voraus, ich hole Dich mit meinem Bruder gleich ein.“ Sie gingen voraus, es war ihnen zu Muthe, wie Kindern, die der Aufſicht entronnen ſind. Der Weg, den ſie für die Rückkehr zu wählen pflegten, war um dieſe Zeit einſam. Sie gingen langſam und ſchweigend neben einander durch die weiße Allee, eine Allee, die ihnen ſonſt ſo vertraut war, und die jetzt in ihrer Ver⸗ ſchneitheit ganz fremd und wildnißartig erſchien In Beiden pulſirte daſſelbe friſche, erwartungsvolle Herz. Er blickte in ihr Antlitz mit den feinen, feſtgeſchloſſenen Lippen und dem ſüßen Lächeln um die Mundwinkel, das jetzt in Frohſinn leuchtete. Dieſe weiße Wildniß war eine Welt für ſich. Ueber die blinkenden Teiche neigten ſich die weißen Zweige der Laubbäume, deren Formen feinſte Filigranarbeit ſchienen. Die Zweige der Tannen, ſchwer von Schnee, ſtreckten ſich wie breite, weiße Hände ihnen entgegen. Der Himmel wirkte wie ein Reflex des Schnees, nur wenig dunkler war er. Die Monotonie dieſer Landſchaft war von unbeſchreib⸗ licher Feinheit und Zartheit. Und ſo zart, ſo keuſch und rein wie dieſe Landſchaft, war ihre Neigung zu Götz. „Ich begreife eigentlich nicht“, ſagte Lis, „warunt man ſo oft Schneeflächen mit einem Grabtuch vergleicht. Dieſe lichte Reinheit und Unberührtheit hat doch gar 8* 115 nichts Schwermüthiges, dabei kommen einem gewiß zu allerletzt Selbſtmordgedanken. Es iſt eine Landſchaft wie vor Erſchaffung aller Dinge.“ „Ja“, erwiderte Götz, „weiß iſt die Farbe der Ein⸗ ſamkeit, des Nichtſeins, und doch giebt es eine Stimmung, wo man ſelbſt am Eispol ſein Daſein verdoppelt fühlt, wentt — Er hielt inne, ſie öffnete ihren Pelzkragen, ihr war zu warm, das Lächeln um die Mundwinkel war ſüßer als zuvor. Für einen der nächſten Tage war eine Schlitten⸗ partie verabredet worden. „Lis, wollen Sie meine Dame auf der Fahrt ſein³, fragte er unmotivirt leiſe. Sie nickte. „Wen ſoll ich ſonſt noch auffordern: „Adda.“ Irene mit dem Bruder hatte ſie jetzt eingeholt. Sie war ganz athemlos. Lis lachte darüber, auch darüber, daß ihr der Muff in den Schnee fiel. Irene ſah ſie mißtrauiſch an. „Wovon habt Ihr geſprochen: „Daß Sie die beſte Schlittſchuhläuferin ſind, ſo weit der neue See reicht. Sie lächelte befriedigt. Lis machte Sie auf das reizvolle Landſchaftsbild aufmerkſam, das der Thier⸗ garten im Schnee bot. „Ich habe für Landſchaft keinen Sinn, wenigſtens vorläufig noch nicht; vielleicht ſtellt er ſich mit dem Alter ein. 116 „Oder auch bei einer anderen Gelegenheit“, meinte Götz. „Ein Freund von mir, ein Berliner, der ſich kürzlich verlobt hat, behauptet, erſt ſeit dem Tage ſeiner Verlobung Berlin kennen gelernt zu haben; es wäre ihm geweſen, als habe er plötzlich einen neuen Sinn gewonnen.“ Sie waren unter die Linden gekommen. „Wenn er jetzt z. B.“ fuhr Götz fort, „hier unter den Linden mit ſeiner Braut ſpazierenginge, er würde entzückt ſein. „Ilſe“, würde er ausrufen“ — — „Alle Mädchen, die poeſievoll geliebt werden, ſcheinen augenblicklich Ilſe zu heißen“, warf Irene ein. „Manchmal heißen ſie auch anders“, erwiderte Götz. Er hatte ſich bei den letzten Worten, in einem Gefühl zarter Diskretion, Irene zugewandt und fuhr nun auch fort, mehr zu Irene als zu Lis zu ſprechen. Alſo, „Ilſe“, würde er ſagen, „ſieh dies zarte bleu mourant des Himmels und die darüber hin⸗ gehauchten roſigen Schleier. Sieh das ſanfte Erglühen der Fenſter auf der Nordſeite, die feine Zeichnung der kahlen Zweige, die in das roſige Licht hineinragen; das iſt keine Farbenpracht wie im Süden, aber vornehm nordiſch iſt dieſes zartgetönte Licht. Sieh, ſieh wie die Viktoria mit dem Viergeſpann frei im Roſenäther dahin⸗ ſchwebt, voll ſiegender Kraft und doch in mild ver⸗ ſöhnender Schönheit. Und nun Ilſe, dreh Dich um! Wie wirkt das Reiterbild Friedrichs des Großen? wunderbar, nicht? Es ſcheint zu ſteigen, zu ſteigen, als wäre es beſchwingt, phantaſtiſch groß und leicht, und er reitet gerade in die roſigen Wolken hinein, ein Ritt 117 nach Walhalla!“ „Von ſolchen Ritten hatte mein Freund früher keine Ahnung“ — — Er ſchwieg, betroffen von dem leuchtenden Blick Irenens, die ſich augenſcheinlich mit der imaginären Ilſe identifizirte. „Ich glaube, nicht bloß auf die Natur“, ſagte Lis ſchüchtern, „auch wohl auf Menſchen erſtreckt ſich ſolch neugewonnener Sinn; man ſieht überall mehr Licht, weniger Schatten“ — — Sie hielt erröthend inne. „Woher weiſt Du denn das?“ fuhr Irene auf ſie los, etwa auch eine Freundin? Lis, verwirrt, blieb ihr die Antwort ſchuldig. Sie waren eben in der Behrenſtraße vor Irenens Haus an⸗ gelangt. Götz verabſchiedete ſich. Die Schlittenpartie, die man auf der Eisbahn verab⸗ redet hatte, kam zu Stande. Der Rendezvous⸗Ort für die Schlitten war das Ronald⸗Büren'ſche Palais am Königs⸗ platz, obgleich Stella der Trauer wegen ihre Mitwirkung verſagt hatte. Der Tag war wundervoll. Lichter Sonnen⸗ ſchein. Schnecatome, die wie ein Glitzern in der Luft er⸗ ſchienen, tanzten durcheinander. Man hatte ſich in Pracht der Schlittendecken überboten. Die ganze Zoologie war mit ihren Raubthieren vertreten. Der weiße ſibiriſche Bär ſuchte den ſchwarzen Steppenbären zu ſchlagen. Seltene Löwen⸗ und Leopardenexemplare ſperrten ihre ungefähr⸗ lichen Rachen auf. Nur Gräfin Holm hatte die Felle, als zu gebräuchlich bei Schlittenfahrten, verworfen und eine Decke aus Pfauenfedern gewählt, die blitzten nun auf wie Rieſenedelſteine in dem blendenden Sonnenlicht. Sie liebte die Sonne im Winter, die Gräfin Holm, weil 118 ſie in dieſer Jahreszeit beinahe eine Rarität iſt, während ſie die Sonne im Sommer, wo ſie zur Tagesordnung gehört, deteſtirte und abſperrte. Die roth⸗ und blau⸗ und weißgeſtreiften oder purpurnen Behänge blähten ſich luftballonartig über den wiehernden, federgeſchmückten Pferden, als man unter dem melodiſchen Schlittengeläute, und dem noch melodiſcheren Beifallsgemurmel des umſtehenden Publi⸗ kums, das Zeichen zur Abfahrt gab. Unter den Theil⸗ nehmern befand ſich auch der Fürſt Andreas, der Frau von Währinger fuhr. Die friſche Kälte gab Allen ein Gefühl unbeſchreib⸗ lichen Wohlſeins, natürlich unter Pelzen und Schleiern. Lis konnte ihre Verſtimmung nicht verbergen, als ſie erfuhr, daß Götz, nicht wie verabredet worden war, mit ihr und Frau Adda, ſondern mit ihr und Irene fahren würde. Ein feines Gefühl hielt Götz zurück, Irene als die Urheberin dieſes Arrangements zu ver⸗ rathen. Lis würde nicht zugegeben haben, daß ſie eifer⸗ ſüchtig war, ſie war es aber doch. Ihre ſchlechte Laune theilte ſich dem Fürſten mit. Irene beſchloß die günſtige Chance dieſer Verſtimmungen für ſich auszubeuten, und entwickelte einen ſo drolligen Uebermuth, daß Götz, der Anfangs nur aus Höflichkeit ihr antwortete, allmählich ſeinen Mißmuth aufgab, und unbefangen auf ihre Schelmereien einging. Lis hätte nun gern in den fröh⸗ lichen Ton miteingeſtimmt, aber ſie fand keinen Ueber⸗ gang, und ihre Stimmung wurde immer düſterer. Sie litt unter der guten Laune der Beiden. Das luſtige Schellengeklingel, das Glitzern des Schnees, die ganze 119 helle, Frohſinn athmende Scenerie thaten ihr weh. Sie fror, und die Fahrt dauerte ſo lange, ewig lange. ſtellte man einen Imbiß. In der Förſterei, die das Ziel der Fahrt war, be⸗ So oft Götz ſich Lis zu nähern verſuchte, wandte ſie ſich gefliſſentlich cinem Anderen zu, ſo daß er ſchließ⸗ lich, ernſthaft verletzt, ſeine Aufmerkſamkeit zwiſchen Adda und Irene theilte. Die ganze Geſellſchaft chatte ſich vorgenommen, einmal auf plebejiſch kreuzfidel zu ſein, wie ſich's am Buſen der Natur, ſelbſt wenn er hartgefroren iſt, ſchickt. Gräfin Holm beſann ſich auf irgend eine Excentricität — vergebens, und ſie ſchob dieſe Unfruchtbarkeit ihrer Phantaſie auf ihre rothgefrorene Naſenſpitze. In Er⸗ mangelung eines beſſeren Einfalls ſang ſie zu einem kleinen Leierkaſten, einem Spielzeng der Förſterkinder, irgend einen Berliner Gaſſenhauer — falſch. Auch Frau von Währingers Flottheit ebbte. Es ſcheint, daß die Geburt gewagter bon mots und geiſtreicher Apercu's nur unter Beihülfe türkiſcher Teppiche, kokett drapirter Chaiſelongues, Gobelins und Kaminfener von ſtatten geht, vor weißen Mullgardinen aber, lithographirten Kaiſern und kienenen Kommoden mit gehäkelten Decken, verſagt. Und vor einem Tiſch mit ſolchem Imbiß! fingerdicke Butterſchnitten mit Schinken, harte Eier, Käſe. und — Kornſchnaps. „Was kann da ſein!“ rief Gräfin Aglaya, „her mit den Stullen! wie Gräfin Charlotte ſagen würde. Luſtig machte man ſich über den Imbiß her. Die Damen und Herren biſſen in die Butterbröte, als leiſteten 120 ſie etwas ganz Abnormes, ſehr Intereſſantes und höchſt Abenteuerliches, und um das Werk zu krönen, beſchloſſen ſie das Mahl mit einem kräftigen Schluck aus der — Schnapspulle — wie Gräfin Charlotte ſagen würde. Einige der Flotteſten nahmen dabei ſogar die Flaſche vor den Mund, wohl in der Meinung, damit den Ge⸗ bräuchen plebejiſcher Kreiſe nahe zu kommen. Nur Heloiſe, die ſich noch hochmüthiger als ſonſt verhielt, verſchmähte den Imbiß, und nahm nur von den mitge⸗ brachten Bisquits und dem Wein. Nach der Mahlzeit griff eine harmloſe, ganz den „Stullen“ entſprechende Luſtigkeit Platz. Man tanzte zu der Muſik des Leier⸗ kaſtens. Gräfin Aglaya hatte doch ſchließlich noch etwas Originelles ausgedüftelt, indem ſie aus dem Nebenzimmer mit der langen Pfeife des Förſters kam, aus der ſie ſchmauchte. Aus demſelben Nebenzimmer kam auch die Baronin Eichborn, glückſtrahlend, weil ſie mit der Förſterin eine billige Butterlieferung verabredet hatte. Die harmloſe Stimmung war bald ſo weit vorge⸗ ſchritten, daß der exotiſche Attaché, ſobald er Miene machte eine ſeiner gefährlichen Anekdoten zu erzählen, hinter den ſchwarzen Kachelofen geſperrt wurde, wo ihn Gräfin Charlotte bewachen mußte, bis der Anfall vorüber war. Das Allermerkwürdigſte aber war, daß Frau von Währinger den Baron Eichborn, als er ihr den Hof machen wollte, in ſeine Schranken wies, welcher Prozedur die unverfrorne Gräfin noch einen kräftigen Nachdruck verlieh, indem ſie ihm einen Schwerenöther aufbrummte, der, anſtatt die Cour zu ſchneiden, lieber ſeinen ſechs Würmern die Näschen putzen ſollte. 121 Glücklicherweiſe fuhren die Schlitten zur rechten Zeit vor, ehe die arkadiſche Stimmung Zeit hatte, zu verfliegen. Ganz unerwartet lud Fürſt Andreas Gottersberg Irene ein, die Rückfahrt mit ihm zu machen. Irene wollte ablehnen, als ein Blick ihrer Mutter ſie eines Beſſeren belehrte. Sie mußte ihre ganze Selbſt⸗ beherrſchung aufbieten, um ihre Enttäuſchung nicht zu verrathen. Hätte ſie geahnt, daß dieſes Arrangement ein abgekartetes Spiel zwiſchen Vater und Sohn war, um dem Sohne Gelegenheit zu geben, mit Heloiſe allein zu bleiben, ſie hätte den Thränen, die ihr in den Augen ſtanden, ſchwerlich gebieten können. Und hätte ſie gewußt, daß der alte Fürſt damit zugleich einem eigenen heimlichen Wunſch nachkam, es würde ſie wenig getröſtet haben. Noch war ja Polen nicht verloren, und Don Philipp war vorläufig nur der Teufel, den ihre Mutter an die Wand gemalt. Des Fürſten Schlitten war der erſte, der die Förſterei verließ, ohne daß Heloiſe es bemerkte. Als eine der Letzten nahm ſie ihren früheren Sitz wieder ein, ſchon hielt Götz die Zügel in den Händen, als ſie haſtig und ängſtlich nach Irene fragte. Götz wurde roth. „Ich werde ſie holen,“ ſagte er und kehrte in das Förſterhäuschen zurück. Inzwiſchen fuhren alle übrigen Schlitten davon. Götz blieb merkmürdig lange in dem Häuschen, und als er endlich heraus kam, theilte er Lis mit, daß Irene längſt fort ſei, er wiſſe nicht, mit wem. Es blieb dem jungen Mädchen keine Wahl, fie mußte mit Götz allein 122 fahren. Von den anderen Schlitten war keiner mehr in Sicht. Götz ließ anfangs ſein Gefährt in raſender Schnellig⸗ keit dahinfliegen, allmählich aber fuhr er langſamer. Heloiſe glaubte in ſeinen erregten Zügen Enttäuſchung über Irenes Verſchwinden zu leſen. Sie faßt einen Entſchluß, einen unerſchütterlichen, wie ſie meint; ſie will dieſes Hin⸗ und Herneigen nicht länger ertragen, ſie iſt zu ſtolz ſich dieſem Manne gleichſam zur Auswahl zu ſtellen. Die Dämmerung bricht herein. Auf der weiten grauen Fläche, über die ſie fahren, herrſcht lautloſe Stille, ſo lautlos, daß ihr iſt, als müſſe man das Klopfen ihres Herzens hören; beſchwichtigend preßt ſie unter dem Pelz die Hand auf die Bruſt und rückt von Götz fort, ganz in die äußerſte Ecke des Sitzes. Er will mit ihr reden. Sie thut, als wenn ſie ängſtlich wäre und bittet ihn, auf die Pferde zu achten. Wieder läßt er die Pferde eine Weile ausgreifen und wieder verlangſamt er allmählich ihren Lauf, und von Neuem beginnt er mit ihr zu reden. „Finden Sie nicht Lis, daß ſolch eine winterliche Dämmerſtunde auf freiem Felde noch viel geheimniß⸗ webender und einſamer iſt, als Abenddämmerung im Sommer?“ Sie ſchweigt. „Iſt es nicht, als wären wir Beide ganz allein auf der Welt, Lis?“ Ihre Kälte ſchüchtert ihn ein, er weiß nicht, wie er ſagen ſoll, was zu ſagen er feſt ent⸗ ſchloſſen iſt. „Allein in der Welt!“ antwortet ſie faſt wider ihren Willen, „wir Beide! ohne Irene! das wäre ja ſchrecklich! 123 „Warum ſpotten Sie Lis? Sie ſind heute ſo anders als ſonſt, ſo unfreundlich, ſo böſe“ — — „Ich böſe? bewahre — wirklich, ich bin nicht un⸗ freundlich. Es iſt nur der Contraſt zwiſchen mir und der reizend luſtigen, warmherzigen Irene.“ Unwillkürlich brach ihre Eiferſucht durch, die größer war als ihr Stolz. „Sie wollen mich durchaus verletzen Heloiſe, und ich hatte mich auf dieſe Schlittenfahrt gefreut, gefreut wie ein Kind auf Weihnachten, wo es die Erfüllung ſeiner geheimſten und kühnſten Wünſche hofft“ — —— „Die Weihnachtsbäume wären da,“ ſagte ſie, auf die kurzen Tannen zeigend, mit denen der Weg be⸗ ſtanden war. „Nein, ich habe mich mehr als ein Kind auf Weihnachten gefreut“, „kein Kind hat einen Wunſch, von dem ſein ganzes Glück abhängt — alles -—- alles. Er hatte ſich ganz zu ihr hingeneigt, die Zügel loſe in der Hand, die Pferde ſtanden faſt ſtill. Sie war ver⸗ wirrt, erſchreckt, voll Trotz. „Die Pferde, achten Sie auf die Pferde!“ ruft ſie ängſtlich. Ein blinder Zorn ergreift ihn. Er läßt den Pferden die Zügel ſchießen, daß ſie nur ſo dahinraſen. Der leichte Schlitten wird hin⸗ und hergeſchlendert, jetzt gegen einen Prellſtein, er neigt ſich zur Seite, er ver⸗ ſinkt im Schnee, die Pferde ſtehen ſchnaubend ſtill; der Schlitten iſt umgeſtürzt, Lis liegt am Boden. In einem Augenblick iſt Götz an ihrer Seite. Er zittert vor Auf⸗ regung. „Lis, ſind Sie verletzt?“ Er will ihr auf⸗ helfen, ſie wehrt ihn ab, ſie will allein aufſtehen, ſie iſt 124 aber zu feſt in ihren Pelz gewickelt, ſie kommt nicht da⸗ mit zu Stande. Wie er ſie in ſeine Arme faßt, ſieht er einen Blutfleck auf dem weißen Schnee. — „Sie ſind verwundet?“ Todesangſt iſt in ſeiner Stimme. „Bewahre, irgendwo eine kleine Schramme, mir fehlt nichts.“ Sie hat ſich aus ſeinen Armen freigemacht und ſteht, mit einem frohen Ausdruck im Geſicht auf dem hartgefrorenen Boden. „Richten Sie nur den Schlitten wieder auf, ſonſt vergletſchern wir hier Beide. Er verſucht den Schlitten aufzurichten, ſieht aber ſofort, daß ſeine Kraft dazu nicht im Entfernteſten aus⸗ reicht. Er koppelt die Pferde ab. Daß Leute des Weges kommen werden, ihnen zu helfen, iſt unwahr⸗ ſcheinlich. In geringer Entfernung ſehen ſie ein Licht ſchimmern. Das Häuschen, aus dem es kommt, haben ſie ſchon auf der Hinfahrt bemerkt; es liegt ganz in der Nähe eines Dörfchens. Dahin machen ſie ſich auf. Sie kommen nur langſam durch den Schnee vorwärts, um ſo langſamer, da ſie ſich von Götz nicht will führen laſſen. Endlich erreichen ſie doch das Ziel. Sie folgen dem Lichtſchein, der ſie in den Küchenraum des Häuschens führt. Eine Frau hantirt am Herde. Sie iſt allein in der Behauſung. Als ſie hört, um was es ſich handelt, und daß etwas dabei zu verdienen iſt, macht ſie ſich ſogleich auf den Weg, um Leute aus dem Dorf herbeizuholen, die den Schlitten aufrichten können. Heloiſe empfiehlt ihr Eilc. Es war ein elender Raum, in dem ſie ſich befanden. Schadhafte Eiſen⸗ und Blech⸗ geräthe ſtanden auf Küchenbrettern, und hoben ſich hell von rauchgeſchwärzten Wänden ab. Ein Sack mit 125 Kartoffeln, eine Kiſte voll Sand, ein Krug ohne Henkel, ein paar Holzſchemel ſtehen auf dem rothbraunen, bröckeligen Ziegelſteinboden umher. Lis zieht ihren Pelz feſt um die Schulter, als wolle ſie jede Berührung mit der elenden Umgebung abwehren. Götz ergreift einen Bündel Reiſig, das neben dem Herd liegt und wirft es in das faſt verglimmende Feuer. Eine breite Flamme praſſelt auf. In roſiger Vergoldung erglänzt Heloiſes bräunlich blondes Haar, ihr zartes Geſicht. Sie hat die koſtbare Agraffe an dem Pelz geöffnet, die weißen Hände, von denen ſie die naſſen Handſchuhe gezogen, hält ſie gegen das Feuer, um ſie zu wärmen. Der Contraſt ihrer Erſcheinung mit dem elenden Gerümpel um ſie her iſt von bezaubernder Wirkung, niemals hat ihn der vor⸗ nehme Liebreiz ihrer Erſcheinung ſo tief getroffen. Sie fühlt ſeine exatiſchen Blicke, und wagt nicht ihn anzu⸗ ſehen, unter der herzbeklemmenden Ahnung von dem, was ſich nun begeben wird erzittert ſie. „Lis! Ihr Haupt ſenkt ſich tiefer. „Sie wiſſen es ja, Lis,“ — — die große inner⸗ Bewegung raubt ihm einen Augenblick die Sprache. „Was?“ Leiſe und unſicher wie ein Hauch kommt es von ihren Lippen. „Daß ich Dich liebe, Lis, wahr und ſtark, heut und ewig.“ Sie erhebt auch jetzt die Augen nicht zu ihm; nur zu hören iſt ein ſo intenſives Glück. Er nimmt ihre beiden Hände. „Lis, und Du — Du liebſt mich auch! 126 Jetzt blickt ſie doch auf, und leuchtenden Angeſichts ſagt ſie feſt und freudig: „Ja Götz, ich liebe Dich.“ So blieben ſie eine Weile, Aug' in Auge, Hand in Hand, ohne zu ſprechen, ganz durchdrungen davon, daß ſie nun für alle Zeit eins waren in reiner, ſtarker Liebe. Er zieht ſie allmählich an ſich, und ſein Mund ſucht den ihren. Sanft wendet ſie den Kopf fort und ſeine Lippen berühren nur ihre Stirn. Sie hat plötzlich, ganz unvermittelt an Gottfried Hinze denken müſſen, und daß er ſie geküßt. Wie ſonderbar, daß der vergeſſene Todte zwiſchen ſie und Götz tritt. „Unſere Liebe,“ ſagt er zärtlich, „eine Roſe, — die aus dem Schnee erblüht iſt. „Wird ſie nicht erfrieren?“ lächelt Lis. „An meinem heißen Herzen?“ flüſtert er leiden⸗ ſchaftlich, „Du weißt gar nicht, wie ich Dich liebe.“ „Laß uns hinausgehen,“ ſagt ſie, „die Luft iſt hier dumpf. Langſam, leicht aneinander geſchmiegt, gehen ſie draußen vor dem Fenſter auf und ab, am Rande der weißen, ſchimmernden Fläche. Der Feuerſchein aus dem Fenſter fällt auf den Schnee und überhaucht ihn mit einem warmen, dämmernden Roth. Die Lichter der großen Stadt flimmern wie große, wandernde, ſuchende Sterne zu ihnen herüber. Und jetzt fängt es von Neuem an zu ſchneien, und die dichten, weißen Flocken hüllen ſie ein. Wie wunderſchön war das! Die Kälte ſpüren ſie nicht. Sie haben die Empfindung ganz allein zu ſein in der weiten Welt, und dieſes Alleinſein kommt ihnen doch ſo natürlich vor und ſo reich an geheimniß⸗ 127 voller Wonne. Sie ſprechen kaum, nur ab und zu ein leiſes Wort der Liebe und Zärtlichkeit. Wie aus einem holden Traum ſchrecken ſie empor, als der Schlitten, den die Leute aus dem Dorf inzwiſchen aufgerichtet hatten, vorfährt. Auf der Rückfahrt ſagt Lis einmal: „Und Irene: „Lis!“ antwortet er mit ſanftem Vorwurf. „Aber ſie liebt Dich. „Ja. Und darum erſchien ich Dir oft zweizüngig. Wer ſelber liebt, kann den Schmerz, die Beſchämung einer unerwiederten Liebe ermeſſen; darum ſuchte ich zu verſöhnen, zu heilen. Begreifſt Du das, Lis Sie begriff es — nicht ganz. „Und wenn Du denkſt wie ich, Lis, ſo halten wir es vor der Welt noch einige Zeit geheim, daß wir ver⸗ lobt ſind.“ „Auch Irenes wegen: „Ja. Die Vorſtellung iſt für mich verletzend, daß die Kehrſeite unſeres Glückes der Schmerz Irenes iſt. Es wird mir inzwiſchen gelingen, ſie mit ihrem Schickſal auszuſöhnen.“ Ein Unbehagen bemächtigte ſich Heloiſes. Geheimes, Unklares widerſtand ihr. Seine Rückſicht auf Irene ſchien ihr allzu zart. Sie überwand das Unbehagen, ſie wollte gegen den Geliebten nichts aufkommen laſſen. Der Schlitten hielt vor dem Palais am Königs⸗ platz. Nun drängte die Welt ſich wieder zwiſchen ſie und ihn. Ihre Ankunft im Palais zerſtreute die Unruhe, die ihr Ausbleiben veranlaßt hatte. Beſonders hatte Irene, 128 die bei der Tante auf die Nachzügler gewartet, eine maßloſe Aufregung an den Tag gelegt. Während Götz erzählte, was ihnen zugeſtoßen, blickte ſie forſchend von ihm zu Lis. Es war alſo nicht eingetroffen, was ſie gefürchtet, ſie hatten die günſtigſte aller Chancen nicht benutzt, ſich nicht verlobt. Wäre es geſchehen, aus welchem Grunde die Geheimhaltung? So liebte Götz doch wohl eine Andere — ſie lächelte in ſich hinein. — Warum aber hielt er damit hinter'm Berge? Vielleicht, um Lis zu ſchonen? die war ja offenbar bis über die Ohren in ihn verliebt. Die arme Lis! Irene überſchüttete und peinigte ſie mit oſtentativer Zärtlichkeit, und ver⸗ urſachte ihr damit die Empfindung, eine Perfidie an der Freundin begangen zu haben. Obwohl Lis mit der Geheimhaltung ihrer Ver⸗ lobung nicht einverſtanden geweſen war, empfand ſie doch allmählich den Reiz dieſes zärtlichen Geheimniſſes. Freilich vergingen oft Tage, ohne daß ſie ſich ſehen konnten. Da mildere Witterung eingetreten, kam die Eisbahn nicht mehr in Betracht. Sie begegneten ſich aber häufig in kleinen Kreiſen bei Adda und in faſt allen größeren Reunions der Ariſtokratie; zuweilen auch im Ronald⸗Büren'ſchen Palais. Gräfin Stella war ſcharfblickend genug, um des jungen Fürſten Intereſſe an Lis wahrzunehmen. Es mißfiel ihr, aber ſie war zu indolent, um energiſch dagegen anzukämpfen. Nie hatte Lis ſo viel Erfolg in der Welt gehabt als jetzt. Es war, als wäre Thau auf den klaren, kühlen Glanz ihrer Augen gefallen, der ſüße Zug um die Mundwinkel war ausgeſprochener als früher. Nur konnte ſie ſich 9 129 ſeit ihrer Verlobung nicht entſchließen decolletirt zu er⸗ ſcheinen. Götz hatte wenige Tage nach der Verlobung Lis einen Ring mit einem anffallend ſchönen Rubin ge⸗ geben. Um ihn tragen zu dürfen, bequemte ſie ſich, nicht ohne Ueberwindung, zu einer Liſt. Sie heuchelte vor ihrem Vater eine Begeiſterung für Rnbinen, und bat ihn um die Erlaubniß, einen Ring mit einem Topas, den er ihr am letzten Geburtstag geſchenkt, gegen einen Rubin umtauſchen zu dürfen. Die Erlaubniß wurde gern ertheilt, und ſie hatte nun eine kindliche, triumphirende Freude an dieſem öffentlichen Zeichen ihrer geheimen Verlobung. „Gut, daß Sie wieder da ſind“, rief Stella Clemens entgegen, als er nach achttägiger Abweſenheit in ihrem Salon erſchien. Die Einſamkeit hat mich ganz nervös gemacht.“ „Und Lis? Ihre Tochter: Sie ſchwieg einen Augenblick, dann ſagte ſie zögernd: „Töchter, ſelbſt liebevolle, haben keinen Sinn für das, was in den Seelen ihrer Mütter vorgeht, ſie begreifen in der Mutter nur die Gefühle für die Tochter, die mütterlichen, und die ſind bei den meiſten Müttern für die erwachſene Tochter — lau.“ Clemens, den die Verbannung wegen der Trauer aufgebracht hatte, ſtand mit dem Rücken gegen das Fenſter gelehnt und ſah ſie unmuthig an? „Lau — ja lau, das ſind Sie. Keine Liebe für das Kind! für wen denn? Und mich dulden Sie auch nur, weil ich für Sie ein Spiegel bin, in dem Sie 130 ſehen, ob Sie noch bezaubern können, Sie Sphynx, Undine, Meluſine, Vampyr! Welchen dieſer abgedroſchenen Romantitel ziehen Sie vor? „Die Meluſine. Ich habe nämlich ein bemerkens⸗ werthes Talent zu einer correcten, guten Gattin. In Zwiſchenräumen aber, da kommen Augenblicke, wo ich auf und davon möchte, dahin, wo es toll hergeht, wo etwas Wunderbares geſchieht, wohin man mit dem Fiſchſchwanz oder mit Flügeln kommt, hinauf zu einem Stern oder hinab in eine geheimnißvolle Tiefe! Sie ſtöberte, während ſie ſprach, mit der Feuer⸗ zange im Kamin, Funken flogen umher, der Glanz in ihren Augen ſchien ein Wiederſchein der Funken. Er nahm ihr die Feuerzange aus der Hand. „Zu viel Pedal, Stella! zu viel Pedal! All Ihr Thun, Ihr Denken iſt nichts als Sucht nach Emotionen. Ob Feſte, ob Begräbniſſe, ob Hochzeit, ob Scheidung, ob Bazar oder Religion, Alles iſt eins für ſie; woher denn dieſer ewige, unſtillbare Durſt! „Woher? ja, weiß ich's? Ich habe in meiner Jugend vielleicht einmal Gift getrunken. Man ſtirbt nicht immer an Gift, aber es hinterläßt Spuren, hinter⸗ läßt dieſen ewigen Durſt. Ja, ich liebe es, ich liebe es leidenſchaftlich, das Leben! Ich möchte zuweilen todt ſein, nur um wieder aufzuleben, und dann das Leben recht inbrünſtig zu faſſen! „Und ſind doch nur eine Dilettantin in der Kunſt zu leben. In Ihrer Seele ſieht es wie in einem römiſchen Garten aus! Unkraut und Statuen, Götter und zer⸗ brochene Säulen, die Liebesgötter aber alle verſtümmelt. 9* 131 Stella wurde gereizt. „Wie kommen Sie dazu, gerade Sie, mir gegen⸗ über immer den Mentor zu ſpielen? Kritiſire ich Sie? Mache ich Ihnen jemals Vorwürfe? Ich ſchweige ſelbſt über Ihre Vergangenheit und weiß doch“— — Sie hielt inne. „Was wiſſen Sie: „In der Hauptſache allerdings nur,“ ſagte ſie wieden ruhig und lächelnd, „daß Sie dieſelbe in den Schleier des Geheimniſſes hüllen, was die pſychologiſche Seite betrifft; ich kenne nämlich den Uebergang nicht von dem Frack mit Moiréeaufſchlägen, in dem ich Sie vor ſieben Jahren ſah, zu dem jetzigen braunen Bindfaden, an dem Sie Ihre Uhr tragen, und der doch wohl einen Trotz gegen das Univerſum ausdrücken ſoll. „Der Schleier des Geheimniſſes,“ antwortete Clemens, „hat Gründe. Wer trägt gern ſeine eigene Haut zu Markte: „Aus welcher Bemerkung ich wohl ſchließen darf, daß die Wege Ihrer Wandelung über Leichen geführt haben, Leichen moraliſcher Art, natürlich. „Wie ſcharfſinnig! Sie wiſſen“ — Er ſchwieg, als ob er überlegte, was er ihr ſagen ſolle. „Ich weiß,“ ſetzte Stella ſeine Rede fort, „daß Sie ein junger Cavallerie⸗Offizier waren, ſehr ſchneidig, das heißt, Sie brachten in einem lächerlich kurzen Zeitraum Ihr großes Vermögen durch, mußten den Dienſt quittiren, und zogen ſich auf das Gut Ihres Onkels zurück, wo unſere Bekanntſchaft ſo melodramatiſch anfing, als ich den Vorzug hatte, Sie in dem erwähnten Moiréefrack 132 init der Piſtole in der Hand am Fenſter ſtehen zu ſehen. „Ja, mit der Piſtole, zu der ich mich ſchon ein halbes Jahr früher verurtheilt hatte, als der eintretende Mangel an Credit mich weitere Schulden zu machen, verhinderte. Damals lag neben der Piſtole der Brief meines Oheims, der mich aufforderte auf ſein Gut zu kommen, wo er für meinen Unterhalt ſorgen wollte, mit anderen Worten, er bot mir ein Gnadenbrot an, nicht einmal umſonſt. Zwiſchen den Zeilen ſeines überaus höflich abgefaßten Schreibens las ich, daß er auf mich rechnete, als eine Art Hofnarr, der durch geiſtreiche Späße ihn und ſeine Gäſte zu beluſtigen habe, daß er auf mich rechnete als Vierten beim Whiſt, als Vier⸗ zehnten, wenn Dreizehn bei Tiſche waren. Nebenbei ſollte ich auch ſeinen heranwachſenden, mutterloſen Sohn und einzigen Erben in ritterlichen Künſten unterrichten. Ich ſchwankte lange zwiſchen dem Gnadenbrot und der Kugel. Endlich ließ ich das Loos entſcheiden. Es ent⸗ ſchied für das Gnadenbrot. Gut, dachte ich, die Kugel läuft dir nicht davon. Ich reiſte auf das Gut. Es ge⸗ ſtaltete ſich Alles noch viel ärger, als ich es mir vor⸗ geſtellt hatte. Ich wußte vorher nichts von der Launen⸗ haftigkeit und dem Geiz meines kränklichen Oheims, der mir nicht einmal Taſchengeld gab. Daß ich dieſes elende Leben ein volles halbes Jahr ertrug, lag an der Piſtole, die geladen neben mir auf dem Tiſche lag. Schließlich ergriff mich eine Art Neugierde, wie lange ich es aushalten würde. Mein Schmarotzerthum im Hauſe war bald für niemand ein Geheimniß: ich ſah mit kaltem Staunen, 133 wie man mich dafür ſtrafte. Die Nachbarn und Standes⸗ genoſſen behandelten mich familiär, nannten mich beim Vornamen, klopften mir auf die Schulter, riſſen Witze über mich. Die Mütter hüteten ängſtlich ihre Töchter vor meiner Annäherung. Von allen Seiten aber wurde ich mit Commiſſionen überhäuft, da ich ja ſo viel Zeit habe; und man lobte oder tadelte mich, je nachdem die Beſorgung gut oder ſchlecht ausgefallen war. Auch den herriſchen Uebermuth des Knaben, dem ich Reit⸗ und Fechtſtunde gab, hatte ich zu ertragen. Mit einem Wort, ich war der Lakai aller Welt. Das Schlimmſte waren die Dienſtboten. Nichts gleicht der Verachtung dieſer Menſchenklaſſe gegen arme Gäſte. Armuth iſt in ihren Augen etwas Schändliches. Sie widerſprachen mir nicht, wenn ich etwas von ihnen verlangte, ſie ignorirten einfach meine Wünſche und Be⸗ fehle, und ließen ſich weder in ihrer Unterhaltung noch in ihren Kaufgeſchäften ſtören, wenn ich an ihnen vorüberging. Allmählich entdeckte ich in mir die Anfänge all' der Eigenſchaften, die die Knechtſchaft mit ſich bringt: Furcht, Servilität, Mißtrauen, Tücke, Lüge, Habſucht, vor allem Habſucht. Wenn ich ſah, wie meine Standesgenoſſen das Gold mit vollen Händen ausſtreuten, befiel mich ein toller Neid und die Vorſtellung, als verſchwendeten ſie, was von rechtswegen mein ſein ſollte. Ich ſpürte zu⸗ weilen eine Art Furcht vor dem Oheim, wenn ich ſeine Gäſte nicht gut unterhalten, oder zum Reitunterricht zu ſpät gekommen, oder den Knaben hart angefahren hatte. Einmal fiel er vom Pferde, trotz meiner Vorſicht. Als 134 ich dem Vater darüber berichtete, merkte ich, daß ſich unwillkürlich mein Rücken krümmte, als ob ich einen Schlag erwartete. Und ich machte noch immer kein Ende.“ Clemens, der bis dahin geſeſſen hatte, ſtand auf; augenſcheinlich erregt, ging er einige Male im Zimmer auf und ab, und drehte dabei mechaniſch das Licht bis auf eine dunkelverhängte Lampe aus. Dann fuhr er fort, mit einem leiſen Zittern der Stimme. „Eines Tages trat ich in das Zimmer meines Oheims, um ihm irgend etwas zu berichten. Man hatte ihn eben hinausgerufen. Auf dem Tiſch lagen Haufen von Goldſtücken und Bankſcheinen. Er war wohl im Zählen geſtört worden. Das Oeffnen der Thür ver⸗ urſachte einen Luftzug, die Bankſcheine flogen im Zimmer umher. Ich ſuchte ſie zuſammen. Auf einem Schein ſah ich die Zahl: 1000. Ich fühlte, wie alles Blut aus meinem Geſicht wich, ich zitterte an allen Gliedern. Der Wind — er hätte ebenſo gut die Scheine in den Park hinauswehen können, irgendwohin, wo ſie nicht wiederzufinden waren. Ich hielt die Papiere in den Händen, ich zögerte — zögerte — war's eine Sekunde, eine Minute, ich weiß es nicht mehr — dann legte ich langſam, mit zuckenden Fingern die Scheine auf den Tiſch zurück. Dieſe eine Sekunde! ſeitdem habe ich Alles, Alles begriffen, alles Menſchliche und Un⸗ menſchliche. Der Schleier war von einer Welt gefallen, die mir bis dahin fremd war. Ich begriff den furchtbaren Zuſammenhang zwiſchen moraliſchem und materiellem Elend, ich begriff die Geneſis der Verbrechen, die große 135 Verbrüderung Aller. Ich habe über mich geweint, Stella, bitterlich, bitterlich habe ich geweint! Er ſank im dunkelſten Winkel des Gemachs in einen Fauteuil. Stella trat hinter den Fauteuil und legte ſanft ihre Hand auf ſeinen Kopf. Er griff nach der Hand und zog ſie an ſeine Bruſt. Sie fühlte, wie hoch ſein Herz ſchlug. Man hörte eine Weile keinen Laut im Zimmer. Allmählich wurde er wieder ruhig. „Samariterin!“ ſagte er innig zu Stella, dann fuhr er, wie halb zu ſich ſelber ſprechend, fort: „Und ſeltſam, nie war ich von Selbſtmordgedanken ferner ge⸗ weſen, als damals, im Gegentheil, ich hatte die Empfindung, daß dieſe eine gräßliche Sekunde geſühnt werden müſſe durch irgend etwas — irgend etwas. Mir waren ſchon in der letzten Zeit bei der Be⸗ ſorgung der Lektüre für die Umgegend, häufig national⸗ ökonomiſche und ſozialiſtiſche Bücher in die Hände ge⸗ fallen, die ich mit Intereſſe geleſen hatte. Ich warf mich jetzt mit Leidenſchaft auf das Studium ſolcher Bücher, ich echauffirte mich in einen Enthuſiasmus für das Volk hinein. Da mich das blaue Blut ſo ſchnöde im Stich gelaſſen, pflanzte ich in meinem Innern die rothe Fahne des Aufruhrs auf. Ich hatte Dantonträume, unblutige freilich, aber deſto rhetoriſchere. Ich wollte das Volk an der Quelle ſtudiren und trat in lebhaften Verkehr mit den Dorfbewohnern. Wenn ich mit ihnen ſprach — und ich that es mit ziemlicher Affektation, verſtanden wir uns wahrſcheinlich gegenſeitig nicht beſonders. Ich wollte im Dorf alle Tugenden, die unſeren Kreiſen fehlten, entdecken, und ich entdeckte ſie. Beſonders 136 intereſſirte mich die Familie eines Eiſenbahnſchaffners Selten war mir ein ſo liebevolles Einvernehmen be⸗ gegnet, wie hier zwiſchen Mann und Weib, zwiſchen Eltern und Kindern herrſchte. Ich ſah oft die Mutter, den Säugling im Arm, dem heimkehrenden Mann ent⸗ gegengehen; er nahm ihr den Säugling ab, die anderen Kinder hingen ſich an ihn — genug, hier ſchien ganz der ſchöne Inſtinkt unverfälſchter Natur zum Ausdruck zu kommen. Eines Tages aber kehrte der Vater nicht heim, ſondern wurde heimgebracht — ein Todter. Zwiſchen zwei Puffern war er zerquetſcht worden. Der Jammer der Familie war ſo herzzerreißend, daß ich nach dem Begräbniß eine Woche vergehen ließ, ehe ich mich wieder in das Häuschen wagte. Ich ſah durch's Fenſter ehe ich eintrat, und war einigermaßen erſtaunt, Multer und Kinder, ſauber gekleidet, mit großem Be⸗ hagen eſſen zu ſehen. Als die Frau mich erblickte, ſprang ſie auf und rief mir entgegen, daß nun doch der Tod ihres armen Mannes ein Glück für ſie Alle geworden wärc. Die Regierung und mein Oheim hätten ihr eine ſo große Unterſtützung bewilligt, daß ſie monat⸗ lich zehn Mark mehr hätte als bei Lebzeiten ihres Mannes, und dabei einen Mund weniger zum eſſen; darum hätken ſie auch heut', an einem Werkeltag Speck⸗ eierkuchen zu Mittag. Ich lachte der erſchrockenen Frau in's Geſicht und ſtürzte fort. Vergebens ſagte ich mir, daß dieſe Rohheit der Empfindung ja eben ein Ausfluß der materiellen Noth ſei, meine Begeiſterung war verraucht, 137 eine völlige Gleichgültigkeit bemächtigte ſich meiner, ich warf die Bücher bei Seite. Seit einiger Zeit ſchon hatte ich meinem Onkel das Lakaienthum aufgekündigt. Ich verweigerte, ſeine Gäſte zu amüſiren, dem Erben Reit⸗ unterricht zu ertheilen, ich kam nicht mehr zu den Mahl⸗ zeiten. Ich verſchloß mich in mein Zimmer. Niemand bekümmerte ſich um mich, und ich glaube, man hätte mich verhungern laſſen, wenn nicht ein Diener, der mich in meiner Glanzzeit gekannt, und meinen Trinkgeldern eine dankbare Erinnerung bewahrt hatte, mir einige Speiſereſte zukommen ließ. Als ich eines Tages bemerkte, daß meine Stiefel zerriſſen waren, und eine Ausſicht, mir neue zu kaufen, nicht vorhanden war, ſpannte ich endlich den Hahn meiner Piſtole. Ich wollte die Sonne noch einmal untergehen ſehen und trat mit der Waffe in der Hand an's Fenſter. Und da ſah ich — die Sonne auf⸗ gehen, ich ſah Sie Stella. Unſere Blicke trafen ſich. Unter dem unwillkürlichen Druck meiner Hand, bei der Erſchütterung die mein Weſen erfuhr, entlud ſich die Piſtole und verwundete mich leicht am Fuß. Die Wunde heilte in vierzehn Tagen. Noch war ich nicht ganz geneſen, als mein junger Vetter an der Diphtheritis erkrankte, und in wenigen Tagen ſtarb. Sein armer, alter Vater hat nie das Unglück ſeines Todes faſſen können. Er lief die ganzen Tage wie betäubt im Hauſe umher, er klammerte ſich an mich, er murmelte nur immer vor ſich hin, daß ſein Sohn ja nicht todt ſein könne. Er hat es nicht begriffen bis zu ſeinem eigenen Tode, der im Jahre darauf erfolgte. Ich war nicht 138 von ſeiner Seite gewichen. Sie wiſſen, daß ich ſein Erbe wurde. Hatte mich die Geringſchätzung, mit der man den verarmten Standesgenoſſen behandelte, empört, ſo er⸗ regte die Verwandlung der Geringſchätzung in ſuperlativſte Hochachtung, die von dem Todestage, nein, ſchon von der Erkrankung meines Vetters an datirte, meine grimmigſte Verachtung.“ Clemens hatte ſich bei den letzten Worten erhoben, ſeine Lippen zuckten. „So, Stella, nun kennen Sie den Uebergang von dem Frack mit den Moiréeaufſchlägen zu meiner primi⸗ tiven Uhrkette.“ Er faßte die Lehne des Fauteuil's, auf dem ſie ſaß, und fragte leiſe, nah ihrem Ohr: „Darf der Mann, der vor ſeinem Gewiſſen kaum mehr als ein Zuchthäusler iſt, wiederkommen, Stella! Sie ſchien in Gedanken verſunken und antwortete nicht gleich. „Darf ich wiederkommen? „Morgen, Clemens.“ Sie drückte ihm die Hand. Seit dieſer Beichte fühlte ſie ſich Clemens inniger verbunden als zuvor. Ja, ihm wollte ſie ihre Seele ganz erſchließen, ihm, dem verſtändnißvollſten und intelligenteſten aller Freunde, ihm, der auch gefehlt hatte. Sie erwartete ihn am nächſten Abend mit Ungeduld. Als er endlich kam, trat ſie ihm lebhaft entgegen. „Ach Clemens, jener ſchreckliche Eindruck, als ich damals, in demſelben Augenblick, wo unſere Blicke ſich trafen, den Schuß hörte und Sie taumeln ſah, er ver⸗ 139 folgt mich wieder ſeit geſtern, und ich kann das un⸗ heimliche Gefühl nicht loswerden, daß doch eines Tages“ —— — „Nie, ſie roſtet, meine Piſtole. Ich bin ent⸗ ſchloſſen mit dem Fleck auf meiner Seele ſo lange auf Erden zu wandeln, wie Sie Stella. „Ich habe darüber nachgedacht, ob es wohl ganz fleckenloſe Menſchen giebt: „Ich glaube es. Wir leſen es aus den Biographien und aus den Briefwechſeln bevorzugter Geiſter. „Gedruckt ja, aber wirklich? Wo ſind ſie denn die echten, reinen Menſchen: „Irgendwo, in einer Dachkammer, auf einem Thron, am Küchenherd. Da iſt vielleicht ein Cato, aber er hat eine krumme Naſe, die Sie abſchreckt, da iſt ein naiver, tiefſinniger Mann der Wiſſenſchaft, aber er wäſcht ſich nicht. Sie haben keine Etiquette, dieſe göttlichen Urbilder, wie ſollen wir ſie erkennen: „Es wären auf unſerem Stern doch immer nur Phänomene, eine Art Uebermenſchen, und darum hat Ihre Menſchenverachtung wirklich keine Spur von Be⸗ rechtigung. Den Menſchen verachten weil er Menſch iſt! Kindiſch! Sie verachten doch nicht die Kröte, weil ſie Gift ſpeit, das iſt doch eben ihre Beſtimmung. „Es iſt auch nicht eigentlich Weltverachtung, dieſer dumpfe Groll in mir. Daß wir ſo ganz im Finſtern tappen mit all' unſern moraliſchen Begriffen, das iſt's!“ Vernunft und Wahnſinn, Tugend und Laſter — ein unentwirrbarer Knäuel. Eine Vernunft, die ein paar Jahrzehnte zu früh auf dem Schauplatz erſcheint, wird 140 als Wahnſinn hinter Schloß und Riegel gebracht. Und ich ſelbſt, ich habe ſo viel Vernunft, ſo viel, und ich handle wie ein Wahnſinniger. Stella ſah ihn fragend an. „Nicht Wahnſinn — meine Liebe zu Ihnen? Nicht Wahnſinn, daß meine tollgewordenen Nerven zucken, nur wenn Ihr Gewand mich ſtreift. Wenn das Unvernünftigſte bei dem vernünftigſten Menſchen per⸗ manent wird — noch nicht Wahnſinn genug? Und zu wiſſen, daß es eine Heilung giebt! „Und die wäre? „Die Ehe mit einem guten, reinen Weibe. „Mit welchem Weiber „Ihrer Tochter Heloiſe. Ein Extrageſchöpf, ge⸗ ſchaffen zur Veredelung des Menſchengeſchlechts. „Lis wollen Sie heirathen, und Sie lieben mich: Ihre Augen funkelten zornig auf. „Noch in der Tochter würde ich die Mutter lieben; aller Adel Ihrer Natur Stella iſt in dem Kinde, nur hat es Ihre Fehler nicht.“ „Sollten Sie nicht Tugend mit Jugend verwechſeln? Sie iſt achtzehn Jahre jünger als ich. Uebrigens, ſetzte ſie mit einem Blick ſouveräner Hoheit hinzu, „ich will nicht, daß Sie mit ſolchen Dingen Scherz treiben.“ „Ich ſpreche in vollem Ernſt“, ſagte Clemens ge⸗ reizt. Stella that ſich Gewalt an, um ihrer zornigen Erregung Herr zu werden, ihr leidenſchaftliches Naturell aber drängte ſie zu irgend einer gewaltſamen Aeußerung. Sie berührte die elektriſche Klingel. 141 „Was wollen Sie thun?“ fragte Clemens unruhig. „Sie werden es ſehen.“ Und zur eintretenden Kammerjungfer: „ich laſſe die Comteß zu mir bitten. Clemens haſtige Fragen beantwortete ſie nicht. He⸗ loiſe trat ein. Ohne jede Einleitung ſagte Stella trockenen Tons zur Tochter: „Herr von Secking wirbt um Deine Hand. Ich möchte einem alten bewährten Freunde die Qual andauernder Ungewißheit erſparen. Ich bitte Dich, ihm ſofort Antwort zu geben. In Heloiſes Zügen malte ſich zuerſt grenzenloſes Erſtaunen, dann zuckte es halb ſchmerzlich, halb ironiſch um ihre Mundwinkel, und ihre Blicke ſchweiften von der Mutter zu Clemens hinüber, der in tödtlicher Ver⸗ legenheit und ſtummer Wuth abgewandt ſtand, und blieben endlich voll tiefen Ernſtes an der Mutter haften. Sie ſchwieg. Eine peinliche Pauſe entſtand. „Warum antworteſt Du nicht?“ Die Gräfin ſah die Tochter nicht an bei der Frage. „Erwarteſt Du wirklich eine Antwort, Mama:? „Ich verſtehe Dich nicht.“ Du haſt die Frage nicht im Ernſt an mich ge⸗ richtet, ganz gewiß nicht im Ernſt. Mit kalter, hoheitvoller Anmuth, den Kopf leicht zum Gruße neigend, ging ſie ohne ein weiteres Wort der Gräfin abzuwarten, hinaus. „Und das bedeutet?“ fragte Clemens finſter. „Es bedeutet, daß ſie vollkommen au courant. unſerer Beziehungen iſt,“ ſagte Stella heiß erregt. „Ich ſagte geſtern, daß Töchter im allgemeinen nicht ver⸗ 142 ſtehen, was in den Herzen ihrer Mütter vorgeht; nur das Eine, das Eine verſtehen ſie gleich, und werfen ſich zu unſeren Richtern auf, zu unerbittlichen.“ Ein Blick in Clemens zerſtörte Züge erinnerte ſie an das, was ſie ihm gethan. „Clemens, ich war zu böſe, ich wußte nicht, was ich that. Ich bitte demüthig um Verzeihung.“ Sie ſtreckte ihm ſchmeichelnd beide Hände entgegen. „Eine ſo unerhörte, faſt brutale Kränkung er⸗ heiſcht Rache!“ ſagte er, und plötzlich riß er ſie an ſich, und bedeckte ſie mit Küſſen. Sie ſtieß ihn zurück und ſtammelte hochaufathmend: das war häßlich. Er ging bis ans andere Ende des Salons und ſagte ruhig: „Rache iſt ſüß. Wenn es meine Beſtim⸗ mung iſt in Flammen umzukommen, ſo iſt doch we⸗ nigſtens ein Löſchverſuch erlaubt. Sie haben dem faden Gecken eine grauſame Lektion ertheilt, ich habe dabei noch die zweite Lektion empfangen, daß Frauen ohne Herz Nichts heilig iſt, nicht das eigene Kind, nicht der treue Freund. Ich gehe Stella. „Sie kommen morgen wieder. „Ich komme nicht wieder.“ Er ſtand auf der Schwelle, die Thür in der Hand. Um jeden Preis wollte ſie den tödtlich Gekränkten verſöhnen. „Noch einen Augenblick, Clemens, gewiß, ich bin nicht herzlos. Er lachte kurz auf. 143 „Ach Gott nein, ein Herz haben Sie, nur iſt es wie eine geplatzte Granate; überall liegen die Stücke umher, und in jedem einzelnen Stück iſt noch Kraft genug, um einen Narren in die Luft zu ſprengen. Ich aber halte mich lieber auf der Erde auf als in der Luft. Er ſtand ſchon draußen im Vorzimmer. Sie war ihm gefolgt. „Geh nicht!“ ſagte ſie ganz leiſe. Er trat ſogleich ins Zimmer zurück. „Stella! liebe, liebe Stella! Unausſprechliche Zärtlichkeit war im Ton ſeiner Stimme. Seine Küſſe brannten noch auf ihren Lippen. Wie von einer magnetiſchen Kraft geleitet, ging ſie langſam auf ihn zu, ihre Augen in den ſeinen. Er rührte ſich nicht. Sie flüſterte etwas. Er verſtand die Worte nicht, er wußte aber, der Sinn war: „nimm mich! „Komm!“ ſagte er. Plötzlich ſanken ihre Arme, die ſich um ihn ſchlingen wollten, ſchlaff herab, die Augen ſtarrten ins Leere mit dem Ausdruck eines Menſchen, der geſpannt auf etwas lauſcht. „Hören Sie nichts? den Hufſchlag eines Pferdes³. Er hörte nichts. „Es kommt näher — näher „Hallucination, Stella. Sie winkte ihm zu ſchweigen und blieb lautlaus einige Minnten in derſelben Stellung. Dann vernahm auch er den gleichmäßigen Galopp eines Pferdes, das ſich allmählich dem Palais zu nähern ſchien. Faſt be⸗ ſtürzt blickte er Stella an. „Gehen Sie,“ ſagte ſie ungeduldig. 144 Er ging, voll verzweifelnden Mißmuths. Dieſe Liebe war ſein Schickſal, er mußte es tragen, wie es eben kam. Vom Hausflur aus ſah er, wie Graf Albrecht im Hofe vom Pferde ſtieg. Das größte Ereigniß in der vornehmen Welt, das demnächſt bevorſtand, war der Coſtümball, den Gräfin Suſanne Ferneß gab; es ſollte eine Art Carnevalsfeſt werden, obgleich es in die erſten Tage des Januar fiel. Stella, die mit der Wagnerianerin auf freundſchaftlichem Fuße ſtand, hatte die Inſcenirung des Feſtes, auf Bitten der Gaſtgeberin übernommen, um ſo lieber, da ihr un⸗ ermüdlicher Schaffensdrang dabei ein weites Feld zur Bethätigung fand. Die Feſträume ſollten einen Carnevalstag in Monte Carlo veranſchaulichen. Wieder wurde, wie beim Bazar, eine halbe Welt in Bewegung geſetzt. Es wurde ge⸗ malt, gehämmert, tapeziert, Treibhäuſer wurden ge⸗ plündert, alle Länder Europas mit Lieferungen in Con⸗ tribution geſetzt. Die Coſtüme durften, wie es ein Carnevalstag und ein Weltbad mit ſich bringt, nach Be⸗ lieben gewählt werden. Unluſtigen Herren, die von einem Coſtüm keine Erhöhung ihrer Reize erhofften, war geſtattet, unter Zahlung von zehn Mark für die Armen, im Ballcoſtüm zu erſcheinen. Der Saal zeigte als Proſpect eine ſchöngemalte Landſchaft, das Mittelmeer, blaue Wogen; in einem Nebenzimmer eine Spielbank, geſchmackvoll und graziös arrangirt. Ein anderer Saal war in einen Palmen⸗ garten umgewandelt, in einen förmlichen Palmenwald, 10 145 der durch vervielfältigende Spiegel noch größer, üppiger, phantaſtifcher erſchien. Die Blüthenpracht der Roſen, Azaleen, Rhododendron, Hortenſen leuchtete und duftete aus dem friſchen Grün. Hier und da bildeten die Palmen Niſchen, in denen marmorne Statuen oder ſchön geſchnitzte Bänke ſtanden. Das Originellſte aber waren die Orangenbäumchen, in deren „dunklem Laub Gold⸗ orangen glühten,“ von denen ſich Goethe nichts träumen ließ. Man hatte die Glühlichter, die den Saal erhellten, in Form von Orangen in das Laub gehängt, und das ſo gedämpfte, roſig goldene Feuer floß wie Sonnen⸗ untergang durch den Raum. Als Diotima ſpäter zum erſten Male dieſen Saal betrat, rief ſie entzückt aus: „Das iſt ja wie zur Hoch⸗ zeit einer Elfenprinzeſſin. „Jedenfalls iſt es hochzeitlich,“ bekräftigte Frau von Währinger. An den Palmengarten ſchloß ſich das Treibhaus; in poetiſchem Dämmer gehalten lud es zu intimer Zwieſprach ein. Vor dem Hauſe der Gräfin Suſanne, in der Viktoriaſtraße, ſtanden an dem beſtimmten Abend Schaaren Neugieriger, um die Coſtümirten ausſteigen zu ſehen. In den Toilettezimmern, beim Ablegen der Garderobe, fanden ſich Bekannte und Unbekannte, und theils bis zur Unkenntlichkeit Coſtümirte zuſammen, und überall hörte man laute und heuchleriſche Ausrufe des Entzückens: „Nein, zu reizend! charmant! charmant! Das Coſtüm ſteht Ihnen bezaubernd.“ In den Feſt⸗ räumen ſah man anfangs den Wald vor Bäumen nicht, 146 ſo verwirrend war unter dem ſtrahlenden elektriſchen Licht das Wogen der bunten, glänzenden, phantaſtiſchen Geſtalten. Am Eingang empfing Gräfin Suſanne und ihr Gemahl die Gäſte, ſie im Coſtüm einer armeniſchen Prinzeſſin, das Unterkleid in zartbunter, reichſter Seide⸗ ſtickerei, darüber das loſe Gewand von ſcharlachfarbenem Sammet. Hals, Arme, Bruſt leuchteten von Juwelen. Durch das Haar hatte ſie eine ſchuppige, feingliedrige, grünlich ſchillernde Schlange gewunden. Diamanten und Rubinen bildeten die Augen im Kopf der Schlange. Graf Ferneß war ein vollendeter Weltmann, der ſehr leiſe ſprach, ſich etwas ſteif hielt, und noch zu der alten Diplomatenſchule gehörte, die an der Meinung feſt⸗ hielt, daß die Sprache erfunden ſei, um die Gedanken zu verbergen. Es gab aber Leute, die bezweifelten, daß er je welche zu verbergen gehabt; glücklicherweiſe hängen Stellung und Einfluß oft mehr von den Nebengedanken Anderer, als von den eigenen Gedanken ab. Die meiſten dieſer vornehmen Ehegatten pflegten ihre ſchönere Hälfte in den Saal zu führen, und dann ſich irgendwo, am Spieltiſch, in Fachgeſprächen mit Collegen oder im Rauchzimmer zu verlieren. Einige freilich tauchten kopfüber im Strom des Vergnügens unter, gebrauchten aber die Vorſicht, ihr Glück in den Sälen zu ſuchen, wo ſie nicht war — die Gattin näm⸗ lich. Für einen Courmacher à outrance galt der ältliche Graf Holm, der ſich ſchon an der Schwelle des Saals von Frau und Tochter — letztere war als Backfiſchchen verkleidet — trennte. Gräfin Aglaya wurde mit Akkla⸗ mation empfangen. Ihren Excentricitäten war immer 10* 147 eine kleine Pointe von Bizarrerie oder Geſchmackloſigkeit beigemiſcht, ſo auch jetzt. Sie kam als Kaleidoſcop. Ihr Gewand beſtand aus lauter kleinen Stücken aneinandergeſetzten Stoffes; jedes Stück vom anderen in Farbe, Form und Material verſchieden; ſie hatte die koſtbarſten Stoffe, die bunteſten Farben gewählt, und die zahlloſen Edelſteine, die ſie von oben bis unten bedeckten, waren willkürlich durcheinander ge⸗ würfelt: Rubinen und Brillanten, Perlen, Topaſe, Türkiſe. Ihr Haar war ſo merkwürdig gefärbt, daß es bald blond, bald braun, bald ſchwarz erſchien; genug, ſie ſchillerte, blendete und verwirrte derartig, daß ſie ihren Zweck, Aufſehen zu erregen, vollkommen erreichte. Sie bemerkte aber nicht ohne Mißvergnügen, daß ihre geſchworene Feindin, Frau von Währinger, als Cleopatra ſehr verführeriſch ausſah. Sie war am Arm ihres Gatten, der ſich mit einem rothen Frack coſtümirt hatte, eingetreten. Das Männchen hielt den Kopf etwas ſchief, was ihm ein nachdenkliches oder gedrücktes Anſehen gab. Mit büreaukratiſchen Allüren verband er ſehr ſouveräne Anſichten über allerlei Dinge, leider aber ver⸗ wickelte ihn ein treuloſes Gedächtniß in die comprom⸗ mittirendſten Widerſprüche mit ſich ſelbſt. Er galt für einen der gefährlichſten Langweiler, welches Renommée er mit dem Grafen Holm theilte. Ein eigenthümlicher Zufall, daß die beiden flotteſten Weiber dieſer Kreiſe die inferiorſten Männer hatten! Oder kein Zufall? Vielleicht beſtand ein Cauſalnexus zwiſchen dieſen Thatſachen. Die diplomatiſch feine Gräfin Ferneß hatte den glücklichen Einfall die beiden Herren aneinander zu 148 loben, nach dem Shakeſpeare'ſchen Muſter in „Viel Lärm um Nichts,“ indem ſie dem Grafen Holm von der Bewunderung erzählte, die Herr von Währinger ſeinen Reden im Herrenhauſe zollte, und letzterem zu⸗ flüſterte, daß Graf Holm zwiſchen ihm und Alexander von Humboldt eine ſprechende Aehnlichkeit fände, und der Anſicht wäre, daß eine ſolche Aehnlichkeit nicht bloß eine äußerliche ſein könne. Reſultat: Die beiden Herren bildeten, ganz im Gegenſatz zu ihren Gattinnen, den ganzen Abend über ein wahres Diskurenpaar, wodurch ſie für die übrige Geſellſchaft unſchädlich wurden. Gräfin Stella hatte unter dem Vorwand, mit ihrem Coſtüm nicht fertig werden zu können, den Grafen mit der Tochter vorausgeſchickt. Lis gehörte zu den wenigen Damen, die ein Maskencoſtüm verſchmäht hatten. Sie trug ein blüthenweißes Kleid von poetiſchem Schnitt, an der Bruſt eine rothe Roſe; der Anzug war eine Ko⸗ ketterie, die Götz galt. „Aus dem weißen Schnee die rothe Blume der Liebe. Wie erſchrak ſie nun, als ſie ihn erblickte: ein Pierrot und Irene eine Pierrette. Weiß und kurz ge⸗ ſchürzt, ſchwarze Pompons, große ſchwarze Krauſe, weiße Perücke, ſchwarze Hüte, ſchwarze Fächer und Handſchuhe. Beide gleich gekleidet. Sie fühlte eine plötzliche Kälte am Herzen. Götz kam ihr beinahe lächerlich vor, obwohl er ſeine zuverläſſige Anmuth auch als Pierrot be⸗ wahrte. Auch Götz ſchien bei Heloiſes Anblick betroffen. Als er ſie zur Polonaiſe engagiren wollte, war ihm ein anderer Cavalier zuvorgekommen. Er tanzte nun mit 149 ſeiner Pierrette den erſten Tanz, und Lis dachte, daß ſie wundervoll zuſammen paßten. Während ſie in dem Tanz, der der Polonaiſe folgte, durch den Saal flog, löſten ſich einzelne Blätter der rothen Roſe und blieben an ihrem Kleide haften. Eine entblätterte Roſe reizt immer zu Citaten oder zu wehmüthigen Stimmungen. Ein trübes Ahnen beſchlich Lis; ihr war als wäre Götz hundert Meilen von ihr entfernt, und die Muſik klang ihr wie ein Trauermarſch. Sie merkte wohl, daß er ſich ihr nähern, mit ihr ſprechen wollte, aber lange Zeit fand er keine Gelegenheit, weil immer der eine oder der andere der Cavaliere ſie in Anſpruch nahm. Am Ende des Hauptſaals befand ſich eine erhöhte, mit Palmen goſchmückte Eſtrade, auf die der Profeſſor L., der berühmteſte Maler der Ariſtokratie, die ſchönſten Erſcheinungen heraufnöthigte, und mit ihnen lebende Bilder improviſirte. Den Anfang machte die Wirthin mit einem Bildhauer, einem ſehr berühmten natürlich, der wie ſie ein armeniſches, aber der Volkstracht ent⸗ ſprechendes Coſtüm trug. Von irgendwoher hatte er ein Gefäß genommen, das einen Krug vorſtellen konnte. Auf dem Bilde, das Beide boten, ſchien er an der Prinzeſſin vorübergegangen zu ſein, wandte aber den Kopf ſehnſuchtsvoll nach ihr zurück, mit einem ſo abge⸗ zehrt ſchwermüthigen Liebesblick, daß niemandem über ſeine Abſtammung von den Asras ein Zweifel bleiben konnte. Eine Dame, die neben Frau von Währinger ſaß, fragte dieſe, ob der Bildhauer nur ſo thue, oder ob er wirklich in die Gräfin Ferneß verliebt ſei? 150 es auch, der ſie ſo hinreißend herausſtaffirt hat, während „Total verliebt,“ antwortete die Währinger, „er iſt er ſein eigenes unſcheinbares Weib lieblos in ein paar gelbe Lappen gewickelt hat.“ Als zweites Bild erſchien Kleopatra mit einem ſchönen, kühnblickenden, decolletirten Araber auf der Eſtrade. Er hielt wie ſpielend einen Dolch zwiſchen den Fingern, ſie zuckte und züngelte mit ihren blitzenden Katzenaugen nach ihm — Dolch gegen Dolch. „Warum iſt Kleopatra ohne Schlange?“ flüſterte ein Herr dem Anderen zu, „der Platz wärc da. Das dritte Bild: Pierrot und Pierrette. Mit un⸗ nachahmlicher Grazie ſchien Irene im Stillſtehen ſich zu bewegen. Sie hatte die Poſe einer Fliehenden ange⸗ nommen, fliehend vor Pierrot, hinter ihrem Rücken aber hielt ſie ihm in der Hand eine Nelke hin. Als Götz, nachdem das Bild ſeine Schuldigkeit ge⸗ than, die Nelke nehmen wollte, begegneten ſeine Blicke den Blicken Heloiſes, die kalt auf ihm ruhten. Er zog die Hand zurück, und Irene behielt ihre Nelke. Sie hatte keine Zeit ſich über dieſe ſeltſame Unhöflichkeit Gedanken zu machen. Der Fürſt Andreas nahm ſie für eine Weile in Beſchlag. Er hatte die Scene mit der Nelke wohl bemerkt. „Sie nehmen doch kein ernſthaftes Intereſſe an meinem Sohn, Irene?“ fragte er ſie mit einſchmeichelnder Theilnahme. „Verdient er es etwa nicht: 151 „Gewiß, aber nicht von Ihrer Seite. Wenn Comteß Heloiſe für ihn ſchwärmt, das begreife ich. Sie ſind Beide derſelben Art. Götz iſt ſchlank und gut, ſchön und klug, vernünftig und gefühlvoll, aber phyſionomielos, keine Perſönlichkeit, Einer von Vielen, nicht Einer für ſich. Und Sie Irene? Eine für ſich. Sie reichte ihm unwillkührlich als Dank für ſein Lob, die Nelke, die ſie noch in der Hand hielt. Der Fürſt zeichnete ſie den ganzen Abend über aus. Das ſchmeichelte dem jungen Mädchen, noch mehr aber ſchmeichelte ihr die Eiferſucht, die Kleopatra um ihret⸗ willen an den Tag legte. Fürſt Andreas hatte eine Weile mit der Nelke ge⸗ ſpielt, und warf ſie dann, als ſie ihm läſtig wurde, zwiſchen die Blätter eines Palmenbaumes. Als er nach einiger Zeit wieder in den Palmengarten kam, fielen ſeine Blicke gleich auf die rothe Blume unter dem Blätter⸗ grün; der Sohn hatte ſie rauben ſollen, dem Vater war ſie geſchenkt worden. Er nahm die Nelke wieder in die Hand und ſteckte ſie mit einem ironiſchen Lächeln — die Ironie galt ihm ſelber — in die Weſtentaſche. Es war faſt Mitternacht, das Feſt auf der Höhe, als Stella erſchien. Eine ſenſationelle Bewegung ging durch den Saal. Ihr Haar, loſe und phantaſtiſch auf⸗ geſteckt, hatte ſie brennend roth gefärbt, ebenſo die Lippen, das Geſicht roſig geſchminkt, hier und da auf Kinn und Wange ein Schönfläſterchen; unter den Augen dunkle Striche. Ihr Kleid von dunklem Sammet war mit großen, goldenen Sonnenblumen aufgerafft, der Schnitt des Gewandes völlig unmoraliſch, indem er die eine 152 Seite der Büſte züchtig verhüllte, die andere, ſo weit es die Sitte irgend zuließ, enthüllte. Eine Cigarette im Munde, ſo trat ſie ein als — Demimondedame, ohne welche Species Monto Carlo nicht Monte Carlo iſt. War es eine dämoniſche Senſationsluſt, oder das prickelnde Verlangen den Grafen ins Innerſte zu treffen, die ſie dieſes Coſtüm wählen ließen, oder war einfach dabei ein Stückchen der „béte humaine“ zum Durch⸗ bruch gekommen? Vielleicht hatten alle dieſe Motive zuſammengewirkt, um ihre Wahl zu beſtimmen. Sonſt pflegte eine gewiſſe Hoheit ihres Weſens, den Männern ihr gegenüber Reſerve aufzuerlegen. Und heut? War das die ſtolze Gräfin Ronald⸗Büren? Die ganze Herrenwelt war elektriſirt. Clemens, ſtarr vor Staunen, flüſterte ihr kopfſchüttelnd zu: „Sanscrit!“ Er wich nicht von ihrer Seite; mit ſpähen⸗ dem Geſichtsausdruck ſtand er da, als wäre er bereit, jeden niederzuſchlagen, der ſich eine Freiheit gegen ſie herausnehmen würde. Es dachte aber Niemand daran. Man wußte ja — leider — daß die Demimondeſchaft nur Maske war; Stella hatte im Augenblick die Poſition einer königlichen Hoheit, die ſich jeden, auch den ge⸗ wagteſten Scherz erlauben darf, ohne daß man ihr mit gleicher Münze bezahlen darf. Man belagerte ſie, man war entzückt in der créme der créme zu hören und zu ſehen, was man ſonſt nur in der wirklichen demi-monde hören und ſehen konnte. Man verſchlang Stella mit den Blicken, und Blicke, Gedanken und Regungen waren der Rolle, die ſie ſpielte, entſprechend. Sie lehnte ſich nachläſſig in einen 153 Fautenil zurück, die kleinen Füße mit den ſonnenblumen⸗ geſtickten Schuhen weit von ſich ſtreckend. Ihr Mund floß über von frivolen und geiſtreichen Bemerkungen, ſie lachte alle Augenblicke laut auf, den Kopf hinten⸗ über werfend. Die Cigaretten, die ſie rauchte, warf ſie von Zeit zu Zeit unter die Umſtehenden, die ſich dann darum riſſen, und ſie weiter rauchten. Sie verlangte von den Herren Geld zum Spielen, machte die tollſten Sätze, und wenn ſie gewann, ſtreute ſie das Gold umher. Man überſchüttete ſie mit Fragen, um ihre pikanten Antworten zu hören. — „Warum ſie keine Diamanten trage? „Pah, geerbte Diamanten! Ich ziehe geſchenkte vor. „Wo ihr Mann ſei: Sie blickte lächelnd im Kreiſe umher, einen Herren nach dem anderen fixirend und ſagte: „qui vivra. verra! Mit wem ſie ſoupiren werder „Wenn ich hungrig und durſtig bin mit Rothſchild, wenn ich ſentimental bin mit dem, der mir am beſten gefällt.“ Ob ſie ſich amüſire? Man ſoll den Abend nicht vor dem nächſten Morgen loben.“ Und während ſie ſo redete und ihr ganzes Weſen in frivoler Luſt zu prikeln ſchien, ſtreiften ihre Blicke zuweilen verächtlich über all' dieſe Geſichter hin, die voll ſinnlicher Begier ſich an ihrer Schönheit feſtzu⸗ ſaugen ſchienen, und dieſe Blicke ſagten: da habt Ihr 154 mich, wie Ihr das Weib wollt! Ihr Elenden! Sie hätte ſie ſchlagen mögen, Alle, Alle! Selbſt Fürſt Andreas, der ſie ſonſt mied, wurde magnetiſch in ihre Nähe gezogen. Als er dicht neben ihr ſtand, ſchanderte ſie zuſammen. Man hatte ihr eben ein Glas Champagner gebracht. Sie hob es empor: „Freude, ſchöner Götterfunken,“ rief ſie. Das Glas entfiel ihrer Hand und zerbrach auf den Füßen des Fürſten Andreas. Man lachte, er lachte mit, nie hatte er gezwungener gelacht. Er ſah ſich nach Frau von Währinger um. Dieſe perfide Freundin aber, die in der Liebe ſtets nach dem Bibelſpruch: „Aug um Auge, und Zahn um Zahn“ handelte, erging ſich eben im Palmengarten mit Graf Albrecht. In tiefer, zorniger Erregung über Stella war der Graf dort auf⸗ und abgegangen, um ſich zu ſammeln und zu überlegen, was er zu thun habe. Die reizende Kleopatra, die ihn dort erſpähte, war ſchnell entſchloſſen, die Gelegenheit bei der Stirnlocke zu er⸗ greifen; ſie näherte ſich ihm in ihrer ſchmeichelnden Katzenart, und allmählich lockte ſie ihn im Geſpräch, dem ſie eine intime Wendung zu geben wußte, in das Dunkel des Treibhauſes. „Erklären Sie, Graf Oerindur“ — ſagte ſie mit einem Citat — „mir dieſen Zwieſpalt der Natur. Sie fliehen die Geſellſchaft und ſind doch zum Liebling dieſer Geſellſchaft geſchaffen, in der Sie ſich himmliſch amüſiren könnten. Leiden Sie an Größenwahn, ſo daß Sie es Ihrem Genius ſchuldig zu ſein glauben, die Welt als „ſchnöden Pöbel“ zu verachten! 155 „Und womit ſollte ich mich himmliſch amüſiren „Womit? Das dürfen Sie Kleopatra nicht fragen. Sie lachte in ſich hinein; ihre weiße, volle Schulter kroch aus dem Kleide und preßte ſich an ſeinen Arm. Von unten herauf blickten ihre glitzrigen Augen ihn ſo hinſchmachtend und neckiſch zugleich an, daß ihm kein Zweifel über das himmliſche Amüſement, das ſie im Sinne hatte, blieb. Trotz eines unbeſchreiblichen Un⸗ behagens, antwortete er höflich lächelnd und ſich zum Scherze zwingend: „Daß die ſchöne Zeit der jungen Liebe ewig grünen bliebe, hat Schiller ſchon — vergebens gewünſcht. Eine ſo kurze Spanne Zeit gehört dieſen Frühlingsgefühlen und — was dann; „Ia, was dann? Das „dann“ tritt aber viel ſpäter ein, als Sie denken. Alt iſt man erſt von dem Augenblick an, wo man nicht mehr zu lieben imſtande iſt, und ich bin feſt entſchloſſen, nie alt zu werden; wahrſcheinlich verbrenne ich mich mit meiner letzten Liebe wie die indiſchen Wittwen mit ihrer erſten.“ Da er nicht antwortete und eine Wendung nach dem Ausgang des Treibhauſes hin machte, ſagte ſie ſchnell: „Stella iſt heut' geradezu zum Anbeißen. „Hätte ſie mich um Rath gefragt, ich würde all meinen Einfluß aufgeboten haben, ihr dieſe widerwärtige Maskerade auszureden. „In der ſie doch die leidenſchaftliche Bewunderung aller Männer erregt. 156 „Eine Bewunderung, eine Leidenſchaft, bei der die Seelen nichts voneinander wiſſen — wie häßlich. „Sie ſind anſpruchsvoll lieber Graf. Wer nicht von des Gedankens oder des Blutes Bläſſe angekränkelt iſt, nimmt es nicht ſo genau mit dem Seeliſchen. Wenn wir Frauen immer darauf warten wollten, daß ein Mann unſere Seele mit in den Kauf nimmt! Ach Gott, die gute, oder ſchöne oder arge Seele wird meiſtens von ihm ignorirt, innerhalb und außerhalb der Ehe.“ Graf Albrecht, erbittert durch Stellas Gebahren, vergaß im Zorn über ſie, ſeine gewöhnliche Zurück⸗ haltung, als er mit finſterem Ausdruck antwortete: „Und wenn man die Seele haßte, und den Leib liebte!² Sie ſah ihn mit einem blinzelndem Blick ihrer merk⸗ würdigen, graugrünen Augen von der Seite an. „Sind doch die Phyſiologen noch uneins ob der Körper mehr den Geiſt beherrſcht, oder ob das umgekehrte der Fall iſt. Könnte nicht vielleicht die Liebe des Leibes den Haß der Seele heilen? Ach, wie thöricht iſt über⸗ haupt all' das Klügeln darüber: liebe doch! du lieber Thor! und Gott befohlen.“ Graf Albrecht, erſchrocken darüber, daß er dieſer Frau einen Blick in ſeine Seele geſtattet, lenkte das Geſpräch auf andere gleichgültige Gegenſtände. Ver⸗ gebens bot Kleopatra all' ihre Koketterie auf; er blieb preoccupirt, wenn auch nicht kalt; das elektriſche Funkeln ihrer Katzenaugen, das üppige Anſchmiegen ihres ſchönen Körpers, die ſchwüle duftgeſchwängerte Atmoſphäre er⸗ 157 regten ſeine Sinne und doch drängte er fort, aus dem Treibhaus hinaus. Sie war zu fein, um nicht zu be⸗ merken, daß ſeine Erregung nicht ihr galt. Sie winkte, als ſie in den Palmengarten traten, einen Bekannten heran und verabſchiedete den Grafen mit einer graziöſen Kußhand: „Adien — talentloſer Antonius, Sie!“ Sie verlor ſich an dieſem Abend noch oft mit Dieſem und Jenem, am längſten mit dem ſchönen dekolletirten Araber, in das Dunkel des Treibhauſes. Nach einer dieſer Excurſionen fühlte Frau von Währinger ſich erhitzt und begab ſich in das Toiletten⸗ zimmer, wo ſie mit Hülfe eines ſilbernen Puderbüchschens das ſie ſtets bei ſich trug, ihren Teint ein wenig aufzu⸗ friſchen dachte. Zu ihrem Mißvergnügeu traf ſie dort Gräfin Aglaya Holm, eben im Begriff einen beträchtlichen Theil ihrer ſchönen Locken, die entſchlüpfen wollten, wieder niet⸗ und nagelfeſt zu machen. In der Hoffnung, daß Frau von Währinger das Lockenmanöver nicht be⸗ merkt haben würde, täuſchte ſie ſich. Dem gefahrloſen Austauſch einiger giftiger Blicke ſchickte Gräfin Holm den giftigeren Pfeil nach, indem ſie harmlos hinwarf: „Ja, ja, liebe Währinger, ein wenig Puder wird Ihrem Echauffe⸗ ment gut thun, man wandelt nicht ungeſtraft unter Palmen!“ Dieſer Pfeil prallte mit verdoppelter Kraft auf den Schützen zurück, als Frau von Währinger ebenſo harm⸗ los hinwarf: „Sie wiſſen ja liebe Gräfin, daß ich aus meinem Herzen keine Mördergrube mache. Gott ſei Dank, ich brauche mir meine Liebhaber nicht mit den Haaren herbeizuziehen, obwohl ich die Mittel dazu 158 hätte.“ Dabei griff ſie in ihre volle Mähne. Gräfin Aglaya wurde blaß unter der Schminke und gelobte Rache. Als Heloiſe ihre Mutter hatte eintreten ſehen, war ſie abwechſelnd blaß und roth geworden. Dieſer Abend beſiegelte den Bruch zwiſchen Mutter und Tochter. Sic wagte ſich nicht mehr über die Schwelle des Raumes, in dem ſich die Gräfin aufhielt. Sie meinte, daß alle Welt über ihre Mutter den Stab brechen, und ein Theil dieſer Geringſchätzung auch ſie treffen müſſe. Das arme Kind kannte die Welt nicht. Zwar fehlte es nicht an abfälligen Urtheilen über Stella, unter anderem hatte Gräfin Charlotte gegen Irene geäußert, daß die Sen⸗ ſationstante doch heute gar zu ſehr über die Stränge ſchlage. Im Ganzen aber ſtieg die Wage ihrer Schätzung. So viel Verve, Esprit, Temperament hatte man ihr gar nicht zugetraut. Vor allem ſchämte ſich Lis, um Götzes willen, ihrer Mutter. Aber Götz war nicht da. Seit geraumer Zeit ſchon vermißte ſie ihn. Zu dem nächſteu Tanz, einem Walzer, hatte er ſie engagirt. Würde er kommen? Sie ſetzte ſich mit herzklopfender Bangigkeit in eine halbverſteckte grüne Niſche. Ob er ſie finden würde? — Als die erſten Töne des Walzers er⸗ klangen ſtand er vor ihr, in Geſellſchaftstoilette Alſo darum war er verſchwunden geweſen? Nun war ihr ſo wohl. Während ſie tanzten, flüſterte er ihr zu: „Ich habe geſtern eine Karte erhalten: „Pierrette erwartet Pierrot,“ dazu ein Coſtümbild, nicht von Dir? „Nein. 159 Ab und zu fühlte ſie einen Hauch an ihrem Ohr: „Lis!“ Sie fühlte es wie eine intenſive Liebkoſung. Faſt war dicſer Tanz noch fchöner als das Schlitlſchuhlaufen. In dem Glanz des Zaubergartens, in dem Duft, in der brandenden Menge fühlte ſie ſich allein mit Götz. Sic vergaß die Mutter, ihr melancholiſches Ahnen, Irene; ſie vergaß alles außer dem jetzigen Augenblick, der für ſie den Inhalt einer Ewigkeit hatte. Nnr wenn ihr Blick den umflorten Blick Irenes traf, ſchlug ſie die Augen mieder. Um einen Tiſch im Büffetſaal, von dem aus man das Auf⸗ nnd Abwogen der Gäſte in dem Hauptſaal beobachten konnte, ſaßen eine Anzahl Herren, champagner⸗ trinkend, und durch mehr oder weniger geiſtreiche Rand⸗ bemerkungen über Feſt und Gäſte ihren Beitrag zur Feſtfreude liefernd. Unter ihnen befanden ſich Graf Holm, Fürſt Andreas, Herr von Währinger und andere. Einige hatten Monocle, andere ſarkaſtiſche Mienen auf⸗ geſetzt, und jeder kam ſich wie ein Paris vor, der den Preisapfel zu vertheilen hat. Dieſer Apfel wurde ein⸗ ſtimmig Gräfin Stella zuerkannt. Nur Graf Holm, der älteſte in der Reihe der Spötter, proteſtirte, weil ihm die Gräfin zu alt ſei. „Unſinn,“ antwortete ein, modernſter Richtung ver⸗ dächtiger Naturaliſt. „Hat man je gehört, daß nach dem Alter der Venus gefragt wird? Venus iſt Venus ſo lange ſie ſchön iſt. Die kleine Frau Adda, im zierlichen Lawn-T'ennis- Coſtüm guckte in das Büffetzimmer hinein, ſpähte ſuchend umher, und verſchwand wieder. 160 den Rechten?“ fragte ein Herr. „Die kleine quirlige Perſon ſucht wohl noch immer „Wer iſt der Rechte: „Der am beſten die Scharte ihrer Mesalliance aus⸗ wetzt, am liebſten ein Prinz, ſie würde aber auch mit irgend einem principe von da unten im Süden vorlieb nehmen, der iſt leichter zu haben. Das Angebot iſt da größer als die Nachfrage.“ Eine auffallend ſtark dekolletirte und auffallend ätheriſche Dame erſchien im Rahmen der Thür. Man fand, daß kein Grund für den Stoffmangel ihres Kleides vorliege, aber auch nicht der geringſte. „Grande misére ouverte!““ rief Clemens hinüber, der eben eingetreten war um ein Glas Champagner zu trinken. Das bon mot circulirte während des ganzen Abends und erregte ungetheilten Beifall. „Mir gefallen nur Frauen, die nichts Künſtliches haben, wie Frau von Lauen,“ ſagte Graf Holm, auf Diotima zeigend. „Nein, die hat wirklich nichts Künſtliches, außer gefärbten Augenbrauen und einer ſchönen Seele. „Sehen Sie nur den Maler dort, wie er Comteß Heloiſe in die Palmenecke lockt, etwa verliebt! „Bewahre; er lockt ſie nur in die Ecke, weil ſie ſich unter dem Grünzeug am beſten ausnimmt, er ſtudirt Farbeneffekte. Was ſtellt denn eigentlich das Coſtüm der jungen Comteß vor? „Die Unſchuld, der das Herz blutet“ — „Schon über den leiſeſten Mangel an Reſpekt vor ihrer Perſon,“ warf Clemens leicht hin. 161 11 merkſamkeit einer Ausländerin von herrlichem, wenig Man verſtand die Warnung, und wandte die Auf⸗ verhülltem Wuchs zu. „Wer iſt dieſe Dame, die, um mich eines male⸗ riſchen Ausdrucks zu bedienen, als „Akt“ erſcheint; fragte Graf Holm. „Eine Amerikanerin,“ antwortete der Fürſt, „ſie ſoll die ſchönſten Hände haben, das einzige, was neidiſche Handſchuhe verdecken.“ „Sie ſprachen wohl eben von Frau von Währinger, fragte boshaft die eintretende Gräfin Aglaya, die die letzten Worte gehört hatte. Ihr Gatte zeigte, ſie zur Diskretion mahnend, auf Herrn von Währinger, der am Büffet etwas verzehrte. „Ach,“ ſagte ſie halblaut zu den Herren, Frau von Währinger macht wenig Gebrauch von dieſem Troddel von Mann, ſie knüpft jeden Morgen einen Knoten ins Taſchentuch, um nicht zu vergeſſen, daß ſie einen Mann hat; es ſoll ihr aber häufig paſſiren, daß ſie vergißt den Knoten zu machen.“ Rache iſt ein Gericht, das heiß gegeſſen werden muß, das wußte die Gräfin Holm. Fürſt Gottersberg, um das Geſpräch, das ihn un⸗ angenehm berührte, abzulenken, fragte, was Fräulein von Feldern, die gerade in Sicht kam, mit ihrem Coſtüm be⸗ zwecke. Die junge, ſehr häßliche Dame hatte auf das gelöſte, ſpärlich braune Haar einen grünen Kranz gedrückt, und über ein phantaſtiſch fließendes Gewand von roſenrother Seide ein ſeegrünes Ueberkleid griechiſch gegürtet. 162 „O Gott,“ antwortete die Holm, „niemand weiß es, und niemand wird es je erfahren, weil niemand wagen wird, ſie danach zu fragen. Wenn ſie nun antwortete: „Die Muſe der Dichtkunſt oder Pſyche oder Aehnliches, man müßte ihr ja ins Geſicht lachen. Herr von Währinger trat vom Büffet her wieder zur Gruppe. „Ihre Frau Gemahlin hat nach Ihnen gefragt. Herr Geheimrath,“ wandte ſich die Gräfin Holm zu ihm, „ſie wartet auf Sie im Treibhaus, ganz am Ende, wo es am dunkelſten iſt.“ Graf Holm, der niemals eine offene Oppoſition gegen ſein forſches Ehegemahl riskirte, ergriff ſchaden⸗ froh die Gelegenheit, ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen, indem er dem armen Währinger ſeine Be⸗ gleitung anbot, in der Abſicht Kleopatra ein Warnungs⸗ ſignal zukommen zu laſſen, welche Abſicht von Aglaya verſtanden wurde. Gräfin Ferneß hatte Graf Albrecht zu einem Contre⸗ tanz aufgefordert. Er konnte nicht refüſiren. Der Zu⸗ fall wollte es, daß Stella, die mit Clemens tanzte, ſein vis-ä-vis war. Er bedurfte des höchſten Maßes von Selbſtbeherrſchung, um bis zum Schluß des Tanzes auszuhalten. Wenn Stellas Hand einen Augenblick in der ſeinen ruhte, wenn ihr Kleid ihn ſtreifte, wenn Clemens leicht den Arm um ſie legte, oder ſie ſich ihm zuneigte, erfaßte ihn ein Schwindel. Als er bei der grande chaine ihre Hand in der ſeinen hielt, preßte er ſie heftig zuſammen: „Ich befehle Dir, den Ball zu ver⸗ laſſen,“ flüſterte er heiſer. Es war das erſte Mal, daß 11* 163 er ihr etwas befahl; ſie empfand es wie ein Liebeswort und erhob keinen Widerſpruch. Einige Minuten ſpäter ſaß ſie mit ihm und Lis im Wagen. Keines von ihnen ſprach während der Fahrt ein Wort. Im Palais begab ſich Jedes ſofort in ſein Zimmer. Graf Albrechts Studirzimmer ging nach dem Garten hinaus. Eines der Fenſter befand ſich dem Seitenflügel gegenüber, in dem Stellas Schlafzimmer lag. Die dichten Vorhänge desſelben wurden Abends zugezogen. Mit der Zeit hatte ſich der ſchwere Stoff am Saume zuſammengerollt. Es bildete ſich ein kleiner Spalt, der allmählich ein wenig größer wurde, und den Niemand zu bemerken ſchien. Graf Albrecht bemerkte ihn. An der kleinen Oeffnung hafteten Abend für Abend ſeine Augen. Zwiſchen den beiden Fenſtern des Zimmers ſtand der Toilettentiſch, und Abend für Abend wartete Graf Albrecht auf den Augenblick, wo Stella die Kerzen auf dem Toilettentiſch anzünden würde. Er folgte dann jeder ihrer Bewegungen, wie ſie den Arm erhob, daß der weite Aermel ihres Nachtgewandes zurückfiel, wie ſie ihr Haar löſte und wieder aufſteckte. Zuweilen ließ ſie, wie ermüdet, die Hände ſinken und legte dann wohl eine Weile den Kopf auf ihren Arm, ſo daß das ſchöne Haupt in der goldenen Flut vergraben ruhte. Trat ſie von dem Toilettentiſch zurück, ſo war ſie für ihn entſchwunden. Ab und zu, an milden Abenden, öffnete ſie einen Augenblick das Fenſter, und dann ſtand ſie wie ein Heiligenbild in dem matten Scheine der Kerzen da. Er hatte immer eine Art Unruhe, ſo lange ſie vor dem 164 Toilettentiſche ſaß, eine Beſorgniß, ſie könne dem Lichte zu nahe kommen — wie damals. Darum wartete er Abend für Abend, bis die Kerzen erloſchen waren, dann erſt begab er ſich zur Ruhc. In der Nacht des Coſtümfeſtes mußte er lange warten, bis die Kerzen ſich entzündeten; vielleicht wurde ihm in ſeiner fieberhaften Erregung auch nur die Zeit ſo lang. Endlich zeigte ſich drüben der matte Schein, matter als ſonſt. Er ſtrengte ſeine ganze Sehkraft an — kein Zweifel, die Oeffnung war verſchwunden. Man hatte den Defekt bemerkt und ihn ausgebeſſert. Dieſer un⸗ bedeutende Umſtand brachte ihn außer Faſſung. Er hatte ſich daran gewöhnt, Abends ſeine Augen mit ihrem Anblick zu ſättigen, während ſeine Hände in der weichen, halbverbrannten goldenen Locke, die vor ihm lag, wühlten. Er gerieth in eine maßloſe nervöſe Aufregung; ſeine Blicke hingen mit ſtarrer Intenſität an ihrem Fenſter und ſchienen die Vorhänge durchbohren zu wollen. Plötzlich wird es dahinter hell, immer heller, lodernd hell, unnatürlich hell. Das konnten nicht die Kerzen ſein; ſo viel er weiß, hat das Schlafzimmer kein elek⸗ triſches Licht. Ein lähmendes Entſetzen befällt ihn. Jetzt — die Vorhänge flammen auf — ob es eine Viſion iſt, ob wirklich, er kann es nicht mehr unter⸗ ſcheiden. Gewaltſam ſchüttelt er die Lähmung ab „Feuer! Feuer! Er ſtürzt über den Corridor hin, zu ihrem Zimmer, reißt die Thür auf — — Stella ſteht mitten im Zimmer, 165 in einem Feuermeer, in einer Fluth rothen, elektriſchen Lichts. Sie ſteht vor dem Spiegel, die Arme im Nacken gefaltet, den Kopf leicht hintenüber, mit dem rothen, wallenden Gelock, mit den blutrothen Lippen und den ſehnſüchtigen Augen einer verſchmachtenden Bachantin. Nur einen Augenblick hat er Zeit, das üppige Bild in ſich aufzunehmen. In der Blendung ſieht ſie nicht gleich, wer ſo haſtig die Thür geöffnet; ſie drückt auf den Knopf der elektriſchen Leitung, die Flammen verlöſchen, nur das roſige Licht in der Ampel brennt fort und umſchimmert magiſch die Wunderſchöne. Er ſtammelt verwirrt ein paar Worte von Feuer, und daß er nichts von dem elektriſchen Licht im Zimmer gewußt. — Sie hört nicht, was er ſagt, ſie ſieht nur, daß er da iſt — ſie liegt an ſeiner Bruſt, ſie ſchmiegt ſich an ihn, mit unſinniger Zärtlichkeit: „Albrecht! Albrecht!“ Süße, heiße Schauer durchdringen ihn ganz. Seine Willenskraft iſt aufgehoben. Ihr rothes, wallendes, duftiges Gelock ſprüht elektriſche Funken um ihn, er iſt im Banne einer elementaren Gewalt, und in einer wilden, ſtummen Umarmung, in einer inbrünſtigen Flamme löſen ſich ihre Seelen, ihre Körper. Als ſeine Arme ſie freigeben, ſinkt ſie langſam zu ſeinen Füßen, und ihre Lippen ſuchen ſeine Hand. Ein Strahl göttlicher Güte fällt aus ſeinem Auge auf das knieende Weib, in menſchlich mildem Erbarmen ſtreckt ſeine Hand ſich aus ſie emporzuheben. — Da dringen die luſtigen Töne eines Walzers zu ihnen, und zerreißen mit grellem Mißklang was zur Harmonie ſtrebte. 166 Graf Albrecht fährt zuſammen. „Es iſt Lis“ ſagt ſie ſanft und leiſe, „Lis iſt auch glücklich heut'. Ich liebe ſie Albrecht, um deinetwillen liebe ich deine Tochter.“ Und ſie wiederholt: „Deine Tochter!“ Er verſteht ſie nicht gleich. Plötzlich verſteht er. Er lacht kurz auf. Grell, widerwärtig lacht er. Er ſtößt ihre taſtende Hand, die die ſeine ſucht, zurück, und mit einem Blick unſagbaren Hohns auf das knieende Weib, ſtürzt er hinaus. Sie erhebt ſich langſam. Iſt er wahnſinnig ge⸗ worden? Nein, nicht wahnſinnig! Nicht zum erſten Male begegnet ſie dieſem Blick voll Hohn und Haß. Aber jetzt! jetzt! Sie ſteht wie betäubt, und immer noch tönen die ſchrillen Töne fort, die Töne des Walzers, den Lis mit Götz getanzt. Sie hätte ſie vom Flügel reißen mögen, die Tochter, ihr wehthun, ſie haßt ſie in dieſem Augenblick, ſie iſt ſchuld daran, ſie allein, daß Albrecht — — Sie hat ja längſt gewußt, daß er ſie liebt und daß er ſie haßt, beides — beides. Und er hat ſie ge⸗ nommen wie eine Dirne, in Leidenſchaft und Haß. Sie ringt die Hände in ſtummer Wuth. Mit einem Male pfeift der Dompfaff mitten in die Nacht hinein. Er pfeift das düſtere Lied: „Vergiftet ſind meine Lieder⸗ Und ſie hat geglaubt, daß er es längſt verlernt hat. Eine unheimliche Angſt befällt ſie. „Still! ſtill!“ ruft ſie, er iſt nicht ſtill. Sie er⸗ greift den Vogel, ſie will ihn fliegen laſſen, unwill⸗ kürlich krampfen ſich ihre Hände um ſeinen Hals, die 167 Aeugelchen drehen ſich ihm im Kreiſe; ſie läßt ihn fallen, — er iſt todt. Sie hat etwas vernichten müſſen, was von ihm kommt! Er hat auch etwas in ihr vernichtet! Ihre Blicke fallen auf ihr Spiegelbild. Als ſie ihre brennenden Lippen, ihre leuchtenden Augen ſieht, er⸗ röthet ſie in heißer Scham. Sie löſcht auch das Licht der Ampel. Sie tappt im Dunkeln zu ihrem Lager hin. Die ganze Nacht liegt ſie ſchlaflos, in einem Chaos wirbelnder Gedanken und Empfindungen von Wuth und Wonne, Scham und heimlichen Hoffen. Auch an Clemens denkt ſie. Wenn er wüßte! ihr iſt als hätte ſie eine Untreue an ihm begangen. Ein intenſives Mitleid, etwas Reines und Zärtliches fühlt ſie für den Freund. Die Leidenſchaft für Albrecht war es, die ſie gehindert hat, ihn recht zu lieben. Nun iſt die Leidenſchaft todt. Das Recht Clemens zu lieben hat ſie rerwirkt. Am anderen Morgen erfährt ſie, daß Graf Albrecht abgereiſt iſt, auf ſeine Güter, auf unbeſtimmte Zeit. In den erſten Wochen nach ſeiner Abreiſe lebt ſie nach wie vor, in den Zerſtreuungen der großen Welt: all⸗ mählich aber zieht ſie ſich zurück und bleibt ſchließlich ganz daheim. Sie iſt leidend und trotzdem in erhöhter Gemüthsſtimmung. Sie geräth in einen ſeltſamen träumeriſchen Zuſtand. Zuweilen liegt in ihren Zügen etwas wie Staunen, etwas geheimnißvoll Inniges. Mit Clemens, der täglich bei ihr iſt, verfährt ſie ſanft, liebe⸗ voll, als hätte ſie ihm ein Unrecht abzubitten, und müßte ihn beſchwichtigen. Er iſt gerührt und ihr er⸗ gebener als je. Ihre Hinneigung zum Spiritismus 168 wächſt. Sie hat häufige Zuſammenkünfte mit dem Baron Stauffer. Der junge Fürſt Gottersberg zeigte ſich immer häufiger im Ronald⸗Büren'ſchen Palais. Stella lächelte dazu. Mochten ſie doch zu einander kommen. Was ſonſt gegen die Verbindung ſprach, kam nicht in Betracht neben der herzlichen Neigung, die aus dieſen vier Augen ſo jung und ſo ſonnig leuchtete. Ja, ſonnig. In ſanfter Wellenbewegung, unter der friſchen Briſe ſchöner Zukunftshoffnungen, nur ab und zu von kleinen Strndeln unterbrochen, floſſen für Lis die Tage dahin. Morgens erwachte ſie mit einem Lächeln auf den Lippen, weil ſie von ihm geträumt hatte. Abends freute ſie ſich auf den Schlaf, weil ſie weiß, daß ſie wieder von ihm träumen wird. Sie trieben allerlei poetiſche Spielerei. Sie legte, wie zu⸗ fällig, wenn ſie ſich in Geſellſchaft trafen, den Rücken ihrer Hand mit dem Rubinring an die Lippen. Wenn ſie bei der Tafel nebeneinander ſaßen, ſo verwechſelte er die Gläſer und trank aus dem Glaſe, das ihr Mund berührt hatte. Er ſchickte ihr jeden Morgen eine Roſe, immer von anderer Art, je nach ſeiner Stimmung: eine freudig rothe, eine zart roſige, eine gelbe, die ſich melancholiſch am Stengel neigt, ein verſchüchtertes Moosröschen. Irene gab ihr Spiel verloren. Ein wehmüthiger Hauch lag ſeitdem über ihrer Luſtigkeit. Sie war nicht beſonders eitel; ſie machte aus ihrer Enttäuſchung kein Geheimniß und ſuchte ſich ihren Kummer fortzuſcherzen. Als die Währinger ſie einmal fragte, warum ſie ſo 169 elegiſch angehaucht ſei, antwortete ſie mit einem Seufzer ſtärkſten Kalibers, daß auf das Grab einer Hoffnung die Elegie gehöre. Ein ander Mal bezeichnete ſie die Conſinen als Schlangen im Paradies der Verlobungen. Es war eine ſehr praktiſche Methode, daß ſie ſich ſelbſt verhöhnte; ſie überhob dadurch die Andern der Schuldig⸗ keit es zu thun. An Lis ließ ſie ihre wilden Launen aus. Wie der Wind wehte, überhäufte ſie die Couſine mit Zärtlichkeiten oder Bosheiten, ſtreichelte und kratzte ſie abwechſelnd, und das waren die kleinen Strudel in dem ſanften Wellenſchlag von Heloiſens Glück. Der erſte Mai war herangekommen, und man traf Anſtalten auf eines der Ronald⸗Bürenſchen Güter über⸗ zuſiedeln. Götz wünſchte vor der Abreiſe ſeine Ver⸗ lobung zu veröffentlichen. Er vertraute ſich der Gräfin an. Sie gab in herzlicher Weiſe ihre Zuſtimmung, unter dem Vorbehalt, daß ihr Gatte, der inzwiſchen ſeine Rückkehr angezeigt hatte, damit einverſtanden ſei. Zu einer ſpäten Abendſtunde traf Graf Albrecht ein. Stella ſah ihn weder an dieſem Abend, noch am nächſten Morgen. Unter den Briefen, die für ihn bereit lagen, fand Graf Albrecht den Brief des jungen Fürſten, in dem er ihn um die Hand ſeiner Tochter bat. Der Brief verſetzte ihn in eine unbeſchreibliche Aufregung. Am Ziel! endlich am Ziel! Das war eine der Chancen, auf die er gewartet und gewartet hatte, er brauchte nur die Hand auszuſtrecken, um die Frucht, die er mühſam zur Reife gebracht, zu pflücken, und — er wird ſie pflücken. 170 Er hegiebt ſich in Stella's Salon. Es iſt ein kühler Nachmittag, ein leichtes Feuer brennt im Kamin. Sie ſitzt am Fenſter und lieſt. Ihre Züge ſind matt, ſie ſieht blaß aus. Als ſie ihn erblickt, entfällt das Buch ihrer Hand, ſie bückt ſich danach, und verbirgt dabei ihr tiefes Erröthen. Es war ihr erſtes Begegnen mit ihm ſeit jener Ballnacht. Er zwingt ſich zur Ruhe. „Ich habe einen Brief von dem Fürſten Götz Gottersberg erhalten, er bittet mich um Heloiſes Hand. „Ich weiß es,“ ſagt ſie mit zögernder Schüchtern⸗ heit, „und ich hoffe, Du biſt damit einverſtanden.“ Sie ſieht ihn nicht an, während ſie ſpricht, fühlt aber die Intenſität ſeines Blickes, der auf ihr ruht, und daß es ein böſer Blick iſt, weiß ſie auch. „Nein, ich bin nicht einverſtanden. „Die jungen Leute lieben ſich. Dein Einſpruch kommt zu ſpät.“ „Nicht zu ſpät, um zu verhindern, was verhindert werden muß. Stella fährt heftig auf. — „Du wärſt imſtande — Du könnteſt — weil Götzes Vater — ich weiß nicht einmal, was er Deiner Schweſter ſo ſchweres angethan hat! Eine ſo kleinliche Rache willſt Du an dem Sohne nehmen, und damit zugleich Deine eigene Tochter“ — — Sie ſprach nicht weiter, erſchreckt von dem Ausdruck im Geſicht des Grafen. Von der Anſtrengung ſeine Erregung zu unter⸗ drücken, klang ſeine Stimme heiſer, als er antwortete: 171 „Meine Gründe wirſt Du erfahren, wenn es an der Zeit iſt, nicht jetzt. Davon ſei überzeugt — ſie ſind unerſchütterlich. Thu' Lis meinen Willen kund und ſorge dafür, daß ſie darnach handelt. „Ich kenne Lis, ſie iſt treu und feſt, ſie liebt den Fürſten, ihr Wille und ihre Liebe werden ebenſo uner⸗ ſchütterlich ſein, als Dein Wille und Dein Haß. Er bemeiſterte nicht länger ſeine Leidenſchaft. „So zwinge ſie! zwinge ſie! Jedes Mittel, ſelbſt das gewaltſamſte heiße ich gut. Eher ſtoße ich ſie als Bettlerin von meiner Schwelle, eher will ich ſie todt ſehen, denn als Gattin des Fürſten Gottersberg. Was ſie erwidern wollte, wehrte er mit einer ge⸗ bicteriſchen Geberde ab. „Ich befehle, und Du gehorchſt, denn Du haſt zu gehorchen, unbedingt zu gehorchen! und Du weißt das!“ Er knirſchte die letzten Worte zwiſchen den Zähnen heraus. Sie wollte ihm zurufen: „Nein, ich weiß es nicht, und doch ſchwieg ſie, über und über zitternd. Ein Funken vom Kamin her war ihr auf die Hand ge⸗ ſprungen, ſie ließ ihn auf der Hand fortglimmen. Sie empfand den phyſiſchen Schmerz faſt als eine Wohlthat. Er hatte das Zimmer verlaſſen. Sie blieb eine Weile geſenkten Hauptes ſtehen und grübelte. „Und Du weißt es.“ Was ſollte ſie wiſſen? Sie raffte ſich auf. Ja, ſie war entſchloſſen zu thun, was er wollte; ſie hatte ſo viele Gründe ihm zu gehorchen. Ein Gefühl ſanfter, liebevoller Unterwürfigkeit ihm gegen⸗ 172 über durchdrang ſie, und zugleich eine fataliſtiſche Neugierde, eine ſchmerzlich wollüſtige Spannung, wie ſich das alles entwickeln würde. Nun fluthete ja ihr Leben wie ein reißender Strom — aber wohin? an ein Ufer voller Blumen, oder an das öde Geſtade, von wo man nicht wiederkehrt? Sie ließ die Tochter zu ſich rufen. Vielleicht ſtellte ſie ſich alles viel zu ſchwer vor. War nicht Lis im Grunde eine kühle Natur? Dieſe junge Liebe konnte bei ihr noch keine tiefe Wurzeln geſchlagen haben. Lies kam ſogleich. Es lag eine ſtille Freudigkeit auf ihrem Weſen, ein zarter Frohſinn. Sie ſetzte ſich graziös, etwas veriegen, und mit drolliger Würde auf die Kante der Chaiſelongue, wie ein Kandidat, der examinirt werden ſoll. Stella war nun doch verwirrt, beängſtigt, und ſie begann mit unſicherer Stimme einige allgemeine Be⸗ merkungen über Schickſalsfügungen zu ſtammeln. Lis unterbrach ſie mit einem ſchelmiſchen Lächeln. „Aber Mama, man ſieht es, Du haſt noch nie am Vorabend der Verlobung einer Tochter geſtanden. Ich muß Dir nur zu Hülfe kommen. Ja — ja — dreimal unterſtrichen — ja! ich nehme ihn gern, ach wie gern! Ich liebe Götz, Mama, ich weiß er hat heut bei Euch um mich angehalten. Ich bin entſchloſſen, Mama! Lachend und erröthend beugte ſie ſich auf die Hand der Mutter, ſie zu küſſen. Stella zog die Hand ſchnell zurück. — „So ändere Deinen Entſchluß. Dein Vater will dieſe Ver⸗ bindung nicht, er will ſie nie und nimmer. 173 Lis war im erſten Augenblick mehr erſtaunt als erſchrocken. — „Wie denn? Du ſprichſt nicht im Ernſt. Das iſt ja unmöglich. „Es iſt Ernſt. Es iſt möglich. „Und die Gründe! „Ich kenne ſie nicht. „Du kennſt ſie nicht, und Du duldeſt — nein Mama — ich glaube es doch nicht. „Wir haben Beide zu gehorchen. Denke nicht mehr an Götz. „Auf einen Befehl hin ſoll ich aufhören ihn zu lieben! Aber mein Herz würde mir ſo wenig gehorchen, wie ich dem Vater gehorchen kann. Es giebt vor Gott und Menſchen keine Gründe für ſo Gewaltſames. Ich werde doch — doch ſeine Gattin. „Du wirſt es nicht. Du ahnſt nicht armes Kind, was für Dich von Deinem Gehorſam fabhängt. Wir verlaſſen morgen Berlin, Du kannſt wählen, wohin Du willſt. Ich bitte Dich Lis, füge Dich in das Un⸗ vermeidliche.“ Nichts liebevolles, ſympathiſch mitempfindendes nichts was die Härte ihrer Auseinanderſetzungen mildern konnte, lag im Weſen der Mutter; vielmehr war in ihrem Blick, ihrer Haltung, etwas Müdes, Abweſendes, dasallmählich Heloiſes Bitterkeitbis zur Entrüſtungſteigerte. „Mein Gott,“ rief ſie, „wir leben doch nicht im Mittelalter, und die Kinder ſind nicht mehr Leibeigene ihrer Eltern. Ich reiſe nicht mit Dir. Tante Charlotte wird die Verlobte des Fürſten Gottersberg in ihrem Hauſe aufnehmen. 174 Die kalte Entſchloſſenheit der Tochter reizte Stella, die ohnedies in krankhafter Stimmung war, auf's änßerſte. Dazu kam die Furcht vor Graf Albrecht. Sie verlor die Selbſtbeherrſchung, und heftig, hart ſtieß ſie heraus: „Dein Vater macht Dich zur Bettlerin, er will Dich eher todt ſehen, denn als Gattin des Fürſten Gotters⸗ berg. Das ſind ſeine eigenen Worte. Wähle! Lis drängte gewaltſam die Thränen zurück, die ihr in die Augen ſtürzten. Ihr Stolz, ihre Empörung gewannen die Oberhand. „Das iſt nicht wahr!“ ſagte ſie mit gewaltſamer Ruhe, „eine leere Drohung! Damit ſchreckt man keine Ronald⸗Büren.“ „Du — ja — eine Ronald⸗Büren! ja Stella ſenkte die Augen, die aufflammenden, zu Boden, unterdrückte mühſam, was über ihre Lippen wollte und zwang ſich wieder zur Sanftheit; ſie wollte gütig und liebevoll Lis überreden, und doch waren es nur Gemein⸗ plätze von Pflicht und Entſagung, die ſie vorbrachte, und die das junge Mädchen kaum hörte, bei dem ſich der Eindruck des Ungeheuerlichen, das man ihr anthat, vertiefte. „Mich wollt Ihr von der Schwelle ſtoßen, mich, eure Tochter, euer einziges Kind, weil ich den edlen Mann nicht verlaſſen will, den ich liebe. Aber das iſt ja unfaßlich, das iſt — das iſt — — und Du Mutter — Du predigſt mir von Pflicht und Entſagung, Dn — — o!“ — Der Ton, in dem Lis die letzten Worte ſprach, war geringſchätzig. 175 Alles Blut ſtrömte Stella zum Herzen. Sie fühlte, daß ſie dieſes Mädchen haßte, die es wagte ſie zu ver⸗ achten. auf Dein Zimmer — ich will Dich heut nicht mehr ¹ „Ich verbiete Dir jedes weitere Wort. Geh ſehen.“ ſich die Worte aus Heloiſes Bruſt, als aber jetzt ihr „So ſpricht eine Mutter!“ Aufſchluchzend rangen Blick dem harten, liebloſen Auge der Mntter begegnete, flammte es auch in ihren Augen auf, und empört fügte ſie hinzu: „eine Mutter, die mich verheirathen wollte mit“ — — Eine unbeſchreibliche Angſt packte Stella, daß Lis etwas Furchtbares ausſprechen könne, und ſie fiel ihr in's Wort: „Ich bin nicht Deine Mutter! Ein Schimmer der Freude glitt über Heloiſes Züge. Stella ſah ihn. „Nein, ich bin nicht Deine Mutter,“ wieder⸗ holte ſie mit kalter Grauſamkeit. Sie fühlte jetzt eine Befriedigung über das, was ſie geſagt, wie eine Be⸗ freiung nach jahrelangem Zwang; jener Schimmer der Freude in Heloiſes Geſicht hatte alles Liebevolle in ihr getödtet. Nur allmählich wurde ſich Lis der Tragweite deſſen, was ſie gehört, bewußt. Es war eine Unruhe in ihrer Stimme, und ihr Blick irrte unſicher umher, als ſie fragte: „War der Vater denn ſchon einmal verheirathek?“ „Nein.“ So bin ich nur eine Verwandte von Euch?“ 176 „Nein. „Nein? wer — bin ich — denn?“ Die Worte kamen abgeriſſen, ohne Athem von Heloiſes Lippen. Stella ſchwieg. Es entſtand eine Pauſe. Immer angſtvoller irrte Heloiſes Blick umher. Plötzlich ſchien ihr eine Erleuchtung zu kommen. — „Aber der Vater — nicht wahr? Der Vater er iſt mein Vater? „Ich weiß es nicht. Frage ihn ſelbſt. „Ja — ja, das will ich.“ Sie ging langſam, den Köpf ſchüttelnd, hinaus. Sie war unfähig die Situation zu faſſen, wie jemand, der von einer Kugel ge⸗ troffen, in der Betäubung des Stoßes den Schmerz noch nicht fühlt. Sie ging geradenwegs in das Zimmer ihres Vaters. — „Biſt Du mein Vater: Graf Albrecht, der über ſeinen Büchern ſaß, ſprang auf, erſchreckt vom Klange ihrer Stimme. — „Was iſt Dir mein Kind. Sie brachte die Lippen nicht zuſammen, die Worte kamen in zitternden Tönen aus ihrem Munde. „Die Mutter — hat mir geſagt — ſie iſt nicht meine Mutter.“ Graf Albrecht war indignirt. Das konnte Stella thun! Er nahm Heloiſes eiskalte Hände in die ſeinen. — „Und Du haſt ſie geliebt, Deine Mutter?“ — „Nein! Aber Du — Vater, lieber Vater, ich bin gewiß Deine Tochter! Bebend am ganzen Körper ſchlang ſie die Arme um ſeinen Hals. Er drückte ihr Köpfchen gegen ſeine 12 177 Bruſt. Er kämpfte mit ſich. Sollte er durch eine Lüge das tiefe Leid des Kindes mildern? Und wenn ſie es eines Tages doch erfahren mußte! Noch ſchwankend, ſagte er herzlich, aber doch feſt: „Lis, es giebt ſchwerere Schickſale als einem Glücks⸗ traum zu entſagen. Ich bitte Dich mein Kind, löſe Deine Verlobung mit dem Fürſten, zwingende Gründe — leider kann ich ſie Dir nicht mittheilen — fordern dieſes Opfer. Du mußt mir glauben. Willſt Du's?“ All' ihr Stolz, ihre Entrüſtung kehrten zurück. — „Nie!“ ſagte ſie hart und ſchroff. — „Du biſt nicht meine Tochter, Lis Es traf ſie vernichtend. Nach einer Pauſe fragte ſie matt: „Wer bin ich denn: „Ein angenommenes Kind. „Und meine Eltern?“ „Arme Leute! „Arme Leute!“ wiederholte ſie. Es kam ihr bei⸗ nahe lächerlich vor, ſie konnte keine beſtimmte Vorſtellung damit verbinden. — „Wo wohnen ſie! „Dein Vater iſt todt. Die Frau, die für Deine Mutter gilt, heißt Johanne Chriſtoph und hat eine kleine Mühle im Baden'ſchen.“ Sie ſah ſich rings im Zimmer um, ſie blickte auf⸗ merkſam die Bilder an, dann eine Statuette des Moſes von Michel Angelo, die ſie beſonders liebte. Sie ſah einen kleinen Riß in der Portiére, und ein wenig Staub auf einem Bücherbrett. Ihre Seele war wie verſchüttet, 178 nur die äußeren Sinne waren in Funktion. Sie wandte ſich zum Gehen. „Wohin gehſt Du!" „Ich weiß nicht; ich gehöre ja hier nicht her." „Ich begreife, daß Du auf einige Zeit von uns gehen willſt. Ich werde cinen Ort für Dich wählen und eine Reiſebegleiterin. Vielleicht willſt Du nach Italien? Ich werde Sorge für Dich tragen, wie nur ein Vater es kann. Du wirſt zur Ruhe, zum Nachdenken kommen, Du wirſt Dich fügen. Dann kehrſt Du zu uns zurück." Die letzten Worte brachten Lis zu ſich. „Nein! Ich will auch nicht nach Italien. Ich brauche keine Reiſebegleiterin. Ich weiß, wohin ich ge⸗ höre. Wie heißt doch meine Mutter?" „Johanne Chriſtoph." „Wo wohnt ſie?" „Wozu willſt Du es wiſſen? Dorthin kannſt Du nicht.“ „Ich will es wiſſen, ich muß es wiſſen, Du haſt kein Recht es mir vorzuenthalten. Widerwillig ſchrieb er die Adreſſe auf ein Blatt Papier und reichte es ihr. Sie las: „Chriſtophmühle bei Os, in Baden.“ Sie wußte, Os war die letzte Station vor Baden⸗Baden. Langſam, mit automatiſcher Bewegung wandte ſie ſich der Thür zu. Bei all ſeinen finſteren Plänen hatte Graf Albrecht nie an Lis gedacht. Als er ſie nun ſo gebrochen vor ſich ſah, überkam ihn ein marterndes Mitleid, zugleich ein Grimm darüber, daß wieder ein Hinderniß da iſt, 179 das die Vergeltung hemmen will. Er ſann einen Augen⸗ blick nach. Vielleicht gab's noch ein Mittel. — „Lis!“ Sie blickte ihn geſpannt an. . „Dir kann ich die Gründe meiner Weigerung nicht ſagen, aber ich kann ſie dem Fürſten mittheilen. Wenn er nun ſelbſt erklärt, daß eine Verbindung zwiſchen Euch unmöglich iſt, ihm wirſt Du glauben! Sie nickte mechaniſch. Und wenn es ſo war, was änderte das? Graf Albrecht griff nach ſeinem Hut. „In einer Stunde bin ich wieder da, gieb mir Dein Wort, daß Du hier auf mich warten willſt! Sie gab es. Als er gegangen war, ſetzte ſie ſich auf einen Lehnſtuhl an's Fenſter und ſtarrte in den Frühling hinaus. Schon knospeten die Roſen. Warum die Leute nur den Frühling ſo ſchön finden! Die Luft iſt bedrückend. Götz! lieber Götz! Sie will an ihn denken, und daran, daß er ſie ſo innig liebt; ſie kommt damit nicht zuſtande. Götz ſteht jetzt nur noch in der Ferne, im Hintergrunde ihres Lebens. „Es giebt ſchwerere Schickſale als einem Glücks⸗ traum zu entſagen.“ Ja ſo iſt es. Sie blickt auf ein ſpätblühendes Pfirſichbäumchen im Garten. Nimmt man ihm alle Blüthen, im nächſten Jahre blüht es von neuem; ſchlägt man ihm aber die Wurzel ab, iſt Alles aus. Für ſie iſt Alles aus. Sie ſieht ihre Hände an, die langen, ſchlanken, lilienweißen Finger, ſie ſpielt mit dem Rubin. „Armie 180 Leute, arme Leitte!“ murmelt ſie vor ſich hin. Ob arme Leute, die eine Mühle haben, immer die Mehlſäcke auf dem Rücken tragen müſſen? Sie hat einmal Leute aus einer Mühle kommen ſehen mit ſolchen Säcken auf dem Rücken, und eine Frau war darunter, die ſich mit einer bunten Schürze die Naſe ſchneuzte. Es läuft ihr eiſig über den Rücken. Sie verfolgt das Vorrücken des Zei⸗ gers auf der Uhr. Sie dämmert ſo hin, länger als eine Stunde. Der Umſchwung iſt zu jäh geweſen, zu unge⸗ heuerlich, als daß ſie es jetzt ſchon faſſen könnte. Fürſt Andreas Gottersberg hatte leicht die Stirn gerunzelt, als man ihm den Grafen Ronald⸗Büren meldete. Doch begrüßte er ſeinen Schwager mit aus⸗ geſuchter Höflichkeit. Er öffnete ſein Arbeitskabinet und bot dem Gaſte einen Fauteuil an. Der Graf zog es vor ſtehen zu bleiben. Fürſt Andreas ſtützte ſeinen Arm graziös auf den Kaminſims, und blickte mit einem Lächeln auf den Lippen den Grafen erwartungsvoll an. „Daß es nur etwas ungewöhnliches ſein kann, das mich in Ihr Haus führt,“ begann dieſer, „daran werden Sie nicht zweifeln. Der Fürſt neigte beiſtimmend den Kopf. Er zwei⸗ felte in der That nicht daran, und wußte auch, daß das Ungewöhnliche etwas ſehr Unangenehmes ſein würde. „Iſt Ihnen bekannt, daß Ihr Sohn ſich um die Hand der Comteß Heloiſe bewirbt? „Ja, und ich wüßte mir keine liebere Schwieger⸗ tochter.“ 181 „Dieſe Heirath kann und wird nicht ſtattfinden. Ich komme, um Ihre Autorität Ihrem Sohne gegen⸗ über in Anſpruch zu nehmen. Ich bitte Sie, ihn zu der ausdrücklichen Erklärung zu veranlaſſen, daß zwin⸗ gende Gründe die Aufhebung der Verlobung, die ohne meine Einwilligung geſchloſſen iſt, fordern.“ „Darf ich um die zwingenden Gründe bitten? Langſam, als wollte er zwiſchen den einzelnen Worten Zeit zur Selbſtbeherrſchung gewinnen, ant⸗ wortete Graf Albrecht. „„Heloiſe iſt keine Comteß Ronald⸗Büren; ſie iſt ein angenommenes, ein uneheliches Kind, das von mir nicht adoptirt worden iſt. Sie trägt demnach ihren Namen mit Unrecht und iſt — ohne Erbrecht.“ Die letzten Worte betonte der Graf beſonders ſtark mit einem verächtlichen Accent. Fürſt Andreas zuckte nicht mit der Wimper. — „Und Sie würden bei einer eventuellen Ver⸗ heirathung Ihrer Pflegetochter dieſe Dinge zur Sprache bringen? Graf Albrecht war zu ſtolz, um zu lügen, ſelbſt dieſem Manne gegenüber. „Verheirathet ſich das Mädchen, wie es meinen Wünſchen entſpricht, ſo adoptire ich ſie, und ſie wird Erbin meines Vermögens. Ihr Sohn aber würde eine namenloſe Bettlerin heirathen. Fürſt Andreas konnte dem Kitzel ſeinen Feind zu verletzen, nicht widerſtehen; zudem nahm er die Worte des Grafen für eine leere Drohung. Er hielt ihn für unfähig einen ſolchen melodramatiſchen Theatercoup in 182 Scene zu ſetzen. Im ſchlimmſten Fall würde ſich Götz ſchon aus der Klemme zu ziehen wiſſen. er mit einer ſchönen, ſchwungvollen Bewegung ſeines ¹ „Wir werden die Verſtoßene aufnehmen,“ ſagte rechten Armes, „das Quantum herzloſer Grauſamkeit, das dazu gehört, zwei Schuldloſe, aus Haß gegen einen Dritten zu ecraſiren, bringe ich nicht auf. „Iſt das Ihr letztes Wort: „Ia.“ „Ihr Sohn wird anders denken als Sie. „Ich bürge dafür, daß er gerade ſo denkt. Graf Albrecht athmete ſchwer. Er blickte zu Boden, ſeine Lippen öffneten ſich mühſam, als er von neuem das Wort nahm. „Heloiſe iſt das Kind einer gewiſſen Johanne Chriſtoph. Sie wurde geboren auf dem Rittergute — der Name thut nichts zur Sache — am zwanzigſten Auguſt 1869 und erhielt in der Taufe die Namen Eliſabeth Charlotte. Vater — unbekannt.“ Bei den letzten Worten hoben ſich des Grafen Augenlider und er fügte hinzu: „Ich kenne ihn. Unter dem haßſprühenden Blick des Grafen färbte eine leichte Röthe das glatte Geſicht des Fürſten. „Wer gab Ihnen dieſe Daten?“ fragte er nach einer kurzen Pauſe, wieder ganz Herr ſeiner flüchtigen Erregung. — „Meine Schweſter Ulla.“ Der Fürſt wandte nun doch den Kopf und ſchien in einem Winkel des Zimmers etwas zu ſuchen. „Mein Gott, wer konnte der armen Ulla — 183 „Ein anonymer Brief. Allmählich gewannen die geſtörten Züge des Fürſten ihren gewöhnlichen Ausdruck ruhiger Liebenswürdigkeit wieder. Kindes annahmenk „Darf ich fragen, warum Sie ſich gerade dieſes Der Graf antwortete darauf nicht. Er ſagte nur: „Ich verlange von Ihrem Sohne, daß er die Erklärung der Verzichtleiſtung in einer zwar entſchiedenen, aber möglichſt ſchonenden Form für das junge Mädchen ab⸗ giebt, und daß er es ſofort thue.“ In der Meinung, daß ein Widerſpruch ausgeſchloſſen ſei, wandte ſich Graf Albrecht zum Gehen. Die Worte des Fürſten hielten ihn zurück. „Ich fürchte,“ ſagte dieſer, daß mein Einfluß auf die Entſchließungen meines Sohnes gleich Null iſt. Er iſt ſehr ſelbſtſtändig, mein Herr Sohn. Auch ſehe ich, offen geſagt, keinen Grund ihm Oppoſition zu machen.“ Er ſchob ein Bild an der Wand, das ſchief hing, zurecht und blickte über die Schulter hinweg, freundlich zu dem Grafen hinüber, der wie angewurzelt an der Thür ſtehen geblieben war. „Wie,“ ſagte er mit einem Staunen, das nicht frei von Schrecken war, „Sie könnten — Sie wollten — aber — das iſt ja unmöglich! „Was iſt unmöglich: „Es giebt Naturgeſetze, göttliche Inſtinkte, deren Uebertretung einem Verbrechen gleichkommt. 184 „Hm!“ machte der Fürſt mit einer Nüance von Ironie im Tone, indem er den Rücken ſeiner feinen Hand aufmerkſam betrachtete, „ſind Sie im Beſitze einer Separat⸗Offenbarung, welche Inſtinkte göttlich, welche Gefühle angeboren ſind: „Alle Diejenigen, in denen ich mich eins weiß mit den guten Elementen der Geſellſchaft. „Ob nicht, was Sie Naturgeſetz, göttlichen In⸗ ſtinkt nennen, einfach auf Gewöhnung, Vorurtheil und Vorſtellung, ja hauptſächlich auf unſere Vorſtellung zurückzuführen wäre? Sie kennen wahrſcheinlich die Geſchichte von den zum Tode verurtheilten Verbrechern, denen man klares Waſſer gab, indem man ihnen ein⸗ redete, daß ſie Gift getrunken hätten. Die Meiſten ſtarben an dem klaren Waſſer. Daß wir an Gift ſterben müſſen, iſt Naturgeſetz. Sie ſehen, wir ſterben aber auch an der Vorſtellung von Gift. „Ein merkwürdiger Augenblick, den Sie wählen, mich durch Anekdoten zu langweilen.“ „Sie verſtehen nur die Pointe nicht. Sprechen wir z. B. von einer Ehe zwiſchen Geſchwiſtern, die reine Gemüther mit einem moraliſchen Schauder erfüllt, obgleich die Moral damit nicht das Geringſte zu thun hat. Hier hat man eine phyſiologiſche Erkenntniß in ein möraliſches Gewand gehüllt. Die phyſiologiſche Wahrheit heißt: Ehen zwiſchen nahen Verwandten ſchädigen die Raſſe. Ob ein Bruder ſeine Schweſter oder ein Couſin ſeine Couſine heirathet, das wäre für dieſe Erwägung ſo ziemlich daſſelbe. Heirathe ich meine Schweſter, ohne zu wiſſen, daß ſie meine Schweſter iſt, 185 ſo kann ich eine ſchöne und geſegnete Ehe mit ihr führen. Erfahre ich aber, daß ich die Schweſter zum Weibe nahm — Wehe! dreifach Wehe! mit all dem melodramatiſchen Apparat, der dazu gehört. Seine ſchlanke Geſtalt hochaufgerichtet, mit ver⸗ ſchränkten Armen, ſtand ihm Graf Albrecht gegenüber, und hörte ihm zu, mit einer Art Begierde, als wolle er aus jedem ſeiner Worte neue Nahrung für ſeinen Haß ſaugen. ¹ „Meinen Sie?“ ſagte er voll höhniſchen In⸗ grimms, „Ihr ſittliches Bewußtſein würde auch wahr⸗ ſcheinlich gegen eine Ehe zwiſchen Vater und Tochter, zwiſchen Mutter und Sohn nichts einwenden: ¹ „Doch, doch. Ich halte auch Ehen zwiſchen Geſchwiſtern für unſtatthaft, aus den erwähnten phyſio⸗ logiſchen Gründen. Ausnahmen indeſſen würden für das Wohlbefinden der Menſchheit indifferent ſein, und dann — in unſerer corrumpirten Geſellſchaft, wer weiß denn überhaupt, wer ſein Bruder, ſeine Schweſter oder — ſein Vater iſt? beſonders das Letztere — ſein Vater!“ „„Vergeſſen Sie nicht, Fürſt, Sie leben von der Gnade einer Todten, die meine Hand gelähmt hat.“ „Ich möchte nur noch erwähnen, mit wie großem Intereſſe ich Ihre ausgezeichneten landwirthſchaftlichen Referate geleſen habe. Wenn Sie unausgeſetzt, nicht ſporadiſch wie bisher, Ihre ſchätzenswerthen Kräfte dieſem Gebiet widmen wollten, es wäre viel werthvoller als das Herumſtöbern im Labyrinth dunkler Familienbe⸗ 186 ziehungen, viel wichtiger als — daß ein Vetter ſeine Muhme heirathet.“ „Oder ein Bruder ſeine Schweſter. „Laſſen Sie doch den Dingen ihren Lauf. meiſten verhaßt.“ „Die philoſophiſche Ruchloſigkeit iſt mir am „Sie ſind erregt lieber Graf, daß Sie mich haſſen, thut mir in der Seele leid — um Ihretwillen. Mir ſchadet Ihr Haß abſolut nicht. Glauben Sie mir, dieſes Haſſen und ſich Rächenwollen iſt ſo thöricht, als wollten wir Jemandem, der uns den Rock ſtiehlt, das Hemde hinterherwerfen, anſtatt für einen neuen Rock zu ſorgen. Ein fait accompli ſchaffen nicht Blut, nicht Thränen aus der Welt. Jener perſiſche Fürſt, der ſich jeden Morgen zurufen ließ: „Herr gedenke der Athener“, ſtarb in der Blüthe des Lebens an eben dieſen Athenern. „Herr vergiß der Athener!“ hätte er über ſeine Thür ſchreiben ſollen. Begraben Sie Ihre Todten, Graf Albrecht. Mich finden Sie immer bereit, Ihnen zur Verſöhnung die Hand zu reichen. Sie ſollten mir die Ihrige geben, ehe unſerer Beider Hände vermodert ſind, — und wie bald ſind ſie's! Graf Albrecht fand in ſeiner vornehmen Art keinen Ausdruck, der ſtark genug geweſen wäre ſeine Verach⸗ tung auszudrücken. Sein Zorn ging in Schwermuth über beim Anblick der vollkommenen Seelenruhe dieſes Schurken. Wenn Niedertracht ein Panzer iſt, dachte er, von dem alles Unheil abprallt, ſo muß wohl Tugend eine Blöße ſein, die jedem Pfeil den Weg zum Herzen zeigt. 187 ohne Blick, die Hände, in denen er den Hut hielt, Er ſenkte tief das Haupt, ging hinaus, ohne Gruß, zitterten. Der Fürſt ſah ihm mit einem Blick des Mitleids nach. „Auch Einer, der ſein eigener Todtengräber iſt! armer Kerl“. Er wollte klingeln, damit man ihm ſein ſpätes Diner ſervire, blieb aber plötzlich mitten im Zimmer wie erſtaunt ſtehen. „Comteß Lis! ſieh!“ Er lächelte in ſich hinein. „Merkwürdig! die Stimme der Natur! auch ein Aberglaube! Und was für einer!“ Als er eine Viertelſtunde ſpäter beim Diner ſaß, fand er, daß nichts den Appetit ſo ſchärfe, als Gemüthserregungen. Unter dem abſcheulichen Eindruck der Unterredung mit dem Fürſten, hatte ſich das warme Mitgefühl des Grafen Albrecht für Lis abgekühlt. Er fand das junge Mädchen noch immer hindämmernd am Fenſter. „Mein Gang war vergebens armes Kind, ſagte er im Eintreten, „Du wirſt reiſen, vielleicht morgen ſchon, ſpäteſtens übermorgen“. „Ich gehe zu meiner Mutter. „Das iſt nicht Dein Ernſt. „Ich gehe zu meiner Mutter!“ wiederholte ſie mit finſterem Trotz. „Niemals wirſt Du Dich in ſo dürftige Ver⸗ hältniſſe finden, Du wirſt Häßliches dort ſehen, hören. „Und hier; — „Mit Gewalt kann ich Dich nicht zurückhalten Aber Du wirſt an mich ſchreiben „Nein. 188 „Wenigſtens wenn Du Dich elend fühlſt. Du könnteſt krank werden. „Ihr werdet's erfahren, wenn ich geſtorben bin. „Ruhe jetzt Kind, ruhe, morgen ſprechen wir weiter darüber. meiner Mutter.“ „Ich werde immer daſſelbe ſagen, ich gehe zu Er reichte ihr die Hand, ſie wehrte ſie ab. „Willſt Du im Groll von uns gehen! „a. Ich verdanke Euch nichts als eine Lüge, eine Lüge, die“ — — Sie ſah ihn mit einem wilden Blick an, und eilte hinaus. Der Graf verließ noch einmal das Haus, und trat in ein Poſtbüreau, wo er eine lange Depeſche an die Chriſtophmühle aufgab. Er wollte Lis ſelbſt dahin ge⸗ leiten, und er würde verſuchen ihr Loos ſo freundlich als möglich zu geſtalten. Als Lis in ihr Zimmer kam, dämmerte es bereits. Sie ſetzte ſich auf ihr Bett und ſtarrte vor ſich hin. „Arme Leute — arme Leute!“ Sie iſt nicht mehr Com⸗ teß, ſie iſt — — was iſt ſie denn? Sie ſchaudert über und über, ſie ſtößt einen Schrei aus: „unmöglich! un⸗ möglich!“ Sie ſtürzt ans Fenſter — ſie blickt hinab. — Da hinab — dazu fehlt ihr der Muth. Sie fährt mit der Hand über ihren Körper, als wolle ſie etwas Un⸗ leidliches, Erniedrigendes abſtreifen. Einmal klopft es leiſe an ihrer Thür. Sie hält den Athem an. Es klopft ein zweites, ein drittes Mal, ſie antwortet nicht. Sie kann Niemand ſehen. Langſam, wie zögernd entfernen ſich draußen die Schritte. 189 Nach und nach macht ihre Betäubung einer fieber⸗ haften Erregung Platz. Es fällt ihr ein, daß ſie an Götz ſchreiben muß. Nur etwas thun! nur etwas thun! Sie ſchreibt in fliegender Haſt: „Man will nicht, daß ich Dein Weib werde, Du wirſt es auch nicht mehr wollen. Ich bin ja nicht die Comteß Heloiſe Ronald⸗ Büren, ich bin ein beliebiges Geſchöpf, armer Leute Kind bin ich. Sie haben mir befohlen Dich nicht mehr zu lieben. Weil ich nicht gehorchen wollte, jagen ſie mich nun fort, und ich gehe in's Dunkle, in die Ferne, in die Nacht, dahin, wo Du nicht biſt, wo Du nie hin⸗ kommen wirſt, nie — nie! Ach Götz, Deine Lis wird nie mehr Deine Lis ſein. Ich danke Dir tauſend Mal Götz für all Deine Liebe.“ Sie will den kurzen Brief mit ihrem Petſchaft zu⸗ ſiegeln. Ihr Blick fällt auf das gräfliche Wappen, ſie hat ja kein Recht mehr daran. Sie wirft es fort. Es iſt neun Uhr, als ſie den Brief einem Diener zur Be⸗ ſorgung übergiebt. Sie geht im Zimmer auf und ab und denkt mit Entſetzen an morgen. Ihre Eltern wiederſehen, die nicht ihre Eltern ſind, und Götz — er wird kommen! Hat ſie ihn nicht durch ihren Brief vor eine ſchreckliche Alternative geſtellt? Wenn er nun aus Mitleid — — nein — nur das nicht! Sie hat die Reiſe nach Baden⸗Baden oft gemacht; ſie weiß wann die Züge gehen. Sie will fort mit dem Frühzug, um ſechs Uhr Morgens, Abends iſt ſie dann ſchon — bei ihrer Mutter. In wilder Haſt packt ſie die nöthigſten Sachen 190 zuſammen; eine Reiſetaſche hat ſie nicht bei der Hand. Wozu auch eine Reiſetaſche? Sie hat oft genug geſehen, daß die armen Leute nur Bündel tragen. Sie reißt einen Shawl aus einem Kaſten heraus, ohne zu ſehen, daß er koſtbar iſt, da hinein knüpft ſie die Sachen. Mit derſelben Haſt kleidet ſie ſich um. Das einfache, ſchwarzwollene Kleid, das ſie in den wenigen Trauer⸗ tagen um Tante Gisberte getragen hat, zieht ſie an. Sie kann ihre Handſchuhe nicht finden, ſie braucht keine, arme Leute tragen keine Handſchuhe. Daß ſie auch Rubinringe nicht tragen, daran denkt ſie nicht, ſie be⸗ hält den Ring am Finger. Wie aber kommt ſie zur Bahn? Sie weiß, kaum hundert Schritt von dem Palais ſtehen Nachtdroſchken, bis dahin geht ſie zu Fuß. Nichts erſcheint ihr lächer⸗ licher, als vor irgend etwas Furcht zu haben. Was kann ihr geſchehen, nachdem man ihr das Aergſte an⸗ gethan! Wer auf offenem Meere im Ertrinken iſt, fürchtet den Regen nicht. Es iſt Mitternacht, als ſie mit Allem fertig iſt. Sie hat ſich ſpäter nie erinnern können, wie ſie die Nacht hingebracht; geſchlafen hat ſie nicht. Bald ſaß ſie auf dem Bett, bald ſtand ſie am offenen Fenſter oder ging auf und ab, immer in wachen qual⸗ vollen Träumen. Um fünf Uhr Morgens geht ſie leiſe die Treppe hinab, an der Portierloge vorüber. Nichts rührt ſich im Hauſe; niemaud begegnet ihr auf der kurzen Strecke bis zur Droſchke. Sie ſieht zum Droſchkenfenſter in den hellen Sonnenſchein hinaus, und empfindet nichts als ein dumpfes Staunen darüber, daß ſie in der Morgen⸗ 191 frühe allein in einer Droſchke ſitzt. Am Schalter fordert ſie ein Billet dritter Klaſſe. Sie ſteigt ein. In dem Coupé ſitzt eine blaſſe, junge Frau mit einem Säug⸗ ling, noch eine andere Frau mit einem großen Korb und ein Mann, ein Arbeiter augenſcheinlich, der raucht. Alle Drei ſtarren das junge Mädchen mit den feinen Stiefelchen, dem Rubinring und dem Bündel am Arme, an. Unwillkürlich ſprechen ſie etwas weniger laut als ſonſt ihre Art iſt, und als Lis, von dem Cigarrenrauch beläſtigt, huſtet, legt der Arbeiter ſeine Cigarre bei Seite. Es iſt ein kühler Morgen, Lis, die nur ein leichtes Tuch umgethan hat, fröſtelt. Die Frau mit dem Korbe, die ein Tuch über dem Arme hat, reicht ihr daſſelbe freundlich hin, damit das feine Fräulein ſich nicht verkühle. Sie weiſt das Tuch mit einer Geberde des Widerwillens zurück. Sie iſt todtmüde. Allmählich verſinkt ſie in einen Halbſchlaf, aus dem ſie erſt erwacht, als der Zug an Orte ihrer Beſtimmung hält. Sie erkundigt ſich nach der Chriſtophmühle. Sie hat noch eine Stunde Wegs bis dahin. Langſam, das Bündel am Arme, macht ſie ſich auf, den Weg zur Mühle zu Fuß zurückzulegen. Inzwiſchen waren im Palais Ronald⸗Büren Stunden vergangen, ehe Heloiſes Kammerjungfer die Abweſen⸗ heit ihrer jungen Herrin bemerkte. Mehr erſtaunt als erſchrocken hatte ſie Graf Albrecht davon benachrichtigt. Er hatte ſich ſchnell gefaßt und ruhig geantwortet, daß die Comteß noch am ſpäten Abend eine Depeſche er⸗ 192 halten, die ſie ans Krankenbett einer ſterbenden Ver⸗ wandten gerufen; er ſelber habe ſie zum Frühzuge an die Bahn gebracht. Seine Gemahlin wiſſe noch nichts davon, man möge ſie nicht beunruhigen. Sobald ſie erwacht ſei, wolle er ſelbſt ihr die Mittheilung machen. Graf Albrecht zweifelte nicht daran, daß Lis den Frühzug benutzt habe, um die Chriſtofmühle aufzuſuchen. Ihre fluchtartige Abreiſe würde ihn in die höchſte Be⸗ ſtürzung verſetzt haben, wenn nicht Stella all ſeine Ge⸗ danken beherrſcht hätte. Eine Stunde ſpäter kam die Kammerjungfer ihm zu melden, daß die Gräfin ihn im Salon erwarte. Auch Stella hatte eine ſchlafloſe Nacht gehabt, in bitterer Reue über die Härte, die ſie Lis bewieſen. Sie wollte gut machen, was noch gut zu machen war. Als der Graf eintrat, ſtand ſie am Fenſter. Der helle Sonnenſchein, halb gedämpft durch die gelblichen Vor⸗ hänge hauchte einen Goldton über ihr weißliches, fein⸗ geſticktes Morgenkleid. Das nur loſe aufgeſteckte Haar flimmerte um ihren ſchönen Kopf. Ein eigenthümlich rührend kranker Ausdruck war in ihrem Geſicht. ¹ „Und Lis?“ rief ſie ihm entgegen, „das arme Kind! Ich war ſpät Abends noch an ihrer Thür; ſie ſchlief ſchon oder wollte mich nicht ſehen. Was haſt Du ihr geſtern geſagt? „Lis iſt mit dem Frühzug abgereiſt. Stella erſchrak. „Mein Gott, wohin? mit wem! „Gleichviel wohin und mit wem, ſie kehrt nicht zurück. „Nicht zurück: 193 13 „Nein, Du haſt ſie heimathlos gemacht. „Daß ich mich zu einer ſolchen Grauſamkeit hinreißen ließ, es iſt Deine Schuld! Gründe meiner Handlungsweiſe nicht. „Biſt Du deſſen ſo ſicher? Du kennſt ja die ſie begegnete ſeinem, ſtarr auf ſie gerichteten Blick und „Kann es andere geben als Dein Haß ſchwieg. „Es giebt andere,“ ſagte er, die Stimme nur wenig erhebend, er ließ ſie gleich wieder ſinken, als er hinzufügte: „Zum Beiſpiel den Grund, daß Fürſt Andreas Gottersberg Dein Geliebter geweſen iſt — vor unſerer Verheirathung.“ Sie umſchlang das Kreuz des Fenſters, an dem ſie ſtand und ſchloß einen Augenblick die Augen, aber ſie zitterte nicht. Tief holte ſie Athem, wie jemand der eine ſchwere Bürde von ſich geworfen, die ihm die Bruſt zuſammengeſchnürt hat. Achtzehn Jahre hatte ſie die Qual der Ungewißheit getragen, die Gewißheit war eine Befreiung. Eine ſeltſame Ruhe kam über ſie. „Ja, ſo iſt es,“ ſagte ſie nach einer Pauſe: „Seit wie lange weißt Du es: „Seitdem ich am Sterbebett meiner Schweſter ſtand. „Starb ſie“ — — Stella zögerte. „Ja, daran ſtarb ſie, daran, daß ihr Gatte, während er mit ihr verlobt war, eine Geliebte hatte, und daß er dieſe, ſeine Geliebte zur Gattin ihres ehrlichen Bruders machte. Ja, daran ſtarb ſie. Es giebt Menſchen, die 194 können in einem Sumpf nicht leben, auch wenn ſie ſchuldlos hineingerathen. „Und wie erfuhr ſie es² „Das iſt gleichgültig. Sie ſprachen Beide ſeltſam ruhig, es war etwas ſtilles, ſchwüles, verhaltenes in dem tonloſen Klange ihrer Stimme, wie die Windſtille, die dem Sturme vor⸗ angeht. „Und als Du es erfuhrſt, warum haſt Du mich nicht gleich fortgejagt! „Ich wollte es. Im letzten Augenblick hielt mich eine feige Furcht zurück, Furcht vor dem Skandal, Furcht auch vor der Lächerlichkeit. Ein Mann, zweimal von einem Weibe in gleicher Weiſe genarrt“ — — Seine Züge verzerrten ſich. „Und kein Schimmer von Mitleid, von mit⸗ leidiger Liebe war in dem, was Du nicht thateſt?. „ „Mitleid,“ ſagte er langſam, mit ſtechendem Blick, „Mitleid — mit einer Verworfenen: Sie ſchüttelte leiſe den Kopf. „Das glaubſt Du ſelbſt nicht. Hätteſt Du mir nur gleich Alles geſagt, Albrecht, es wäre noch gut geworden, ganz gewiß Albrecht, ich weiß es. „Gut?“ Verächtlicher Spott zuckte um ſeine Lippen. Sie faltete ihre Hände feſt unter der Bruſt zuſammen, als wollte ſie ihr lautklopfendes Herz beſchwichtigen, und gedämpften Ton's ſagte ſie: „Ich war ſechzehn Jahr, Albrecht! Ein Kind, das in die Hände eines Schurken fällt, kann immer nur ein 13* 195 Opfer ſein. Willſt Du hören, was ich Dir zu ſagen habe? Er bejahte mit einer Geberde, und ſah ſie an mit einem Ausdruck, als wolle er ſagen: rede nur, rede, ich habe Zeit mit dem Blitzſtrahl in meiner Fauſt. „Es iſt nicht recht,“ hob Stella in ſanftem Ton wieder an, „daß man uns in abſoluter Unwiſſenheit aller natürlichen Dinge aufwachſen läßt. Ich war des Fürſten Braut. Auf ſeinen Wunſch blieb unſere Verlobung geheim. Daß die Rechte des Bräutigam's andere ſind als die des Gatten, ich wußte es gar nicht. Wie ſollte ich dem Mann, den alle Welt ſo übermäßig ſchätzte, nicht blindlings vertrauen! Und niemand wachte über mich. Meine Erzieherin war käuflich. „Und warum wurdeſt Du nicht ſeine Gattin! „Er mußte erſt ein Verlöbniß mit einer Andern, in das man ihn hineingezwungen, löſen — ſo ſagte er. Das Verhältniß hatte ſich nicht ſo einfach löſen laſſen, man wollte ihn zwingen ſein Wort zu halten, er aber würde das Band gewaltſam zerreißen — ſo ſagte er. Ein Duell mit dem Bruder des verlaſſenen Mädchens, dem Grafen Ronald Büren war unabwendbar. Daß er in die Luft ſchießen würde, verſtand ſich von ſelbſt — ſo ſagte er. Wodurch er mir die Meinung beibrachte, daß ich ihn lebend nicht wiederſehen würde, weiß ich nicht mehr. Eine rührende Scene, großartig von ihm geſpielt. Wir weinten Beide ſo bitterlich, und ich war es ſelbſt, die zu ihm ſagte: Heirathe Ulla! aber lebe! Und er heirathete Ulla und er lebte! Und wie lebte er! Ulla war ja reich. Ich galt damals für arm. 196 Niemand wußte von dem Reichthum der alten Verwandten, und daß ich ihre Erbin ſein würde. O der“ — — Sie unterdrückte einen Aufſchrei. Albrecht hatte ihr mit ſcheinbar kalter Ruhe zu⸗ gehört. „Ob der Fehltritt eines ſo jungen Mädchens zu verzeihen iſt,“ ſagte er jetzt, „darüber will ich nicht richten. Aber das Kind wurde zum Weibe, und heirathete einige Jahre ſpäter einen Ehrenmann. Wußte ſie auch da nicht was ſie that? Wußte ſie auch da nicht daß ſie eine ehrloſe Handlung beging: Stella ſenkte den Kopf nnd ſagte: „Doch, ich wußte es. Ich hatte mit der Zeit begriffen, was man mir gethan.“ Ihre Haltung veränderte ſich. Sie richtete ſich hoch auf. Die Worte ſchienen ſich aus der Tiefe ihrer Seele ſchmerzlich loszuringen. In ihren Augen war ein wildes ſprühendes Licht, als ſie fortfuhr: „Es giebt eine ſo ungeheure tödtliche Ungerechtigkeit, daß jeder Blutstropfen in uns nach Vergeltung lechzt. Sie zu ertragen geht über menſchliche Kraft. Wie? ein Menſch begeht ein Verbrechen an mir, und ich — ich werde dafür verurtheilt, verflucht, und er, der Ver⸗ brecher, erſtickt förmlich in Glück und Ehren! Wollte ich ſeine Geliebte ſein? Nein, tauſendmal nein! Und in einer ſo feigen nichtswürdigen Welt ſollte ich gut und lauter handeln! Lächerlich ſchien mir das, wahnſinnig, als wollte ich mich einem Feind, der mir an's Leben will in die Arme werfen.“ „Du zogſt es vor einen Freund zu beſchimpfen. 197 Sie trat nah zu ihm heran, die Augen feſt auf ihn gerichtet. „Daß ich Deine Gattin wurde, war in heißem In⸗ grimm, in einer Tollheit raſenden Schmerzes, ich glaubte ein Recht zu haben, auf das unermeßliche Unrecht, das man mir gethan mit einem andern Unrecht zu antworten. Ich that es, wie man einem eine Verwünſchung ins Geſicht ſchleudert.“ werfend. „Du haſt wenigſtens den Muth Deiner Meinung. „So alſo haſt Du gedacht,“ ſagte Albrecht weg⸗ Ein nervöſes Zittern durchflog ihre Glieder. „So habe ich gedacht, ja, aber nicht lange Al⸗ brecht, nicht lange. Als ich anfing Dich zu lieben, und Dich immer mehr liebte, da wußte ich, daß alles was ich gedacht, falſch war, grenzenlos falſch, und ſeitdem habe ich gelitten — Unſagbares litt ich. Und immer wollte ich Dir alles ſagen, jeden Tag, zu jeder Stunde, und ich hätte es Dir auch geſagt. Da kamſt Du ſo verwandelt zurück vom Sterbebette Deiner Schweſter, und ſeitdem ahnte ich, daß Du es wußteſt, und nun wäre es ja nicht freiwillig geweſen, das Geſtändniß, und nun wußte ich auch, daß Du mir nicht vergeben würdeſt. Und ich gewöhnte mich an die Qual, und gewöhnte mich an die Furcht vor Dir. Und immer ſeitdem habe ich im Fieber gelebt, und wie auf der Flucht vor einer Todesgefahr. Ein elendes Leben, Albrecht, und ich liebte Dich mit brennender Sehnſucht, bis zu jener Nacht wo Du mich — zur Dirne machteſt. Sie hatte, während ſie die letzten Worte mit namen⸗ loſer Bitterkeit ſprach, den Kopf geſenkt, gleich aber erhob 198 ſie ihn wieder und mit freiem, faſt freudigen Ausdruck ſagte ſie: „Gott hat es anders gewendet. Du wirſt mir verzeihen, Albrecht! Du mußt! „Es giebt keinen Mann, der einem Weibe je verzeihen könnte, was Du mir gethan. „„Es giebt keinen. Es iſt möglich, aber es iſt nicht recht. Biſt Du auch der Meinung daß die Sünde heim⸗ geſucht werdenſoll bis ins zehnte Glied! Nein, nein, Albrecht, ſie ſoll nicht heimgeſucht werden bis ins nächſte Jahr, ſie kann ſchon nach einer Woche, ſie kann ſchon am nächſten Tage verjährt ſein.. Und hätte ich in meinem ſechszehnten, in meinem achtzehnten Jahre mit Bewußtſein gefehlt, heut bin ich nicht, die ich war, ich haſſe jene Stella, ich verachte ſie, ich habe nichts mit ihr gemein. Was ich damals fühlte, dachte, es wäre längſt Staub, begraben, in alle Winde verweht. Und hat Deine Vergeltung einen ſo langen Athem, ſo trifft ſie — einen Cadaver. „Rhethorik Stella“. Sie hat das grauſame Wort überhört. Sie tritt näher zu ihm heran; rührender, ſchmei⸗ chelnder wird ihre Stimme. „Albrecht, ſoll denn immer nur die Frau ver⸗ geben, nie der Mann? Wenn ein verbrecheriſcher Gatte vom Zuchthaus, ja vom Schaffot, wo er begnadigt wurde, zu ſeiner Gattin heimkommt, ſo bricht die Welt den Stab über dieſe Gattin, wenn ſie ihn nicht in ihr Haus, ja an ihrem Herzen wieder aufnimmt, und der Mann ſtößt das Weib, das ſo viele Jahre gebüßt, hart zurück? Sieh nur, was die lange Pein aus mir gemacht hat, und was ich nie gewordeu wäre — ein 199 unſtätes, eitles, nutzloſes Geſchöpf. Lieber, denke nicht, daß ich Dir Vorwürfe machen will. Laß mich Deine Hände küſſen. Sei gütig! Vergieb Sie will ſich zu ihm niederbeugen. Plötzlich hält ſie inne. Sie preßt die Hand aufs Herz als lauſche ſie auf etwas, dann gleitet es wie ein Lächeln über ihre Züge und eine zarte Innigkeit liegt in ihrem Tone, als ſie ſagt: ſind noch jung, wir habeu noch ein Leben vor uns, ein „Löſch meine Schuld aus, löſch ſie aus! Wir ſchönes Leben, wenn Du willſt. Sie hat das Fenſter geöffnet und zeigt hinaus in den Garten. „Sieh nur, wie Alles grünt und ſproßt, es wird immer wieder Frühling draußen, immer wieder! Seit einigen Minuten kämpften in Graf Albrecht die widerſpechendſten und leidenſchaftlichſten Empfindungen. Durch Stellas ſüßen lockenden Ton dringt nur noch wie aus der Ferne der heiſer metallne Ruf nach Vergeltung. Und doch, was achtzehn lange Jahre ſein ganzes Sein erfüllt, iſt in ſeine Seele eingeätzt, ihre rührende Rede kann es verwiſchen aber nicht auslöſchen. Dennoch ſucht er nach einer milden, verſöhnenden Wendung. Welcher Dämon treibt da das Weib, als ſie den Gatten ſchwankend ſieht, hinzuzufügen; — „Und Lis rufen wir zurück. Ich glaubte mein Vergehen zu ſühnen durch die Liebe zu Deiner Tochter, jetzt erſt ganz „unſere Tochter“ — wenn Qu es ſo willſt, Albrecht. „Seine Tochter!“ All ſeine wüthende Bitterkeit kehrt zurück. Zweimal hat ein Schwur ſeinen rächenden Arm 200 aufgehalten und nun — eine rührende Stimme ſollte dieſelbe Gewalt haben wie der Todesſchweiß des Vaters, der Schweſter! Nein — nein! Sein Blick hat den lähmend fascinirenden Ausdruck der Schlange, als er ſagt: „Und Dein Kind? das Kind des Fürſten! Stella ſinkt zuſammen und faßt zitternd die Lehne eines Fauteuils, um nicht umzuſinken. „Das weißt Du auch?“ haucht ſie, und nach einer Pauſe ſagt ſie muthlos, den Kopf tief geſenkt: „Aber das ändert ja nichts, gar nichts, es iſt ganz daſſelbe; wäre das Kind am Leben geblieben, ja dann — freilich — dann hätte ich — — aber es ſtarb ja gleich nach der Geburt! Er tritt dicht vor ſie hin. Sein Blut ſiedet. Thu's nicht! thu's nicht! mahnt ihn eine innere Stimme; er will es auch nicht thun, und doch, wie von blinder Natur⸗ gewalt getrieben, ſtößt er kurz und ſpitz wie Dolchſtöße die Worte hervor: — „Dein Geliebter hat gelogen, das Kind — es ſtarb nicht, es lebt — Dein Kind. Stella ſchnellt empor, ihre Augen werden groß, uuheimlich groß. Sie ſtammelt etwas Unverſtändliches. „Das Kind, das ich Dir damals in Madrid brachte, war — Dein Kind. Sie ſcheint zu Stein zu werden. Sie öffnet und bewegt die Lippen, und er ſieht, daß ſie das Wort „Lis bilden. Das Spiel der Lippen wiederholt ſich mehrere Male, ohne daß ſie einen Laut hervorbringen kann. Faſt beſchleicht ihn Furcht, als er ſie ſo ſieht. 201 „Ja,“ ſagt er, „Lis iſt Dein Kind, Dein Kind, nicht das meine. — Lis iſt meine Rache. Stella fällt lautlos, mit einem dumpfen Aufſchlag zu Boden. Er ſtürzt ſich auf ſie. Sie ſteht ſchon wieder aufrecht und ſtößt ihn mit Abſcheu von ſich. Wilde Schauer ſchütteln ihre Geſtalt, ihre Zähne ſchlagen zuſammen, als ſie, kaum verſtändlich, ihm zuruft: „Du haſt es gewußt all die Jahre? all die Jahre: Er nickt. Plötzlich ſcheint ein heißer Lebensſtrom ſie zu durch⸗ fluthen, ihre Augen flammen, ihre Geſtalt richtet ſich hoch auf, ihre Stimme klingt ſtark, ehern: „Du! Du. ein Richter! ein Henker biſt Du Henker Du! Dich konnte ich lieben, Dich, ich — o Du — Fluch Dir! Fluch Deinem Kinde! Sie reißt ihr Gewand auseinander, ſie reißt ſeine Hand an ſich und preßt ſie an ihren Leib. „Was fühlſt Dur Die ſeltſame Bewegung die er fühlt, iſt nicht das Klopfen des Herzens. Er ſieht ſie verſtört an. — „Dein Kind! Dein Kind! ich fühle — es ſtirbt! Sie bricht in Convulſionen zuſammen. Sinnlos vor Schmerz, vor Entſetzen, ruft er Leute herbei. Man bringt ſie zu Bette. Sie wird von Aerzten umgeben. Sie thut eine Fehlgeburt. Es wäre ein männliches Kind geworden — ſein Erbe. Und er hat es getötet! er! Er läßt ſich das formloſe kleine Geſchöpf in ſein Zimmer tragen und ſtarrt ſtundenlang darauf: das wäre ſein Sohn geworden, der Sohn, den er ſo maßlos erſehnt, und den er geliebt hätte, wie nie ein Kind geliebt worden war. 202 Er wäre wahnſinnig geworden, wenn nicht die inten⸗ ſive Angſt um Stella, die viele Wochen mit dem Tode rang, ſeine Gedanken concentrirt hätte. Lange, lange lag ſie bewußtlos. Er verließ ihr Zimmer kaum und wachte über ſie mit leidenſchaftlicher Zärtlichkeit. Als ſie ihr Bewußtſein wieder erlangt hatte, wagte er nicht mehr ſich ihr zu nahen. Auch Clemens brachte einen großen Theil des Tages im Palais Ronald Büren zu. Er und Graf Albrecht ſprachen kaum miteinander, und fühlten ſich doch verbrüdert in der Liebe zu Stella. Erſt nach Monaten erklärten die Aerzte die Gefahr für beſeitigt. Stellas Reconvalescenz ging ſchwer und langſam von ſtatten. Albrecht ſchrieb ihr. Sein Brief war eine Beichte. Er ſelbſt erkannte erſt jetzt die Motive ſeiner Handlungsweiſe klar. Als er ihr das Kind brachte, hatte ihm die Vorſtellung einer weitausgeſponnenen Rache fern gelegen. Nichts anderes hatte er gewollt, als mit dem lebendigen Zeugen ihrer Schuld die Schmach der Verſtoßung verſchärfen. Was ihn im entſcheidenden Augenblick zurückgehalten, war nicht Furcht vor dem Skandal, nicht Furcht vor Lächer⸗ lichkeit geweſen, es war die Furcht einer unwiderruflichen Trennung von Stella. All' die raffinirten Combinationen, die er ſpäter erſann, und in deren Mittelpunkt die Tochter ſtand, und daß er die Zeit der Ausführung ſeiner Rache immer weiter hinausſchob, Alles war nur ein Vorwand geweſen um Stella in ſeinem Hauſe zu behalten, ein Vorwand 203 für die elementare, übermächtige, leidenſchaftliche Liebe für die wunderſchöne Frau. wahnſinnig was er gethan. Jetzt, nach der ſchmerzlichen Kataſtrophe erſchien ihm Er hatte gehandelt wie einer, der einen ganzen Zug entgleiſen läßt, um einen einzigen Menſchen zu ver⸗ nichten. Einen einzigen Menſchen! und er ſelbſt! und ſein Sohn! Nachdem er den Brief geſchrieben, zerriß er ihn wieder. Wozu? Nichts konnte ſeinen Schmerz, ſeine Verzweiflung lindern. Er verbrachte die heißen Sommertage in ſeinem Zimmer, vor ihrem Bilde, mit der goldenen Locke ihres Haares ſpielend; er ſchlang ſich die Locke ab und zu um den Hals, als wollte er ſich damit erdroſſeln; ſie war nicht lang genug. In den erſten Tagen des Auguſt ſah er, daß Stellas Koffer gepackt wurden. Er verfiel in einen fieber⸗ haften Zuſtand. Sie wollte alſo fort. Seine Aufregung war aufs äußerſte geſtiegen, als Stella ihn zu ſich bitten ließ. Seit den erſten Wochen ihrer Erkrankung hatte er ſie nicht wiedergeſehen. Faſt drei Monate waren ſeit⸗ dem vergangen. Als er ihr Zimmer betrat, in das die helle Sonne ſchien, erhob ſich aus dem Fauteuil eine ſchwarz gekleidete Geſtalt, und that ihm einen Schritt entgegen. Er ſtarrte ſie an. Sie öffnete die Lippen und ſprach. Sie war es — Stella. Da brach der ſtarke Mann zu⸗ ſammen und ſchluchzte laut. Eine Greiſin ſtand vor ihm, hager die Geſtalt, weiß das Haar, wachsbleich das Geſicht. Der Ausdruck eines tiefen, faſt feierlichen Ernſtes, 204 einer ſtillen Hoheit ruhte auf ihren Zügen. Ihre Stimme klang tiefer als früher. Es war eine völlig andere die vor ihm ſtand. „Warum weinſt Du, Albrecht? Weil ich zur Greiſin geworden bin? Weine nicht um das Weib, das Dit liebteſt und verachteteſt, und das nicht mehr iſt. Ich will Abſchied von Dir nehmen. Ich gehe an die See, auf unſer Dünenſchloß; dort will ich meine völlige Wiederherſtellung abwarten. Albrecht ſuchte ſich zu faſſen: „Stella kannſt Du kannſt Du mir verzeihen: „Ich habe Dir verziehen. Auch Du haſt gelitten, achtzehn Jahre lang wie ich. Mein Vergehen mußteſt Du für entehrend halten. Die Zeitbegriffe wollen es ſo. Erſt wenn unſer Gewiſſen eine lange Folter erduldet hat, wird ihm der Schrei der Wahrheit entriſſen. Nein Albrecht, nicht eine große Schuld, ein großes Unglück haſt Du an mir gerächt. Ich habe über Dein eigentliches Weſen nachgedacht, und ich habe es verſtanden. Wie in der Süße der herbſtlichen Traube die ganze Sonne des Sommers enthalten iſt, ſo waren in Deiner furcht⸗ baren Vergeltung alle Bitterniſſe, die Du von Jugend an erfahren, concentrirt. Von Natur biſt du ein liebe⸗ voller Menſch.“ Sie trat näher zu ihm heran und ſah ihm feſt und klar in die Augen. „Thue Arges, und Du wirſt immer Aergeres thun, thue Gutes, und du wirſt immer Beſſeres thun. Das Letzte wollen wir von jetzt an thun, ob gemeinſam, ob jeder für ſich, das weiß ich noch nicht. Lebe wohl 205 Albrecht, geſtalte das Leben meines armen Kindes freund⸗ lich. Sage ihr nie, wer ihre Mutter iſt. Er beugte ſich über ihre Hand und ſeine Thränen fielen darauf. Am andern Tag war ſie abgereiſt. In dumpfer Troſtloſigkeit blieb Albrecht zurück. Leidenſchaft hatte ſein ganzes Weſen beherrſcht von jeher, Leidenſchaft in der Liebe, im Schmerz, im Zorn. Nun war ſie erloſchen, dieſe Leidenſchaft bis auf einen Reſt: die tiefe, tiefe Trauer um den verlornen Sohn, der nie gelebt. Er ſah jetzt Stella als Weib, nicht mehr als ſein Weib, er ſah ſie als Greiſin, nicht mehr als Gegenſtand ſeines Be⸗ gehrens. Er ſah ſie wie ſie war: eine der beſſeren ihres Geſchlechts, einer ſchweren Verirrung, aber keiner ſittlichen Niedertracht ſchuldig. Das aber wußte er auch jetzt nicht, daß ſeine allzu irdiſche Liebe ohne himmliſches Licht geweſen. Und darum gedachte er der einſamen Frau auf dem Dünenſchloß voll verzehrender Reue, voll heißen Mitleids, aber ohne Liebe. 206 207 Völlig erſchöpft war Lis vor der Mühle angelangt. Halb verſteckt lag ſie unter Kaſtanienbäumen. Ein junges Mädchen trat aus der Thür, hielt die Hand vor die Augen und blickte in die Ferne. Als ſie Heloiſens anſichtig wurde, that ſie ſchnell einen Schritt ihr ent⸗ gegen, blieb aber dann wieder unſchlüſſig ſtehen, und ließ Heloiſe nahe herankommen. „Biſt Du die Liſe?“ fragte ſie erregt und doch ſchüchtern. Lis zuckte wie unter einem Schlag zuſammen. In dem kleinen „e“, das ihrem Namen zugeſetzt wurde, packte ſie ſchon die ganze fürchterliche Degradation, zu der ſie verurtheilt war; der Ausdruck ihres Geſichts war noch düſterer geworden, als ſie müde nnd tonlos ſagte: „Man weiß hier ſchon — — man erwartet mich“ . . . Sie ſprach nicht weiter; es kam ihr ſo überflüſſig vor, überhaupt irgend etwas zu ſagen oder zu fragen. „Ja, gewiß,“ antwortete lebhaft das junge Mädchen. „D Mutter hat a Debeſch kriegt, an elle⸗ lange. Geb's Bündele her Liſe. I bin nemlich Dei Schweſter, Schweſter Walburga, kurzweg Burgei.“ Sie griff nach dem Bündel, wandte ſich nach der Eingangs⸗ thür um, und rief in das Haus hinein: „Mutter, die Liſe iſt da! Eine furchtbare Beklemmung raubte Heloiſe faſt den Athem. Im nächſten Augenblick würde ſie ihre Mutter ſehen. Sie hatte ſich unterwegs immer wieder geſagt, daß ja Alles, was kommen würde, ſo gleichgültig ſei, dieſer Epilog zu ihrem Leben ging ſie nichts mehr an. Sie hatte das blonde Mädchen mit den blauen Augen, die ihre Schweſter war, kaum angeblickt. Aber — ihre Mutter! Sie wurde blaß wie der Tod, und mußte alle Kraft zuſammennehmen, um der Frau, die jetzt aus dem Hauſe trat, ins Geſicht zu blicken. Es war eine große und ſtarkgebaute Frau; ihre grauen Flechten trug ſie wie ihre Tochter um den Kopf gewunden. Ein helles Tuch hatte ſie leicht darüber ge⸗ knüpft; der dunkle Kattunrock war von einer weißen Schürze faſt verdeckt. Aus dem friſchen, röthlichen Ge⸗ ſicht blickten helle graue Augen forſchend auf Lis. Dieſe wildfremde Frau war ihre Mutter. Unfähig einen Laut von ſich zu geben, preßte Lis krampfhaft die Hände gegen die Bruſt; ihre Augen, die den Boden ſuchten, blieben an den groben, plumpen Schuhen der Müllerin haften, an den harten, groben Händen, die weiß waren von Mehl. Das — ihre Mutter! Die Frau wiſchte ſich die Hände an der Schürze ab und reichte Lis die Hand: „Grüß Gott Liſe, tritt ein. Nachdem dieſer erſte ſchreckliche Augenblick vorüber war, ſiel Lis in die frühere dumpfe Gleichgültigkeit gegen Alles, was geſchehen würde, zurück. 208 Sie folgte den Anderen in den Wohnraum. „Wirſt hungrig ſein,“ ſagte die Müllerin, „glei trag i 's Eſſen auf.“ Sie hatte etwas kurzangebundenes in ihrem Weſen, in ihrer Art zu ſprechen. Daß keine tiefere Gemüthsbewegung bei ihr zum Vorſchein kam, empfand Lis wie eine Wohlthat. Mütterliches Gebahren hätte ſie nicht ertragen. Burgei deckte den Tiſch und blickte ab und zu ver⸗ ſtohlen zu ihrer Schweſter hinüber, deren herber Aus⸗ druck ſie einſchüchterte. Lis war mitten im Zimmer ſtehen geblieben, Burgeis Aufforderung ſich zu ſetzen, überhörte ſie. Ihre Blicke irrten wie abweſend umher. Es war ein ziemlich großer, niedriger Raum, in dem ſie ſich befand, nach Art der Schweizerhäuſer nur mit einem einzigen, breiten Fenſter verſehen, das aus vielen kleinen Scheiben beſtand und faſt die ganze eine Seite der Stube einnahm. Die Möbel waren ſo einfach wie möglich. Eine Reihe bunter irdener Teller diente einem offenen, in Fächer getheilten Schrank als Zierde. Auf der Kommode ein paar Bücher, auf dem Nähtiſchchen am Fenſter in einem Teller ein Vergißmeinnichtkranz, um den großen ſchwarzen Kachelofen eine Bank, weißer Sand auf der friſchgeſcheuerten Diele, an den Wänden drei bis vier lithographirte Heiligenbilder — das war Alles. Das Fenſter, ohne Vorhänge, gewährte einen freien Ausblick in die Landſchaft. Unmittelbar vor dem Fenſter breitete ſich die blumige Wieſe aus, durch die Lis gekommen war. Seitwärts vom Hauſe der ſich ſchlängelnde Bach, der das Mühlrad trieb. Eine ſchmale ſteinerne Brücke führte über den Bach zum Wald hinüber. 14 209 Unter dem Bogen der Brücke brodelte und rauſchte das Waſſer; weiterhin wurde es ſeichter und verlief ſich in der Ferne in Schilf und Schlinggewächs. Auf der anderen Seite der Mühle führte ein ſanft anſteigender Berg zu einer Höhe, die mit Tannen beſtanden war. Hätte in der Stube nichts geſtanden als eine Bank und ein Tiſch, es wäre Lis auch recht geweſen. Von der Wieſe aber, ſo voller Blumen, wandte ſie die Augen fort. Alles Liebliche und Heitere kam ihr wie ein Hohn auf ihre Stimmung vor. Sie ſtand noch immer in ihrer kalten Starrheit, als die Müllerin das Eſſen auf⸗ trug: eine Schüſſel dampfender Kartoffeln mit geröſtetem Speck, Milch und Brot und Butter. Der Geruch des Specks erfüllte Lis mit Widerwillen. Sie empfand quälenden Hunger und trank von der Milch. Das grobe Brot aber widerſtand ihr, ſie legte es wieder hin. Die Müllerin ſah es. „Du wirſt Di ſchon gewöhne,“ ſagte ſie, „an das Brot und an Alles.“ Daß Lis noch kein Wort geſprochen, ſchien ihr nicht aufzufallen. Ein Müllerge⸗ ſelle war eingetreten, und hatte ſich mit an den Tiſch geſetzt. Es war ein ſchöner Burſche mit einem Kopf voll widerſpenſtiger blonder Locken. Man ſprach wenig, während man aß. Die Müllerin verhandelte mit dem Geſellen und Burgei geſchäftliche und häusliche Ange⸗ legenheiten in kurzen, raſchen Worten. Das Mahl war bald beendet; ſogleich entfernte ſich der Geſell. „Nu Burgei,“ ſagte die Müllerin, „führ' d' Liſe in ihr' Kammer, das Mädle iſt ja müd' zum Umfallen. 210 Heloiſe trat zur Müllerin heran. Sie fühlte, daß ſie etwas ſagen müſſe, ein freundliches Wort, überhaupt irgend ein Wort. Sie murmelte etwas von Dank, brach aber mitten im Satze ab, weil ſie nicht wußte, wie ſie die Müllerin anreden ſollte. Die Fran ſah, was in ihr vorging. „Brauchſt mir nit Du z' ſage Mädle, kennſt mi ja no gar nit. Was recht iſt kommt ſchon von ſelbſt. Sie beſchäftigte ſich mit dem Abdecken des Tiſches und beantwortete Heloiſes Nachtgruß nur mit einem Kopfnicken, ohne ihr noch einmal die Hand zu reichen. „Vergiß das hier nit,“ rief ſie Burgei nach, und übergab ihr ein Stück rothen Stoffes. Burgei führte Lis in ein Manſardenſtübchen. Außer den nothwendigſten Geräthen ſtand ein großer Lehnſtuhl darin mit verblichenem Zeug. Auf der Kommode thronte unter einer Glasglocke, inmitten geflügelter Engelchen, eine Heilige von Wachs. Als Lis einmal zufällig an die Kommode trat, ſah Burgei ihr geſpannt ins Geſicht, um den Eindruck zu beobachten, den dieſes Wunder⸗ werk auf ſie machen würde. Lis bemerkte die Wachsgruppe gar nicht; am allerwenigſten konnte ſie ahnen, daß Burgei ſich ſelbſt dieſes Prachtſtückes be⸗ raubt hatte, um das Stübchen der Schweſter damit zu ſchmücken. An der weißgetünchten Wand hing eine merkwürdig ſchöne Photographie: Chriſtus inmitten der Kinder. „Laſſet die Kindlein zu mir kommen,“ ſtand darunter. ¹ „Wie kommt dieſes Bild hierher?“ fragte Lis unwillkürlich, mit einigem Erſtaunen. 14* 211 Burgei. „, S iſt a Geſchenk von dem Apoſtel,“ ſagte „Apoſtel?“ fragte Lis noch erſtaunter. davon. D' Mutter hat verbote, daß i' am erſte' Abend „Ach ſo, Du weißt nit — i' erzähl' Dir ſpäter viel mit Dir ſchwätz', ausruhe' ſollſt!“ Trotzdem aber plauderte ſie gleich darauf weiter: „Der Lehnſtuhl da, das iſt unſer Hauptſtück, Vaters Stuhl, darin iſt er ge⸗ ſtorbe; d' Mutter ſait es bring' Glück, wenn mer im Stuhl von a'm Verſtorbene' ſitz. Heloiſe ſagte nichts, blickte aber mit leichtem Schauder auf den Stuhl. ¹ „Der Müllersg'ſell,“ fuhr Burgei nach einer kleinen Pauſe fort, „der mit uns bei Tiſch g'ſeſſe hat, iſt der Sohn von a reiche' Müller in der Nachbarſchaft. Er lernt no's G'ſchäft bei uns, weil Mutter ſo tüchtig iſt. Heloiſe ſchwieg. Ihr ausdrucksloſer Blick trieb Burgei fort, und beunruhigte ſie doch wieder, ſo daß ſie unſchlüſſig auf der Schwelle ſtehen blieb und in tröſtlichem Ton wieder anhob: — „Aber wirklich, Liſe, ſo nett iſt's bei uns . . . was netter's als a Mühl' giebt's nit. I' möcht' nie wo anders ſein — —“ Sie unterbrach ſich, beinahe hätte ſie den rothen Stoff auf ihrem Arm vergeſſen. „Und hier Liſe, kommt's beſt' —“ ſie breitete den rothen Stoff vor ihr aus. „S'iſt vor Dei FFenſter z'hänge. Seh no wie ſchön roth. Wenn d'Sonne durch⸗ ſcheint wird's warm davo im Stüble au im Winter. D' Mueter meint Du ſeiſt an ſo'was g'wöhnt un' s 212 wird Di' freun. Geſtern hab' i's g'ſäumt, mir hen no noch nit Zeit g'habt 's aufz'häng. I' thu's aber glei.“ Sie ging zum Fenſter. ſinſter — und als Burgei zögerte — „ich will keine. „Ich brauche keine Vorhänge,“ ſagte Lis Was ſoll ich damit: Burgei machte ein weinerliches Geſicht und legte das Zeug in die Commode. „Du biſt g'wiß heut' nur ſo müd'. Sag's no wann i' die Gardine aufmache' ſoll.“ Damit ging ſie etwas betrübt hinaus. Gleich darauf hörte Lis ſie im Hof trällern. Die Müllerin hatte ihrer Burgei vor der Ankunft Heloiſes geſagt, daß eine Pflegeſchweſter von ihr ein⸗ treffen würde, die reiche und vornehme Leute als ihr eigenes Kind auferzogen, und die in Folge eines traurigen Schickſals jetzt zu ihnen zurückkehren müſſe. Später einmal würde ſie näheres darüber erfahren. Lis hatte ſich entkleidet, nachdem ſie den Rubin⸗ ring zu dem rothen Stoff in die Kommode gelegt hatte. Dann warf ſie ſich auf das Bett. Steinhart erſchien ihr das Lager; wäre es noch härter geweſen, ihr war's recht. Sie glaubte ſich gefeit fortan gegen Leid und Luſt. Wenn nur Burgei aufhören wollte zu ſingen! wie lebensfroh das klang! ſie ſelbſt würde nie mehr ſingen. Und plötzlich ſtürzten ihr die Thränen aus den Augen; ſie weinte und ſchluchzte, als ſollte ihr das Herz brechen. Sie weinte über das harte Bett, über die elende Kammer, über ihr furchtbares Schickſal, über dieſe Mutter, die ſich erſt die Hände vom Mehl reinigen 213 mußte, ehe ſie ihr die Hand geben konnte; ſie weinte, weil ſie ſonſt an dem Uebermaß des Schmerzes er⸗ ſtickt wäre. Sie weinte ſich in den Schlaf. Sie erwachte, als die helle Sonne in ihre Kammer ſchien, müde und zerſchlagen. Sie nahm den Ring wieder aus dem Kaſten; an irgend etwas aus der Vergangenheit mußte ſie ſich an⸗ klammern. Sie behielt ihn am Finger, drehte aber den Stein nach innen, nur ab und zu, wenn ſie allein war, gönnte ſie ſich die melancholiſche Freude an ſeinem zärtlichen, erinnerungsreichen Glanz. Lange öde Tage und Wochen kamen für Lis. Sie aß und trank mit den Anderen, und wußte nicht was. Auf Fragen, die man an ſie richtete, antwortete ſie mechaniſch, einſilbig. Sie ging umher wie ein Automat, immer in dem ſchwarzwollenen Kleide, das zu lang war, und deſſen Saum allmählich unſauber wurde und ſich zerfaſerte. Sie hatte die Koffer mit Kleidern, die der Graf ihr nachgeſchickt, noch gar nicht geöffnet. Die vielen kleinen Aufmerkſamkeiten, die Burgei ihr erwies, bemerkte ſie entweder gar nicht, oder ſie waren ihr zuwider. Bald war es ein Strauß von Feldblumen, oder ein Schüſſelchen Erdbeeren, die ſie auf dem Tiſche in ihrer Kammer fand. Zuweilen, wenn ſie allzu lange einſam in ihrer Manſarde verharrte, ſteckte die Schweſter das blonde Köpfchen durch die Thür. . „Haſt mi grufe Liſe? —“ „Nein. „Möchſt nit' was?“ 214 Nein, und immer Nein. Sie hatte ein paar Mal verſucht in der Umgegend ſpazieren zu gehen, dabei begegnete ſie Gäſten des nahe⸗ gelegenen eleganten Badeorts; das war ihr peinlich geweſen, ſie gab die Spaziergänge auf. All das quellende, blühende, ſproſſende Frühlingsleben empfand ſie wie eine Zudringlichkeit, die täppiſch in ihren Schmerz griff. Sie beſchränkte allmählich ihre Spaziergänge auf den Gemüſegarten und den kleinen Kirchhof, der zum nächſten Dorfe gehörte und kaum zehn Minuten von der Mühle entfernt lag. Dahin ging ſie am liebſten, dahin gehörte ſie ja — zu den Todten. Seltſam, daß etwas ſo Abgeſtorbenes wie ſie es war, weiter leben konnte. Sie las die Grabſteine. Wie viele, viele waren jung geſtorben. Eine große Anzahl der Inſchriften waren wie ſchmerzgetränkt. Man las das gebrochene Herz der Mutter, der Gattin zwiſchen den Zeilen. Wenn ſie hier läge, auf ihrem Grabſtein müßte ſtehen: „Hier ruht eine Fremde. Wohl ihr, daß ſie eine Heimath gefunden — unter der Erde. Oft auch ſtand ſie lange auf der kleinen, ſteinernen Brücke und ſah zu, wie das Waſſer am Mühlrad auf⸗ uind -abrauſchte. Zuweilen erwachte ſie Nachts plötzlich mit einem Gefühl des Entzückens. All das Erbärmliche um ſie her war nur ein Traum geweſen — nun war ſie er⸗ wacht — ſie war wieder die junge Gräfin, ſie war Götze's Braut. Sie richtete ſich auf im Bette, ſie öffnete 215 weit die Augen und — fiel kraftlos zurück. Nein kein Traum, ſie hieß Liſe Chriſtoph und lag auf Stroh. Trotz ihrer Losgelöſtheit vom Leben litt ihr Stolz unter der Vorſtellung, daß ſie ihrer Familie zur Laſt ſei, daß ſie ihnen das Brot ſchmälere, zwar nicht ſehr, denn ſie aß ſo wenig als möglich. Aus dieſem Gefühl heraus hatte ſie einmal in ihrer apathiſchen Art die Müllerin gebeten, ihr Arbeit zu geben. Sie nannte ſie in Gedanken immer nur die Müllerin, nichts in der Welt hätte ſie bewegen können das Wort: „Mutter über die Lippen zu bringen. Die Augen der Müllerin ruhten eine Weile prüfend auf dem jungen Mädchen. Dann ſagte ſie: — „Nei, Arbeit ohne gute Wille iſt nix nutz. Die Butter iſt dir vom Brodg'falle, mußtabwarte' bis friſch buttertwird. „Es wird immer bleiben wie es jetzt iſt,“ ant⸗ wortete Lis mit trotziger Bitterkeit. „Wer weiß! freili an Mohr kann ma nit weiß⸗ waſche, aber an a'g'malte Mohr kann ma weißwaſche. SS ſieht ſchwarz in Dir aus, Liſe. D'Zeit wird lehre ob's nur a'g'maltes Schwarz g'weſe iſt. Damit ließ ſie Heloiſe ſtehen und ging ihrer Arbeit nach. Sie arbeitete immer, faſt ohne Pauſe vom Morgen bis zum Abend. Zuweilen ſaß Lis dabei, wenn ſie in einem Hinterraum der Mühle Käufern das Mehl abwog. Lis ſah, daß ſie armen Leuten beim Zuwiegen immer ein paar Hände voll dazu that. Wenn unter den Armen ſolche waren, die verwahrloſt in der Kleidung, unge⸗ waſchen und ungekämmt kamen und Mehl auf Credit verlangten, ſo fuhr ſie derb auf ſie los: „Packt Euch! 216 Mei Mehl is ſauber, i werf's nit vor d' Säu. Erſt g'wäſche un dann wiederkomme.“ Es kam dann vor, wenn Kinder in der verwahr⸗ loſten Familie waren, daß ſie Burgei herbeirief und ihr einige Brote auflud: — „Da trag's zu di junge Ferkel, ſie hungern.“ Barſch begegnete ſie auch dem Müllergeſellen. Der warb um Burgei. „Nix da Bürſchle . . .“ hatte ſie ihm geſagt, „erſt Dei Bekanntſchaft mache ob D' was taugſt“. Sie ſah ihm nichts nach. Er mußte ſchaffen wie der ärmſte Knecht. Burgei aber hegte und pflegte den thauigen Vergißmeinnichtkranz, den er ihr jeden Sonntag Morgen brachte. Sie liebten ſich, die Beiden. Das derbe, reſolute Weſen der Frau ſtieß Heloiſe ab. Unüberſteiglich ſchien ihr die Kluft zwiſchen ihr und der Müllerin. Viele Wochen lang barg ſie noch im Innerſten eine ſtille, leiſe Hoffnung auf Götz. Sie wartete auf ihn. Sie ging in den Dämmerſtunden an die Land⸗ ſtraße und blickte den Weg hinunter bis ihre Augen nichts mehr unterſcheiden konnten. Götz war von untadelhaft adliger Geſinnung, das wußte ſie, er hatte ihr Treue geſchworen, er liebte ſie. Durfte er ſie ver⸗ laſſen? War das möglich? Sie ſann lange darüber und kam zu dem Reſultat: Ja, es war möglich, er durfte ſie verlaſſen, es war ſogar ganz natürlich, daß er es that. Man liebt ein Bauernmädchen oder eine Gänſehirtin, die ſich in eine Prinzeſſin verwandelt, aber eine Prinzeſſin oder Gräfin, 217 die zur Bauernmagd wird! Nein, die liebt man nicht. Und nun gar Götz, der ſo ſtolz iſt und ſo vornehm. Allmälig erblaßte auch dieſer letzte Hoffnungs⸗ ſchimmer. Sie wurde von Tag zu Tag blaſſer, magerer. Sie verkam ſichtlich. Ihre Müdigkeit nahm zu. Nun kam es ja ganz, wie ſie es gewollt. Auch ihr Körper würde langſam fortſchwinden aus einem Leben, das ihre Seele längſt verlaſſen hatte. Sie war geſtorben an dem Tage, als die Comteß Ronald⸗ Büren aufhörte zu exiſtiren. Die Müllerstochter, Liſe Chriſtoph, war ihre unheimliche Doppelgängerin; ſie flößte ihr Grauen ein. Ab und zu fuhr ſie aus ihrem dumpfen Hinbrüten empor, ein jähes Entſetzen über ihr Schickſal packte ſie, ein grenzenloſes Mitleid, daß ſie ſo jung und ſo elend zu Grunde gehen müſſe. Eines Tages, als ihre Blicke theilnahmlos an dem Auf und Nieder des Mühlrads hingen, mußte ſie plötzlich, ohne daß ſie ſich des Ideengangs bewußt wurde, an Gottfried Hinze denken, an deſſen frühem Tod ſie vielleicht eine Mitſchuld trug. Wenn er ſie jetzt in ihrer Erniedrigung ſähe! Die Sonne des Glücks läßt keine Schatten auf⸗ kommen; iſt ſie untergegangen, ſo ſchleichen aus dem Dunkel der Vergangenheit, die geſpenſtiſchen Schatten heran, und ein abergläubiſches Gemüth ſieht einen ge⸗ heimen Zuſammenhang zwiſchen ihnen und unſerem Schickſal. Und tiefer wurde die Nacht in Heloiſens Seele. Immer würde es ſo bleiben, wie es jetzt war, immer! 218 wieviel Tage, wieviel Jahre ſchloß dieſes „immer“ ein. Und immer bis das Ende kam, würde ſie Kartoffeln und grobes Brod eſſen, ſie würde auf Stroh ſchlafen, und immer würde dieſe antipathiſche, fremde Frau ihre Mutter ſein, deren harte, lante Stimme ſie ſchon ver⸗ letzte. Nur der einen Angſt war ſie überhoben, daß die Müllerin kindliche Gefühle von ihr fordern könne. Das that ſie nicht. Sie ließ ſie gewähren, kümmerte ſich ſcheinbar gar nicht um ſie. Daß Mutter und Schweſter ja eigentlich brave, tüchtige Menſchen waren, verſchärfte ihre innere Pein. So konnte ſie nicht einmal die düſter poetiſche Vorſtellung, daß ſie ein Stern ſei, der in einem Sumpf erlöſche, feſthalten. Was ihr ver⸗ haßt war, war nicht haſſenswerth. Ihr zartorganiſirtes Gewiſſen erkannte das, und ihr Widerwillen gegen Liſe Chriſtoph wuchs. Sie verlor jeden Maßſtab für Zeit und verſank in völlige, tödtliche Apathie. Aber ſie lebte, lebte noch immer. Würde ſie ewig, ſich und Anderen zur Laſt, ihr Daſein ſo fortſchleppen! Nein, das ſollte nicht ſein. Der Müßiggang erhielt ſie am Leben, ſie verbrauchte zu wenig Kräfte. Sie mußte ihrer zähen Natur zu Hülfe kommen. „Ich will arbeiten, ich muß arbeiten,“ ſagte ſie mit Entſchiedenheit zur Müllerin, „aber ſchwere, harte Arbelt will ich.“ „So arbeit' denn!“ antwortete die Müllerin mit ruhigem Ernſt, „vielleicht führt's zu Gutem. Willſt aber nur arbeite aus Trotz gegen Gott, der macht ſich nichts d'raus. Noch an demſelben Tage hatte ihr Burgei das 219 lange, ausgefaſerte Kleid gekürzt, ſie gab ihr am nächſten Morgen eine leinene Schürze, grobe baumwollene Strümpfe und derbe Schuhe. Ohne eine Miene zu verziehen band Lis die grobe Schürze über das feine Cachemirgewebe. Die Schuhe waren ihr ein wenig zu groß, ſie lehnte ſie ab; ſie wollte wie Burgei Holzpantinen bei der Feldarbeit tragen. Nur zu den derben baumwollenen Strümpfen konnte ſie ſich nicht entſchließen, unter den Holzſchuhen behielt ſie ihre ſeidenen Strümpfe an. Lis arbeitete nun mit Burgei zuſammen, aber ſie that die ſchwerere Arbeit. Sie arbeitete mit dem Trotz der Verzweiflung, nichts war ihr ſchwer, nichts niedrig genug. Sie grub im Garten, ſie fütterte das Vieh, ſie half das Feld beſtellen, räumte ihre Kammer auf, und verſuchte ſogar zu waſchen. In der erſten Zeit ſanken ihr alle Augenblicke die Arme herunter; ſie athmete ſchwer, der Schweiß rann ihr von der Stirn. Aber das war ja gut, ſehr gut, ſo mußte ſie ſich in kurzem auf⸗ reiben. Sie will ſich zu Tode arbeiten, zu Tode um jeden Preis. In der That hatte ſie ſich in der erſten Woche derartig überanſtrengt, daß ſie einige Tage im Fieber zu Bette lag. Kaum aber hatte ſie das Bett verlaſſen, ſo nahm ſie die grobe Arbeit wieder auf. Sie ſtand ſtundenlang in der heißen Juliſonne ohne Hut. Wozu brauchte ſie ſchön zu ſein? Wilder Trotz wechſelten in ihr mit müder, troſtloſer Verzagtheit. Es gefiel ihr, wenn ſie recht verwahrloſt ausſah, wenn das Haar zer⸗ zauſt, die Haut verbrannt, die Lilienhände roth und 220 riſſig wurden. Selbſt im Regen arbeitete ſie weiter. So verdiente ſie wenigſtens ihr Brot und gewann dabei den Tod. Mit melancholiſcher Wolluſt fühlte ſie ſein Nahen. So müde war ſie Abends, daß ſie oft in Schlaf verfiel, ehe ſie noch Zeit hatte ſich auszukleiden. Während die Mädchen zuſammen arbeiteten, wurde Burgei allmählich zutraulicher und zeigte ſich, wie ſie war, als ein treuherziges, ſchelmiſches und liebevolles Geſchöpf, das bei der Arbeit wie ein Vögelchen zwitſcherte. Lis ſah ihr oft erſtaunt zu. War es denn möglich bei einem ſolchen Leben ſeines Daſeins froh zu werden! Und einmal fragte ſie Burgei, was ſie ſo fröhlich macher Burgei lachte. Was, das wußte ſie ſelbſt nicht. ² „Wenn i' morgens vor die Thür tret',“ ſagte ſie, „'naus auf d' Wieſen, dann komm i' mir vor wie a König vor dem alle ſei Getreue grüße. Gute Morge Burgei! als König thät i natürli a bisle anders heiße als Burget.“ „Deine Getreuen?“ Lis ſah ſie fragend an. „Mei Getreue weißt, das ſind die Wieſ' un die Blume d'rauf, un's Mühlrad, un's Waſſer d'runter un wer ebber grad am Mühlrad ſteht oder da vorbei⸗ paſſirt.“ Sie wurde bei den letzten Worten roth und fuhr-ſchnell fort: „Un Mittags wenn i koch un der Butter brozzelt in der Pfann, dann riecht's ſo gut nach dem Pfannekuche un i freu mi ſcho im Voraus ufs Eſſe. S hält mi no uf bei der Arbeit, ſonſt tät i immerzu krähe — wie a Lerch' verſteht ſich., „Und das freut Dich auch,“ ſagte Lis, „daf 221 Du ſo ſchwer arbeiten mußt und Holzpantinen tragem und die grobe Nahrung —“ Lis brach mitten im Satz ab. Ihre Aufmerkſamkeit wurde von einer ſeltſamen Geſtalt gefeſſelt, die über dic Wieſe daherkam, ein Mann in einem langen bräunlichen Wollengewand, das um die Hüften mit einem Gürtel zuſammengehalten wurde, ein Gewand, einer Mönchs⸗ kutte gleichend oder der Tracht, in der man Chriſtus und die Apoſtel darzuſtellen pflegt. Des Mannes Haupt war unbedeckt; das rothblonde leichtgelockte Haar reichte ihm faſt bis auf die Schulter. Da er, in einem Buche leſend, den Kopf geſenkt hielt, fiel ihm das Haar über das Geſicht, ſo daß man die Züge deſſelben nicht unter⸗ ſcheiden konnte. „Was iſt das?“ fragte Lis, auf die merkwürdige Erſcheinung deutend. Burgei blickte in die angegebene Richtung. „„Das? das iſt ja unſer Apoſtel. I' wollt' er käme zu uns.“ Sie ſah geſpannt zu dem Manne, den ſie den Apoſtel nannte, hinüber. Er bog in den Waldweg ein und hatte ſich bald unter den Bäumen des Waldes verloren. „Iſt der arme Menſch geiſteskrank?“ fragte Lis „Nei doch im Gegentheil. I' ſag Dir der hört's Gras wachſe, un in allem kennt er ſi aus. Und Burgei erzählte weiter, der Apoſtel wäre früher ein Menſch geweſen wie alle Anderen auch, nur braver, und da wäre er einmal ſo krank geworden, todtkrank, daß er ſchon die Sterbeſakramente empfangen habe; und 222 wie durch ein Wunder ſei er dann plötzlich geſund ge⸗ worden, und ſeitdem lebe er nun gerade wie ein Apoſtel und ſei ohne Sünde, und darum werde er von allen Leuten der Gegend der Apoſtel genannt; Lis fragte, warum er die lächerliche Kleidung trage. „Er hält ſie für die rechte, und er thut Alles, was er für recht hält.“ „Was thut er denn ſonſt noch“ „Er erzieht Waiſenkinder, damit ſie werden ſolle, wie er's für recht hält. — „Und wie hält er es für recht! „Ganz anderſt als ſonſt. I' kann's nit gul ſage, Du mußt' n ſelber frage'. „Iſt er reich, da er ſich armer Kinder annimmt „Nei, ganz arm. „Wovon erhält er ſich und die Kinder? „Von Wohlthate d'r Leut' in der Gegend. Er braucht ſo wenig. Er un die Kinder lebe' faſt nur von Brot, Milch und Früchte. „Beſucht er Euch zuweilen „Immer wenn's Unglück im Hauſ' gebe' hat, dann kommt er. Wie mein Bruder g'ſtorbe iſt un gleich d'rauf der Vater, hat er uns oft b'ſucht. — „Wie lange iſt es her, daß Dein Bruder ſtarb und Dein Vater? — „Zwei Jahre. Erſt zwei Jahre, dachte Lis, „wie ſo ſchnell hat ſich dieſe Mutter, dieſe Gattin getröſtet! Der Mehlſtaub hat ihr Herz vertrocknet; ſie hat Augen, die nicht weinen können. 223 „Weiſcht was der Apoſtel ſagt?“ unterbrach Burgei der Schweſter Meditationen. „Wenn i nit arbeite' thät oder überhaupt wenn wer nit arbeite' thät, ſo müßt an Anderer für'n arbeite un' das wär' arg unrecht. Un' was ſollt' i' denn au thun wenn i nit arbeite' thät, un' weißt was 's Allerbeſt bei der Arbeit iſt! — „Daß man müde wird und nichts mehr denkt, entgegnete Lis. — „Falſch. Der Feierabend iſt's, wenn man mit der Arbeit fertig iſt. Feierabend das klingt ſchon ſo gut. Als ob Glocken läute' thäte un' man ſäß dabei unter am Lindebaum mit — mit Sie ließ ihr girrendes Lachen hören, wurde wieder roth und warf den einen ihrer Holzpantinen vor ſich her, jagte ihm nach, trieb dann daſſelbe Spiel mit dem anderen und kam ganz echauffirt zurück. — „Weiſcht Liſe i' glaub' i' fang' doch ſpäter amal an Mehlhandel a'. Willſcht dabei ſei'? Wenn's ſo von Mehl um ein ſtäubt wie a weißer Waſſerfall, gelt das iſt nett? I' hab' d' Leut' die von Mehl weiß ſin' zu gern. Na Liſe — willſcht? Lis zuckte die Achſeln und ihr Ton klang hoch⸗ müthig als ſie ſagte: „Ich beneide Dich, daß Du mit Eurer Armuth ſo zufrieden biſt. Helles Erſtaunen malte ſich in Burgeis Zügen. Sie ſtellte ſich dicht vor die Schweſter, die Hände auf dem Rücken, das Geſichtchen vorgeſtreckt. „Arm wir? Warum nit gar. Was hen mir denn im Stall? ebber kei Kuh? Un' an Acker hen mir 224 wohl au nit? un kei Gemüſ'? un die friſche Eier ebber nit von de eigene Hühner? Un' die Blume'töpf am Fenſter, un' die Bücher auf der Kommode da? Un in dem großen Kaſte auf em Bode drobe liege da drei Dutzend Hemde von guter Leinwand für mei Ausſteuer? Ja oder nei? Un ſin' ſe mit rothe Bendele zammebunde? antworte doch!“ Das kalte vornehme Lächeln Heloiſe's erregte Bur⸗ gei noch mehr und ſie fuhr eifrig fort: Noch reicher als mir möcht' i' gar nit ſet, will i' nit ſei. Möcht'ſt Du alle Tag' Brate eſſe? I nit. Auf was ſoll man ſich denn auf d Feiertag freue: „Du kennſt eben keine Unterſchiede, gute Burgei. „Meinſt? I' kenn ſe aber doch. Bei reiche Leut' in der Nachbarſchaft — i hab' da was z' b'ſtelle g'habt — hat man mir amal was Extrafein's vorgeſetzt, i' glaub' Trüffel ſin's g'weſe, 's könnte aber au Auſtern g'weſe ſein. Gräßlich war's, als müßt i Regenwürm verſchlucke. Un da bin i krank davon worde, zum erſte' Mal in mei' Leben krank. Un weiſcht Liſe, i kann's nit glaube, daß Du ſo wehleidig thuſt, weil Du all' den kniffligen Unſinn nimmer zu eſſe kriegſt. Lis ſtieß die Hacke, die ſie in der Hand hielt, heftig in den Boden. Die gutherzige Burgei fühlte, daß ſie die Schweſter gekränkt habe. Sie zog ſie ſchelmiſch an den Flechten, die ihr auf die Schulter gefallen waren. „Lis, wenn Du von dem Mehlhandel nichts wiſſe willſcht, magſt a Kätzle g'ſchenkt habe? a ganz jung's ſchneeweiß's? I' habe drei, zwei weiße und ein ſchwarzes. Ich füttere ſie jetzt. Willſcht mitkomme. 15 225 „Nein,“ ſagte Heloiſe gereizt zwiſchen den Zähnen, „ich will nichts geſchenkt haben. Geh! laß mich! „Empfehle mich Comteß in die Holzpantine, rief Burgei jetzt auch beleidigt, und klapperte, indem ſie fortlief ſo ſtark als ſie es zuſtande brachte, mit den Holzſchuhen; ſie wußte, daß der Schweſter dieſes Klap⸗ pern zuwider war. Ein paar Jungen aus dem Dorfe, die hinter dem Bretterzaun geſpielt, und Burgeis Worte gehört hatten, kreiſchten vor Vergnügen. „Comteß in die Holzpantine'! riefen ſie herüber. Lis beeilte ſich, aus dem Bereich ihrer Stimme zu kommen. Es war Feierabend. Sie wandte ſich der Mühle zu. Sie war ſeit einiger Zeit weniger apathiſch. Eine krankhaft zerfahrene, gehäſſige Stimmung überkam ſie zuweilen, die ſich bis zum Zorn ſteigern konnte gegen alles und jedes, gegen ſich ſelbſt am meiſten. Sie dachte auch ab und zu an die lächerliche Erſcheinung des Menſchen, den ſie den Apoſtel nannten, der allem An⸗ ſchein nach eine Art Verehrung genoß, und doch ein Narr ſein mußte. Alle dieſe Leute mochten in ihrer Weiſe ja recht brav ſein, vielleicht braver als ſie, aber zählten ſie denn mit, wo von intelligenten Weſen die Rede war? Deckten ſie ſich mit dem eigentlichen Begriff Menſch? Waren ſie mehr als vegetative Geſchöpfe, für die das Univerſum nur das kleine Stückchen Feld war, daß ſie im Schweiße ihres Angeſichts bearbeiteten um ſich zu ernähren“ 226 Freilich, Burgei war gutherzig, ſehr gutherzig; und ſie hatte vorhin ſo manches geſagt — — Sie ging über den Hof und kam an einem Holz⸗ ſchuppen vorbei. Von daher kamen Laute wie von leiſem Weinen. Durch ein Loch in einem der Bretter blickte ſie hinein. Es herrſchte Dämmerung in dem Schuppen. Gerümpel, Holzſpähne, Axt und Säge, morſche Balken lagen wüſt durcheinander. Durch einen Spalt der Thür fiel ein gedämpfter Strahl der unter⸗ gehenden Sonne auf den blonden Scheitel Burgei's; ſie ſaß auf einem Balken, hielt einen Napf mit Milch im Schooß und weinte. Da wurde der Spalt in der Thür größer, und in der Oeffnung derſelben erſchien der Müllergeſelle. Sorgſam hielt er einen, in ein weißes Tuch gehüllten Gegenſtand in den Armen. „Warum weinſt, Burgei?“ fragte er in einem heiter geſpannten Tone, der zu der Frage nicht paßte. Unter Thränen ſtotterte Burgei, daß der Knecht ihre Kätzchen erſäuft habe. Der junge Burſch trat näher und ſchüttelte ihr aus dem weißen Tuch heraus die drei Kätzchen in den Schooß; ſie waren ganz naß. Burgei that einen Freudenſchrei. Sie hatten ſchon im Waſſer gelegen, die Kätzchen, der Geſelle hatte ſie herausgefiſcht und weidete ſich jetzt an ihrer Freude. Burgei ſchien ganz verſunken in den Anblick der krabbelnden Kätzchen in ihrer Schürze; ſie ſchlang ſich die Thierchen abwechſelnd um den Hals und gab ihnen aus dem Milchnäpfchen zu trinken; des jungen Menſchen achtete ſie ſcheinbar nicht. Im Schuppen war es faſt 15* 227 ganz dunkel. Nur auf die Gruppe der Beiden fiel durch die offene Thür ein breiter lebendiger Strahl Sonnen⸗ ſtaubes. Lis mußte an alte Bilder denken, auf denen Heilige auf ſolchen Strahlenbrücken niederſchweben. füttert mi? „I' hab' au Hunger,“ ſagte Konrad, „wer „Mit was ſoll man Di' füttern: „I' wüßt' ſchon was,“ ſagte er leiſe, ihr nahe in die Augen ſehend. Sie wurde ganz roth. — „Ach, i' weiß ſchon, was Du meinſt,“ girrte ſie, „un' weil Du gar ſo gut mit den Kätzle g'weſe biſt, könnt' i' vielleicht a bisle ab⸗ weiche vom rechte' Weg un' Dir — Sie küßte ſchelmiſch das weiße Kätzchen gerade auf die Naſe. „Nei,“ ſagte er, „nit aus Dankbarkeit, Burgei; den erſt' Kuß den will i' no aus Liebe, ganz aus reine Liebe.“ Sie vergrub ihren rothen Mund in das weiche Fell des Kätzchens und wiegte unſchlüſſig das Köpfchen hin und her. — „Burgei,“ hob er wieder an, „Du weiſcht i geh morge auf n paa Dag in d' Heimat, 's könnten aber au Woche d'raus werde. Burgei reichte ihm neckend eins der Kätzchen. „Da mein Liebling derfſcht n kiſſe“. S'iſcht s' nemliche als wär's i'. Er wandte ſich gekränkt ab. „Jetzt ſeh' i's, haſcht mi nit lieb, nit halb ſo lieb wie die Kätzle. I geh' ſchon heut Abend heim, 228 was brauchſt mi, haſt ja die Thierle. Wer weiß, ob i' wiederkomm'. Sie ſprang auf und reichte ihm die Schürze mit den Kätzchen. dod ſin, dann ſiehſcht doch, daß i' Di lieb han, „Da nem ſe, thu ſe wieder ins Waſſer bis ſe tauſendmal lieber als die Katzen.“ Sie ſprach das Wort „Katzen“ faſt verächtlich aus. —„O Burgei!“ Er ergriff ihre beiden Hände und zog das Mädchen an ſich. Die Kätzchen fielen zu Boden. Der letzte Sonnenſchimmer ſchwand faſt plötzlich, und auch die Beiden waren in Dunkel gehüllt. Burgei machte ſich von ihm los. — „Nei Konrad, nit hier, drauſſe komm. „Haſcht mi nit überall lieb: — „Das wohl aber i' mein, weiſcht — an erſchter Kuß da muß der Himmel derbei ſei un Alles hell um mi' her. Gelt das meinſcht au Du! Hand in Hand gingen ſie dem Ausgang zu. Heloiſe entfernte ſich langſam nach der entgegen⸗ geſetzten Seite. Hatte ſie nicht Aehnliches empfunden bei der Schlittenfahrt, in der Hütte, als ſie Götz hin⸗ auszog unter den Sternenhimmel? Und waren das wirklich nur pflanzenartige Geſchöpfe, die ſich mit dem Begriff Menſch nicht decken? Sie beantwortete ſich die Frage nicht, ſie wollte überhaupt nicht denken, ſie war auch viel zu müde dazu — todtmüde und das war gut. Mit ſchwermüthiger Reſignation ſah ſie dem ſchnellen Verfall ihrer Kräfte zu. Einige Tage ſpäter waren die Mädchen im Gemüſe⸗ 229 garten, an einer Stelle, nahe der Landſtraße, mit Hacke und Händen beſchäftigt, Unkraut auszujäten, als ſie das Heranrollen einer Equipage hörten. Lis warf die Hacke fort und verbarg ſich hinter einem Gebüſch. Durch die Zweige ſah ſie eine elegante, verſchleierte Dame — der Schleier war von rother Farbe — tief in die Kiſſen des Wagens zurückgelehnt. „Warum biſcht denn fortg'laufe?“ fragte Burgei, als Lis langſam zurückkam, 's war ja nur Dame Pia. Ja, warum war ſie fortgelaufen? etwa, weil ſie ſich ſcheute mit Holzpantinen und in der groben Schürze von einer Dame in einer Equipage geſehen zu werden? War ſie denn noch immer mit dem Leben nicht fertig? „Wer iſt Dame Pia?“ fragte ſie gleichgültig. „S' heißt eigentlich Frau von Daſchlikow un iſcht an' Art von Hex. Der Doktor Brand, unſer Arzt, ſagt, wenn ſe a paar hundert Jahr früher gebore' war, hat mer ſe ſicher als Hex verbrennt und mit Recht, ſagt er, und d Leut' in der ganzen Gegend — das hat er uns auch erzählt, nennen ſie die umgekehrte Meduſa. Meduſa weiſcht, das ſoll a G'ſchöpf g'weſe ſein, das Alle, die es anſchauten in Stein verwandeln that, die Dame Pia, ſagt der Doktor, macht die Steine lebendig, wann ſie ſie anſchaut. „Iſt das ſo böſe „Ja freili. Wie a giftige Spinnen ſitzt's in ihrem Schloß und lockt ſchöne Buab in ihr Netz. Her⸗ nach jagt ſie ſie fort und da müſſe ſie ſterbe. Mi hat ſe habe wolle als Stubemädle oder Kammerjungfer, aber de Mueter ſagt: liaber glei in d' Höll' als da 230 nauf. Weiſcht, der Konrad, unſer Müllerg'ſell', den hat ſe mol ang'ſchaut, als er ihr im Wald begegnet iſcht, da iſcht er geloffen und geloffen, und wär' er net ſo ſchnell geloffe, das hat er zur Mueter g'ſagt, da war's um an g'ſchehen. So arg böſe iſt Dame Pia. Heloiſe hatte nur halb hingehört. Sie blickte immer noch nach der Richtung hin, in der die Equipage ver⸗ ſchwunden war, und kämpfte die aufquellende Qual um ihre verſunkene Herrlichkeit in ſich nieder. „Hätt'ſt wohl gern in der Kutſch' g'ſeſſe? fragte Burgei, der der verdüſterte Ausdruck in Heloiſens Geſicht nicht entgangen war. „Und Du etwa nicht?“ fragte Lis zurück, „iſt es nicht ſchön ſo hinauszufahren ins Land, immer weiter und weiter“ — — ſie ſchwieg, und in wildem Sehnen ſchweiften ihre Blicke und Gedanken in ungemeſſene Fernen hinaus. „Weiter, immer weiter? — na, das möcht i nimmer. Gelt, in der Kutſch' ſitze und hui! vorbei an Allem, an unſerm Bächle, an unſer Wald und met Wieſen, da käm i' mer ganz hochmüthig vor, als wollt' i' gar nix mehr wiſſe von dä guete alte Bekannte. Das iſcht ja g'rad die rechte Freud beim Herumſpaziere, daß man allem begegnet was man ſo gut kennt und ſo arg gern hat. I mein immer, die Leut' in die Equipag', die müſſe krank ſein oder gar ſo faul. Wenn i' fahre thät', das wär' g'rad als wollt' i' an jemand a Brief ſchreibe, mit dem i' jeden Augenblick ſpreche könnt. Ueberhaupt, i' hätt' gar nix anzuziehe für a Kutſch'. 231 „Wer eine Equipage hat, ſagte Lis trocken, dem wird es auch nicht an Kleidern fehlen. Sommer hernach geh' i' mit mei Mueter a paar Mal „Dank für ſchöne Kleider. Weiſcht, jeden nach Bade; da ſeh' i' Heife von feine Dame. Die ſtolziere g'rad daher wie Soldate im Paradeſchritt, als wenn einer ihne kommandirt: marſch! vorwärts! Auge links, Auge rechts, kehrt! Während ſie ſprach, ahmte ſie drollig Gang und Haltung der eleganten Damen nach, indem ſie die Schultern in die Höhe zog, die Ellenbogen nach hinten drückte, und das Köpfchen kerzengrade in die Höhe reckte. Sie lachte hell auf, und ſchwatzte luſtig fort: „Und nu gar die Schleppkleider! Wo i' auf⸗ hör' fangt erſcht die Herrlichkeit von mei Kleid recht an. Und ſo a Mitleid hab' i' mit den Dame, was die alles an ihre Kleider z'ſchleppe habe, ſie ſind ja ſo übel dran wie unſ're Hauſirer, die mit ihre Päck durch's Land ziehen. Kennſt's Märle von den Seejungfern? Die Vornehme unter ihne habe ſich als Zeiche' ihrer Vor⸗ nehmheit Muſchle in den Schwanz klemme müſſe, und des hat ſo weh dan, ſo arg weh, aber das hat ihne nix gemacht, hat doch glei' jeder Nix g'ſehen wie vor⸗ nehm ſe wäre.“ Sie unterbrach ſich, weil ihr einfiel, daß ihre Schweſter ja auch ſo eine vornehme Dame mit ſchönen Kleidern geweſen war. „Biſcht böſ' Liſe wegen dem was i' g'ſagt hab'? Lis antwortete wieder nicht und ſah unnahbar aus. „Thut Dir's wirklich ſo arg leid, daß Du nimmer ſo vermummt daherſtelze kannſt?“ 232 Lis ſchwieg hartnäckig. — „Und wir haben's doch ſo bequem und aut recht nett.“ Sie zupfte ſich ihren hellen Kattunrock zurecht, blies ſich ein Löckchen von der Stirn, reckte kräftig die Glieder, und drehte ſich flink auf einem Bein. Dann ergriff ſie Lis bei der Taille und ſchwenkte ſie luſtig einige Male im Kreiſe mit ſich herum. Haſtig machte Lis ſich los: „Laß mich! laß mich! Jetzt verlor auch Burgei die Geduld. „Weiſcht,“ ſagte ſie, „Du haſt zwar auswendig das Paradezeug abgelegt, aber inwendig trägſt noch die vornehme Fetz. Drum kannſt au nimmer heiter d'reinſchaue. Un' mich machſt manchmal au ſcho rabbiat!“ Sie war nahe zu der Schweſter herangetreten und machte aus ihren Händen kleine Krallen. Erſchreckt wich Lis zurück, und in der Angſt, Burgei könne ſie ſchlagen wollen, lief ſie fort bis an das äußerſte Ende des Gartens. Das laute Lachen Burgeis ſchallte hinter ihr her. Eine Art Wuth kam über Lis. Dieſes Kind, dieſes Bauernmädchen wagte über ſie zu ſpotten. Sie ſah auf ihre Hände, die ſchwarz waren von Erde. Der Ring am Finger hatte ſich verſchoben, und aus dem Schmutz funkelte der Rubin — ein leuchtender Hohn. Das war der Tropfen, der ihren Schmerz zum Ueberlaufen brachte. Sie ſchleuderte den Ring in die aufgewühlte Erde, ſie riß mit den Händen ganze Büſchel voll Unkraut aus und warf es um ſich her, und preßte 233 dann in wüthendem Mitleid ihre Lippen auf die armen rothen ſchmutzigen Hände. Konnte denn dieſes Daſein etwas Anderes ſein, als ein gräßlicher Traum? Ihre ganze Geſtalt erbebte ſchaudernd; ein wahnſinniges Verlangen zu erwachen kam über ſie. Da fällt ihr ein Strauß Roſen zu Füßen. Sie gewahrt Burgei, die ſich eilig entfernt, auf Strümpfen, ſie hat das Klappern der Holzſchuhe vermeiden wollen. Die Sonne war hinabgeſunken, Heloiſe's Anfall war vorüber. Was ſollte denn dieſer Sturm? Warum mit ſo viel Geräuſch aus der Welt gehen? Sie hob den Ring ſorgſam auf. Um ſich vollends zu beruhigen wanderte ſie zum Kirchhof hinaus. Auf dem Rückweg zur Mühle, als ſie an die Brücke kam, die über den Bach führt, ſah ſie auf der Brücke die Müllerin ſtehen. Die beugte ſich weit über das Ge⸗ länder, als ſuche ſie etwas im Waſſer. Sie ſah anders aus als ſonſt, in einem ſchwarzen Kleid, das Lis inie zuvor an ihr geſehen. Unter den zuſammengezogenen Augenbrauen ſtarrten ihre weitoffenen Augen in die Tiefe. Die Lippen waren feſt aufeinander gepreßt, als hielten ſie mühſam zurück, was ſich darüber drängen wollte. Sie hielt Blumen in der Hand. Langſam ließ ſie die Blumen, eine nach der andern in's Waſſer fallen. Lis ſah ihr ſtaunend zu und wußte nicht, ob ſie näher kommen oder ſich entfernen ſollte. Die Müllerin bemerkte ſie, einen Augenblick ſchien ſie unſchlüſſig, dann winkte ſie Lis heran. Als das junge Mädchen neben ihr ſtand, zeigte ſie 234 auf eine Stelle im Waſſer, wo über einem großen Fels⸗ ſtein ein kleiner Strudel ſich bildete. — „Hier is mei Sohn ertrunke. Sie kämpfte eine mächtige Bewegung in ſich nieder. Erſt nach einer Weile fuhr ſie fort: „Hab' ihn lieber g'habt als alles ſonſt in der Welt. S'war net recht. A ſchöner Burſch iſt's geweſe. Das hat Dame Pia au g'funde, die hat's ihm anthan, die Hex. A paar Woche iſt er im Schloß drobe bliebe konnt' net mehr von'er laſſe, was mer au dagege than habe. Dann iſt er zurückkomme, ſe hat'n nimmer g'wollt; gradaus in's Waſſer iſt er gange — da — da war's. Das Waſſer da treibt de Mühl und die Mühl mahlt's Mehl zum Brot. Viele Woche hab i das Brot nimmer eſſe könne. Unter einem trocknen Schluchzenerbebte die ſtarke Frau. Lis ſtammelte ein paar theilnehmende Worte. — „O! s'iſt noch mehr, noch viel mehr dazukomme. Vier Woche ſpäter hat man mir mein Mann ins Haus bracht, ſterbend. A Verſehe auf der Jagd — a paar Schrotkörner, die gar an ſo ungeſchickte Weg g'nomme, wie der Förſter ſich entſchuldigte, der's than hat, no a paar Schrotkörner!“ — „Und das mußten Sie ertragen, Sie konnten weiterleben?“ Lis war erſchüttert. „Ja i hab's könnt und hab g'wollt au — für die Andern. I hab' ſeitdem doppelt g'arbeit, für die Tote mit. „Mit ſolchem Gram im Herzen arbeiten! Das iſt furchbar!“ ſagte Lis mit zitternden Lippen. 235 an Feſttag darf er raus. Die Feſttag, das ſind ihre „I ſperr ihn ein an Werktag, da Gram. No Geburtstäg und die Tag an dem ſie g'ſtorbe ſind. Da zähl i dann die paar Schrotkörner, die roſtig ſind von ſeine Blut, ſind grad zwölf. Dann bring i meine Junge Blumen. Heut iſt ſein Geburtstag. Sie ſtand eine Weile mit geſenktem Kopf, die Lippen bewegend, im Gebet. Dann legte ſie die Hand auf Heloiſens Kopf. „Nichts gegen Gott aufkomme laſſen, Liſe, 's iſt bös. Es trägt a Jeder ſein Kreuz. Bete für unſere Todte Liſe und — für Dich. Still ging ſie von dannen. Lis hatte die Empfin⸗ dung gehabt, als wüchſe die Geſtalt der Müllerin neben ihr, während ſie ſelbſt immer kleiner wurde. Sie wußte, warum die Müllerin ihr das alles geſagt hatte. Man wollte ihr das Letzte nehmen, das Recht ihres Schmerzes. Weil Andere Schweres gelitten, wurde ihr Unglück darum geringer? Dieſe Frau hatte Mann und Sohn verloren, ihr blieben die Anderen, die Heimath, die liebgewordene Thätigkeit; ſie aber irrt heimathlos an Leib und Seele umher, zerſchmettert von dem jähen Sturz aus der Höhe in die Tiefe. Bis jetzt hatte ſie wenigſtens geglaubt ſich vor geiſtiger Herabwürdigung bewahrt zu haben. Und nun hat dieſe einfache Frau ihr zeigen wollen, daß ſie auch geiſtig erniedrigt ſei. Zeigen wollen? hat ſie es ihr nicht gezeigt? — „Nur zu — nur zu!“ ſagt ſie unwillkürlich laut. Je ſchwerer die Laſt, je eher würde ſie darunter zu⸗ ſammenbrechen. 236 In den nächſten Tagen arbeitet ſie über ihre Kräfte. Sie hat ſeitdem eine Art Furcht vor der Müllerin. Bei den Mahlzeiten wagt ſie nicht ſie anzublicken, ſie anzu⸗ reden. Sie ſpricht auch mit Burgei nicht und Burgei nicht mit ihr; ſie meint, weil die Schweſter ihr böſe ſei. Hätte ſie ihr nur einmal ins Geſicht geſehen, ſie würde bemerkt haben, wie blaß und niedergeſchlagen Burgei ausſah. Auch daß der Müllergeſelle nicht mehr bei den Mahlzeiten erſchien, fiel ihr nicht auf. Eines Abends, nach harter Tagesarbeit, ſaß man beim Eſſen. Als Lis einmal zufällig aufblickte, begeg⸗ neten ihre Augen denen der Müllerin, die freundlich auf ihr ruhten. „Nun Liſe,“ ſagte ſie lächelnd, „das ſchmeckt? nicht: Lis ſchrak zuſammen. Das Brot entfiel ihrer Hand Ja, es hatte ihr geſchmeckt, außerordentlich gut hatte es ihr geſchmeckt, ſie hatte wie eine Magd, faſt mit Be⸗ gierde gegeſſen; und plötzlich ward ſie ſich bewußt, nicht ſeit heut erſt, nein, ſeit Wochen ſchon hatte ſie die grobe Koſt mit Luſt verzehrt. Die Röthe ſteigt ihr ins Geſicht. Sie kann nicht weiter eſſen. Sie ſteht auf, ſie entflieht in ihre Kammer. Die Müllerin iſt ärgerlich. Sie merkt, daß ſie eine Ungeſchicklichkeit begangen hat. In ihrer Manſarde nimmt Lis den Spiegel aus der Kommode, den ſie ſeit jenem erſten Tage nicht mehr in der Hand gehabt. Sie fürchtet ſich vor dem, was ſie ſehen wird. Es iſt, was ſie fürchtet: ein blühendes, roſiges Geſicht ſieht ihr entgegen. 237 Sie ſtößt den Spiegel fort. Sie ringt die Hände. Die ſchwere Arbeit, anſtatt ſie dem Tode näher zu bringen, hat ſie kräftig und geſund gemacht, kräftiger und geſünder, als ſie je geweſen. Ihre Lebenskraft iſt un⸗ verwüſtlich; ſie wird alt werden, ſteinalt. Aber ſie will nicht. Sie hat ſich an die grobe Nahrung gewöhnt, ſie wird ſich an die gemeine Arbeit, an jede Niedrigkeit wird ſie ſich gewöhnen; eine Andere wird ſie werden, eine ganz Andere. Sie will die Andere nicht werden! Ein Ekel vor der Anderen krampft ihr das Herz zu⸗ ſammen. Muß ſie denn leben? Feig und unwürdig erſcheint ihr dieſes Stillhalten, Abwarten, Kämpfen. Sic will doch ſehen, ob ſie nicht ſtärker iſt als die Natur. Sich ſelbſt zu tödten hat ſie nicht den Muth, leben mag ſie nicht. Sie ſinnt nach — ein wildes, verzweifeltes Sinnen. Ein Einfall kommt ihr: Gott ſoll richten. Der Abend iſt kühl geworden. Sie ſchlägt ein Tuch um die Schulter und eilt fort. Nicht weit von der Mühle ſteigt allmählich ein bewaldeter Hügel an; jenſeits des Hügels liegt ein ſumpfiger Grund, aus dem an Sommerabenden wallende Nebel ſteigen, todtbringende wie die Leute ſagen. Dahin will ſie. In athemloſer Haſt erklimmt ſie den Berg. Man hat ihn in den letzten Tagen abgeholzt. Quer über dem röthlichen Terrain liegen Felsſtücke und die gefällten Baumſtämme. Drei bis vier ſtarke weiße Stämme ſtehen noch aufrecht und erſcheinen in der tiefen Dämmerung wie mächtige Säulen. Trotz der ſpäten Stunde ſind einzelne Arbeiter beſchäftigt Zweige zu verbrennen. Dampfwolken ſteigen qualmend auf, hier und da ſchießen Feuergarben aus 238 dem dunkeln Laube empor. An einem der ſäulenartigen Stämme lehnt ein Menſch. Wäre ſie nur erſt da vorüber! Gerade als ſie in ſeinen Geſichtskreis tritt, lodert aus dampfenden Zweigen eine Flamme hoch auf, und ſie erkennt an ſeinem Gewand und an dem röthlich blonden Gelock, den Apoſtel. Ob er ſie geſehen hat! Sie wirft das Tuch ab, das ſie hindert und huſcht eilig, eilig an ihm vorüber. In wenigen Minuten ſteht ſie jenſeits, und — da iſt auch ſchon der Grund. Wo er beginnt iſt der Nebel nur wie ein zarter Schleier, aber er wird immer dichter; bald ſieht ſie nicht mehr wohin ihr Fuß tritt, ſie ſchreitet ins Schrankenloſe, in ein graues, geſpenſtiſches Nichts. Und ſchrecklich iſt was ſie athmet. Kalt und modrig kriecht es in ihre Lungen, ſie ſchaudert, ſie friert bis ins Mark der Knochen. Plötzlich fühlt ſie ſich gepackt, in ein Tuch gehüllt: ſie ſieht niemand in dem undurchdringlichen Nebel, aber ſie hört eine Stimme: ¹ „Was thuſt Du hier, gottverlaſſenes Geſchöpf: Weißt Du nicht, daß die Sumpfluft den Tod bringt: ¹ „Ich weiß es. Darum bin ich hier! Sie fühlt ſich fortgeriſſen, gewaltſam, und einige Minuten ſpäter iſt ſie aus dem Bereich des Nebels. Eine ſchmale Mondſichel iſt am Horizont aufgeſtiegen und verbreitet einen matten, zartdunſtigen Schein. Sie weiß ehe ſie ihn ſehen kann, daß er es iſt — der Apoſtel. „Du möchteſt ſterben,“ ſagt er jetzt ſanft, „warum! Sie antwortet nicht. „Du biſt unglücklich 239 hat etwas Zwingendes. „Ia,“ antwortet ſie wider Willen, ſeine Stimme ſtrengerem Tone fort. „Und Du biſt jung und geſund?“ fährt er in „Was thut das¹ größte Unglück iſt, daß ein Menſch nicht gut iſt, und „Ich glaube Dir, daß Du unglücklich biſt. Das Du biſt nicht gut. Wer biſt Dur „Liſe Chriſtopf. „Verwandt mit der Müllerin „Id. „Du gehörſt zu einer braven Familie. Geh nach Hauſe. Das Leben mußt Du ſuchen, nicht den Tod. Ich komme morgen. Ich helfe Dir. Wer geſund und jung iſt und ſterben will, handelt verächtlich wie ein Menſch, der, weil er keinen Hunger hat, ſeine Speiſe verdirbt, an der andere Hungrige ſich ſättigen könnten. Geh jetzt.“ Wie im Traum trat ſie den Rückweg an. Sie verſtand nicht recht, was er mit den letzten Worten hatte ſagen wollen. Aber ſie ſchämte ſich vor ihm. Sie ſchlief in der Nacht nicht, immer ſah ſie ihn vor ſich, im Feuerſchein, an die weiße Säule gelehnt, einem Hohen⸗ prieſter gleich, und immer hörte ſie ſeine Stimme, eine Stimme, die wie Kirchenmuſik klang. Am nächſten Tage irrte ſie ſtundenlang in der Gegend umher. Sie wollte ihn nicht ſehen. Sie dachte auch nicht daran ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Sie wußte nicht, was aus ihr werden ſollte. Als ſie zur Mühle zurückkam hörte ſie, daß er 240 dageweſen, daß er nach ihr gefragt, und daß er bald wiederkommen würde. Sie ſchweifte auch in den nächſten Tagen in verwirrender, qualvoller Unruhe, ziellos und planlos umher. Es war am dritten Tage nach der Begegnung mit dem Apoſtel, als ſie bei ihren Wanderungen in ein enges, reizendes Thal kam. Ein Bach floß durch den Grund, bald lieblich plandernd, bald raſchhinſtrömend und kleine Waſſerfälle bildend, bald wie ein See ſtill in ſich ruhend. Der Grund war langhingeſtreckt und von hohen Bergen eingeſchloſſen. Am Ufer zogen ſich unregelmäßige Alleen von Laubbäumen hin. An einer Stelle herrſchte die Steinwelt vor. Mächtige Blöcke lagen im Waſſer, an beiden Ufern ragten die Felſen in grandios phantaſtiſchen Bildungen auf, wie Pyramiden oder verſteinerte Wolkengebilde, Block auf Block gethürmt, aus einer vorſündfluthlichen Zeit. Dieſe Felſen ſchienen verſteinerte Rieſenelephanten, Drachen, Minotauren. Hier und da leuchtete aus dem Schooß des dunkeln Geſteins ſonnengetränktes, duftiges Laub, während große, ernſte Tannen eins zu ſein ſchienen mit den ſteinernen Gebilden. So recht ein Schauplatz für deutſche Märchenwelt iſt dieſes Thal, dachte Lis, ſo altgermaniſch und heidniſch ſcheint es und doch auch wieder urchriſtlich gemüthvoll. Prieſterinnen und Gnomen begegnen ſich darin. So verwittert uralt war der Grund und doch ſo friſch und urkräftig zeugend in ſeiner grotesken, unſinnigen Ver⸗ wachſenheit von Geſtrüpp, wilden Blumen, Tannen und Geſtein, Idyll und Ode zugleich. Viele dieſer tiefen Spalten und Höhlungen in den 16 244 Felſen ſahen wie Niſchen aus, in denen einſt Heiligen⸗ bilder geſtanden, und die nun leer waren. Mitten auf dem ſchmalen Wege ſchienen zwei Fels⸗ blöcke, die oben aneinander lehnten, den Weg zu ver⸗ ſperren. Sie ließen aber nach unten einen Spalt offen, der einen ſchmalen, düſteren Durchgang bildete. Jenſeits des Spaltes wurden einige Stufen ſichtbar, über die der Weg längs des Baches weiter führte. Als Lis vor dem Spalt ſtand, im Begriff hindurchzuſchreiten, erſchien jenſeits in der Oeffnung der Höhle eine Licht⸗ geſtalt. So ganz paßte dieſe Erſcheinung mit dem röthlichen Haar, das ſein Haupt umflimmerte, in den Rahmen dieſer Natur, daß ein heiliger Schauer Lis durchrieſelte. Er kam durch die Höhle auf ſie zugeſchritten. Zum erſten Mal ſtanden ſie ſich im hellen Tageslicht gegen⸗ über. Er hatte ein bräunliches Geſicht mit tiefernſten Zügen. Seine lichten, grünlich grauen Augen waren durchſichtig wie von Cryſtall und ſonnenklar. Und klar und feſt ruhten ſie jetzt auf Lis. Allmälig aber wurde ſein Blick bewegt und unruhig, und ein Staunen, das immer größer wurde, prägte ſich in ſeinen Zügen aus. Er öffnete einige Male die Lippen, als wollte er ſprechen und ſchwieg doch wieder. Endlich fragte er leiſe, kaum hörbar: — „Lis: Sie erbebte. Nach Monaten zum erſten Male wieder ihr Name! Ihr war wie einem, der nach langen Irrfahrten auf dem Meere, Land erblickt. Er kannte ſie, und ſie — ja — ſie kannte auch ihn, ſeine Augen, ſeine Stimme kannte ſie. Aber wer? wer? — — Er: 242 Gottfried? Nein, unmöglich, er war ja geſtorben, lange ſchon. ja todt. „Es kann nicht ſein,“ ſagte ſie laut, „er iſt „Ich bin Gottfried. „Mein Vater“ — ſie unterbrach ſich — „man ſagte mir, Sie ſeien geſtorben. „aſt wär' ich's. Ja, Lis, ich habe dem Tode in's Antlitz geſehen, ich habe mit ihm gerungen, und ich bin in's Leben zurückgekehrt. Und Sie Lis, iſt es möglich? Lis und Liſe Chriſtoph dieſelbe! Und Lis ſuchte den Tod! Sie neigte den Kopf tief herab. „„Sie wiſſen, was mir geſchehen: „Ich war bei Ihrer Mutter, ich kenne Ihr Schickſal, nur ahnte ich nicht, daß die Tochter der Müllerin und die Comteſſe Ronald⸗Büren ein und dieſelbe Perſon ſei. O, Lis, ich ſagte es Ihnen ſchon, das Leben hätten Sie ſuchen ſollen, nicht den Tod. . Das tiefe Mitleid, das aus dem Tone ſeiner Stimme ſprach, demüthigte ſie mehr als das härteſte Wort es hätte thun können. „Sie ſind gerächt für den Hochmuth, den ich Ihnen einſt bewieſen. Grauſam, zu grauſam bin ich beſtraft,“ ſagte ſie mit überquellender Bitterkeit. „Ich ſehe die Strafe nicht. „Und Sie kennen mein Schickſal! „Ich kenne es. Sie ſah ihn groß an. Brauchte ſie ihm aus⸗ einanderzuſetzen, was ſo offenbar war? 243 16* berührte ihn mit dem Finger. Er bemerkte den Rubinring an ihrer Hand und klammern ſich an Todtes, daher Ihr Widerwille am Leben. „Das iſt ein böſer Talisman, Lis. Sie „An Todtes: Während ſie miteinander ſprachen, gingen ſie un⸗ willkürlich weiter durch den engen Grund, am Bach entlang. „Weſſen Seele, wie die meine, einen Augenblick im Jenſeits geweilt, der bewahrt einen Hauch des Ewigen und kann vielleicht beſſer als Andere Lebendiges vom Todten unterſcheiden. Todtes iſt, was aus der Vergangenheit ſtammend, uns der Freiheit beraubt zu wachſen, zu werden!“ „Iſt das auch Todtes,“ fragte Lis erregt, „die Atmosphäre, in der ich geboren und aufgewachſen bin, die Heimath, der Verkehr mit Gleichgeſinnten? Wie ſollte ich die Menſchen nicht entbehren, die meine Sprache reden, die Trachten, die für mein Auge ſchön ſind und all die ſüßen Gewohnheiten jenes lichten Daſeins und alles, alles, was ich liebte, was mein war! Ihre Augen füllten ſich mit Thränen. Sie ſah, daß er das Haupt ſchüttelte. Das reizte ſie. — „Sie freilich, wie können Sie beurtheilen, was ich verloren habe“. — Sie unterbrach ſich plötzlich. — „Ich, der ich niedriggeboren, in niedriger Um⸗ gebung aufgewachſen bin,“ ergänzte er ihre Rede. In bitterer Scham ſanken ihre Blicke zu Boden, ſie hatte vergeſſen, auch in ihren Adern floß das Blut von Bauern. 244 „Die Frage des Bluts,“ ſagte er, „iſt für mich nur eine chemiſche. Der Phyſiologe, der Arzt hat da⸗ rüber zu entſcheiden, weſſen Blut gut, weſſen Blut ſchlecht iſt, nicht das heraldiſche Amt. Ihre Atmosphäre! ich kenne ſie, ſie iſt nicht gut. Ein Begriff fehlt dieſer At⸗ mosphäre gänzlich: Die Anderen.“ „Iſt das ſo? Ich weiß es nicht; und wenn auch, niemand kann aus ſeiner Individualität heraus,“ ſagte ſie müde. „Viel öfter kann die Individualität ſelbſt nicht heraus, und darum bleiben die meiſten Menſchen zeit⸗ lebens nur ein Gattungsbegriff, ohne Spur einer eigenen Perſönlichkeit.“ „Wie ich auch! „Wie auch Sie. Lis, verſuchen Sie einmal der einfachen Wahrheit gerade ins Geſicht zu ſehen. Was haben Sie verloren? Die Sie liebten? Ihre Eltern? Zwiſchen Ihnen und Ihren Eltern, —. die nicht Ihre Eltern waren, — beſtand kein Band wahrer Liebe. „Ich war verlobt.“ „In echter Liebe? „Ja.“ Sie ſagte es unſicher, zögernd. „Nein, ſage ich. Hätte er Sie wahr und tief geliebt, er hätte Sie geſucht — und gefunden. Ein fröſtelndes, troſtloſes Gefühl ſchnürte ihr das Herz zuſammen. Sie hatte ſich daſſelbe geſagt, wie oft — wie oft. „Und hätte ſelbſt die reinſte Liebe Sie mit jenem Manne vereint, wie viel Bräute haben den Verlobten verloren, oft gewaltſam und jäh, wie im Kriege, und 245 ſie haben überwunden — alle. Die Natur will, daß ſolche Wunden heilen. Soll ich Ihr ganzes Leid in ein Wort zuſammenfaſſen? Daß die Comteſſe Ronald⸗Büren Liſe Chriſtoph geworden, das iſt's. Was war denn die Com⸗ teſſe Heloiſe außer Comteſſe? nur Comteſſe? nichts weiter? Denn wäre ſie mehr geweſen, ſo würde doch, wenn der Name fort war, noch etwas von ihr übrig geblieben ſein. Echtes, Tüchtiges kann ohne Staffage beſtehen, ja beſſer noch ohne ſie. Nicht, was Sie jetzt ſind ſollte Ihnen ſo viel Kummer machen Lis, ſondern was Sie nicht ſind.“ „Was bin ich nicht: „Ein einfacher, guter Menſch. „Und wie ſoll ich das werden? Verlangen Sie, daß ich mit Freudigkeit auf dem Felde Kartoffeln graben, mit Entzücken das Vieh füttern ſoll? daß ich ganz, ganz zur Magd werde“ „Das Alles hätten Sie nie thun dürfen, Sie thaten es auch nur in thörichtem Trotz; abſichtlich er⸗ weiterten Sie Ihre Wunde anſtatt auf Heilmittel zu ſinnen. Hochmuth war in der Erde an Ihren Händen, Hochmuth in den Holzſchuhen.“ „Mein Gott, was ſoll ich thun: „Sie werden es ſelbſt finden, Lis. Er ſchwieg und ſchien ſich wieder liebevoll in den Anblick der Landſchaft zu verſenken. Sie ſtanden an einer Stelle wo die Zweige ſich wie durſtig ſo tief hinab⸗ neigten, daß ſie das Waſſer berührten, und der Grund war an manchen Stellen ſo ſchmal, daß die Zweige hüben und drüben ſich ineinander ſchlangen. Das 246 Sonnengold ſpielte in leuchtend grünen und roſigen Re⸗ flexen auf dem Waſſer. Von dem Ginſter und Haide⸗ kraut, das an dem Felſen emporblüthe, flatterten un⸗ zählige weiße Blüthen durch die Luft. Er breitete die Arme aus, als wollte er dieſe ewige Schönheit der Natur an ſein Herz ziehen. „Wie lebendig alles wächſt und wird,“ ſagte er ohne Lis anzublicken. „Alles Kranke und Abgeſtorbenc benutzt die Natur zu Keimen für neues Leben. Nur wollen Lis! wollen! Und Sie ſind geneſen.“ Die ſanfte gleichmäßige Ruhe ſeines Weſens wirkte erkältend auf Heloiſe. Wollte er den Apoſtel ſpielen und ihr eine Art Bergpredigt halten? Sie brauchte keine Predigt, ſie hatte nicht geſündigt. Ihre Gedanken irrten wie in einem Labyrinth umher. Bald fühlte ſie einen frommen Drang ihn an⸗ zurufen: Hilf mir! und dann wieder bäumte ſich ihr Inneres gegen dieſen kühlen Idealismus auf. Aus dieſem Gefuhl innerer Auflehnung heraus fragte ſie plötzlich unvermittelt, faſt ironiſch: „Warum tragen Sie dieſe Kleidung? warum wollen Sie ſich von den Andern unterſcheiden? Iſt kein Hoch⸗ muth dabei? „Nein Lis. Das Grundgeſetz aller meiner Handlungen iſt: Bekenne, was Du erkennſt. Ich habe erkannt, daß unſere herkömmliche Kleidung in ethiſcher, ſanitärer und äſthetiſcher Beziehung häßlich iſt, und ich habe ſie abgelegt. Zugleich habe ich damit die Scheu vor den Menſchen überwunden. Ich habe mich 247 unabhängig von ihnen gemacht, von ihrer Meinung, ihrem Spott. Lange Zeit hindurch haben ſie über mich gelacht, ſie lachen ſchon längſt nicht mehr, die großen und die kleinen Kinder. Wenn Gott ſelber in Donner und Blitz am Firmament ſich offenbarte, und ſein Gewand erſchiene ihnen in Schnitt und Farbe zu altmodiſch oder zu neumodiſch, ſie würden zugleich anbeten und lachen, und vielleicht in der nächſten Saiſon ſein Gewand nachahmen. Wenn ich das Thun Anderer als Irrthum erkenne, und ich ſetze dieſen Irrthum fort, ſo bin auch ich ein Stein in der compakten Mauer, die ſich den Vorwärtsſchreitenden entgegenſtemmt. „Man nennt Sie um dieſes Gewandes willen den Apoſtel.“ „Ich nenne mich Bruder Gottfried, ſo nennen mich meine Kinder, ſo nennen mich Alle, die mich wirklich kennen, und ſo möchte ich Lis, daß auch Sie mich nennen.“ Eine längere Pauſe entſtand. „Ihre Kinder!“ hob Lis wieder an, „was iſt aus Ihren hochfliegenden Plänen geworden, aus Ihren kühnen Ideen! Ein Titan — wollten Sie die Welt aus den Angeln heben, als Staatsmann, oder als Philoſoph oder als Dichter. Und nun ſagt man mir, Sie erziehen ein Dutzend verkommener Waiſen⸗ kinder.“ Ueber Gottfrieds Züge glitt ein ſtrahlendes Lächeln. „Nicht Waiſenkinder, wohl aber Kinder aus 248 der Hefe des Volkes, und ich leiſte Größeres, als ich damals wollte.“ „Könnten nicht gute Leute einfachen Geiſtes daſſelbe leiſten? „Nein. Meine Aufgabe iſt weltengroß. Ich zweifle zuweilen, ob ich ihr gewachſen bin. Löſe ich ſie, ſo habe ich mehr gethan als ein Feldherr oder ein Miniſter, mehr als der genialſte Dichter oder Künſtler. Ich ſchenke dem Staate zwölf gute, treffliche Menſchen, die ohne mich Verbrecher geworden wären. Ja, Verbrecher wären meine Kinder geworden, alle, wenn ſie in der Atmosphäre ihrer Eltern geblieben wären.“ „Und ſie fürchten nicht, daß die ſchlechten Triebe der Eltern ſich auf die Kinder vererben? ¹ „Nein, ich glaube nicht an die Erblichkeit des Laſters; ich glaube nur an diejenige des Temperaments, und das läßt ſich zum Guten wie zum Böſen leiten. Es iſt unheilvoll, daß der Stand des Erziehers noch gar nicht exiſtirt, er muß erſt geſchaffen werden. Sie werden die Lehrer, die an Schulen unterrichten, nicht Erzieher nennen, ebenſo wenig die Eltern. Nur aus⸗ nahmsweiſe, wenn ſie zur Elite der Menſchen gehören, taugen Eltern zu Erziehern, und immerhin könnten ſie auch dann nur ſo nebenher ein Amt ausüben, das einen ganzen Menſchen und eine volle Lebenskraft fordert. Nur die Weiſeſten, Beſten, Genialſten, die ihre Zeit weit überragen, müßten Bildner der Jugend ſein. Ich würde den Erziehern keinerlei Beſoldung geben. Der Staat und die Gemeinde müßten dem Erziehungswerk die 249 reichſten Mittel zur Verfügung ſtellen. Daß eine Stadt mit Bildwerken geſchmückt, daß Muſeen errichtet werden, iſt ſchön, iſt nothwendig für die künſtleriſche Entwickelung des Volkes. Die ethiſche Entwickelung und die der Intelligenz ſtehen unendlich höher. Der Stand des Erziehers müßte der erſte ſein im Lande, eine Art Prieſterthum. Weihevolles müßte ihm anhaften und das Erziehungshaus müßte ein Tempel ſein. „Und wie ſoll man die Beſten, Weiſeſten her⸗ ausfinden? „Ich könnte Ihnen antworten durch eine all⸗ gemeinc direkte Wahl, die Wahl der Mütter. Wo ihr kritiſcher Verſtand nicht ausreicht, würde nicht der machtvolle mütterliche Inſtinkt der Liebe ihre Wahl leiten? Selbſt in Amerika, wo bei den Präſidenten⸗ wahlen die unwürdigſten, ſelbſtſüchtigſten Triebe entfeſſelt werden, ergiebt die allgemeine Volksſtimme faſt immer ein treffliches Reſultat. „Vox populi. vox dei“ iſt keine Phraſe; wie das Meer ſo groß und ſein Wellenſchlag ſo voll iſt, daß alles Unreine, das hineinfließt in dent reinen Element ſich auflöſt, ſo verliert ſich auch in dem allgemeinen Volkswillen das Niedrige, das Gemeine. Es kann ſich aber Alles noch viel einfacher geſtalten. Die erſten wahren Erzieher werden ſich gewiſſermaßen offenbaren. Wie ich durch die entſetztlichen Eindrücke meiner Kinderjahre zum Nachdenken über die Rechte der Kinder geführt wurde, und dann tödtliche Krankheit und Seelenſchmerz mich läuterten zu dem Berufe des Er⸗ ziehers, ſo werden auch Andere, wenn auch auf ver⸗ ſchiedenen Wegen, zu dieſem Prieſteramt berufen werden. 250 Dieſe Erſten, möge man ſie Meiſter nennen, werden Jünger heranbilden, aus deren Mitte dann die ſpäteren Meiſter hervorgehen werden. Ich meine auch, für ein Amt, das unabläſſige, ſtrenge Arbeit fordert und alle diejenigen Genüſſe ausſchließt, die für untergeordnete Menſchen Reiz haben, würden ſich da Andere als Berufene überhaupt zur Wahl ſtellen? So müßte es ſein, und wie iſt es jetzt? Die Pro⸗ feſſion des Lehrers üben zumeiſt Leute, denen durch dürftige Lebenslage oder geringe Begabung die Univer⸗ ſitätscarriére verſchloſſen iſt. Spärliche Beſoldung läßt ſie zeitlebens im Kampf mit äußerer Lebensnoth: in der ſocialen Schätzung nehmen ſie einen untergeordneten Rang ein. Ihre Charakterqualifikation wird bei der Ausübung ihres Amts garnicht in Betracht gezogen. Das Erziehungswerk iſt von ſo unermeßlicher Wichtigkeit, weil das Kind gläubig iſt, gläubig bis zum Fanatismus. Was Lehrer und Erzieher ihm einprägen, wurzelt ſo feſt, daß es ſpäter nur ſchwer wieder auszu⸗ rotten iſt. Der Erzieher hält die Zukunft in ſeinen Händen.“ Wenn Gottfried zuweilen Pauſen machte, um nach Heloiſes Meinung zu fragen, ſo winkte ſie ihm nur, fortzufahren. Sie hatte keine Meinung. Sie war ganz verwirrt. Niemals waren Ideen, die an Hergebrachtes rührten, oder die gar einen ernſten, reformatoriſchen Charakter trugen, in den Kreis ihres Denkens getreten. Nur Künſtleriſches, Perſönliches, oder was auf dem Gebiete der Empfindung ſich abſpielt, hatte ſie bewegt und intereſſirt. Hätte man im Palais Ronald⸗Büren 251 Anſichten ausgeſprochen, wie jetzt Gottfried es that, ſie würde ſie einfach für abſurd gehalten haben. Jetzt er⸗ regten ſie nur ihr Erſtaunen. Daß ihr ſelbſt ſo Uner⸗ hörtes, ſo Außerordentliches geſchehen, machte ſie geneigt auch an dem, was ſie bis jetzt für ſelbſtverſtändlich ge⸗ halten, zu zweifeln. Als Gottfried ſchwieg, ſagte ſie nur: „Und was Sie erſtreben, Sie halten es für durchführbar im praktiſchen Leben? „Gewiß. Was iſt unmöglich? Unmöglich iſt nicht, daß wir einſt mit den Bewohnern anderer Planeten reden werden, und es ſollte unmöglich ſein, den Kindern zu ihrem Rechte zu verhelfen? Mit Freudigkeit werden oder müßten alle Eltern ihre Kinder Erziehungshäuſern anvertrauen, aus denen ſie geſund und ſtark an Körper und Geiſt hervorgehen. Ich werde mein Erziehungs⸗ haus vergrößern, ich werde Hülfsgeiſter finden. Sein Blick ruhte auf ihr wie eine Frage. Sie verſtand ihn nicht. — „Und wenn Sie hundert, ja tauſend Kinder nach Ihren Grundſätzen erzögen, wäre das nicht als wenn Sie ein paar tauſend Tropfen ſüßen Waſſers ins ſalzige Meer laufen ließen? Bliebe es nicht ſalzig nach wie vor? „Glauben Sie nicht an die allmähliche Ver⸗ edelung des Menſchengeſchlechts, Lis? Was wäre all unſer Thun, Wollen und Streben ohne dieſen Glauben? Bilder in den Sand gezeichnet, die im nächſten Augen⸗ blick der Wind verweht. Es iſt ſchrecklich nicht daran zu glauben. Ohne dieſen Glauben könnte ich nicht 252 leben. Erziehungshäuſer, wie ich ſie denke, werden all⸗ gemein werden wie jetzt die Schulen, und alle Kinder werden der wahrhaften Erziehung theilhaftig werden.“ „Mir ſcheint, Lis,“ ſagte er nach einer Pauſc, „daß nur diejenigen Menſchen an die Veredelung des Menſchengeſchlechts nicht glauben, die nicht bei ſich anfangen wollen. Auch Ihr Unglück, mein Kind, liegt in Ihrer falſchen Lebensauffaſſung! Wieder überkam ſie das Verlangen der Auflehnung gegen ſeine, wenn auch milde, ſo doch ſouveräne Art zu ſprechen. „Ich gehöre nicht zu den Auserwählten,“ ſagte ſie mit einem Anflug des alten Hochmuths, „die nur einer flüchtigen Belehrung bedürfen, um eine vertraute, liebe Welt um einer fremden unlieben willen, aufzugeben. „Nichts ſollen Sie aufgeben, Lis, als was Sie hindert ein unzerſtörbares Glück zu gewinnen. „Sind Sie glücklich? ganz glücklich? „Ganz glücklich. Wenn ich morgens durch dieſen Grund ſchreite, der ſo nahe meinem Hauſe iſt, und all dieſe Schönheit iſt mein, weil ich ſie empfinde, wenn ich die großen Werke unſerer vornehmſten Denker und Dichter leſe, und all dieſer Tiefſinn, dieſe Poeſie iſt mein, weil ich ſie verſtehe und nachfühle, iſt das nicht Glück? Glückſeligkeit aber ſind die Kinder mit ihrer quellenden Liebe und Zärtlichkeit — und ſie ſind mein; ihre ſinnigen Gedanken, ihre humorvollen Einfälle, ihre entzückende Naivetät — alles mein. — Menſchen in Stein zu hauen, hohe Gedanken oder poetiſche Stimmungen in Muſik oder Verſen austönen zu laſſen, mag beglücken. 253 Nichts aber gleicht der Freude lebendige Menſchen zi bilden, eine Freude, frei von Neid, Eitelkeit und Ehr⸗ geiz, ein Glück, rein und erhaben und doch ſo ſüß menſchlich.“ — „Und wenn Sie eine eigene Familie, eigene Kinder hätten? Eine feine Röthe zog über ſeine Stirn. — „Wer die höchſte aller Aufgaben gewählt hat, darf keine Familie für ſich gründen. Er iſt ein Prieſter. Es iſt ein großer und guter Gedanke der katholiſchen Kirche, daß der Prieſter nicht heirathen darf. Mit aller Leidenſchaft, deren ein Jünglingsherz fähig iſt, habe ich Sie geliebt, Lis; ich ſehe Sie wieder, ſchöner als damals, und ich liebe Sie noch, ich liebe Sie wieder aber anders wie damals. Ich liebe Sie, wie ich meine Kinder liebe, ich denke bei dieſer Liebe nur an Sie, nicht an mich.“ Ein Gewirr von Stimmen ließ ſich aus der Ferne hören. „Das ſind meine Kinder,“ ſagte er. „Mein Aelteſter iſt ſchon über zehn Jahre, er heißt auch Gott⸗ fried, wir nennen ihn Jung⸗Gottfried. Er führt die kleine Schaar. Er geht für mich durch's Feuer, mein Aelteſter und ich habe alle Mühe, ſeine Schwärmerei anf ein beſonnenes Maß zurückzuführen. Er trat nahe zu ihr heran. „Iſt es wirklich ſo viel, was Sie verloren haben, Lis? Und iſt es ſo wenig, was Sie gewinnen können! 254 Er gab ihr beim Abſchiede nicht die Hand, grüßte ſie mit einem herzlichen Blick und ſchritt wieder durch die Höhle der anderen Seite zu. Sie hätte ihn gern mit den Kindern geſehen; es kam ihr aber indiskret vor, ihm nachzugehen, und ſo blieb ſie bis die Stimmen in der Ferne verhallt waren. In der Mühle kam ſie gerade an, als das Eſſen aufgetragen wurde. Burgei fehlte. Der Müllergeſell war ſchon ſeit längerer Zeit von den Mahlzeiten aus⸗ geblieben. „Wo iſt Burgei?“ fragte Lis. „Krank,“ antwortete die Müllerin. „Schon die ganze letzte Woche war ihr nit recht. Haſt's nicht be⸗ merkt?“ Liſe ſchwieg. Sie ſchämte ſich nein zu ſagen. Die Müllerin klagte, daß ſie heut gerade über Land müſſe, Einkäufe von Getreide zu machen, ſie habe nach der alten Bäuerin geſchickt, der die groben Arbeiten in der Mühle oblagen, damit ſie nach Burgei ſähe. Eine dunkle Röthe übergoß Heloiſens Geſicht. So wurde ſie taxirt? als herzlos, unfähig einen Dienſt zu leiſten! Mit ſtockender Stimme bat ſie bei Burgei bleiben zu dürfen. Ein freundlicher Zug erhellte das Geſicht der Müllerin, als ſie ihr zunickte: „So ſei's! Brauchſt nur ab und zu nach ihr zu ſehen, ſie iſt wie ein Lamm. Nachdem Lis haſtig etwas gegeſſen, trat ſie in Burgei's Kammer. Das kranke Mädchen ſah ſie erſt erſtaunt an, dann lächelte ſie ihr zu; ſie war offenbar über Lis' Erſcheinen erfreut. „s' geht mir ganz gut, Liſe, i hab' nur a bisle Fieber, ſo gut biſcht, daß Du kommſt. 255 Unruhe quälte ſie. Sie horchte auf jedes Geräuſch von Sie hatte aber ſtarkes Fieber. Eine immerwährende draußen, als warte ſie auf irgend einen beſtimmten Ton. und zu mechaniſch. Oft verfiel ſie in einen dumpfen „Wie gut, daß Du da biſt,“ wiederholte ſie ab Halbſchlaf, ſchreckte aber alle Augenblicke wieder empor und fragte, ob nicht Jemand da wäre? oder wenn Schritte vor der Mühle hörbar wurden, wollte ſie wiſſen, wer vorüberging. Ein anderes Mal verlangte ſie, aus dem Schlafe emporfahrend, nach ihrem Vergiß⸗ meinnichtkranz, es hätte ihn gewiß niemand begoſſen, und er müſſe vertrocknen. Lis holte den Kranz; er war vertrocknet, ſie mußte ihn trotzdem begießen und vor Burgei's Bett ſtellen. Nach einer Weile fragte ſie: „War kein friſcher Kranz dar „Nein, es war keiner da. Spät Abends kam die Mutter heim. Das Fieber war geſtiegen, der Arzt befürchtete eine Gehirnentzündung. Die Mutter wollte bei der Kranken ſchlafen. Lis gab es nicht zu. Sie habe die Pflege übernommen, ſie wolle auch bei Burgei ſchlafen. Nach einigem Zögern gab die Müllerin nach, mit einem eigenthümlich hellen Blick auf Lis. In der Nacht fing Burgei an zu phantaſieren. Immer war der Name Conrad auf ihren Lippen und immer ſah ſie ihn in irgend einer ſchrecklichen Gefahr, einmal auf einer Bergſpitze im Kampfe mit einem Geier. Der Geier hatte Rieſenaugen. Conrad hatte ihn be⸗ wältigt, ſein Fuß wollte ihm den Kopf zertreten, da 256 bohrte der Raubvogel ſeine ſchrecklichen Augen in die ſeinen, Conrads Arm war gelähmt, und der Geier ſchlug die Krallen in ſeinen Leib. Dann wieder ſah ſie ihn am Mühlrad ſtehen. Das Mühlrad mahlte, mahlte, ſchneller immer ſchneller, und mit einem Male ward aus jeder Speiche des Rades ein Arm, und alle die Arme ſchlangen ſich um ſeinen Hals und zogen ihn hinab — hinab, und das Waſſer gurgelte, — nein, nicht das Waſſer, das Gurgeln waren Küſſe, und das Mühlrad mahlte — zermahlte tief unten, tief unten — was? wen? Sie ſchrie laut auf und umklammerte Lis. Hätte Lis nicht längſt der Schweſter Geheimniß gekannt, ihre Phantaſien hätten es ihr verrathen. In angſtvoller Spannung hingen ihre Blicke an dem rothen erhitzten Geſichtchen der Schweſter. Alle Apathie war von ihr gewichen. Bedurfte ſie doch ihrer ganzen Kraft für die Pflege der Kranken. Es blieb ihr keine Zeit an ſich und ihr eigenes Elend zu denken. Sie ſchlief wenig in der Nacht, ohne bei Tage müde zu ſein. Ihre Hauptpflege beſtand darin, die Kranke zu beruhigen. Sie erſann luſtige Geſchichten, und wenn ihr nichts mehr einfiel, durchforſchte ſie ihre Vergangenheit nach heiteren und erzählenswerthen Begebenheiten. Und eines Tages erzählte ſie Burgei die Geſchichte ihrer Verlobung, die Schlittenfahrt, Irenes Enttäuſchung und ſtellte das Ganze im Lichte eines ſcherzhaften Abenteuers dar, um die Schweſter zu erheitern. Wie ſie das thun konnte, war ihr ſpäter ſelber ein Räthſel. Ein ander Mal, als ihre Phantaſie ſie ganz im Stiche ließ und Burgei nicht zu beruhigen war, fing ſie an zu ſingen. Seit jenem ver⸗ 17 257 hängnißvollen Tage, der über ihr Geſchick entſchied, hatte ſie die Lippen nicht wieder zum Geſange geöffnet. Unter den ſanften Melodien ſchlief die Kranke ein. Seitdem ſang Lis täglich. Mitunter griff Burgei aus ihren Viſionen heraus nach Heloiſes Hand. „„Geh net fort, Liſe, geh net fort! War ſie dann wieder eingeſchlafen, ſo verharrte Lis in der unbequemſten Stellung ſtundenlang, ihre Hand in Burgeis Hand, um den Schlaf der Kranken nicht zu ſtören. Sie glaubte ihre Pflicht zu thun, und merkte nicht daß ihr Herz dabei war. In den Tagen, wo es am ſchlimmſten mit Burgei ſtand, ſaß ſie oft mit der Müllerin zuſammen am Kran⸗ kenlager, und ihre Blicke und Gedanken begegneten ſich in Sorge und Liebe für die Kranke, und als die Frau eines Tages ihre harte Hand auf ihren Kopf legte und ſagte: „Biſt a Gottesmädel,“ da empfand ſie etwas wie Stolz und Freude. Burgeis ganze rührende Selbſtloſigkeit kam bei der Krankheit zum Ausdruck. Immer bedrückte ſie das Be⸗ wußtſein, den Anderen Sorge und Laſt zu verurſachen. Sie war ſo dankbar für jeden kleinen Dienſt, wenn Lis ihr zu trinken gab, wenn ſie ihr das Kiſſen zurecht rückte, und ein und das andere Mal preßte ſie ihre brennen⸗ den Lippen auf Heloiſes Hand. Mußte Lis auf Anordnung der Müllerin ins Freie gehen um friſche Luft zu ſchöpfen, ſo zählte ſie die Minuten, bis ſie wieder bei der Kranken war, und wenn ihr Burgei dann die Arme entgegenſtreckte: „Endlich 258 biſt da, hab' ſo nach Di' g'bangt,“ ſo wurden ihre Augen feucht in zärtlicher Rührung. Jetzt verſtand ſie, was Gottfried meinte, als er ihr im Nebelgrund geſagt: „Wer keinen Hunger hat und ſeine Speiſe verdirbt, an der andere Hungrige ſich ſättigen könnten, handelt ver⸗ ächtlich.“ Ja, daß ſie lebte, kam Burgei zu gut. Eine innere Heiterkeit kam über ſie. Sie dachte viel an Gott⸗ fried. Wie gut auch, daß er lebte, und daß ſie keine Mitſchuld an ſeinem Tode hatte. Nach einigen Tagen war Burgei außer Gefahr; allmählich ſchwand das Fieber. Aber ſie wurde nicht geſund. Alle Tage ſchickte ſie Lis ins Wohnzimmer, nachzuſehen, ob nicht ein neuer Vergißmeinnichtkranz da wäre. Es war keiner da. Eine innere Qual ſchien das junge Mädchen aufzureiben. Lis ſprach der Müllerin die Beſorgniß aus, daß ein Seelenleiden ihre Geneſung hindere. „So iſt es,“ ſagte die Müllerin, „Burgei war ſo gut wie verſproche mit Conrad. Nun hat der ſich in die Schloßhex, in die Dame Pia verliebt, un's wird a End' nehme mit ihm wie mit mein arme Sohn. Hat er ſich mit ihr eingelaſſe, der Sünd' würd' er nie ledig, und eher ſoll Burgei ſterbe, als ſo Einen heirathe, der ein Krüppel an ſeiner Seel' iſt. Es verging eine Woche. Burgei ſiechte hin. Lis ſann und grübelte, wie ſie ihr helfen könne. Eines Nachts kam ihr eine Eingebung: Gottfried! Wenn Einer helfen konnte, ſo war er es. Am anderen Tage ſagte ſie der Müllerin, daß ſie etwas vorhabe, das ſie den Vormittag fern von 17* 259 der Mühle hielte, ſie möchte aber nicht ſagen, was es wäre. — „Wirſcht nix thun, was nit recht iſt,“ ſagte die Müllerin, „geh mit Gott. Lis machte ſich ſofort auf den Weg. Es war ein friſcher, ſonniger Morgen. Eine Stunde war ſie gegangen, als ſie das Haus der Kinder vor ſich ſah, ein gewöhnliches Bauernhaus. Die Hausthür ſtand offen. Sie trat ein und ſtand auf der Schwelle einer großen, hellgetünchten Stube. Die Decke war mit Querbalken durchkreuzt. An den Balken waren ausgeſtopfte Vögel angebracht, auch ein Schiffchen mit komplizirtem Takelwerk. Auf einem niedrigen Brett an der Wand lagen große, glitzernde Steine. Photo⸗ graphiſche Abbildungen nach guten Gemälden, Scenen aus dem Leben Jeſu, Handlungen der Nächſtenliebe darſtellend, hingen an den Wänden, von Epheu um⸗ rahmt. Mit feiner Berechnung waren hier in der Aus⸗ ſchmückung der Stube zugleich Lehrmittel enthalten. Auf dem offenen Heerde brannte eine Flamme. Ein kupfernes Gefäß hing darüber. Die breiten Fenſter waren weit geöffnet. Vor einem derſelben breitete ein Lindenbaum ſeine blühenden Zweige aus. Der Duft davon erfüllte das Zimmer. An den Wänden war Hausgeräth aufgeſtellt: Töpfe und bunte irdene Teller und Näpfchen. Holzſchemel und Tiſche von dunkel⸗ gebeiztem Holze möblirten den Raum. Auf jedem der Tiſche ſtand ein rothes Thongefäß mit friſchen Feld⸗ blumen und Gräſern. Alle zwölf Kinder trugen kurz⸗ geſchnittenes Haar und hatten roſige Geſichter mit 260 offenen, glücklichen Augen. Sie waren gleich gekleidet in leichtwollene Gewänder von bräunlich rother Farbe, die bis zum Knöchel reichten; an dem Ledergurt, der ſie zuſammenhielt, hing ein Täſchchen. Eine leichte Ka⸗ putze an dem Gewand mochte zum Schutze gegen Sonne und Kälte dienen. Die Thür nach einem großen Nebenraum ſtand offen. Lis ſah, daß die Betten der Kinder darin auf⸗ geſtellt waren. In einem der Betten lag ein Kindchen; ein anderes ſtand daneben und ſang leiſe ein Wiegen⸗ lied. Das Kleine war, wie ſie ſpäter erfuhr, nicht ganz wohl. Die Kinder waren in mannigfacher Art beſchäftigt. Einige legten friſche Epheuranken um die Bilder. Zwei von den größeren, ein Knabe und ein Mädchen, nähten emſig. Sie nähten gerade an ſolch einem Anzug, wie ſie ihn trugen. Gottfried ſaß auf einem Schemel und hielt eins der jüngeren Kinder im Arme. Er erzählte, und die Kinder alle, womit ſie auch ſonſt beſchäftigt waren, hörten ihm aufmerkſam zu. Ein kleines Mädchen be⸗ merkte Lis und machte Bruder Gottfried darauf auf⸗ merkſam. Er kam ihr entgegen mit dem Kinde im Arme und begrüßte ſie, froh erſtaunt. „Ich möchte mit Ihnen ſprechen,“ ſagte Lis ſchnell, „es iſt wegen Burgei. „Eilt es?“ fragte er. „ſonſt möchte ich erſt meinen Kindern zu eſſen geben. Lis ſagte, daß es nicht eile. 261 Er trat zu dem Herdfeuer, ſchüttete feines Mehl in die kochende Milch, während ein kleines Mädchen ihm zureichte, was er brauchte. Andere Kinder wiſchten ſorgfältig die Tiſche ab, ſtellten Näpfchen darauf und legten Löffel und Scheibchen Brot neben die Näpfchen. Als die Suppe fertig war, nahm Gottfried ſie vom Feuer, warf friſches Reiſig in die Flammen, daß ſie luſtig aufpraſſelten nnd goß jedem Kinde ſein Näpfchen voll, auch für ſich füllte er einen Napf und für Lis. Und als ſie alle um die Tiſche ſaßen und aßen, und Gottfried zu den Kindern ſagte: „Das iſt unſere liebe Schweſter Lis,“ zog etwas ſeltſames durch des Mäd⸗ chens Gemüth, etwas zwiſchen Lachen und Weinen. Was ſie da ſah, war das rührend oder komiſch? Er that alles ſo ſicher, ſo einfach, als verſtände es ſich von ſelbſt, auch wie er der Aelteſten, dem Chriſtinchen zeigte, wie ſie das Kleinſte füttern müſſe, wie er dann ſelbſt das Kind in das Bett zurücklegte — nein, lächerlich war es nicht. Sie dachte, es läge wohl am Gewande, daß ſein Thun ſich nicht lächerlich ausnahm, da Tracht und Handlung in gleicher Weiſe aus dem Rahmen der Zeit und Sitte fielen. Als das Mahl beendet war, goß Gottfried warmes Waſſer in ein großes Gefäß, und die Kinder begannen die Näpfchen abzuwaſchen. Sie trip⸗ pelten hin und her, plauderten oder ſangen, man ſah, die Arbeit war ihnen ein luſtiger Zeitvertreib. —„Nun, Lis, was haben Sie mir zu ſagen: Lis berichtete ihm von Burgeis Krankheit und der Urſache derſelben. Und ſchüchtern und ſtockend legte ſic ihm den Gedanken nahe, zur Dame Pia zu gehen, und 262 ſie zu veranlaſſen, Conrad freizugeben, da ſie doch ſchon ſo viel Unheil über die Familie der Müllerin gebracht. Während ſie ſprach, zeigte ſich eine Unruhe in Gottfrieds Zügen. „es iſt ein ſchwerer Gang für mich, zu dieſem Weibe. „Ich geſtehe,“ ſagte er, als ſie geendet hatte, Frauen ihrer Art ſind für mich das Widerwärtigſte, was die Erde trägt. Kann aber Burgei und dem armen Burſchen damit geholfen werden, ſo thu' ich's. Ich thue es gleich, auf der Stelle. Es iſt nur praktiſch, je ſchwerer einem etwas wird, es um ſo ſchneller zu thun! Er fragte Lis, ob ſie bei den Kindern bleiben wolle, hier ſeine Rückkehr zu erwarten — er könne wohl zwei Stunden ausbleiben — oder ob er ihr morgen Nach⸗ richt in die Mühle bringen ſolle? Lis zog vor, bei den Kindern zu bleiben. „Ihr wißt, was Ihr zu thun habt?“ fragte Gottfried ſchon auf der Schwelle, ſich an die Kinder wendend. — „Ja, ja!“ erſcholl es im Chon Die Kinder hatten ſich an die Tiſche geſetzt mit Tafeln und Büchern, und begannen zu arbeiten; die Größeren unterrichteten die Kleineren. „Dürft Ihr ein wenig mit mir plaudern: frägte Lis, nachdem ſie eine Weile zugeſchaut. „Ja, wir dürfen,“ rief Jung⸗Gottfried, „wir ſollen gar nicht lange hintereinander arbeiten, ſagt Bruder Gottfried.“ Bald war die ganze kleine Schaar in naivem, zutraulichem Geplander um ſie her. 263 „Ich kann ſchon Feuer machen,“ rühmte ſich Chriſtine. „Und ich waſchen!“ rief ein anderes Kind. Ein drittes konnte die Betten machen, ein viertes die Stube fegen. „Und is kann ſon Tienäpfel ſuchen, lallte das kaum zweijährige Gretchen dazwiſchen. „Glaubſt Du es etwa nicht, Schweſter Lis? Da ſieh nur!“— — Und ſie brachten all ihre kleinen Werke angeſchleppt, einen Stuhl, den ſie geleimt, ein ſelbſtfabricirtes Häuschen von Pappe; ein Knäbchen zeigte ihr das Kleid, an dem es vorhin genäht hatte. „Nähen Knaben auch?“ fragte ſie. Das Kind ſah ſie verwundert an. — „Natürlich,“ ſagte es, „warum denn nicht? —.“ Sie unterdrückte, was ſie ſagen wollte und verſtand, daß Gottfried abſichtlich keinen Unterſchied in der Beſchäftigung der Knaben und Mädchen machte. „Bruder Gottfried ſagt, man muß alles ſelbſt machen können, wie Robinſon Cruſoe, kennſt Du den Robinſon? Und Jung⸗Gottfried erzählte ihr, ſie ſpielten auch Robinſon, und das wäre ein wunderhübſches Spiel. Sie ſpielten es aber nur zwei Mal im Sommer, weil es ein gar ſo langes Spiel wäre, viele Wochen dauerte es. Zuletzt wäre er der Robinſon geweſen, da hätte er ſich eine Höhle im Felſen geſucht, wo kein Menſch ringsum war, und Alles, was man ſo braucht, einen Stuhl, einen Tiſch, einen Löffel, eine Armbruſt und viel, viel anderes noch, das hätte er ſelbſt geſchnitzt und gezimmert, und Früchte zum eſſen und eine Quelle, um zu trinken, die hätte er auch ſelbſt geſucht, bis der Freitag gekommen wäre — 264 — „Und das war ich!“ rief Chriſtinchen mit frohem Stolz. „Gott zum Gruß!“ rief ein altes, häßliches Weib zum Fenſter hinein. Die Kinder nickten ihr zu. „Kennt Ihr die Frau? „Natürlich, es iſt ja die arme, gute Hanne, die kommt immer Abends zu uns, wenn Bruder Gottfried ausgegangen iſt. Aber weißt Du,“ ſagte Chriſtine, „Du mußt ihr nicht ſagen, daß ſie ſo häßlich iſt und ſolche Triefaugen hat.“ ¹ „Warum denn nicht?“ fragte Lis, um die Antwort des Kindes zu hören. „Ich will's Dir ſagen. Wir ſind ihr einmal im Walde begegnet, als wir ſie noch nicht kannten, und da wollte ſie der Martha die Hand geben, aber Martha wollte nicht und ſagte: „Du biſt zu häßlich.“ Da hat ihr Bruder Gottfried beide Hände gegeben und hat zu ihr geſagt: „Gott erhalte Dich und mache Dir Deine armen Augen wieder geſund.“ Und dann hat er uns erzählt, woher ſie die häßlichen Triefaugen bekommen hat, nämlich, weil ſie immer Tag und Nacht genäht und gearbeitet hat, damit ihre kleinen Enkelchen nicht vor Hunger ſtürben. Das war doch ſo gut, nicht wahr? Und jetzt geben wir ihr immer gleich die Hand. „„Nein,“ rief Martha, „ich gebe ihr alle beide Hände! Lis hatte bei dem Geplauder der Kinder das Heranrollen eines Wagens überhört. Als ſie, durch ein Geräuſch veranlaßt, ſich umwandte, ſtand auf der Schwelle eine Dame. Sie war in einfacher, vornehmer 265 Toilette, nur trug ſie keine Handſchuhe und keinen Hut: ihr Kopf war mit einem feuerrothen Schleier verhüllt, ſo daß man die Züge des Geſichts nicht deutlich ſehen konnte. An dem Schleier erkannte ſie Lis: Dame Pia: an das junge Mädchen, das ein wenig im Schatten „Iſt Euer Apoſtel zu Hauſe?“ wandte ſie ſich ſtand. Lis antwortete nicht. Ihr ganzer ariſtokratiſcher Hochmuth erwachte. „Melde mich. Ich bin Frau von Daſchlikow. Ich will ſein Waiſenhaus beſichtigen, es intereſſirt mich. Lis rührte ſich nicht. — „Biſt etwa taubſtumm?“ fragte die Dame gleich⸗ müthig, ohne eine Spur von Ungeduld. „Nein,“ antwortete Jung⸗Gottfried ſtatt ihrer, „Schweſter Lis iſt nicht ſtumm, aber Bruder Gottfried iſt nicht zu Hauſe.“ „Nicht? na, dann kann die Magd mich herum⸗ führen, wenn ſie nicht etwa ſo dumm wie ſtumm iſt. Ihr ſeid ja allerliebſte Würmer,“ wandte ſie ſich zu den Kindern, ſie der Reihe nach muſternd, „ich meine es gut mit Euch!“ Und dann wieder zu Lis: „Nun, ſetz Dich in Trab, Kleine! Lis blieb unbeweglich. „Warum antworteſt Du nicht: „Weil ich keine Luſt habe. Der Ton ihrer Stimme überraſchte die Dame, und ehe Lis es rerhindern konnte, faßte ſie ſie an der Schulter und drehte ſie dem Lichte zu. „Ach ſo! man iſt wohl gar keine Magd! Man iſt beleidigt. Man hat feine Züge, die reine Madonna. 266 Als was biſt Du denn hier? Doch nicht blos ein Dekorationsſtück“ oder etwa gar die zukünftige Frau Apoſtel? Sie ſchien ſich über die Röthe, die dem Mädchen ins Geſicht ſtieg, zu amüſiren. „Heraus mit der Sprache, Holdſelige, wer biſt Du: „Ich bin Liſe Chriſtoph!“ mit nicht zu dämmender Entrüſtung ſchleuderte ſie ihr den Namen ins Geſicht. Einen Augenblick flog ein Schatten über Dame Pias Züge. „So — ſo, darum! Aber das gefällt mir, daß Du böſe auf mich biſt. Höre: Unter anderen Be⸗ ſchäftigungen ſoll der Hausherr hier auch das Retten von Seclen betreiben. Biſt vielleicht eine Magdalene — eine büßende? „Er fände in der Umgegend beſſeres Material als mich, für Scelenrettungen,“ ſagte Lis verächtlich: gleich darauf aber war ſie böſe auf ſich, daß ſie überhaupt dieſes Weib einer Entgegnung gewürdigt hatte. Dame Pia lachte hell auf. ¹ „Gut gegeben! ſieh! ſieh! Er hat Dich wohl die Geringſchätzung gelehrt. Und hochdeutſch ſprichſt Du? auch ſein Werk? Der Kurzſichtige! So ein armes Ding ſeiner Sphäre zu entziehen. Hüte Dich hübſcher Cerberus, hüte deinen Idealismus vor dem Racker Natur! Dieſer Bruder iſt ein ſchöner Bruder, poſthumer Chriſtus, mit irgend einer frohen Botſchaft der Erlöſung, wovon? — Das möchte ich erfahren. Ich komme bald wieder. Beſtellt nur, Dame Pia wäre hier geweſen und hätte ſeinem Hauſe Gutes thun wollen. 267 „Aber der Bruder iſt ja eben zur Dame Pia gegangen,“ rief Chriſtine. „Was Ihr ſagt! Wie lange iſt er fort: Das Kind meinte, daß es wohl eine halbe Stunde her ſein könne. — „Dann treffe ich ihn noch. Dame Pia entfernte ſich eilig, den Kindern Kuß⸗ hände zuwerfend; im nächſten Augenblick hörte man ihren Wagen davonrollen. Eine eigenthümliche Mißſtimmung bemächtigte ſich Heloiſens. Die Vorſtellung der Zuſammenkunft Gottfrieds mit dieſer Frau beunruhigte ſie. Als ſie dann den Kindern Geſchichten erzählte, horchte ſie immer hinaus, obwohl ſie wußte, daß er ſobald nicht zurück ſein könne. Und je ſpäter es wurde, je unruhiger und beklommener fühlte ſie ſich. In einer halben Stunde hatte Gottfried die Villa der Frau von Daſchlikow erreicht. Als er hörte, daß die Dame nicht anweſend ſei, aber bald zurückerwartet werde, bat er um die Erlaubniß ſie erwarten zu dürfen. Die alte Dienerin, die ihn kannte, führte ihn in den Salon. Eine wunderſame Stimmung überkam ihn, als er dieſen Raum betrat, es war, als höre er plötzlich Muſik. Die Farbe beherrſchte das große Gemach, eine Farbe, die eine phantaſtiſche Gluth austönte, eine myſtiſche Wolluſt. Die Fenſter hatten doppelte Vorhänge, kein helles Tageslicht drang herein; wo hier und da ein 268 Vorhang ſich öffnete, ſtahlen ſich durch farbige Butzen⸗ ſcheiben zitternd gebrochene Sonnenſtrahlen. Ueberall Vorhänge, Portieren, Thierfelle, Teppiche, ſchwellende Kiſſen. Die Portieren von altem Sammet, in matter, ſchwerer Goldſtickerei. Die Vorhänge, altjapaniſche, waren von ſüßer Verblichenheit, nicht roth, nicht roſa, eine undefinirbare Farbe, wie nur die Zeit und die Luft von Jahrhunderten ſie reift. Aus Sonnenuntergang und Morgenröthe ſchien ſie gewebt. Phantaſtiſche Blumen und Schlangen, die Wunder des Meeresgrundes dar⸗ ſtellend, waren in zarten Umriſſen darauf abgebildet. Auf anderen chineſiſchen Decken waren Arabesken voll leuchtender Tollheiten und blühenden Unſinns gekritzelt. Madonnen und Heilige in feiner Gobelinſtickerei ſchienen auf all die Märchenpracht nieder zu lächeln. Am Plafond ſchwebte eine Eule. Auf einem Schrank entfaltete ein ausgeſtopfter Pfan ſein ſchimmerndes Rad. Aus einem mächtigen grünen Kübel von getriebener Broncearbeit ſchoß eine friſche Rieſenpalme bis zur Decke empor, während bräunlich goldene Palmen ſich um Möbel von alter träumeriſcher Architektur ſchmiegten. Die röthlichen Töne in dem Gemach herrſchten vor, vom zarteſten Hauch bis zum dunkelfeurigen Purpur. Unbeſchreiblich war der Reiz all dieſer ſchmelzenden, zärtlichen, liebe⸗ ſeligen Farben. Eine Niſche war durch einen Vorhang abgeſchloſſen. Dieſer Raum erinnerte Gottfried lebhaft an Gräfin Stellas Salon. Die Grundſtimmung war dieſelbe. Dieſelbe Vorliebe für alte Stoffe und Farben, daſſelbe Abſchließen der Außenwelt, derſelbe Mangel echter 269 Kunſtwverke. Nur war hier Alles potenzirter, ſchwung⸗ voller. Die Phantaſie, die bei Stella durch das Kon⸗ ventionelle gedämpft wurde, erging ſich hier frei, ſchrankenlos. Gottfried empfand eine Art Beängſtigung, ein Verlangen die Fenſter zu öffnen, damit friſche Luft hereinſtröme. Als er ſich den Fenſtern näherte, bemerkte er ein Bild. Er zuckte zuſammen. Das Bild ſtellte ein Weib dar, das in einer Oede, auf einem Felsſtück ſitzt. Ihr Haar iſt gelöſt, das Geſicht abgewandt, das Gewand nichts als ein bläulich fließender Schleier mit Goldfunken beſtreut. Auf der Hand trägt ſie einen großen, bunten, phantaſtiſchen Vogel. Der Vogel hat menſchliche Augen, wunderbare. Und Gottfried kennt dieſe Augen. Wo hat er ſie geſehen? Er ſinnt eine Weile. Dann fällt es ihm ein. Vor Jahr und Tag war es geweſen, bei Gelegenheit einer Eiſenbahnfahrt. Außer ihm war nur noch eine Dame im Coupé; ſie ſaß ihm gegenüber und las in einem Buche. Er hatte einige Male mechaniſch, ohne irgend welches Intereſſe, zu ihr hinüber geſehen. Sie trug ein einfaches, ſchwarzſeidenes Kleid, hoch am Halſe geſchloſſen, und einen dunkeln, unſcheinbaren Strohhut. Nur die breiten, zarten Augenlider, die von feinen blauen Adern durchzogen waren, fielen ihm auf. Die Dame hatte etwas ſehr Stilles an ſich; man hörte kaum, daß ſie athmete, ſelbſt die Seiten des Buches ſchlug ſie geräuſchlos um. Als wieder einmal ſein Blick an den eigenthümlichen Lidern hängen blieb, ſchien ſie den Blick zu fühlen; langſam erhob ſie die Lider, und die Augen öffneten ſich ſie öffneten ſich wie der Kelch einer 270 Blume. Die Augäpfel waren ſtark gewölbt, die Farbe ein ins Grau ſpielendes Blau von unendlicher Milde; lange blonde Wimper umſäumten ſie. Er erſchrak vor ihrem Blick, ein ſo ſüßes Schmachten lag darin, ein Blick wie der langgezogene Flötenton einer Nachtigall. Sie ſah gleich wieder in's Buch und las weiter; er aber konnte den Blick nicht mehr von ihr wenden; ein unbezwingliches Verlangen, dieſe Augen noch einmal zu ſehen, beherrſchte ihn. Er ſah ſie nicht wieder. Sie ſtieg bei der nächſten Station aus. Und nun dieſer Vogel — räthſelhaft. Noch grübelte er darüber, als die Thür ſich öffnete. Frau von Daſchlikow trat haſtig ein, den rothen Schleier hielt ſie in der Hand. Ein Schauer ging ihm durch die Glieder. Sie war es, jene Dame mit den Augen, die ſich wie der Kelch einer Blume öffnen. Sie hatte einen klaren Teint, braunes Haar, das ſie ſchlicht in einem Knoten hinten aufgeſteckt trug, ihre Züge waren regelmäßig aber unbedeutend. Das faconloſe Gewand von feinem Kachemir war in der Taille von einem Gürtel mit einem antiken Schloß, das einen Meduſenkopf darſtellte, zuſammengehalten. Es ſchien, als habe die Natur und ſie ſelbſt alle Zuthaten ihrer Perſönlichkeit nebenſächlich behandelt, um die ganze Wirkung auf die Augen zu concentriren. Sie ſagte ihm, daß ſie aus ſeinem Heim käme. Das Haus der Kinder habe ihre ganze Sympathie, und ſie wolle ihr Scherflein beitragen, damit es blühe. Er antwortete ihr, daß wenn ſie ehrlich theilhaben wolle an Werken der Nächſtenliebe, ſo müſſe ſie zuerſt 271 das Unheil, das ſie über die Familie Chriſtoph gebracht, wieder gut machen. „Welches Unheil? Er ſagte ihr, warum er ſie aufgeſucht. Sie nickte gleichgültig. „Meinetwegen, gern. Ihre Burgei und dieſer Conrad — ſo heißt er ja wohl — ſollen ein Paar werden. Meinen Segen haben ſie. „Und Sie glauben, daß es in Ihrer Macht ſteht“ — „Ich glaube es; es bedarf nicht heroiſcher Mittel zur Heilung ſolcher Triebe. Ich male mir vielleicht ein paar Runzeln, oder dichte mir ein paar Enkel an. Curirt wird er, mein Wort darauf, um Ihretwillen, ſchöner Apoſtel. Im Allgemeinen nehme ich kein Intereſſe an den dummen Motten, die, wo ſie eine Flamme ſehen und wär's nur die eines Talglichts — hineintaumeln. „Sind Sie ohne Mitſchuld: „Ohne Mitſchuld. Ich locke wirklich dieſe Liebes⸗ tollen nicht, ebenſo wenig wie das Licht die Motten. Sie kommen alle von ſelbſt angeflattert. Ich habe nur das Licht nicht gelöſcht, um ſie vor Schaden zu be⸗ wahren. Uebrigens kann ich Ihrem Conrad die Be⸗ ſcheinigung ausſtellen, daß er, was mich betrifft, der Sünde bar iſt. Ich mochte ihn nicht. Ihre cyniſche Kaltblütigkeit that Gottfried wehe. „Und der junge Chriſtoph, der Ihretwegen in den Tod ging, und die Anderen, die ihm vorangingen, mochten Sie die auch nicht! „Doch, ich mochte ſie, auf eine Art wenigſtens. 272 Daß der junge Narr von der Mühle ſich ertränkte, that mir leid, 's iſt eigentlich ſentimental von mir, es ſollte mich nicht kümmern. Ich verachte Männer von ſo ſtarker Animalität, die meine Liebhaber waren, und die ſich todtſchießen, wenn ich ſie nicht mehr will. Ich kannte einen Cavalier, der ſich erſchoß, weil der Arzt ihm den Burgunder verbot, den er mit Paſſion trank. Meine Selbſtmörder waren von demſelben Kaliber, nur ein Gradunterſchied“ Sie unterbrach ſich plötzlich. — „Sagen Sie, was iſt denn das für eine Chriſtoph, die ich bei Ihnen traf? wo hat dieſes Kind denn den Stolz und das Hochdeutſche gelernt? Es kam Gottfried wie eine Entweihung vor, hier von Lis zu ſprechen, und er antwortete kurz und wider⸗ willig: „Sie iſt in Norddeutſchland in einem anderen Lebenskreiſe aufgewachſen, und erſt ſeit kurzem zu den Ihrigen zurückgekehrt.“ „Zu den Ihrigen? Gehören Sie auch dazur Ein heftiger Unwille röthete ſeine Stirn. Dieſe Unreine wagte zu denken — Sie las in ſeinen Zügen und lächelte. „Von Ihnen denke ich nur Gutes. Sie ſind keine Motte, und wenn Sie einmal im Licht verbrennen, ſo wird es das Licht der Sonne ſein. Sie war bei den letzten Worten, wie Abſchied nehmend, zu ihm herangetreten und blickte ihn voll an. Er machte einige Schritte der Thür zu, blieb aber mit 18 273 dem Geſicht ihr zugewandt, dabei ſtolperte er über irgend etwas. „Straucheln Sie nicht, Sie ſchöner, guter Menſch. ſagte ſie, indem ſie ihre Augen ſenkte, „es wäre ſchade. Gottfried athmete tief auf, als er draußen war. Schnell ſchritt er durch den Wald ſeinem Hauſe zu, immer in dem Gefühl, als wäre Jemand hinter ihm, der ihn einholen wollte. Es waren ihre Augen. Das Merkwürdigſte, dachte er, an dieſen Augen iſt, daß ſie gar keinen Ausdruck hineinzulegen braucht; ſie braucht ſie nur zu öffnen, und ſie wirken — ja wie? wie eine Offenbarung? wovon? von irgend einer Tiefe, aus der das Grauen ſteigt? Ganz anders war Dame Pia, als er ſie ſich vorgeſtellt hatte. Wie verſchiedene Formen doch das Laſter annimmt. Ein leiſer Gedanke, der beinahe ein Wunſch war, regte ſich in ihm. Wenn er dieſe Seele dem Laſter abringen könnte! Es war ihm lieb, daß es anfing zu regnen, als hätte der Regen etwas in ihm auszulöſchen, etwas Heißes, Trübes. Zwei Stunden waren vergangen, ſeitdem er ſein Haus verlaſſen hatte. Lis bemerkte eine ungewöhnliche Erregung in ſeinem Weſen als er eintrat. „Ich hoffe für Burgei das Beſte,“ ſagte er ſchnell. „Sie hat mir das Wort gegeben Conrads Sinn zu wandeln.“ „Und wenn ſie es nicht hält“ „Sie wird es halten. Sie iſt anders als ich dachte.“ „Nicht ſo ſchlecht: 274 — „Doch. Ihre urſprüngliche Natur aber — wer weiß“ — — er verſiel in Sinnen. Als Lis ging, bemerkte er es kaum. Er nickte ihr mit mechaniſcher Freundlichkeit zu, und begleitete ſie nicht vor die Thür. Kaum aber war ſie fort, ſo wurde er ſich ſeiner Kälte bewußt. Er trat vor die Thür und ſah ihr nach. Er wollte ſie zurückrufen, unterließ es dann aber. Er ſah die Kinder, die ſich arbeitend an die Tiſchchen geſetzt hatten, eins nach dem andern an, und allmählich beruhigte er ſich an ihrem Anblick, und ſeine Be⸗ ängſtigung wich. Daß es ſolche Augen gab! Lis ſchritt durch den Wald der Mühle zu. Sie war nicht ſo froh, als ſie um Burgeis willen es hätte ſein ſollen. Ein innerer Mißmuth ließ Beglückendes in ihr nicht aufkommen. Erſt, als ſie zu Hauſe den kranken, ſehnſüchtig fragenden Augen Burgeis begegnete, ſchämte ſie ſich ihrer Mißſtimmung, ſie wurde heiter und herzlich und erzählte der Schweſter ausführlich mit ſo anmuthiger Lebendigkeit von den Kindern, daß ſie ihr ein Lächeln abgewann. — „Aber wie kamſt Du denn in das Haus des Apoſtels? Was wollteſt Du da?“ fragte Burgei plötzlich. Lis wurde verlegen, ſie wußte nicht, was ſie ant⸗ worten ſollte, und aus ihrer Verwirrung heraus ſtam⸗ melte ſie, ſie habe gedacht, daß ſie vielleicht die Kinder unterrichten könne. Kaum aber waren die Worte über ihre Lippen gekommen, ſo ſtand es klar und feſt in ihrer Seele: Ja, das wollte ſie wirklich. 18* 275 Am anderen Tage erwachte Burgei wieder matt und ſiech, und als ihr trüber Blick auf den nun ganz verwelkten Vergißmeinnichtkranz fiel, bat ſie Lis, ihn fortzunehmen, er ſei an der Wurzel verdorrt, und ein neuer käme doch nimmer. „Ich will nachſehen,“ ſagte Lis, und einige Minuten ſpäter ſtand ſie in Burgeis Kammer, mit einem blühenden Vergißmeinnichtkranz in der Hand. — „Ein neuer iſt doch gekommen.“ „Wer hat ihn g'bracht?“ fragte Burgei haſtig und mißtrauiſch. „Der, der auch ſonſt die Kränze brachte,“ ſagte Lis mit ſo einfachem Ernſt, daß Burgei an ihren Worten nicht zweifelte. Sie gerieth in eine große Erregung, die allmählich in ein ſtilles Sinnen und Freuen über⸗ ging. Und als dann ſpäter die Mutter kam, ſie in ihre Arme ſchloß und ſagte: „,'s wird alles gut werde,“ da wußte Burgei, daß mit dem Kranz ihr ganzes Glück zurückgekommen war. Sie erholte ſich ſchnell. Nach wenigen Tagen ſchon durfte ſie ins Wohnzimmer herunterkommen, und mit den Ihrigen frühſtücken. Es war ein Feſttag für die Mühle. Sorglich führte Lis die Schweſter über die Treppe. Im Wohnraum ſtanden die Fenſter weit offen. Balſamiſche Herbſtluft ſtrömte herein, eine weiße Taube flatterte vom Fenſterſims her, der Geneſenden entgegen. Mit der ſonnigen Luft miſchte ſich das Aroma des Kaffees, den die Mutter in der braunen Kanne hereinbrachte und neben den friſchgebackenen Kuchen auf den Tiſch ſtellte. Das blendendweiße Tiſchtuch war mit Vergißmeinnicht 276 beſtreut. Die Mutter hatte ihren Sonntagsſtaat ange⸗ legt. Burgei wurde in einen Lehnſtuhl gedrückt, Lis ſchob ihr ein Kiſſen unter die Füße. Der Geneſenden Augen füllten ſich mit Thränen. Innig drückte ſie die Hand der Mutter und legte ihre Wange an Heloiſes Wange. Zaghaft trat Conrad über die Schwelle. Er blieb einen Augenblick in der Thür ſtehen, über und über roth. Dann ging er ſchnell auf Burgei zu, kniete vor ihr nieder und legte einen Strauß Roſen in ihren Schooß. Er wollte etwas ſagen, preßte aber nur ſeine Augen auf ihre Hände und ging ſchnell wieder hinaus. Er ſchämte ſich der Thränen, die über ſeine Wangen liefen, Burgeis Hände waren feucht davon. Sie ſah ihm nach mit glänzenden Augen. — „Das Glück gedeiht am beſten,“ ſagte die Mutter, „das Thräne begieße.“ Bald war Burgei völlig hergeſtellt; wieder erklang ihre helle Stimme durch die Mühle, und allmählich nahm ſie ihre Arbeiten wieder auf. Den Conrad aber hatte die Müllerin in ſeine Heimath geſchickt. Drei Monate ſollte er dort bleiben, zur Selbſtprüfung; dann durfte er wiederkommen und iin Frühjahr ſollte die Hochzeit ſein. Wodurch die Dame Pia ſeinen Sinn gewandelt, was ſie mit ihmt geredet, hat er niemals jemand anvertraut. Lis hatte an Bruder Gottfried geſchrieben, ob er ihr geſtatten wolle, ihm Vormittags beim Unterricht der Kinder behülflich zu ſein. 277 „Du biſt willkommen, liebe Schweſter,“ hatte er geantwortet. Er nannte ſie ſeitdem immer „Du“. Dieſe Anrede war für ihn ſelbſtverſtändlich, wo Gleichgeſtimmte ſich zu gemeinſchaftlicher Thätigkeit zuſammenfanden. Von dem ſonnigen Glück, das in die Mühle ein⸗ gekehrt war, fiel ein heller Reflex in Heloiſes Seele. Ein geheimnißvoll ſympathiſches Band verknüpft uns mit den Menſchen, denen wir Liebes erwieſen haben. In den Nachmittagsſtunden half ſie noch zuweilen Burgei bei den leichteren Arbeiten im Garten. Vor⸗ mittags ging ſie regelmäßig in das Haus der Kinder. Sie hatte ihre Thätigkeit kaum begonnen, als ſie merkte, wie wenig ſie ſelbſt wußte. Und Gottfried verlangte, daß man ſachgemäß alle Fragen der Kinder beantworte, in einer Form, die ihrem Verſtändniß entſpräche. Scherzhafte Abfertigungen ihrer Fragen, oder ein: „Das verſteht Ihr nicht,“ duldete er nicht. Als ein ſechs⸗ jähriges Bübchen eines Tages von ihr wiſſen wollte, woher das Gewitter käme, war ſie ſelbſt erſtaunt, daß ſie ihm keine befriedigende Antwort geben konnte. Sie begriff, daß ſie lernen müſſe, um zu lehren, und ſie lernte mit dem Feuereifer eines Schulmädchens. Sie lernte aus dem Munde Gottfrieds und aus den Büchern, die er ihr gab. Sie wurde ganz ſeine Schülerin. „Kleideſt Du Dich immer ſo unfreundlich ſchwarz?“ hatte er einmal zu ihr geſagt. Noch an demſelben Tage ſchnitt ſie aus einem weißen Spitzenkleide, das ſie ihrem Koffer entnahm, 278 zierliche Tücher zurecht und nähte ſie mit Burgeis Hülfe: Die trug ſie von da an über dem dunkeln Kleide. Gottfried hatte Pia ſeit jener erſten Begegnung öfter geſehen, in der Ferne, und nie ohne eine Anwandlung von Furcht, daß ihr Blick ihn treffen könne. Ein Staunen erfaßte ihn, daß ein ſolches Weib überhaupt irgend einen Einfluß auf ihn, und wäre es auch nur auf ſeine Nerven, gewinnen konnte. War er ein Spiel geheimnißvoll magnetiſcher Kräfte, deren Beſchwörungs⸗ formel er nicht kannte? Nein, er glaubte nicht daran. Daß der Teufel nicht über das Zeichen des Krenzes kommt, iſt ein frommer Glaube. Das Kreuz iſt das Symbol für die Reinheit der Seele. Es beruhigte ihn, daß Pia ihn offenbar nicht treffen wollte. Sie ſtand zuweilen in geringer Entfernung von ihm ſtill, als wollte ſie ihn vorüber laſſen, oder ſie ging ſelbſt, freundlich grüßend, an ihm vorbei. Ab und zu aber ſah er doch, durch das Laub eines Baumes hin⸗ durch, dieſe unnatürlichen, ſinnlich myſtiſchen Augen auf ſich gerichtet. Einmal bemerkte er Pia auf einem Hügel, an deſſen Fuß er mit Lis die Kinder unterrichtete. Es war ihm eine Pein, zu wiſſen, daß er Lis ihren Blicken nicht entziehen konnte. Gegen Abend, wenn er die Kinder unter der Obhut der alten Hanne wußte, pflegte er weite, einſame Spaziergänge zu unternehmen. An einem Abend, als ein ſtarker Wind wehte, und der Himmel bewölkt war, wanderte er hinaus, um eine ſeltene Art von Farrenkräutern zu ſuchen, die er für ſein Herbarium brauchte. Er wußte eine Stelle, wo ſie 279 wuchſen; dahin lenkte er ſeine Schritte. Jenſeits einer Brücke, unter der ein ſchmales Gewäſſer rauſchte, kam er auf das Terrain, das ganz mit Stümpfen abgeholzter Bäume bedeckt war. Uralt ſchienen die Stümpfe. Hier und da lag trockenes Reiſig darüber. Die Moosbärte, die daran hingen, hatten im Lauf langer Jahre bizarre und phantaſtiſche Formen angenommen, und gaben den Stümpfen das Anſehen von Urnen, Löwen, Drachen und allerhand Fabelgethier. Verkrüppelte rieſige Wurzeln krochen über das Erdreich und krallten ſich in den Boden. Dazwiſchen lagen große Steine, von Moos und Farren überwuchert. Es war eine Wildniß, eine Grabſtätte längſt geſtorbener Vegctation. Der ſtarke Wind wurde zum Sturm. Von einem wilden Graus ſchien die Natur erfaßt. Mänadenhaft peitſchten die Moosbärte die Luft, röthliches Laub wirbelte um die Stätte, mit weißem Schaum ſpritzte das Waſſer auf; zuweilen wurden die ſchwarzgeballten Wolken aus⸗ einandergeriſſen und ein greller, ſchwefelgelber Schein zeigte ſich am Horizont. Ein geſpenſtiſches Leben war's in der tiefer werdenden Dämmerung. Gottfried fürchtete Regengüſſe und wollte umkehren. Da ſah er Dame Pia, die von der anderen Seite her, dem Terrain zuſchritt. Der rothe Schleier, der auf ihrem Geſicht lag, wehte hinter ihr her; in den Händen hielt ſie große Farren. Sie nickte ihm zu, indem ſie an ihm vorüberging, und gab ihm die Farren. Es waren juſt die, die er brauchte. Er ſah ihr nach, der Wind ſchlug ihre Kleider um die Baumſtümpfe. Mit einem Male blieb das Kleid im Weiterſchreiten 280 an einem der trockenen Zweige hängen, ſie ſchwankte, und ſuchte einen Halt. Er ſprang hinzu. Eine Sekunde hielt er ſie in den Armen. Sie riß den Schleier vom Haupte und drückte ihre Lippen auf die ſeinigen; im nächſten Augenblick war ſie in Sturm und Dämmerung verſchwunden. Ein leiſer Ruf der Entrüſtung kam von ſeinen Lippen. Er hätte ihr nachſtürzen mögen und ihr etwas anthun. Er eilte über die Brücke, ſeine Lippen mit dem Waſſer des Baches zu reinigen von dem brennenden Kuß. Dann ſchien ihm ſein Beginnen kindiſch, und er begab ſich auf den Rückweg, erregt von der Scham⸗ loſigkeit dieſes Weibes. Er dachte an Lis, wie er ſie auch einmal gewaltſam und heimlich geküßt. War der Kuß dieſer Meſſalina eine Vergeltung? Er ſuchte und fand Beruhigung und Vergeſſen in den Geſprächen mit Lis, in den langen Wanderungen mit den Kindern durch die Wälder und über Berge. Da ſprach er oft mit Lis über die Erziehung ſeiner Kinder. Cr ſagte ihr unter anderem, daß er ſie vor allem zu werkthätigem Mitleid erzöge. Die Nächſten⸗ liebe ſollte im Vordergrund ihrer Seele ſtehen. Sie hatte öfter Gelegenheit zu ſehen, wie er dieſe Nächſten⸗ liebe in ihnen groß zog. Eines Tages z. B. hatte er von einer nothleidenden Familie in der Umgegend ge⸗ hört. Er wartete ab, bis ſie Alle bei Tiſche ſaßen, und während es ihnen am beſten ſchmeckte, erzählte er den Kindern von der Noth und dem Jammer jener Familie. Er brach dann die Hälfte von ſeinem Brot und ſagte: 281 „Dies für Jene, die hungern. Ich werde von der Hälfte ſatt. Es entwickelte ſich darauf unter den Kindern ein wahrer Feuereifer, es ihm nachzuthun; Einige wollten ihr ganzes Brot fortgeben, und Gottfried mußte ihnen Einhalt thun. Er wiſſe wohl, ſagte er ſpäter zu Lis, daß der Nachahmungstrieb das beſte dabei thue, aber er wiſſe auch, daß die Gewohnheit ein feſter Untergrund für unſere Handlungen, ja ſogar für unſere Geſinnung ſei. Ein anderes Mal war unter den Tagelöhner⸗ familien der Nachbarſchaft eine Frau erkrankt. Die nöthigſten Arbeiten in ihrer Wirthſchaft hätten uner⸗ ledigt bleiben müſſen, wenn nicht Gottfried mit ſeiner Kinderſchaar erſchienen wäre. Gleich den Heinzelmännchen im Märchen verrichteten die Kinder alle Arbeiten, die im Bereiche ihrer Kräfte lagen. Sie ſchälten Kartoffeln, kochten die Suppe, ſchafften im Felde, melkten und fütterten die Ziege, räumten die Stube auf, und eins der größeren las der Kranken vor, wenn ſie zu hören fähig war. Gottfried ging ab und zu, half ſelbſt, oder unterrichtete die Kinder, während ſie arbeiteten. Er hatte ſie durch Gewöhnung befähigt Hände und Kopf zugleich in Thätigkeit zu ſetzen. Ueberhaupt unterrichtete er die Kinder am liebſten im Freien, auf Spaziergängen, ſelbſt im Winter, wenn es ſich irgend thun ließ. Er hatte eine intenſive Antipathie gegen Schulbänke. Lebhafte Kinder vier bis ſechs Stunden hintereinander an einen Platz zu ſchmieden, hielt er für grauſam, geſundheitsſchädlich, die geiſtige Entwickelung hemmend. Und nun gar die Schulhäuſer in den Straßen der 282 Städte! wenigſtens ſollten ſie von großen, parkartigen Gärten umgeben ſein, bis die Zeit gekommen wäre, wo die Städte vom Erdboden verſchwunden ſein würden. Lis ſah ihn erſtaunt an, ob er im Ernſt ſprächc. Ja, er ſprach im Ernſt. Daß die Menſchen ſo dicht aneinandergedrückt in den luft⸗ und lichtloſen Häuſermaſſen der Städte lebten, hielt er für eine der Quellen menſchlichen Elends. „Und dieſe Städte ſollten und könnten vom Erdboden verſchwinden?“ fragte ſie mit ungläubigem Lächeln. „Wie? wann: „Das „Wie und Wann“ kann ich heute nicht wiſſen. Daß aber einſt die Wohnſtätten der Menſchen ſo viel Sonne, Licht, Himmel und Erde haben werden, wie jedes Geſchöpf zu ſeiner Entfaltung gebraucht, davon bin ich überzeugt. Iſt Dir nie bei langen Fahrten auf der Eiſenbahn aufgefallen, wie verſchwindend kleine Punkte, auf den weiten, unermeßlichen Strecken, die an Deinem Auge vorüberzogen, Städte und Dörfer bildeten? Wieviel Sonne, Luft und Erde, die keinen Geſchöpf zu Gute kommen! Iſt es ſo ſchwer ſich vor⸗ zuſtellen, daß dieſe Häuſermaſſen auseinandergeriſſen, ſich weithin über dieſe großen Flächen, über Hügel und Thäler zerſtreuen ließen: Lis machte den naheliegenden Einwand, daß die Städte doch Bedingungen unſerer Cultur ſeien, Vor⸗ ausſetzung für die Entwickelung von Kunſt und Induſtrie. „Doch nur ſo lange,“ entgegnete er, „bis unſere Verkehrsmittel andere, kühnere geworden ſind. Vielleicht werden wir in Zukunft, was die Schnelligkeit unſerer 283 Bewegung betrifft, mit dem Flug des Vogels wetteifern können. Wer von uns glaubt nicht heute ſchon, daß das lenkbare Luftſchiff nur eine Frage der Zeit iſt. Die Induſtrie und die Wiſſenſchaft werden uns Material liefern, ſo wohlfeil herzuſtellen, daß dieſe Verkehrsmittel Allgemeingut ſein werden. Vielleicht fällt die Erlöſung von den Städten der Elektricität zu, oder irgend einer anderen Kraft, deren Entdecker noch nicht geboren iſt. Ein Schauer ergreift mich, wenn ich denke, was für Wunder im Schooß der kommenden Jahrhunderte ſchlummern.“ ¹ „Und Du glaubſt, daß die Menſchen durch das Aufhören der Städte beſſer werden: „Ich glaube es. Ich glaube, daß das Beſte und Tiefſte, was der menſchliche Geiſt geſchaffen, immer in reinem Aether concipirt wurde. Haſt Du nie er⸗ fahren, wie Deine Stimmung ſich beruhigte, wenn Du, erfüllt von Zorn oder Eiferſucht oder böſen Wünſchen, aus dem ſchwülen Raum eines Salons etwa, hinaus⸗ trateſt ins Freie, unter die Sternennacht? Fiel nicht alles Quälende von Dir ab? und warum? Weil Du den richtigen Maßſtab gewannſt für die Kleinlichkeit Deiner Erregung in ihrem Verhältniß zur Größe der Natur. Haſt Du nie erfahren, in wie innigem Zu⸗ ſammenhang reine Luft und reine Gedanken ſtehen: Sie blickte ſtill, ihr Inneres prüfend, vor ſich nieder. Nach einer Weile ſagte ſie: — „Das, was Du ſinnſt, liegt in ſo ferner, ferner Zukunft, Jahrhunderte, Jahrtauſende können dahingehen, ehe es ſich verwirklicht. 284 „Das iſt wahrſcheinlich. Solche Zukunftsbilder ſind auch nur wie eine herrliche Ausſicht, die uns auf den Weg lockt, der dahin führt. Der Weg ſelbſt aber bietet der ſchönen Ausblicke genug. Sie gingen eine Weile ſchweigend nebeneinander her, dann hob er wieder an: ¹ „Säße ich im Reichstag, für zweierlei würde ich mit aller Energie, die mir zu Gebote ſteht, kämpfen: für das Recht der Kinder und für die umfaſſendſte, keine Grenzen kennende Förderung der Wiſſenſchaft. Nicht Pulver und Blei, nicht Dynamit wird die Menſchheit von der Noth erlöſen, die Wiſſenſchaft wird es. Sie wird den Hunger beſeitigen, indem ſie den Boden zwingen wird ſo viel hervorzubringen, wie die Menſchen zu ihrer Ernährung bedürfen. Der Hunger aber iſt eine Hauptquelle der Verbrechen. So lange Menſchen verhungern, erfrieren, obdachlos ſind, werden, müſſen Verbrechen an der Tagesordnung ſein, denn ehe der Menſch ſeinen eigenen Untergang zugiebt, kämpft er mit allen Mitteln, und wäre es auch mit Hülfe des Teufels für ſeine Exiſtenz. — „Du biſt Sozialiſt?“ fragte Lis. Ein Lächeln glitt über ſeine Züge. — „Wo gäbe es gute Menſchen, die nicht ſozia⸗ liſtiſche Ideen hätten! Wer dürfte ſich ohne ſolche Ideen Chriſt nennen, da doch Chriſtus ſelber dieſe Lehren predigte! Giebt es Menſchen, die nicht jene einfache und natürliche Gerechtigkeit wünſchen ſollten, die den Tiſch für alle deckt, den Tiſch mit leiblicher und geiſtiger Koſt? Die Erziehung, die ich will, ſie eben ſoll den 285 Boden vorbereiten für die Verwirklichung des — nenne es wenn Du willſt — ſozialiſtiſchen Staates. Idealere Zuſtände erfordern ein anderes idealeres Geſchlecht als das gegenwärtige.“ Sie kamen an die Stelle, wo die Kinder Reiſig und Tannenäpfel für die Feuerung ſammelten. Er zeigte auf Jung⸗Gottfried, der voll Eifer, mit glühenden Backen trockene Zweige von den Bäumen hieb, und dann den Kleinen half, ſie auf einen Karren zu laden. — „Sieh dieſen Knaben, er iſt voll Feuereifer für alles Gute, und iſt der Sohn Eines, der einen Mord beging.“ Lis erſchrak. — „Und Du haſt keine Furcht, daß er eines Tages-. . . „Keine. Ich ſagte Dir ja ſchon, daß ich an die Vererbung des Temperaments, aber nicht an die des Laſters glaube. Der gewaltthätige Sinn ſeines Vaters, in der dumpfen Fuſelluft eines Kellers groß⸗ gezogen, mußte auf Miſſethaten verfallen. Der Sohn hat die Energie des Vaters geerbt, er wird groß im Guten werden, wie der Vater groß im Böſen war. Der Staat muß mit Blindheit geſchlagen ſein, daß er ſich nicht der Kinder annimmt. Es iſt nicht nur grauſam, es iſt auch unausſprechlich dumm, daß man einen großen Prozentſatz aller Kinder in den Löchern des Elends und Laſters verkommen läßt. Die Ge⸗ ſundheitspolizei ſäubert alle Straßen und Winkel der Städte und desinfizirt ſie; an die Herde der moraliſchen Epidemieen rührt ſie nicht. Der Vergiftung der Kinder ſetzt man keine Schranken. 286 „Darf man den Eltern die Kinder nehmen! fragte Lis. „Ja, man darf es. „Wird dann den Kindern nicht die Liebe fehlen: „Welche Liebe?“ ſagte er, und ein Zug tiefer Bitterkeit verfinſterte ſein Geſicht. „Sprechen wir vor⸗ erſt von dem Verhältniß der Eltern zu den Kindern im Proletariat. Die Liebe dieſer Klaſſen zum Kinde dauert gerade ſo lange wie die Liebe der alten Thiere zu den jungen, bis ſie flügge ſind, oft reicht ſie kaum über die Grenze des Säuglingsalters hinaus. Iſt das Liebe, die die Kinder in die Fabriken, in die Bergwerke treibt, ſie auf die Straße wirft, um ein paar Pfennige zu ver⸗ dienen? Noth frißt Liebe. Und ſtirbt ſo ein Kind, und es ſtirbt ſo bald, ſo gehen dem Armen die Be⸗ gräbnißkoſten ebenſo zu Herzen wie der Tod des Kindes. Er griff nach Gretchen, die in der Nähe ſtand und hob ſie in ſeinen Armen empor. — „Grete, meine Grete, haben wir Beide uns lieb? Das Kind ſchlang feſt die Aermchen um ſeinen Hals und jauchzte in heller Luſt auf. „Ja, Liebe bedürfen die Kinder, ſie legen aber keinen Werth darauf, von wo ſie ihnen kommt. Lieb⸗ koſungen, wenn ſie das ſechſte Jahr überſchritten haben, wehren ſie eher ab, als daß ſie dieſelben ſuchen. Könnte man in das Herz der meiſten Eltern ſehen, auch in die Herzen der gebildeten Eltern, wie ſelten würde man echte Liebe finden; die Liebe, die nur an das Kind und ſein Wohl, nicht an die eigene Perſon denkt. Faſt alle 287 Eltern, ſelbſt die liebevollen und zärtlichen behandeln ihre Kinder ungerecht, grauſam, viel zu ſtreng, mit ſchreiender Unvernunft und Verſtändnißloſigkeit für die Eigenart des Kindes. Man fährt ein Kind an, weil es in kindlichem Ungeſtüm dem Vater oder der Mutter wehe gethan. Zerbricht es aus Verſehen ein Geräth von geringem Werth, ſo ſchilt man es ein wenig, zerbricht es etwas Koſtbares, ſo wird es geſchlagen. Ein Kind, deſſen Herz von irgend etwas voll iſt, wird zum Schweigen ver⸗ urtheilt, weil die Mutter in ihrer Romanlektüre nicht geſtört ſein will; man ſchlägt ein Kind, das durch weinerliches, unruhiges Gebahren ſeiner Umgebung läſtig fällt, ohne daß man ſich überzeugt hat, ob nicht körperliches Miß⸗ behagen die Urſache der Unart iſt. Man peinigt die Kinder, um der Eitelkeit der Eltern willen, mit ſchönen Kleidern, die ſie nicht zerdrücken dürfen, man hält ſie bis zur Erſchöpfung zum Lernen an, damit die Eitelkeit der Eltern in den raſchen Fortſchritten der Kinder ihre Rechnung finde. Man zwingt die Kleinen zu eſſen, was ihnen widerſteht, man erfüllt ihre Seelen mit Schreck⸗ bildern, indem man ſie in dunkle Kammern ſperrt; und das alles in beſter, erziehlicher Abſicht, aber in völliger Unzulänglichkeit der Einſicht. Auf der anderen Seite ſind die Eltern oft gerade da zu nachſichtig, wo es ſich um Ausmerzung von Eigenſchaften und Neigungen handelt, die die Zukunft des Kindes gefährden können, die aber wenig ſtörend in das elterliche Behagen eingreifen. Um die eigentliche Erziehung der Tochter bekümmert ſich der Vater faſt garnicht, um die des Sohnes oft 288 erſt, wenn er durch Faulheit oder dumme Streiche, Unehre über die Familie zu bringen droht, und dann treten nicht ſelten Maßregelungen ein, die, weil ſie in keinem Verhältniß zu den Vergehungen ſtehen, wohl eine Dreſſur, aber keine wirkliche innere Wandelung be⸗ wirken können. Alle dieſe willkürlichen Strafen haben mit der eigentlichen Erziehung wenig oder nichts zu ſchaffen. Die Liebe der Eltern zu den Kindern beruht, haupt⸗ ſächlich bei den Vätern — wenn man von den erſten Lebensjahren der Kinder abſieht — faſt immer auf Eitelkeit, Eitelkeit auf wirkliche oder eingebildete hervor⸗ ragende Qualitäten, die ihre Kinder haben müſſen, weil es eben ihre Kinder ſind. Wer wollte den Eltern ihr mangelhaftes pädago⸗ giſches Talent zum Vorwurf machen? Iſt es wahr, daß nur die trefflichſten und intelligenteſten Menſchen zu Erziehern taugen, ſo müßten die Eltern, um rechte Erzieher zu ſein, im Beſitze dieſer Vortrefflichkeit ſein. Die Eltern ſollen gar nicht nur Eltern ſein. Auch ſie ſind in erſter Linie Menſchen, die Sorge zu tragen haben für die eigene Entwicklung und die dauert ſo lange ſie leben. Die Kinder ſollen den Eltern nicht die Zeit und die Kraft rauben, die ſie für ſich ſelber brauchen. Die Erziehungshäuſer in meinem Sinne würden auch in veredelnſter Weiſe auf die Lebensgeſtaltung der Eltern wirken. — „Und Du glaubſt, daß Eltern je einwilligen würden, ihre Kinder Erziehungsanſtalten zu über⸗ laſſen?“ 289 19 „Müßten Sie es nicht freudig thun, wenn ſic die Ueberzeugung von der Vortrefflichkeit dieſer Anſtalten hätten, und wenn ſie nur an das Kind und nicht an ſich ſelbſt dächten? Müſſen nicht ſchon jetzt Gutsbeſitzer, Prediger und Beamte auf dem Lande ihre Kinder vom ſchulpflichtigen Alter an fortgeben, ohne dieſe Ueber⸗ zeugung von der Vortrefflichkeit der Anſtalten? Und haſt Du je bemerkt, daß durch die Trennung das Verhält⸗ niß zwiſchen Kindern und Eltern aufgehoben, ja nur weſentlich geſtört worden wäre? „Laß uns,“ hob er nach einem kurzen Schweigen wieder an, „auch der armen, bedauernswerthen Kinder gedenken, die liebeleer und gemißhandelt, im eigenen Elternhauſe verkümmern.“ „Giebt es ſolche? „Mehr als man denkt. Ich ſelbſt war ein ſolches Kind, und weil ich am eigenen Leib, an der eigenen Seele erfahren, welche Qualen Kinder unter unvernünftiger Leitung zu erdulden haben, darum bin ich ihr Anwalt geworden. Welches Recht hatten meine Eltern, mein innerſtes Weſen zu zerſtören, meine Exiſtenz zu vernichten? Alles iſt durch Geſetze geregelt, geſichert, kein Nahrungsmittel darf man uns verfälſchen, und das Kind, das den Fortſchritt, die Zukunft bedeutet, giebt man den Eltern preis, mag der Vater ein Trunkenbold, die Mutter eine Dirne ſein. Ich bin zuerſt ein Menſch mit dem vollen Recht meine Kräfte zu entwickeln. Daß ich zufällig der Sohn des Herrn und der Frau N. N. bin, die vielleicht Beide nichts taugen, darf über mein Schickſal nicht entſcheiden. 290 „Und trotzdem — ich weiß nicht es wird nie ſein. „Vielleicht ließe ſich auch eine Organiſation ſchaffen, die Beides vereinigte: die Rechte der Eltern und die der Kinder. Ich denke viel darüber nach, und ich oder ein Weiſerer nach mir, wird die Löſung finden. Es war Mittagszeit, ſie riefen die Kinder herbei und machten ſich auf den Heimweg. An einem Abend war Gottfried zu der alten Schloß⸗ ruine, die er beſonders liebte, emporgeſtiegen. Es pflegte einſam zu ſein dort oben, um dieſe Stunde. Plaudernde und lachende Menſchen in Ruinen ſtörten ihn. Oft ſtand er hier vor den leeren, mit grüner Vegetation umrankten Fenſterhöhlen, und blickte nieder auf den goldfunkelnden Rhein; oder er ſaß in dem ſaalartigen Mittelraum der Ruine auf einer Bank, unter einem großen, knorrigen Baum, der ſich drachenartig empor⸗ wand, und oben das Mauerwerk durchbrochen hatte. Dort lauſchte er den Aeolsharfen und ließ ſich einſpinnen in die Traumpoeſie der- Ruinenwelt. Heut, als er den inneren Raum betrat, ſah er eine weibliche Geſtalt, die an einer der Fenſterhöhlen ſtand. Sie hörte ſeinen Schritt und wandte ſich langſam um: Dame Pia. Er wollte zurück, unbekümmert was ſie davon denken würde. Ihr Anruf, ihr Blick bannte ihn feſt. — „Keine Furcht, Apoſtel! heut bin ich ganz Elegie, nicht eine Kußhand riskiren Sie.“ Sie zeigte zu den Aeolsharfen hinauf, die zu tönen begannen. Als ſie verſtummten, ſagte ſie: 19* 291 „Ich liebe die Aeolsharfen, bei Tage ſingen ſie Träume, gegen Sonnenuntergang iſt's wie ein Choral von Geiſtern, die über eine Haide ſchweben, ſie ver⸗ hallen, ſchweben empor, ſinken zur Tiefe nieder, klagen, ſterben, ſchwellen wieder an und rufen — rufen — wonach? Sie verlor ſich in träumeriſches Sinnen. — „Und das empfinden Sie? Sie?“ fragte en überraſcht. Sie lächelte. — „Sie meinen, daß Laſter und Naturſinn nicht zuſammengehören? Er antwortete nicht. Sie las in ſeinen Zügen die Antwort. „Sie irren ſich übrigens,“ hob ſie mit einem ruhigen, gleichgültigen Tone wieder an, „ich bin nicht laſterhaft, ich paſſe nur nicht dazu ein Weib zu ſein. Im Allgemeinen gab mir ein Gott zu verſchweigen, was ich denke, heut die Aeolsharfen ſind Schuld daran — will ich reden. Darf ich! Eine unwiderſtehliche, pſychologiſche Neugierde hatte ihn erfaßt, und er machte eine bejahende Geberde. ² „Ich will nur gleich die Wahrheit geſtehen, fuhr ſie fort, „ich möchte mich vor Ihnen weiß waſchen, vor Ihnen allein in der ganzen Welt, Sie Jünger des Herrn, und ich will damit anfangen, darauf zu ſchwören, daß ich als gutes, liebevolles Geſchöpf zur Welt ge⸗ kommen bin, freilich als ein Geſchöpf von ſtarkem Temperament. Unſer Schickſal hängt oft ab von einem einzigen 292 Tage, von einer Stunde, einer Minnte. Eine ſolche Stunde, eine ſolche Minute kam für mich, als ich ganz jung war. Ich war die Braut eines Mannes ge⸗ worden, den ich liebte, mit irgend einer Liebe, die ich damals nicht definiren konnte. Mein Bräutigam war verreiſt, ich ſchmachtete nach ihm. Die Akazien blühten gerade, ich habe dieſen Duft nie ertragen können. Ich ſtand unter ſolchem blüthentrunkenen Baum. Da kam ein Anderer, den ich auch gern mochte, der Bruder meines Verlobten, und küßte mich. Ich athmete den Kuß wie den Duft der Akazie. Ich hätte ihn im nächſten Augenblick vergeſſen gehabt. Aber man hatte mich geſehen. Um dieſes Kuſſes willen verſtieß man mich.“ „Nicht mit Recht: „Nein. Es war eine kindiſche Unbeſonnenheit, die vom Blüthenduft kam. Aus bitterem Groll heirathete ich bald darauf den Herrn von Daſchlikow. Aeltlich war er und reich. Da lernte ich eine ſchöne Art von Liebe kennen, freilich — eine legitime. Sie lachte kurz und grell auf, und preßte beide Hände auf die Augen, ein krampfhaftes Zucken ging durch ihren Körper. Sie fuhr dann fort: „Meine natürlichen Inſtinkte ſind ſtark, meine Sympathien und Antipathien leidenſchaftlich. Ich hielt es nicht lange aus. Ich lief davon. Er hielt es auch nicht lange aus ohne mich, er erſchoß ſich, die Leute ſagten, um der Schande willen, die ich über ihn ge⸗ bracht, ich wußte es beſſer. 293 Gottfried war verwirrt. Er murmelte etwas von der mildernden und verſöhnenden Kraft der Pflicht⸗ erfüllung. Sie unterbrach ihn finſter: „Wollen Sie etwa von den Pflichten der Gattin im Ehegemach reden? Der Ritt des Mazeppa! Man bindet uns an eine wilde Pflicht, ſie ſchleift uns zu Tode, einem moraliſchen Tode, zu Tode vor Allem die ſo viel beſungene holde, weibliche Scham, natürlich zu einem — legitimen Tode. Solche Ehen, und es giebt deren unzählige, auch unter denen, die aus Neigung geſchloſſen wurden, ſind die Geburtsſtätten unſerer Ausſchweifungen. Und ich ſage Ihnen: Die Keuſchheit wird uns von der Ehe emancipieren! Muß ich dieſen Mann lieben? Die Moral ſagt ja, die Natur nein. Wer hat unrecht? Ich ſage, die Moral: denn dieſe Moral will mich zu dem Manne zwingen, den ich vielleicht in kindiſcher Verliebtheit geheirathet habe, und vor deſſen Liebkoſung ich zurückſchandere. Um dieſer Unkeuſchheit zu entgehen, hatte ich oft eine wilde, unſinnige Regung meinen Mann zu tödten. Hellenin bin ich, Hellotinnen jene correkten Gattinnen, die der Liebe Frohndienſte leiſten. Ich hatte die Wahl in einer wüſten Ehe zu verzweifeln, Märtyrerin zu werden, oder — Bajadere!“ Langſam, ihn mit ihren Augen umſpinnend, ſetzte ſie hinzu: „die findet zuweilen — ihren Gott. Gottfried befand ſich in einem ſeltſamen Zuſtande. Alles, was ſie ſagte, war eine Sophiſtik des Laſters, er wußte es. Doch ſeine Denkkraft war von ihm ge⸗ wichen. Sein Herz klopfte; er wartete immer darauf. 294 daß ſie die Augen zu ihm aufſchlagen würde, und that ſie es, ſo hörte er kaum, was ſie ſagte. Er mußte an die Sage vom Vampyr denken. Ihre Augen ſogen ihm das Blut aus der Bruſt, die Gedanken aus dem Hirn. Im Weſten hatte ſich die untergehende Sonne Bahn gebrochen durch das Gewölk, und wie mit einem Schlage war die Landſchaft verändert. Die dunklen Wolken begannen zu glühen, unheimlich, dämoniſch. Die Enden zweier Regenbogen ſchoſſen darunter hervor, ein wollüſtig ſchmeichelnder Glanz floß über den Strom hin, und fluthete über Himmel und Land. Sie ſtanden nebeneinander und blickten empor. — „Helios ſelbſt offenbart ſich in Flammen, ſagte Pia. „Nur eine Stunde möchte ich das Bild feſthalten! wenige Minuten — und es iſt erloſchen, todt! Die ſchönſten Momente — die kürzeſten. Vielleicht liegt darin allein ihr Zauber. Nie wieder wird es gerade ſo ſein, wie es heut war, nie.“ Sie ſah ihm ganz nahe in die Augen, mit einem zerfließenden Blick. Wieder fühlte er jenen ſeltſamen, unbezwinglichen Schander, er fühlte ihn bis in die Haarwurzeln. Er wußte nicht, war es Eiſiges oder brennend Heißes, das ihn durchdrang. „Ich muß fort — fort!“ ſtammelte er. „Bleiben Sie! Sie haben mich hören wollen, jetzt müſſen Sie mich bis zu Ende hören. Kind Sie! Sie halten mich noch immer für eine Meſſaline. Nehmen Sie mich doch einfach als einen warmblütigen Menſchen, gleichviel ob Mann, ob Weib. So viel Liebhaber, ſo 295 viel Laſter, meinen Sie? Ich leugne meine Liebhaber nicht; wieviel ihrer waren weiß ich nicht genau, ich finde das zu wiſſen auch nicht beſonders intereſſant: jedenfalls waren es beträchtlich weniger, als viele Fürſten und andere Hervorragende unter den Herren der Schöpfung, wie z. B. der vergötterte Göthe oder der angebetete Heine, Geliebte gehabt haben. Mein Liebesleben nimmt nur einen kleinen Theil meines Lebens in Anſpruch. „Und der andere Theil: Sie lachte auf. „Intereſſirt Sie das wirklich? merkwürdig! Darnach hat mich bis jetzt niemand gefragt, am aller⸗ wenigſten meine Liebhaber; und die Welt im allgemeinen hat ſich wieder nur für dieſe Liebhaber intereſſirt. Der andere Theil, ja — der andere ..“ Sie zeigte in die Landſchaft hinaus. „Wie überirdiſch ſchön iſt das und doch nur ſinnlich ſchön. Gerade über ihnen war jetzt der Himmel von intenſivem Blan, eine purpurne Bläue, dunkel und leuchtend zugleich, weiterhin zerfließender Golddunſt. Nach einer Pauſe fuhr ſie fort: — „Finden Sie es wirklich ſo ideal, daß man einer ſinnlichen Begegnung eine ſo immenſe Wichtigkeit beilegt, eine Wichtigkeit, ſo daß oft Ehre, Leben und Tod davon abhängig gemacht wird? Ideal, dieſer myſteriöſe, lüſtern lauernde, dieſer ſcheu ſchämige, wollüſtige Kultus der höchſten Liebesbezeigung? Wider⸗ wärtig, primitiv brutal iſt ſolche Anſchauung, eigentlich 296 gehörte ſie in das Zeitalter des Fauſtrechts. Weil mich ein heißer Trieb einmal zu einem Manne hingezogen, ſoll ich mein ganzes Leben mit ihm theilen, meinen Geiſt mit ſeinem Geiſt, meine Seele mit ſeiner Seele vermählen! Was für ein Götzenbild der Sinnlichkeit! Als ob ich mein Leib wäre, meine Sinne meine ganze Habe! Wenn ich vom Liebesmahl aufſtehe, lebe ich erſt mein eigentliches Leben.“ Sie machte oft Pauſen in ihrer Vertheidigungsrede, hörte wieder auf die Aeolsharfen und ließ ihre Blicke abwechſelnd am Himmel und auf der Landſchaft ruhen, über die ſich allmälig farbloſe Dämmerung breitete. „Der ſinnliche Trieb der Liebe,“ fuhr ſie in ihrer kühlen, faſt indolenten Art zu ſprechen fort, „iſt nicht gut, nicht ſchlecht, nicht edel, nicht gemein, er iſt eben ein Naturtrieb, den zu unterdrücken ich keinen Grund ſehe. Da iſt ein junges Weib, das ſich in Leidenſchaft verzehrt für einen jungen Mann; ſie darf nicht zu ihm, er darf nicht zu ihr, die Waſſer der Konvenienz ſind viel zu tief; ſie geht darin unter, er taucht auf den ſchlammigen Grund, und ſucht anderswo käufliche Befriedigung. Dieſe geſchlechtlichen Triebe ſpielen nur deshalb eine ſo große Rolle, weil man ſie unterdrücken oder in öeſtimmte Bahnen zwingen will. Kennen Sie das Märchen von den Winden, die, eingeſperrt, wahnſinnig rumorten, freigelaſſen, ſich in ſanfte Zephire ver⸗ wandelten? Das iſt's. Wozu dieſe ewige Kriegsbereitſchaft, dieſer moraliſche Kraftaufwand zur Bekämpfung einer körperlichen Sehn⸗ 297 ſucht? Wenden wir doch unſere ſittlichen Kräfte edleren Zwecken zu. Wehren wir uns doch lieber gegen ge⸗ meingefährliche Triebe, gegen Bosheit, Neid, Ver⸗ leumdung und andere Niedertracht, mit denen wir unſere Nächſten zu Grunde richten. Wieviel Qual, Angſt, Lüge müſſen arme Frauen erdulden, um ihr bischen Liebesgenuß! Ich habe herzensgute Frauen gekannt, und ſie hatten einen Lieb⸗ haber, es war ihnen peinlich und läſtig genug; ſie hätten einen liebefähigen Gatten vorgezogen. Und ich habe böſe Frauen gekannt, die hatten keinen Liebhaber und waren darum nicht weniger böſe. Nie habe ich eines Liebhabers wegen Reue empfunden. Nur einmal habe ich tief und bitter eine That bereut, eine That der Rache an einem Mann, und das geht mir bis heute nach.“ Ein dunkler Schatten zog über ihr Geſicht, ihr Blick ſank zu Boden. Sie dachte an den Grafen Ronald Büren, der ihr Bräutigam geweſen, und wie ſie ſein Leben zerſtört und ſeine Schweſter in den Tod ge⸗ trieben, durch den Brief, den ſie ihr geſchrieben. Als ſie die Blicke wieder erhob, wurde ſie von dem Ausdruck troſtloſer Traurigkeit in Gottfrieds Zügen bewegt, und ihre Stimme bekam wärmere Accente, ihre Rede wurde eindringlicher. „Denken Sie nicht, daß ich der Ausſchweifung das Wort rede. Nicht das Natürliche iſt laſterhaft, aber das Unnatürliche. Man kann den Trunkenbold, den Morphiumſüchtigen nicht hindern ſich zu ruiniren. Die Liebestollen ſind auch Trunkenbolde. Uebrigens denken 298 auch andere Frauen annähernd wie ich und ich unter⸗ ſcheide mich von ihnen nur dadurch, daß ich mein Denken und mein Handeln in Einklang gebracht habe. Eine Empfindung, die an Entſetzen grenzte, packte Gottfried. War das nicht auch eine der Grundmaximen ſeines Lebens? Und nun, im Munde dieſes Weibes! Er ſtreckte die Hände abwehrend gegen ſie aus. — „Bekreuzigen Sie ſich nicht, ſchöner Apoſtel. Selbſt, wenn Sie ſich in mich verliebten, Sie kämen in gute Geſellſchaft. Die beſten Männer habe ich zu meinen Füßen geſehen. Warum? weil ich Geiſt habe, oder Seele oder Gemüth? Gott bewahre, nur weil meine Augen gerade dieſen Schnitt haben, gerade dieſen! Keine Spur einer poetiſchen Gemüthskundgebung mit ſittlichen Hintergedanken war dabei. Und dieſer phyſiſchen Sehn⸗ ſucht ſollte ich mit einer ſeeliſchen antworten? Die Eſaus, die für ihr Erbrecht ein Linſengericht eintauſchen, ſind immer betrogene Narren. Die Anpaſſung iſt ja eine der modernen, naturgeſchichtlichen Entdeckungen. Ich paſſe mich eben auch an, dem Manne paſſe ich mich an, auch im Moraliſchen und im Denken. Uebrigens ich habe mich wirklich in meiner Liebeluſt nicht ſchuldiger gefühlt, als wenn ich meine Augen an der Schönheit der Natur berauſchte. Wenn ich der Aeolsharfe lauſche, ſo iſt das auch nur ein poetiſch ſinnliches Genießen mit dem Ohr. Die Natur hat dieſelben Stimmungen wie wir. Luft und Licht ſind das Blut, das durch Himmel und Erde fließt, bald in wilder Leidenſchaft, bald in zartem, leiſem Rinnen. Wenn Akazienduft die Luft erfüllt, ver⸗ 299 ſinke ich in ſüße, faule Senſualität und — ich liebe. Schreite ich durch dunkle, ernſte Eichenwälder, ſo er⸗ greifen mich die Räthſel des Menſchenweſens, und ich denke. Als ich Dich damals im Sturme küßte, war ich nur das Echo der Natur. Und jetzt — jetzt Sie verſtummte plötzlich. Ein Wunder begab ſich am Himmel. Längſt hatte fahle Dämmerung die Gegend eingeſponnen. Jetzt wurde es wieder hell am Firmament, und immer heller, eine Erſcheinung, wie ſie ſonſt nur im Süden nnd auch da ſelten ſich zeigt. Das zarte, verdämmernde, grünliche Blau am Rande des Horizontes fing noch einmal an zu leuchten, und weiter oben breitete ſich ein roſiger Schimmer aus, der immer weiter und breiter wurde und allmählich, das ganze Firmament umlodernd, die Landſchaft in wallende Roſengluth tauchte. In die dunkelſten Bäume drang das märchenhafte Licht, es zitterte auf dem Strome wie Meeresleuchten, eine Beleuchtung wie auf Raphaels Bildern, wenn er die Auferſtehung oder die Ausgießung des heiligen Geiſtes malt — ein ſelig Traumgeſicht. In entzückter ſtaunender Andacht hob ſich Gott⸗ frieds Bruſt. Als die Gluth verdämmert war, ſah er ſich um. Er war allein. Langſam ſchritt er durch die Sternennacht ſeinem Hauſe zu. Die Trauer um Pia war größer als ſeine Verachtung; er fühlte tiefes, unſägliches Mitleid mit ihr. Sie war des Leidens, ſie war der Begeiſterung fähig; ſie war zu retten — die Bajadere, und er — der Gott? Er ſenkte die Stirn. Würde er es vollbringen: 300 Gottfried's Beziehungen zu Lis waren immer herz⸗ licher, unbefangener geworden. Er konnte ſein Leben nicht mehr ohne ſie denken. Sie empfand etwas von der Schwärmerei Jung⸗Gottfrieds für ihn. Sie erröthete vor Freude, wenn er bei ihrem Unterricht bei⸗ fällig lächelte. Oft, wenn ſie in der Morgenfrühe dem Hauſe der Kinder zuwanderte, dachte ſie: Wenn ich nun geſtorben wäre damals an dem Nebelgift, wie ſchrecklich! Und ſie beeilte ihre Schritte, als könne etwas ſie auf⸗ halten. Die Vergangenheit rückte ihr ſacht, ganz ſacht, fern und ferner. Zuweilen blieb ſie den ganzen Tag bei den Kindern und ging erſt gegen Abend heim. Dann begleitete er ſie durch den Wald, allein oder mit Jung⸗ Gottfried. Ueberraſchte ſie die Dunkelheit im Walde, oder wurde Lis durch ein Geräuſch erſchreckt, ſo nahm er wohl ihre Hand und behielt ſie in der ſeinen, und Lis fühlte ſich ſo ſicher, ſo geborgen, wie in Gottes Hut. Nannte er ſie im Geſpräch zuweilen mit ſeiner glockenartigen Stimme: „Geliebte Schweſter“, ſo barg ſie das Wort wie einen Schatz in ihrer Bruſt. Sie pflegte ihn nicht anzuſehen, während er ſprach, ſondern blickte unwillkürlich aufwärts. Er war für ſie das Medium, das ſie mit einem höheren Sein verband. Etwas univerſelles war in ihrer Empfindung für ihn, btwas von der Empfindung, die ſie für die Natur hatte, für die Sonne, für große Dichtungen. Zumeilen aber ermüdete ſie von der andauernden Anſpannung des Geiſtes und des Gemüths in ſeiner Gegenwart, und ein vages Verlangen nach einer 301 Atmoſphäre ſüß menſchlicher Zärtlichkeit kam über ſie. Sie dachte an Götz. „Du ſollteſt ganz zu mir kommen, Lis,“ ſagte er einmal. Ich bedarf Deiner. Ich bedarf der weib⸗ lichen Hilfe.“ Eine unbeſchreibliche Verwirrung bemächtigte ſich Heloiſes. Sie zögerte zu antworten. — „Fürchteſt Du das Gerede der Welt?“ fragte er lächelnd. Sie ſenkte die Stirn. „Giebt es für uns eine Welt, deren Gerede wir zu ſcheuen brauchen? Sie reden auch nicht lange. Sie reden nicht einmal mehr über mein Gewand, und das iſt ihnen doch noch merkwürdiger und intereſſanter, als daß ein junges Mädchen unter dem Dach eines jungen Mannes wohnt. Wir leben ja unter den Augen einer Kinderſchaar; das iſt, wie von Engeln bewacht. Auch die Boshafteſten werden deſſen inne werden. „Ich will mit den Meinigen darüber reden, ſagte Lis beklommen. Innerlich zürnte ſie ihm, daß er das von ihr verlangte. Wenn ſie ſeine Schweſter wäre — oder — nein, ſeine Gattin nicht. In einer ſo ganz irdiſchen und vertraulichen Beziehung konnte ſie ſich nicht zu dem Manne denken, dem ſie die Hände hätte küſſen mögen. Daß einmal ſeine Lippen in einem leidenſchaftlichen Kuß die ihrigen berührt hatten, konnte ſie ſich nicht mehr vorſtellen. Es war auf dem Rückweg zur Mühle, als er ſie aufforderte, ganz zu ihm zu kommen. Sie verabſchiedete ſich von ihm, ehe ſie noch den Saum des Waldes er⸗ 302 reicht hatten und eilte ſchnell davon. In der Mühle aber ſagte ſie der Müllerin nichts von dem Vorſchlag Gottfrieds. Sie ſprach auch in den nächſten Tagen nicht mit ihm darüber und er nicht mit ihr. Beide fühlten, daß ein ſo weittragender Entſchluß nicht leicht und ſchnell gefaßt werden konnte. Es war ein ungewöhnlich heißer Septembertag, als in früher Nachmittagsſtunde die Müllerin ſich aufmachte zu dem Gehöft eines Pächters, mit dem ſie ein Geſchäft abzuſchließen hatte. Das Gehöft lag zwei Wegſtunden von der Mühle entfernt. Burgei begleitete ſie. Im letzten Augenblick entſchloß ſich auch Lis, mitzugehen. Der Weg führte durch ſchattige Waldungen, die Schutz gegen die Hitze verſprachen. Um drei Uhr waren ſie an Ort und Stelle. Während die Müllerin mit dem Pächter verhandelte, hatte ſich Gewölk am Himmel zuſammengeballt, das ſchnell einen bedrohlichen Charakter annahm. Der Pächter bot den Frauen ſeinen Kahn an, damit über den See zu fahren, ſie würden dadurch den Weg um die Hälfte verkürzen und, aller Wahrſcheinlichkeit nach, noch vor dem Ausbruch des Gewitters heimkommen. Die Müllerin nahm das Anerbieten an; ſie und Burgei waren geübte Ruderinnen. Kräftig machten ſie ſich an die Arbeit. Kaum aber waren ſie mit dem Kahn in die Mitte des Sees gelangt, als es faſt Nacht wurde; ſtarke Windſtöße erſchütterten das leichte Fahrzeug. Mit feſſelloſer Gewalt brach das Gewitter los. Der Sce ſchien von Furien gepeitſcht; Blitz auf Blitz zuckte aus 303 feurig ſchwefelgelben Wolkenſtreifen, der Donner umrollte ſie, daß Einer des Anderen Wort nicht mehr verſtand. Ziſchender Schaum durchnäßte ſie. Es wurde kalt. Todesfurcht ſchüttelte die Mädchen. Alle Drei wußten, es ging ums Leben. Thränen rollten über Burgeis Wangen. Die Müllerin ſagte kein Wort; ſie ſah nur Burgei an mit einem großen Blick, und wies auf das Ruder. Sie ruderten mit übermenſchlicher Kraft, näher und näher kam das Ufer. In einer Anwandlung von Schwäche ließ Burgei das Ruder ſinken, ſofort riß das toſende Waſſer es fort. Bald erwies ſich auch das Ruder der Müllerin machtlos und langſam, langſam füllte ſich das Boot mit Waſſer. Der Blick der Müllerin ſchweift hinüber ans Ufer und kehrt zu Burgei zurück. Sie ſteht hochaufgerichtet, reißt die Tochter zu ſich empor und preßt ſie an ſich. Der Wind peitſcht ihr das lange, graue Haar, das ſich gelöſt, um das todtbleiche Geſicht. Sie ſtimmt einen Choral an, mit einer Stimme ſo voll und mächtig, daß ſie das Rollen des Donners übertönt. Ein Schauer durchbebt Heloiſe. Sie glaubt eine Prieſterin zu ſehen. Während ſie ſingt treibt der Kahn dem Ufer zu, der Himmel klärt ſich auf, das Waſſer wird ruhiger ein Sonnenſtrahl! Aber der Kahn ſinkt tiefer und tiefer. Plötzlich bricht die Müllerin den Geſang ab; ihre Augen kehren vom Himmel zur Erde zurück. Sie reißt Burgei die Oberkleider ab. „Schwimm!“ ruft ſie, „wenn Du lebe willſt! Burgei ſpringt vom Kahn hinab. Wie eine Bild⸗ ſäule ſteht die Müllerin, die großen ſtarren Augen an 304 die Schwimmende klammernd. Burgei wird ans Ufer gelangen, ſie ſieht es. Sie wendet ſich zu Lis: „Thu, was i Di ſag! Sie giebt ihr eine kurze Anweiſung, wie ſie ſich zu verhalten hat; dann taucht ſie mit ihr ins Waſſer in dem Augenblick, als der Kahn verſinkt. In kraftvollen Stößen ringt ſie mit dem immer noch bewegten Waſſer, Lis, die nicht ſchwimmen kann, vor ſich hertreibend. Nach wenigen Minuten verliert Lis die Beſinnung. Als ſie wieder zum Bewußtſein kommt, findet ſie ſich in einem Bauernſtübchen im Bette, neben Burgei. Ein wohliges Gefühl von Wärme durchſtrömt ſie. Die Müllerin ſteht vor ihnen mit einem Glaſe heißen Weines. Ein krampfhaftes Schluchzen erſchüttert Heloiſes Bruſt. Sie weiß mit völliger Klarheit, daß dieſe Frau das Leben des geliebten Kindes aufs Spiel geſetzt hat, um ſie, die liebloſe, haſſenswerthe Tochter zu retten. Sie fällt der Müllerin in die Arme: „O Mutter! Mutter!“ Die Müllerin macht ſich ſacht von ihr los: „Ruhig, ruhig mei' Kind, i' hab' Di' herzlich lieb, als wärſt Du mei' Tochter, Du biſt es aber nit. Gott behüt', daß i nehme ſollt', was mir nit zukommt.“ „Du biſt nicht meine Mutter? auch Du nichtk „I' war nur Dei' Pflegere die erſte zwei Jahr von Deine Lebe g'weſe, Sie habe mir verleite wolle, daß i' ſage' ſollt', Du wärſt mei' leiblich's Kind. Nein, hab i' g'ſagt, lüge' thut die Müllere net um alles in der Welt. Du haſt mi nit g'fragt, und i' habe mit Wille 20 305 nix g'ſagt. Hätt'ſt Di noch ſchwerer g'funde, wenn D' gewußt, daß Dei' Vater und Dei' Mutter vornehme Leut' ſind; nur verheirath' ſind ſe net miteinander g'weſe. Hätt'ſt aber nur an einzigsmal mir Mutter g'ſagt, die Lüg' hätt' i' nit aufkomme laſſe. Weil i' der Familie von dem Mann, der Dei' Vater iſt, alles verdank, drum hab' i' mi' Di' ang'nomme. Gott Lob, daß i's thun hab. Lis war ſich nicht klar, was ſie empfand; aber es war etwas Umwandelndes, ihr ganzes Weſen Er⸗ ſchütterndes. „Du biſt doch meine Mutter, doch,“ ſagte ſie, ſich an ihre Bruſt werfend, „Du biſt es, weil ich Dich liebe, ich aber, ich verdiene gar nicht Deine Tochter zu ſein. Ich gehöre zu Euch, nur zu Euch, für alle Zeit. Sie bekam einen leichten Fieberanfall. Die Mutter pflegte Beide mit liebevoller Sorgfalt. Am Nachmittag des folgenden Tages durften ſie ſchon zur Mühle zurückkehren. Lis war wie umgewandelt; der letzte Reſt von Trübſinn war von ihr gewichen. Jede Schranke zwiſchen ihr und der Müllerin war gefallen. Daß ſie nicht wirklich ihre Mutter war, was that es, wenn ſie ſie dazu machte. Sie wurde nicht müde, ſie immer wieder Mutter zu nennen, ſie ſonnte ſich förmlich in dem Wort. Die rothen Vorhänge, die ſie damals verächtlich bei Seite gelegt, ſie ſuchte ſie hervor und befeſtigte ſie eigenhändig an ihrem Fenſter, ganze Arme voll Blumen pflückte ſie, um das Stübchen damit zu ſchmücken. Nun erſt war ſie wirklich daheim, und ſie wollte es ſich heimiſch machen. Hätte ſie einige Monate früher er⸗ 306 fahren, was ſie nun wußte, ihr Inneres hätte vielleicht eine andere Prägung erhalten. Sie ſegnete das Schweigen der Mutter. Merkwürdigerweiſe empfand ſie keine Spur von Neugierde, zu erfahren wer ihre Eltern ſeien, ſie wollte es gar nicht wiſſen. Sie ſtaunte ſelbſt, daß die That⸗ ſache ihrer ariſtokratiſchen Geburt ſie kalt ließ. Wozu nun all' der wilde Schmerz damals, als ſie glaubte ein Kind des Volkes zu ſein! Und doch, im Ver⸗ borgenſten ihrer Seele, ihr ſelbſt unbewußt, war ein heimliches Freuen über ihre vornehme Abſtammung. Nicht der Nothwendigkeit gehorchte ſie jetzt, wenn ſie ihr neues Leben freudig auf ſich nahm, ſie that es freiwillig. Als ſie wieder in das Haus der Kinder kam, ſah Gottfried gleich, daß ihr etwas Freudiges geſchehen. Ihre Art mit den Kindern war lebhafter als früher, noch liebevoller. „Ich bin keine Waiſe mehr,“ antwortete ſie auf ſeine Frage, „ich habe eine Mutter gefunden.“ Und ſie theilte ihm die hochherzige That der Müllerin mit. Mit Wonne athmete ſie jetzt in der Morgenfrühe, wenn ſie durch den Wald wanderte, die friſche, kräftige Herbſtluft. Es war ein Sproſſen und Blühen in ihr, das ihre Kräfte vervielfältigte, und ſie doch auch wieder verwirrte, beunruhigte. Sie denkt an Götz. Die Kluft zwiſchen ihr und ihm iſt nicht mehr ſo groß wie bei der Trennung von ihm. Er wäre nicht mehr ins Ausland verirrt, wenn ſie ſeine Gattin würde. Götz iſt das einzige Band, das 20* 307 ſie noch mit jener Welt, die halb verſchollen hinter ihr liegt, verknüpft. Und er? Hat er ſie vergeſſen? Sie glaubt es. Sie iſt im Irrthum. Götz hat einen ſchweren Kampf mit ſich ſelber ge⸗ kämpft, um ihretwillen. Daß ſie ohne Namen und Vermögen nie ſeine Braut geworden, er wußte es. Sie aber zu verlaſſen, weil ſie beides verloren, dagegen empörte ſich ſein ſittlicher Stolz, ſein Herz. Obwohl klug, kühl und berechnend, widerſtand ihm jede Niedrigkeit. Auf der andern Seite verlor er nicht durch eine ſolche romanhafte Heirath jede Ausſicht auf Karriere? und was ärger war, die Möglichkeit ſo zu leben, wie es ſeinem Stande und ſeiner Neigung entſprach? Lange Zeit hatte er ſich vergebens bemüht den Auſenthaltsort Heloiſe's zu erfahren. Die Gräfin lag ſchwerkrank, Graf Albrecht war unzugänglich. Die Briefe, die Götz an ihn ſchrieb, blieben unbeantwortet. Auch Irenens Bemühungen in Betreff Heloiſe's ſcheiterten an der ſchroffen Abweiſung Graf Albrechts. Die Welt hatte in Erfahrung gebracht, daß Lis nur ein angenommenes Kind des gräflichen Paares geweſen, das die leibliche Mutter zurückgefordert habe. Aus dem Freundeskreiſe war niemand außer Götz in der Stadt geblieben. Nur Gräfin Charlotte mit Irene, die in der Nähe der Stadt eine Villa bezogen hatten, kamen faſt täglich nach Berlin. Die Ronald⸗Bürens wollten um keinen Preis die Gegend verlaſſen, ehe es entſchieden war, ob Stella leben oder ſterben würde. Ihr Tod wäre ihnen ſo unerwünſcht als möglich geweſen. 308 Graf Albrecht, noch in den beſten Jahren, konnte eine zweite Ehe eingehen, und der Majoratsbeſitz war für die jüngere Linie in Frage geſtellt. Nichts war natürlicher, als daß Götz und Irene ſich in dieſer Zeit öfter als je ſahen. Irene ahnte an⸗ nähernd, was in ihm vorging. Sie bewies Takt und Zartſinn. Wieder und wieder ſprach ſie mit ihm von der unglücklichen Lis, und ſie that es mit Wärme und Herzlichkeit. Ihre Theilnahme war echt. Heloiſes Schickſal erſchien ihr als das denkbar grauſamſte. Götz in ſeiner ſchwankenden Hülfloſigkeit bedurfte einer Vertrauten. Bald wußte ſie alles. Anfangs hatte ſie wohl gehofft Vortheil für ſich aus der Situation zu ziehen; allmählich aber ſiegte das beſſere in ihr, und eher als Götz war ſie entſchieden, daß er Lis heirathen müſſe. Der armen Lis ein ſolches Märchenglück zu verſchaffen, wurde leidenſchaftliche Herzensſache für ſie. Ohne Weiteres begab ſich Irene eines Tages in das Ronald⸗Bürenſche Palais, und lief einfach an dem Diener, der eine Verwandte des Hauſes nicht gewaltſam zurückzuhalten wagte, vorbei, direkt in das Zimmer ihres Oheims. Er ſaß in ſeinem Armſtuhl und ſtarrte auf ein Bild. Irene blieb einen Augenblick erſchrocken auf der Schwelle ſtehen. Wie ſehr verändert war Graf Albrecht, bleich, eingefallen die Wangen, gebeugt, die Blicke unſtät und erloſchen. Irene brachte mit einem Pathos, das ihr ſonſt fern lag, ihr Anliegen vor. Aber ſchon nach den erſten Sätzen brach ſie ihre Rede ab, betroffen von dem gütig milden Ausdruck im Geſicht des 309 Grafen. Er hatte zuſtimmend genickt und drückte jetzn Irene herzlich die Hand. „Gute Irene, Du kommſt mir zuvor. Ich wärc ſelbſt in dieſen Tagen zu Lis gegangen, obwohl ich gerade in letzter Zeit befriedigende Auskunft über ſie erhalten habe. Willſt Du für mich gehen, deſto beſſer. Ich bin entſchloſſen Lis zu adoptiren. Ich wünſche ihr Los glücklich zu geſtalten. Es ſoll alles werden wie es war. Sage ihr, wenn ſie auch nicht unſer eigen Kind iſt, ſie ſoll nun erſt recht unſere liebe und geliebte Tochter ſein.“ Und mit einem trüben Lächeln fügte er hinzu: „das Blut macht ja nicht den Vater. Der weiſe Nathan hat recht. Sage Lis, daß wir ihrer bedürfen. Die Ronald⸗Bürens älterer Linie ſind krank, ſie ſind mit Ausſterben beſchäftigt.“ Er gab ihr Heloiſes Adreſſe, und rieth ihr, mit ihrer Mutter nach Baden⸗Baden zu gehen. Von dort aus könne ſie Lis aufſuchen. Graf Albrecht war entſchloſſen, falls Götz auf Lis nicht verzichtet haben ſollte, ihr zu ſagen, daß der jungc Fürſt ihr Bruder ſei. Irene verließ den Oheim mit ſehr gemiſchten Em⸗ pfindungen. Sie beſchied Götz zu ſich und theilte ihm das Vorgefallene mit. Seine Freude über die glückliche Wendung erlitt eine kleine Einbuße durch die Vor⸗ ſtellung, daß der Edelmuth ſeiner Handlung durch die Großmuth des Grafen beeinträchtigt wurde, und daß Lis ſein Erſcheinen mit der Adoption in Verbindung bringen könne. Irene beruhigte ihn darüber. Ihre Begeiſterung für die Heirath hatte ſich ſeit der Unter⸗ 310 redung mit dem Grafen ein wenig abgekühlt. Das war nicht mehr die unglückliche, bettelarme Lis, für die ſie das eigene Glück in die Schanze ſchlug; die reiche adoptirte Lis erregte ihr Mitgefühl nur mäßig, wenn ihr auch der Gedanke jetzt ihre Mitwirkung bei der Heirathsangelegenheit zu verſagen, fern lag. Doch kam der Schalk bei ihr wieder zum Durchbruch. „Denken Sie,“ ſagte ſie zu Götz, „ich habe in dieſer Nacht von unſerer einſamen Wachskerze unter den Talglichtern da unten in der Mühle geträumt; aber ſie war gar nicht mehr von Wachs — im Traum. Lauter Sommerſproſſen hatte ſie, und in einem Unterrock von rothem Flanell, Holzpantinen an den Füßen, mit einem buntgewürfeltem Taſchentuch um den Kopf, ſtand ſie vor einem Waſchtrog, in Seifendämpfe gehüllt; ſie aß ein Stück ſchwarzes Brot mit Kuhkäſe und — ſchmatzte. Wäre es nicht ſchrecklich, wenn ſo à la Ibſen etwas Angeſtammtes in ihr zum Durchbruch käme! Er lachte, aber die Anſpielung auf ihre Abſtammung war ihm peinlich. Irene reiſte mit ihrer Mutter nach Baden⸗Baden ab. Götz folgte ihr einige Tage ſpäter. Er war während der Fahrt in erhobener Stimmung. Er ſah die Hütte der armen Leute vor ſich, die Kammer, in der ſein ſtolzes Mädchen Unſagbares litt. Sie war immer von zarter Konſtitution geweſen, ſeine Lis, wie mußte jetzt der Gram und ein entwürdigendes Leben ſie gebrochen haben. Und nun kam er, der Fürſt, und hob ſie aus dem Stanbe empor an ſein Herz. Er antizipirte alle Genüſſe ſeiner Edelthat. Faſt traten ihm 311 Thränen der Rührung in's Auge, wenn er an die Scene des Wiederſehens dachte. Ja, er liebte ſie, liebte ſie trotz alledem, ſeine Madonna. Er übernachtete in Baden⸗Baden, traf am andern Vormittag eine Verabredung mit Irene, und am Nach⸗ mittag machte er ſich zu Fuß auf den Weg zur Mühle. Seine Aufregung wuchs, je kürzer die Strecke wurde, die ihn von ihr trennte. Da lag die weite, grüne Wieſe vor ihm, ein paar Fenſter der Mühle wurden ſichtbar, weniger armſelig, als er vorausgeſetzt. Auf dem freien Platz ſeitwärts vom Hauſe war eine Leine gezogen, die theilweiſe mit Wäſche behängt war. Zwei Mägde liefen ab und zu und ſchwenkten große Wäſcheſtücke hin und her: ihr Lachen klang zu ihm herüber. Eine heitere Scenerie. Wie mochte ſie im Gegenſatz ſtehen zu dem Leben, das ſich für Lis hinter einem jener Giebel⸗ fenſterchen abſpielte. Er ſah wie ſich die beiden gleich⸗ gekleideten Mägde auf eine Bank ſetzten, aus einem Körbchen Brot nahmen und davon aßen Er trat zu ihnen heran, um ſich nach der Müllerin zu erkundigen. Er öffnete die Lippen zu einer Frage, plötzlich aber fuhr er zurück, als hätte er ein Geſpenſt geſehen. Mit offenem Munde ſtarrte er auf Lis, denn ſie war es. Er war wie gelähmt. Er glaubte an eine optiſche Täuſchung. Konnte das Lis ſein? Nein — undenkbar. Ihre Schweſter vielleicht, ihr ähnlich, ſie ſelbſt — un⸗ möglich! unmöglich! Lis, blühend, mit rothen Backen, die feucht waren von der Anſtrengung — Lis mit auf⸗ geſtreiften Aermeln und einer großen Leinwandſchürze, Lis lachend! 312 Auch Lis ſchien einen Augenblick die Wirklichkeit nicht zu faſſen. Eine dunkle Röthe hatte ſich über ihr Antlitz ergoſſen, mit einer ſchnellen, unwillkürlichen Be⸗ wegung legte ſie das Butterbrot neben ſich auf die Bank, und grenzenloſe Verwirrung mit Schreck gemiſcht, malte ſich in ihren Zügen. Sie zog ihre Füße unter die Bank und faltete die Hände krampfhaft ineinander — die rothen Hände. Und doch faßte ſie ſich eher als er. „Fürſt, Sie hier?“ ſtammelte ſie, und dann: „Götz — Du? Alſo doch, ſie war es? Das Schrecklichſte hatte ſich ſeine Phantaſie ausgemalt: eine verwahrloſte, eine elende, eine häßliche Lis, eine Sterbende, alles, nur das nicht: die Verwirklichung von Irenens Traum. Die Bitterkeit der Enttäuſchung überwältigte ihn. Burgei ſchlich ſtill und betrübt in's Haus, fühlend, daß ſie hier überflüſſig ſei. Götz war der Name von Liſe's Verlobten, das wußte ſie, und was nun kommen würde ahnte ſie. Götz nahm alle Kraft zuſammen, um ſeiner grenzen⸗ loſen Beſtürzung Herr zu werden. „Lis, meine Lis, ach hätte ich eher kommen können! Was haben ſie aus Dir gemacht, meine arme Lis!“ Er nahm ihre Hände, „o, mein lilienweißes Mädchen, meine zarte Blume ¹„ „iſt ein robuſtes Unkraut geworden,“ unterbrach ſie ihn mit einem Verſuch zu lächeln, der mißlang. „Ja, Götz, wärſt Du nur ſechs Wochen früher gekommen, Du hätteſt mich gefunden ganz wie Du dachteſt halb 313 ſchon im Schattenreich. Eine ſtarke Hand hat mich in's Leben zurückgeriſſen, und — und — ich kann's nicht leugnen, ich bin kräftig und geſund geworden, ich bin— Sie unterdrückte, was ſie noch ſagen wollte, es hätte ihn kränken müſſen. Eine merkwürdige Empfindung bemächtigte ſich ihrer, eine peinvolle, ſchmerzliche Ver⸗ legenheit. Sie weiß nicht, was ſie ihm ſagen ſoll. Sie iſt wie ausgehöhlt. Kein freudiges, liebevolles Wort findet den Weg zu ihren Lippen. Und doch fühlt ſie ſeine tiefe Enttäuſchung mit und leidet darunter. Sie blickt auf ſein dünnes, helles, in der Mitte des Kopfes geſcheiteltes Haar. Sie ſchweigt. Götz hat ſich allmählich, wenn auch nicht ohne An⸗ ſtrengung zu den Ideen zurückgefunden, mit denen er gekommen iſt. Mit ſchöner und warmer Beredſamkeit entrollt er vor ihr das Bild ſeiner Leiden, ſeiner Hoffnungen, ſeiner unbeirrbaren Liebe zu ihr. Er ſagt ihr auch, warum er nicht früher kommen konnte. Ergriffen hört ſie ihm zu, ſie weiß, welche Entſagung er übt, wenn er Liſe Chriſtoph zu ſeiner Gattin machen will. Ihre Kälte löſt ſich. Sie reicht ihm herzlich die Hand. „Und ich dachte, Du hätteſt mich vergeſſen, Götz. „Ich gehe nicht fort von hier ohne Dich, Lis. „Wir ſind ſo weit auseinandergekommen —“ Er fällt ihr ins Wort: — „Wir kommen wieder zuſammen, Lis. Du wirſt wieder werden was Du warſt, meine Lilie, meine Madonna! 314 Er zieht ſie liebevoll an ſich. — „Du biſt ohne Schuld, armes Kind, daß ſie das aus Dir gemacht haben. Ich erhebe Dich wieder, meine Braut! meine Fürſtin! Sie macht ſich von ihm los. Die ſieghafte Zuver⸗ ſicht ſeiner letzten Worte verletzt ſic. „Du irrſt, Götz. Liſe Chriſtoph denkt anders als die Comteſſe Ronald⸗Büren, nicht niedriger; ſie iſt nicht weniger, vielleicht ſogar—“ Sie hält inne, betroffen von dem verſtändnißloſen und beſtürzten Ausdruck in ſeinen Zügen. Er zieht ihren Arm in den ſeinigen. ² „Sage Lis, meine liebe, geliebte Braut, ſage mir“ —— — Er kommt nicht weiter. Was ſollte ſie ihm ſagen? Er beſinnt ſich. Ja, ſie hatte recht; ſie ſind weit aus⸗ einander gekommen. Er fühlt, daß ein Widerſpruch in ihr iſt, der ſich gegen ihn richtet, daß ſeine Sieges⸗ gewißheit deplacirt war, und doch begreift er nicht, wie das möglich iſt. Und Lis? ſie iſt ſich ſelbſt ein Räthſel. Götz hat dieſelben ſchöngeſchnittenen Augen wie früher, denſelben feinen Mund, dieſelbe anmuthig elegante Haltung, die⸗ ſelbe adelige Geſinnung, denn dieſe hat ihn zu ihr ge⸗ führt. Und doch — liebt ſie ihn nicht mehr? und warum nicht? Wie einem, der in Lebensgefahr iſt, der etwa von einem Felſen ſtürzt und in wenigen Sekunden ſein ganzes Leben noch einmal durchlebt, ſo ergeht es ihr. Ihrer Kinderjahre gedenkt ſie mit ihrer ſchönen Mutter, die ſie 315 bald küßt, bald von ſich ſtößt, ihres räthſelhaften Vaters, den ſie nicht verſteht, dann das Leben in der Geſellſchaft, die Huldigungen, die ihr zu Theil werden — die fürchter⸗ liche Scene, die alles auslöſcht — ihre Verſtoßung die lange Nacht der Verzweiflung — der Nebelgrund, Gottfrieds Stimme wie Glockenläuten in der Morgen⸗ frühe — ihr allmähliches Sichzurückfinden ins Leben, ihre Wiedergeburt. Sie ſieht ſich im Hauſe der Kinder mit ihm — Gottfried! Und frei, rein und groß wird ihr Blick, langſam wendet ſie Götz ihr Geſicht zu. Er ſteht einige Schritte von ihr entfernt. Ein Windzug wirft ihm eins der großen Wäſcheſtücke um den Kopf; er iſt darin wie ein⸗ gewickelt, und arbeitet ſich davon zu befreien. Sie lacht. Nein, ſie liebt ihn nicht mehr. Er gehört nicht mehr in ihre Welt; jene andere Welt, wo ſie früher daheim war, erſcheint ihr wie etwas hiſtoriſch Untergegangenes. Götz kämpft mit einer zornigen Verſtimmung. Ihr Lachen, ihre rothen Backen, und — kein Zweifel, ſogar Sommerſproſſen ſind da — alles verletzt ihn. Iſt es denn möglich, daß in ſechs Monaten aus der vornehmen Comteſſe ein kleines Bürgermädchen geworden iſt? Die bitterſte Enttäuſchung aber, die er ſich nicht eingeſteht, iſt, daß ſein Edelmuth ſie nicht rührt, ſie nicht ergreift. Das iſt's, was er ihr nicht vergeben wird. Er fängt an, die Rolle die er ſpielt, lächerlich zu finden. Lis bereut ihr Lachen und will ihm die Hand reichen, als ſie zuſammenzuckt. Gottfried kommt über die Wieſe. Sie fühlt, wie ihr alles Blut in's Geſicht ſteigt. Er kommt ſelten zur Mühle. Warum gerade heut? 316 Ein unbeſchreibliches Unbehagen bemächtigt ſich ihrer. Ginge er doch vorüber! Sie fürchtet, Götz wird im nächſten Augenblick auflachen. Sie hat Gottfried in ihrem Herzen verleugnet. Gottfrieds Züge drücken Erſtaunen aus, als er einen Fremden neben Lis ſieht. Er zögert einen Augenblick, dann überwindet er die Scheu, die ihn zurückhalten will und tritt zu den Beiden heran. Lis wagt nicht, den Fürſten anzuſehen, als ſie ihm Gottfried Hinze, den Leiter der Erziehungsanſtalt, an der ſie unterrichtet, vorſtellt. Trotz ſeiner weltmänniſchen Sicherheit bleibt Götz einen Augenblick ſprachlos. Dann fragt er mit der ihm eigenen, anmuthsvollen Höflichkeit: „Sie gehören einen Prieſterorden an, den ich nicht kenne: „Durchaus nicht — oder doch, wenn Sie wollen — ja, einem Prieſterorden, aber ich habe mich ſelbſt ordinirt. Richter, Profeſſoren und Beamte tragen bei feierlichen Gelegenheiten eine Amtstracht, die im gewöhnlichen Leben lächerlich erſcheint. Nun wohl, das iſt meine Amtstracht, ich trage ſie immer, weil mein Amt immer feierlich iſt. Er ſagte das ganz einfach und natürlich, ohne Spur von Pathos. Götzes Züge drückten eine ſo naive Verwunderung aus, daß Lis unwillkürlich lächeln mußte. „Ich darf wohl annehmen,“ ſagte er, „da Sie Ihren Beruf ſo ſchön und feierlich auffaſſen, daß Sie die Elite der deutſchen Nation erziehen. „Ich denke, meine Zöglinge werden einſt zu 317 den Beſten der Nation gehören. Es ſind arme, ver⸗ wahrloſte Kinder von Verkommenen und von Verbrechern. Lis blickte unruhig auf Götz, der die Augenbrauen leicht zuſammenzog. Es iſt ein entſcheidender Augen⸗ blick für ſie, als die beiden Männer ſich gegenüber⸗ ſtehen: die ſchlanke, ariſtokratiſche Geſtalt Götzes mit dem feinen Kopf, in Haltung und Kleidung von vor⸗ nehmſter Eleganz, neben dem kleineren, etwas unter⸗ ſetzten Gottfried, dem das lange, vom Winde zerzauſte Haar über das unregelmäßig geſchnittene Geſicht fällt. „Es gehört viel Muth dazu,“ entgegnete Götz, „ſich mit den unſauberſten Elementen der Geſellſchaft einzulaſſen. Ich bewundere Mannesmuth, auf welchem Feld er ſich auch bethätigt. Doch ſcheint mir, zarte Frauenſeelen, vor allem meine Braut, ſollten dieſen Elementen fern bleiben.“ Bei dem Worte „Braut“ geht ein ſchmerzliches Staunen über Gottfrieds Züge. Er faßt ſich aber gleich wieder. Nur der Ton, in dem er weiter ſpricht, etwas leiſer als zuvor, zittert. „Unſaubere Elemente finden ſich in allen Schichten der Geſellſchaft, ſie variiren nur in der Form, ungefähr wie ſich der Schnapsrauſch von dem Champagnerrauſch unterſcheidet. Die Mutter eines meiner Mädchen iſt eine Dirne. Es giebt vollendete Cavaliere in der großen Welt, deren Väter Wüſtlinge waren. Ueberſetzen Sie den Wüſtling in's Weibliche, und Sie haben die Dirne. Der Sohn des Wüſtlings ſteht für den, der an ſittliche Vererbung glaubt, auf gleicher Stufe mit der Tochter der Dirne. 318 „Und Mord und Diebſtahl, kommen ſie auch in allen Schichten der Geſellſchaft vor?“ warf Götz zer⸗ ſtreut und lächelnd ein. „Gewiß, auch Mord und Diebſtahl. Alle die Selbſtmorde armer Mädchen, die vornehme Verführer veranlaſſen, ſind Morde, all die Verarmungen, die ſchwindelhafte Spekulanten herbeiführen, ſind Diebſtähle. Mörder und Diebe ſind alle diejenigen, die den Mandarin, um ſeine Schätze zu erlangen, tödten würden, wenn Gedanken tödten könnten. Sollte es wirklich in Ihrer Sphäre ſolche Mandarinentödter nicht gebenk Götz antwortete nicht, weil er alle Mühe hatte einen Heiterkeitsanfall zu unterdrücken. Er wunderte ſich auch über die Taktloſigkeit dieſes fremden Menſchen, der ihm ſeine Unterhaltung aufdrängte. Doch kam ihm die Unterbrechung ſeines Geſprächs mit Lis gerade recht. Während er den amüſanten Paradoxen dieſes Prieſters von eigenen Gnaden ein halbes Ohr lieh, dachte er immer daran, was er nachher Lis ſagen würde. Nach dem Mandarinen⸗Ausfall ſuchte er mit ihr einen Blick des Einverſtändniſſes über den drolligen Kauz auszu⸗ tauſchen. Aber ſie ſaß auf der Bank, die Hände ineinander gefaltet, in ſeeliſcher Spannung, als ob es ſich zwiſchen den Beiden um eine Lebensfrage für ſie handelte. Das⸗ ſelbe Wäſcheſtück, das vorhin Götz beläſtigte, flog jetzt Gottfried um den Kopf, und es erſchien Lis nicht im mindeſten lächerlich. Es war ſo einfach und natürlich, wie er ſich herauswickelte nnd lächelnd ſagte: „Wir laſſen uns den Mund nicht mit Leintüchern verſtopfen. 319 „Du biſt übrigens in Betreff der Kinder im Irrthum,“ wendete ſie ſich zu Götz, deſſen Blick und Lächeln ſie in Gottfrieds Seele hinein gekränkt hatte, „nie habe ich reinere und liebenswerthere Geſchöpfe geſehen.“ „Bis ihre urſprüngliche Inſtinkte wieder zum Durchbruch kommen.“ „Ich glaube nicht an angeborene Laſter,“ nahm Gottfried wieder das Wort, immer in derſelben milden, einfachen Art, „Ibſen und ſeine Nachfolger verherrlichen das alte zelotiſche Bibelwort von der Heimſuchung der Sünde der Väter an den Kindern. Ich halte es für eine immenſe Anmaßung unſerer Dichter, das, was die Wiſſenſchaft garnicht bewieſen hat, zu einem harten und grauſamen Dogma zu erheben, das der Nächſtenliebe in's Autlitz ſchlägt. Jene ſagen: Hinweg mit den Kindern der Kranken und Laſterhaften. Ich ſage: kommt her! Euch ſoll geholfen werden. Habt Ihr ſchlechtes Blut geerbt, Ihr braucht dieſe Erbſchaft nicht anzutreten. Eure Mutter, die Dirne, werdet Ihr bekämpfen mit der Keuſchheit, die ich Euch lehren werde; Euren Vater, den Trunken⸗ bold, mit Wiſſen, Intelligenz und dem Charakter, den die Erziehung Euch geben wird. Den Geiſt und Körper meiner Kinder will ich ſo ernähren, daß ſie ſtark werden wie Simſon, und wie er werden ſie eines Tages die Säulen ſtürzen, und die Philiſter unter ihrem goldenen Dache begraben. Er war aus ſeiner milden Ruhe herausgetreten. Zum erſten Male ſah Lis ihn ſo, die Augen leuchtend, die Lippen bebend, und ſie fand ihn ſchön und von 320 herrlicher Art neben dem unbedeutenden Götz, der, mit naiv erſtauntem Ausdruck, die Augen halb geſchloſſen, die Lippen leicht geöffnet, den Cylinder in der Hand, mit läſſiger Grazie ſeine allzu ſchlanke Geſtalt an einen Baum lehnte, als brauche er eine Stütze, damit er feſt ſtehc. Götz erſchien ihr als der Gattungsbegriff des Ariſtokraten, Gottfried — der Menſch ſelber. Gottfried hatte ſich zu Lis gewandt. „Ich kam hierher liebe Schweſter, um Dich zu bitten, mit mir zu einer Sterbenden zu gehen, die meine Hülfe angerufen, und die weiblichen Beiſtandes bedarf. Ich gehe nun ohne Dich.“ Götz hörte jetzt zum erſten Male, daß dieſer fremde Menſch Lis „Du“ nannte. Er konnte ſeine zornige Erregung nicht ganz bemeiſtern, und ſie klang aus ſeinen Worten als er ſagte: „Wenn Sie die Menſchheit erlöſen wollen, Herr Hinze, das Coſtüm wenigſtens haben Sie ſchon dazu. Die kleinliche Bosheit dieſer Worte, die Götz ſelbſt gleich darauf bereute, zerſtörte im Herzen Heloiſe's den letzten Reſt von Neigung für ihn. — „Ich ſehe Dich wieder,“ ſagte ſie leiſe zu Gottfried. Er machte eine abwehrende Bewegung mit dem Haupte. Er reichte ihr die Hand nicht zum Abſchiede; am Beben ſeiner Stimme erkannte ſie, wie ſchwer ihm der Abſchied wurde. Götz nagte unmuthig an ſeinem Bärtchen. Als Gottfried gegangen war, theilte er Lis mit, daß Irene ſich auf dem Wege zu ihr befände. Die Nachricht war 21 321 ihr willkommen. Irene ſollte Götz ſagen, was ſie ihm in's Geſicht zu ſagen nicht den Muth hatte. „Geh jetzt, Götz, laß mich nachdenken über das, was ich zu thun habe. Daß Du gekommen biſt, war ſchön von Dir. Ich vergeſſe es Dir nie. Er ging. Sie ſah ihm nach mit einem holden, klaren Bick, der ihn halb verſöhnte. Er wußte nicht, daß der Blick nicht ihm galt, er wußte nicht, daß ſie entſchloſſen war, ihn nicht wiederzuſehen. Sie bemerkte wie Götz vor einem Wagen, der ſchnell heranrollte, ſtehen blieb. Der Wagen hielt; er wechſelte mit jemand, der darin ſaß, einige Worte und ſetzte dann ſeinen Weg fort. Eine Dame ſprang aus dem Wagen, winkte Lis mit dem Taſchentuch, und lief quer über die Wieſen auf ſie zu. Es war Irene. Stürmiſch, athemlos fiel ſie Lis um den Hals. „O Du arme, arme Lis! Aber nein doch, Du glückliche Lis! Du Ueberglückliche! Was ſagſt Du? ein Feentraum — nicht? Laß ſehen wie Du ausſchauſt. Sie drehte Lis im Kreiſe umher, und empfand eine heimliche Genugthuung über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. — „Biſt ganz durchleuchtet vom Glück, Du liebe Durchlaucht. Es iſt rein um aus ſeiner proſaiſchen Haut zu fahren. Du haſt's nun erfahren „wer nie ſein Brot mit Thränen aß“ — aber nein, das paßt ja gar nicht hierher.“ „Hör' doch auf, Irene,“ lächelte Lis. Aber Irene hörte nicht auf. 322 „Natürlich kommſt Du gleich mit mir. Du wirſt wohl in Deinen Koffern noch irgend ein anſtändiges Fähnchen haben, wenn nicht, komm wie Du biſt; wir ſtaffiren Dich mit unſeren Kleidern heraus, Mama und ich. Uebrigens finden wir auch alles fix und fertig in Baden⸗Baden.“ Und wieder umarmte und küßte ſie ſtürmiſch die Braut des lieben Vetters Götz. Lis machte ſich ſanft von ihr los. „Laß mich nur endlich zu Worte kommen, Du gute, liebe Irene, es iſt ja alles ganz, ganz anders geworden, als Du denkſt. Ich werde niemals Fürſtin Gottersberg.“ „Ach nein,“ ſagte Irene, ſtarr vor Staunen. „Ich bleibe Liſe Chriſtoph. Ich liebe Götz nicht mehr, und Du ſollſt es ihm ſagen, Irene. Sie zog den Rubinring vom Finger. Im Begrif ihn Irene zu reichen, beſann ſie ſich anders. „Sage Götz, daß ich ſeinen Ring behalte. Ich will ihm damit ein Andenken in meinem Herzen ſtiften, das ſeiner und meiner würdig iſt. Der koſtbare Ring ſoll mir die Mittel verſchaffen, ein unglückliches kleines Geſchöpf mehr im Hauſe der Kinder aufzunehmen. Irene hielt ſich den Kopf mit beiden Händen. Es dauerte eine Weile, bis ſie ſich von ihrem Erſtaunen erholen konnte, und als ihr endlich kein Zweifel mehr blieb, daß Heloiſens Entſchluß unwiderruflich ſei, lief ſie einige Male auf der Wieſe hin und her, um ihrer Aufregung Herr zu werden. 323 21* „Und wenn nun dem armen Götz das Herz darüber bricht?“ ſagte ſie zu Lis zurückkehrend. „Er wird meinen Verluſt leicht tragen, ich habe ihn bitter enttäuſcht. Irene wußte nicht, ſollte ſie lachen oder weinen, ſich freuen oder betrübt ſein. Sie hatte gut, ja edel gehandelt, das war ein erhebendes Gefühl wie ſie noch keins ge⸗ kannt, und der Lohn folgte der That auf dem Fuße. Sie hatte die herzliche Sympathie des Mannes, den ſie liebte, gewonnen. Allmählich empfand ſie eine große innere Freude, die ſich bis zum Uebermuth ſteigerte. Sie beeilte ſich, Lis mitzutheilen, was Graf Albrecht ihr aufgetragen hatte. Lis antwortete nicht ohne Bitterkeit, daß ſie der verſpäteten Güte des Grafen nicht bedürfe. — „Und die Gräfin Ronald⸗Büren, wie geht es ihr?“ fragte ſie zögernd, leiſe. „Sie war monatelang ſchwer krank; jetzt hält ſie ſich irgendwo am Meere auf, in einem verwunſchenen Schloſſe, ohne Romantik thut ſie es nun einmal nicht. Sie hat eigentlich Gemüth, die liebe Tante, aber Gemüth wie ein Ofen, er muß alle ſechs Stunden von neuem geheizt werden.“ „Und was macht Adda?“ fragte Lis um das Geſpräch von Gräfin Stella abzulenken. „Adda? Die iſt ja auch in Baden⸗Baden, und Diotima auch, und Gräfin Holm und überhaupt tout Berlin. Und Adda, die hat einen Sücces! beſonders im Grünen, wenn ſie ſich in ihre Hängematte hingießt, 324 wirkt ſie in einem lichtſilbergrauen Kleide mit rothem Hut koloſſal maleriſch. Sie hatte ihren Arm unter Heloiſes Arm geſchoben und ging mit ihr auf und ab. —„Aber weißt Du, nach Baden⸗Baden mußt Du unter allen Umſtänden kommen, das reine Paradies; abwechſelnd ruhſt Du da am Buſen der Natur und im Schooße der großſtädtiſchſten Genüſſe. Zu gleicher Zeit kannſt Du Marcella Sembrich und die Nachtigallen flöten hören, — das heißt für die Nachtigallen iſt's jetzt zu ſpät im Jahre. Und Chauſſeen, ſo bequem und breit, daß Du mit den allerfranzöſiſchſten Abſätzen hinauf⸗ bummeln kannſt; und biſt Du oben, ſo haſt Du in den alten Ruinen, unter Schauern der Romantik, die ſchönſte Gänſehaut weg“ — ſie unterbrach ſich. „Herr Gott, ich ſpreche ja mit Dir, als wärſt Du wirklich ein naives Schwabenmädchen. Du kennſt ja Baden⸗Baden wie Deine Taſche. Aber die neuen marmornen Schwimmbaſſins kennſt Du doch nicht. Diotima im Schwimmbaſſin — glorios! Ihre poetiſchen Mittel reichen bis zu den Schwimmhoſen, die ſie ſich am Saume mit Lotosblumen hat ſticken laſſen. Und denke Dir, Aglaya Holm, die trifft man auf allen Spaziergängen mit einem Band Aeſchylos unter dem Arm, um von all' den anderen, die jetzt nur noch Naturaliſten leſen, abzuſtechen. Ueberhaupt, als ob es nicht ganz gleichgültig iſt, was ſo eine alte Frau lieſt. Lis hatte Irene mit keiner Silbe unterbrochen. Dieſe Sprache war ihr fremd geworden, und noch fremder die Denkweiſe, der ſie entſprang. 325 „Aber jetzt muß ich fort,“ ſagte Irene, „Mama erwartet mich zum Diner. Sie wird ganz untröſtlich ſein, daß ich Dich nicht gleich mitbringe. Aber Du kommſt morgen — nicht wahr? Dann mußt Du mir auch Alles erzählen, was mit Dir, aus⸗ und inwendig vorgegangen iſt. Auf Wiederſehen alſo Lis oder Liſe, Conſine bleibſt Du meinem Herzen — ſelbſt bis zum Waſchtrog,“ fügte ſie mit einem ſchelmiſch luſtigen Seiten⸗ blick auf die Waſchleine hinzu. Sie umarmte Lis noch einmal und hatte ſich ſchon einige Schritte entfernt, als ſie wieder umkehrte und ernſthaft, liebevoll und etwas ängſtlich Lis fragte, ob ſie auch ganz beſtimmt Götz nicht mehr liebe? Lis verneinte lächelnd, und heiteren Sinnes verließ Irene Liſe Chriſtoph, ihr noch aus der Ferne Kußfinger zuwerfend. Gottfried hatte ſich auf den Weg gemacht zu der ſterbenden alten Frau; ſie war ein verworfenes Geſchöpf geweſen, ſo lange ſie jung war, die Verworfenſte der ganzen Gegend. Eine tiefe Verſtimmung war über ihn gekommen. Lis verloren! verloren für ihn, für ſein Haus, für ſeine Kinder. Jetzt erſt wurde ihm klar, wie ſehr ſie ihm an's Herz gewachſen, wie er ſich mit all' ſeinen Vor⸗ ſtellungen von der Zukunft auf ſie eingerichtet hatte. Wie Lis findet er keine Zweite. Und Lis wird die Gattin jenes Mannes! Die Vorſtellung beleidigt ihn, und ein ſchmerzlicher Groll gegen Lis regt ihn auf, Groll und Unzufriedenheit auch darüber, daß er dieſem 326 Ereigniß machtlos gegenüber ſteht. So ſchnell konnte ſie das kaum Gewonnene aufgeben, ſo war alſo wurzellos Alles, was in ihr zu keimen und zu wachſen ſchien. Etwas Trübes, Sehnſüchtiges iſt in ihm. Verſenkt in Traurigkeit achtet er des Weges nicht, und geht mechaniſch weiter und weiter. Er ſchreitet einen Hügel hinan und gelangt in eine Allee von Edeltannen, ſie führt ihn zu einer Villa. Die niedrige Mauer, die den Garten umſchließt, iſt von wildem, rothen Wein un⸗ rankt; an einer Stelle neigen ſich die Zweige einer mächtigen Tranerweide über das rothe Weinlaub. In röthlicher Färbung hebt ſich die burgartig gebaute Villa vom Horizonte ab. Berg und Wald ſind in der „herne in leichten, bläulichen Dunſt gehüllt. Die Bäume in der Nähe ſchimmern in goldgelbem Herbſtlaub. Ueber der Villa ſteht die Mondſichel. Die Landſchaft iſt in den zarten Nebel traumhaft eingeſponnen. Gedämpftes Glockenläuten tönt aus dem Dorfe herauf. Die ganze Scenerie erſcheint ihm bekannt, er findet ſich aber nicht gleich zurecht, endlich erkennt er die Villa: Dame Pia's Haus. Sonderbar, wie er hierher kam! Er ſetzt ſich auf eine Bank der Villa gegenüber und denkt Heloiſes, und daß er nie mehr in ihre klaren, reinen Augen ſchauen wird. Mit einem Male ſind es Pia's Augen. Es iſt, als wäre Lis gegangen und hätte Pia Platz gemacht. „Sie können es nicht wiſſen, ob ich gut oder ſchlecht bin,“ hatte ſie einmal zu ihm geſagt, „ich aber weiß, daß ich gut bin!“ Wenn ſie recht hätte und nur ein dunkles Geſchick ihr Laſterleben verſchuldete? Selbſt 327 von der ſchwerſten Krankheit kann einer geneſen, wenn die Natur gut iſt, und der rechte Arzt kommt. Wieder fällt ihm ihr Bild von der Bajadere und dem Gott ein. Er ſinnt lange über ihr Weſen. Wie, wenn er ſie aufforderte, mit ihm zu der Sterbenden zu gehen, die ihresgleichen geweſen, wenn auch in anderer Sphäre, und die nun ſo elend ſtirbt. Es wäre nicht das erſte Mal, daß eine ſtarke, ſeeliſche Erſchütterung ein ver⸗ lorenes Geſchöpf zur Buße gerufen hätte. Wenn ſie nur die Augen nicht hätte! Eine Magd öffnet eine kleine Mauerpforte des Gartens und geht durch die Allee abwärts. Die Pforte bleibt geöffnet. Allmählich verdämmern die Berge in duftige, nebelhafte Silhouetten. Er verſinkt in vage Träumerei. Die Klänge eines Flügels erwecken ihn. Es ſpielt Jemand drinnen im Hauſe. Es iſt alſo Jemand bei ihr; wer, daran will er nicht denken. Der Wider⸗ wille gegen die Laſterhafte gewinnt die Oberhand. Er will fort. Die Töne bannen ihn, es iſt eine ſeltſam ergreifende Muſik, ein Taſten, ein Suchen und Hinſchmelzen, ein mächtiges Anſchwellen und klagendes Verhallen. Er muß dieſe Muſik ſchon gehört haben; unwillkürlich er⸗ hebt er ſich, und im Sinnen geht er langſam dem Hauſe zu, er tritt durch die Mauerpforte in den Garten, er ſteigt die wenigen Stufen zu einer Terraſſe empor. Er ſieht durch die offene Thür der Terraſſe in's Zimmer. Pia iſt allein. Sie iſt es ſelbſt, die ſpielt. Er lauſcht geſpannt. Plötzlich wendet ſie ſich um. Sie ſieht ihn. Ohne das Spiel zu unterbrechen, bedeutet 328 ſie ihn mit einer Bewegung des Kopfes, einzutreten. Er will zurück, und im nächſten Augenblick ſteht er in dem phantaſtiſchen Gemach. Der Flügel befindet ſich in dem Erker, der damals durch einen Vorhang ab⸗ geſchloſſen war. Sie hört auf zu ſpielen, ihre Hände bleiben auf den Taſten ruhen. Er fordert ſie mit ſtockender Stimme auf, ihn zu jener Sterbenden zu begleiten. Sie kennt das Weib und weiß, wie es gelebt. Sie erräth ſeine Abſicht, und ſchüttelt mit dem Kopfe. Sie ſpielt weiter. — „Von wem iſt dieſe wunderbare Muſik?“ fragt er nach einer Weile, „ich kenne ſie und kann mich nicht beſinnen, woher.“ — „Es ſind ja nur Variationen über unſere Aeolsharfen.“ „Sie ſind Komponiſtin, Pia?“ fragt er über⸗ raſcht. Sie erröthet. Er ſieht ſie zum erſten Mal roth werden, es berührt ihn eigenthümlich. „Ich bin verrathen, Sie haben mich belauſcht, ſagen Sie es nicht weiter, Niemand weiß von meiner Muſikpaſſion.“ „Warum halten Sie es geheim? „Meine Muſik, das bin ich ſelbſt, das iſt meine Seele, das iſt, was unſterblich von mir iſt; ich ent⸗ ſchleiere mich nicht gern dem erſten, beſten. „Sie haben ein großes Talent. „Hat Ihnen das wirklich einen Eindruck ge⸗ macht, was ich da ſpielte? Die fade Imitation der 329 Aeolsharfe, dieſer Katzenjammer der Cherubine: Das, Muſik? Nichts als ein Nervenplaiſir. Die Muſik, die ich denke, die ich ſuche, ſie iſt anderer Art, es ſind die Thränen der Cherubine am Grabe Chriſti, es iſt ſein Jammer am Kreuze, es iſt das Jauchzen der Auf⸗ erſtehung, — es iſt — Halleluja oder Miſerere. pfinden, warum ſind Ihre Reden ſo wild und — „Pia, wenn Sie im Stande ſind, ſo zu en⸗ „Meine Reden!“ ſagte ſie, geringſchätzig und träumeriſch vor ſich hinſtarrend, „wenn ich Tiefes, Großes empfinde, was ſind da Worte? Nebel, die über eine Glorie ziehen, unwillkürlich ſteigen Töne aus meiner Bruſt, purpurne — Muſik! Sie ſteigen empor die Töne wie auf einer Himmelsleiter — höher — höher — ſie ſuchen Unendliches — Ewiges — da brechen jäh die Sproſſen ab, ich ſchwebe, ſchwebe zwiſchen Himmel und Erde — — ach ich komme nicht über die Acolsharfen hinaus. „Weil auch die Kunſt nur der Ausdruck der Weltanſchauung des Künſtlers ſein kann. Wie im Leben ſo bleiben Sie auch in der Kunſt nur im Sinnlichen ſtecken.“ „Ja, thue ich das? Sie haben vielleicht Recht. Fände ich die rechte Liebe, ich fände wohl auch die rechte Muſik.“ Sie ſtand jetzt in der Mitte des Zimmers und ſah ihm gerade in die Augen. „Seheraugen haſt Du,“ ſagte ſie, „ſonnenklare, und doch tiefen Geheimniſſes voll; ſie erinnern an eine Paſſionsblume, die Marterwerkzeuge ſind darin. Ein 330 magiſches Licht geht von ihnen aus. O bleib“! rühr Dich nicht!“ Sie ging rückwärts, langſam dem Flügel zu und ließ den Blick nicht von ihm. Sie begann zu ſpielen und ſah ihn immer noch an. Die glaſigen Augen der Eule funkelten im Scheine der untergehenden Sonne. Die Blätter der Palme bewegten ſich leiſe im Wind⸗ hauch. Der Himmel erglänzte vom zarteſten Seegrün und ſilbernſten Blau bis zum purpurnen Feuer. Blau⸗ ſchwarzes, finſterglühendes Gewölk am Rande des Horizontes war durchſchoſſen von rothen, orangefarbenen, goldenen, violetten Lichtern, Farben, die wie in ſchönem Wahnſinn durcheinander ſprühten. Im Zenith aber ſchwebte in klarem Aether, erhaben über all' der glühend dämoniſchen Wildheit, der Mond. Was Pia ſpielte, es war kein Miſerere, kein Halle⸗ luja, es waren wieder die Aeolsharfen, aber nicht Harfen, die ein Zephyr bewegt; der Sturm raſte in den Saiten, die Seufzer wurden zu einem wilden, heißen Lockruf. Champagner und Gift, Selbſtmord und Ver⸗ zückung waren in dieſer Muſik. Sie drang ihm in's Ohr, ſie drang ihm in die Bruſt, ſie raſte in ſeinem Blut. Er kam näher — näher — er ſtand neben ihr. Sie umſchlang ihn mit einem Arme, mit der andern Hand ſpielte ſie weiter. Die Töne wurden zu zärtlichen, perlenden Thränen, zu leiſem Flehen, zu einem in⸗ brünſtigen Hauch. Die Tubaroſe an ihrer Bruſt be⸗ täubte ihn. Ein leidenſchaftlicher, ſchimmernder Traum umfing ihn. Ihre Hand ſank von den Taſten. Ihre beiden 331 Arme legten ſich langſam um ſeinen Hals. Sie zog ihn an ſich, in ſich, mit den übermenſchlichen Augen, ihre Lippen flüſterten: „Sieh', die ganze Natur iſt ein Brautgemach, jeder Luftzug eine Liebkoſung. In uns glüht die Sonne, zittert der Mond. Willſt Du die Natur verleugnen, Du Liebſter? Sieh, das hohe Lied der Farbe am Himmel — das hohe Lied der Liebe in unſerer Bruſt. Du biſt mein — mein! Sein Herz brannte. Lis, die Kinder, Alles, was er je Reines und Hohes gedacht, gefühlt, es verſank in dunkle Fernen. Was er jetzt empfand, dieſe taumelnde Seligkeit, dieſes flammentrunkene Sehnen, das war die Quinteſſenz alles Lebens, das einzig Wahre, alles andere — nichts — nichts. Das Univerſum ſpiegelte ſich in den Augen dieſes Weibes, und als ihre Lippen ſich jetzt auf die ſeinigen preßten, durchbebte es ihn wie die flammende Botſchaft der Allliebe. Das Abendſonnengold ſchimmerte über ſein Antlitz; ſein röthliches Haar glänzte auf wie in einer Glorie. In ſeinen Augen war etwas Sterbendes, der Ausdruck eines Erzengels, der hinabgeſtoßen wird aus dem Himmel in die Hölle — tödtliche Verzückung. Als Pia in dies Antlitz ſchaut, kommt ein uner⸗ meßlich zärtliches Mitleid über ſie. Ein Augenblick des Vergeſſens hat ihr Schickſal beſtimmt, ein Augenblick der Leidenſchaft wird dieſes edle Geſchöpf für immer zerſtören. Langſam, zögernd, zitternd löſt ſie ihre Arme von 502 ſeinem Halſe, auf ſeine brennenden Lippen legt ſie ihre weiße Hand. „Weil ich Dich liebe, Jüngling, — geh! Sie tritt an den Flügel zurück und ſpielt. Wie einem Sonnambulen, der lant angerufen, plötzlich in jähen Schreck die Augen öffnet, und aits einer Höhe hinabſtürzt, ſo iſt ihm. Cr bleibt eine Weile wie angewurzelt ſtehen, er hat nicht den Muth ſich vorwärts zu bewegen, als wären ſeine Glieder gebrochen. Pia ſpielt und ſpielt und ſieht nicht mehr zu ihm hinüber. Endlich ermannt er ſich. Langſam ſchleppt er ſich der Terraſſe zu; mechaniſch, mit ſchweren Schritten geht er von da weiter, durch den Garten, durch die Allec von Edeltannen, ſeinem Hauſe zu. Erſt als er vor ſeiner Thür ſteht, kommt er zum Bewußtſein deſſen, was geſchehen iſt. Lähmendes Entſetzen befällt ihn. Er wagt nicht einzutreten. Die Kinder, ſie ſchlafen noch nicht, es könnte eins mit ihm ſprechen wollen. Er geht vor dem Hauſe auf und ab, ſtundenlang. Die Sterbende fällt ihm ein. Er macht ſich auf den Weg dahin. Als er nahe der Hütte iſt, ſieht er Pia aus der Thür treten. Er flieht in wilder Scham. Er, er wollte der Gott ſein dieſer Bajadere, und nun — die Bajadere, ſie hat ihn, den Gott, in jähem Sturze auf⸗ gehalten. Seine Tugend lebt von der Gnade der Buhlerin. Lebt? — nein, ſie lebt nicht, ſie iſt todt, unwiderbringlich! unwiderbringlich. Gebrochen, todtmüde ſchleicht er endlich in ſein Haus, er ſchleicht an den Betten der Kinder vorbei, in 333 ſeine Kammer. Er wirft keinen Blick auf die Kleinen, die er betrogen. Er ſchläft in der Nacht nicht. In aller Frühe verläßt er das Haus und ſteigt in die Berge. Fort und fort hatte Pia geſpielt als Gottfried von ihr gegangen war. Klingende quellende Harmonien entlockte ſie den Taſten. Allmählich wurden die Töne leiſer und verhallten wehmüthig. Sie hört auf zu ſpielen. Sie verſinkt in Gedanken. Gottfried! wäre ſie ihm früher begegnet, wie anders hätte ſich ihr Leben geſtaltet, ganz anders. Beſſer? reiner? Sie wirft ſtolz den Kopf empor. Iſt denn ihr Leben ein ſchlechtes, unreines geweſen? Hatte ihre Vernunft es nicht gut geheißen? und die Natur ſelber? Und doch — ſeltſam. Sonſt nach Momenten leidenſchaftlicher Hingabe hat ſie oft eine kalte Leere empfunden, eine Gleichgültigkeit gegen den Geliebten, eine Art Abneigung gegen die eigene Perſon, und ein Verlangen auszulöſchen was eben war durch Beſſeres, Edleres. Und nun — — ſie hat ihr ſüß wildes Verlangen bezwungen, und eine ſtarke Freudigkeit iſt in ihr, ein Gefühl, das wie ein friſcher Luftſtrom ihre Bruſt ſchwellt. So kann Entſagen mehr beglücken als die Er⸗ füllung der Leidenſchaft? Und warum hat ſie gerade auf dieſen Jüngling, den ſie mehr geliebt als irgend einen Anderen, verzichtet: 334 Bedurfte es blos der Berührung mit einem reinem Menſchen, um ihren Sinn zu wandeln? Wie — wenn nun ihr ganzes Leben ein ſchwerer Irrthum geweſen wäre, wenn Gottfried recht hätte, wenn — Eine grenzenloſe Verwirrung bemächtigt ſich ihrer, die allmählich in Schwermuth übergeht. Sie tritt auf die Terraſſe hinaus. Der Mond ſcheint hell über die Landſchaft. Die Lichter aus den Hütten des Dorfes blinken wie goldene Augen durch den ſilbernen Nebel. Die Berge zeichnen ſich durch den zartblaſſen Dunſt in viſionären Silhouetten ab. Ein breiter weißer Nebelſtreif am Fuße der Berge gleicht einem Zuge von Elfen, der ſchimmernd, lautlos dahingleitet. Hier und da funkelt ein Dach aus dem Nebel auf. Dunkel und hoch aber ragt der Kirchthurm empor, ſonſt Alles zerfließend in Silberglanz. Als ein Mondſtrahl jetzt auf das Dach einer verfallenen Hütte am Eingange des Dorfes fällt, erinnert ſie ſich der ſterbenden Frau, zu der Gottfried mit ihr gehen wollte. In jener Hütte wohnt ſie. Noch zittert in ihrem Herzen das große, zärtliche Mitleid, das er erregt hat. Ja, ſie will hin zu dieſer Sterbenden, ihr Troſt bringen, die ſo hart gebüßt hat. Pia kannte das Weib von Anſehen. Es war ein gemeines Geſchöpf mit plumpen Zügen und rothgedunſenem Geſicht, in Lumpen gehüllt, das ſich von Abhub nährte. Es würde mit einer rohen Läſterung auf den Lippen ſterben. Im hellen Mondſchein gelangte ſie bald in die Hütte. In den unteren halb zerfallenen Räumen befand 335 ſich niemand. Sie wäre umgekehrt, wenn nicht das Winſeln eines Hundes ihr den Weg gezeigt hätte. Sie ſtieg eine ſchmale, morſche Treppe empor. Es war eine elende Kammer unter dem Dache, in die ſie trat. Kalk war von den Wänden gefallen. Armſeliges Gerümpel ſtand umher. Auf Stroh unter einer zer⸗ lumpten Decke lag ein altes Weib. Ein Hund kauerte auf dem Bette und winſelte zur offenen Dachluke hinaus. Durch die Luke ſchien der Mond hell auf das Geſicht — einer Todten. Ihre langen knöchernen Finger hingen von der Bettſtelle herab. Plumpe Holzſchuhe ſtanden vor dem Bette. Kein Zug von Gemeinheit war in dem ſchneebleichen Geſicht; alles, was das Laſter in dieſe Züge hineingeſchrieben, war ausgelöſcht. Die Urſchrift Gottes ſtand auf der hohen Stirn. Der Wind ſpielte mit dem langen weißen Haar der Todten. Ueber dem Fußende des Bettes hing ein Crucifix. Die ſtarren offenen Augen in dem fahlen Antlitz waren dem Crucifix zugekehrt. Nein, dieſe Lippen hatten ſich nicht mit einer Läſterung geſchloſſen. An das Kreuz hatte ſich ihr letzter Blick ge⸗ klammert. Und an das Kreuz klammerten⸗ſich auch Pia's Augen. Keine Furcht, kein Grauen empfand ſie. Alles Kleine, alles Unwerthe, ihr eigenes Leben, ja alles Leben überhaupt ſchwand dahin vor dem feierlichen Bilde dieſer zwei Todten, und die rothen Thränen aus den Wunden⸗ malen des Gekreuzigten fühlte ſie auf ihr Herz fallen. Ein tiefes Erſchauern ging durch ihr Inneres. Was ſie empfand war ein Widerruf all ihrer blühenden Sinnen⸗ 336 luſt, eine ſublime Zerknirſchung, eine vom Mondlicht durchrieſelte fromme Extaſe. Und plötzlich ſah ſie die Sproſſen der Himmelsleiter, die abgebrochenen: ſie ſtiegen empor aus ſchimmernden Nebel, aufwärts, höher — höher. Sie ſank zu Boden und in heiliger Inbrunſt empfing ihre Seele ein ſchmerzenstrunkenes Requiem: die Thränen der Cherubine am Grabe Chriſti. Lis war am Morgen nach dem Wiederſehen mit dem Fürſten früher als ſonſt aufgebrochen, um ſich in das Haus der Kinder zu begeben. Noch einmal wollte ſie den Entſchluß, den ſie gefaßt hat, prüfend überdenken. Sie macht den Umweg über einen Hügel, einen Lieb⸗ lingsplatz Gottfrieds, wo ſie oft mit ihm über die höchſten Fragen der Menſchheit geſprochen. Frei und freudig iſt ihr zu Sinn, und doch wehmüthig. Die Losſagung von dem, was uns einſt lieb war, ſelbſt wenn ſie eine innere Nothwendigkeit geworden iſt, rührt und bewegt das Gemüth zur Trauer. In ihren Augen iſt ein warmer, klarer Glanz. Unter Gottfrieds Dach will ſie nicht wohnen. Sie glaubt nicht das Recht zu haben, mit der Sitte zu brechen. Sie will ihm aber ihr Leben weihen. Sein Wirken ſoll das ihre ſein. Es iſt ein herrlicher Morgen. Sie gelangt auf die Höhe. Seitwärts von der grünen Matte des Hügels zieht ſich der Wald hinab bis an einen kleinen See, jenſeits des Sees wieder grüne Matten. Im Morgenlicht erſcheint das Waſſer bläulich und klar, 22 337 das Grün der Wieſen von ſmaragdener Friſche. Reinſte, friſcheſte Herbſtluft bewegt das Laub der Bäume. Alles rauſcht, blitzt, leuchtet im Morgenſchein und ſtrömt ſonniges, kräftiges Behagen aus. Als ſie auf der Höhe des Berges iſt, ſieht ſie jemand am Boden kauern. Sie tritt nah heran und erkennt Gottfried. Er hat das Apoſtelgewand abgelegt und trägt gewöhnliche halb ländliche Kleidung. Das Geſicht hält er in den Händen vergraben. Sie ruft ihn an: — „Gottfried.“ Er ſtarrt empor. Tief erſchrocken eilt ſie an ſeine Seite. Seine Augen ſind wie von Thränen getränkt, der Jammer einer Welt ſpiegelt ſich darin. —. „Mein Gott, was iſt Dir, Gottfried: Er hat das Geſicht wieder mit den Händen bedeckt. — „Du hier?“ ſagt er tonlos, „Du — die Braut des Fürſten: „Ich bin nicht die Braut des Fürſten, ich werde niemals ſeine Gattin. Dir weihe ich mich und Deinem Werk — allezeit.“ Seine Hände ſinken herab. Der dumpfe, ſtumme Schmerz in ſeinen Zügen weicht einem verzweiflungs⸗ vollen Ausdruck. „O, Lis, Lis. Hätte ich es geſtern gewußt, es wäre nicht geſchehen, das Entſetzliche, das Unwiderruf⸗ liche, das — was — —“ Thränen laufen ihm über die Wangen, und er weint — weint — wie er noch nie in ſeinem Leben 338 geweint. Sie muß mitweinen in überquellendem Gefühl. Sie ſetzt ſich neben ihn und legt ihre Hand leiſe auf die ſeinige. Als er ſie weinen ſieht, ſucht er ſich zu faſſen. „Frage nicht, Lis,“ antwortet er auf die liebevoll dringende Frage, die er in ihren Augen lieſt, „ich kann es Dir nicht ſagen, Du würdeſt es gar nicht verſtehen, Du Reine. Ich habe mich ſchwer vergangen.“ „„So milde biſt Du immer gegen andere, und ſo hart gegen Dich: Er ſchüttelte den Kopf. „Ich habe in einem Größenwahn der Tugend gelebt, Lis. Weiß ich denn, ob nicht alles, was ich Dir geſagt habe, Lüge geweſen iſt, Lüge bis auf das Gewand, das ich trug, und das ich nie wieder anlegen werde. Der Prieſter, der ſich ſelbſt ordinirt hatte, mußte ſich auch ſelber das Ornat vom Leibe reißen, das er entweiht hat. Irgendwo in meiner Seele lebt das Böſe. Es kann wiederkommen. Er ſprang auf und ſagte abgewandten Geſichts: — „Pia hat mich vor tiefſtem Fall bewahrt, ſie mich!“ Inſtinktiv begriff Lis, was geſchehen war. — „O Lis, Du biſt tauſendmal beſſer als ich. Ich war im Licht und bin in's Dunkle gegangen, Du haſt Dich aus dem Dunkel zum Licht gefunden. „An Deiner Hand, Gottfried.“ „Werde die Gattin des Fürſten, Lis, Du thuſt beſſer. An meiner Seite iſt Dein Platz nicht. Verbergen möchte ich mich vor Dir, vor den Kindern. Ich habe 22* 339 mich ſelbſt verloren! Geh' — geh' Lis und nie darfſt Du wiederkommen. Er war wieder in ſich zuſammengeſunken. Sie rief ihn an mit ſtarker Stimme. „Gottfried!⸗ Er ſtarrte empor und richtete ſich unwillkürlich auf. —„Ja, Gottfried, Du leideſt an einem Größen⸗ wahn der Tugend. Weil Du keinen Flecken an Dir ertragen kannſt, wirfſt Du Dich fort, verläßt Dein Werk. Willſt Du eine Schuld durch die andere löſchen? Und wenn Du noch ſo ſchwer gefehlt, haſt Du nichts in die andere Wagſchale zu legen? nicht mich? Was wäre ich ohne Dich? Und jene Andere, von der Du ſagſt, daß ſie Dich vor tiefſtem Falle bewahrt hat, warum that ſie es? Haſt Du nicht auch in ihr etwas geweckt, das gut iſt? Demüthigt es Dich ſo tief, daß Du, der Tugendreiche, von der Armen eine Wohlthat empfangen haſt? Das iſt Hochmuth. Einer hilft dem Andern, Du haſt mir geholfen, o laſſ', daß ich jetzt Dir helfe, Du liebſter Bruder. — „Du kannſt es nicht. Du kannſt auch nicht mehr meine Gehülfin ſein, Lis. Ein Tropfen Gift iſt in mein Blut gedrungen, es kann fortwirken — alles iſt anders ſeitdem — alles! Er war auf die Knie geſunken. Sie beugte ſich nieder zu ihm und küßte ihn auf die Stirn. „Ich liebe Dich, Gottfried., Zitternd ſprang er auf. Scham und Entzücken kämpfte in ſeinen Zügen. Seine Hand umſchloß feſt die ihre. 340 „Zu den Kindern, Gottfried! Komm! Sie ließ ſeine Hand nicht los, und langſam ſtiegen ſie den Hügel herunter. Im Schooß der Berge war ein Weben und Wallen, ein ſchmeichelndes Haſchen leichter Wolken. In zart⸗ buntem Spiel ſpielten luſtige Regenbogen hindurch. Auf der Spitze des höchſten Berges aber lag blendender Schnee, darüber ein Stück tiefblauen Himmels. Ueber dem reinſten Weiß das reinſte Blau, unirdiſch klar, unnahbar hoch, von lauteſter Schönheit. Gottfried ſah abwechſelnd hinauf und in das Antlitz Heloiſens; den Abglanz jener lauteren Schönheit fand er in ihren Zügen. Leiſe und gedämpft, wie zu ſich ſelber ſprechend, ſagte er: „Ich wollte die Liebe zum Weibe ausſchließen, ich glaubte durch eine Ehe den Adel meines Wirkens zu trüben. That ich unrecht, Lis! Sie erröthete tief. Sie ließ ſeine Hand los und wandte das Geſicht um. Gleich darauf aber blickte ſie wieder zu ihm auf und ſagte ganz leiſe: — „Ich weiß es nicht, Gottfried. Sie waren an eine abſchüſſige Stelle gelangt. Lis, die auf den Weg nicht geachtet hatte, ſtrauchelte, und ehe er es verhindern konnte, ſtürzte ſie hinab, dem Waſſer zu. Wenige Schritte vom See ergriff er ſie. Lange, lange hielt er ſie in ſeinen Armen. Er konnte ſich nicht. entſchließen, ſie freizugeben. Dieſe eine Minute der Todesangſt, die er um ſie gelitten, hatte in ſeinem 341 Herzen, in ſeinem Denken erlöſende Klarheit geſchaffen. Selbſt ſein Schuldbewußtſein ſchwand in dieſer mächtigen Erſchütterung dahin, wie ſchwüle Luft im Sturme. Sie hatte ſich nur ein wenig am Fuße verletzt. An ſeine Schulter gelehnt, ihre Hand in der ſeinen, ſo führte er ſie ſorgſam weiter. Eines fühlte ſich in der Hut des Anderen. Beide feſt miteinander verbunden für's Leben. Als ſie vor ſein Haus kamen, ſagte er klar und feſt: „Ja Lis, ich that unrecht, als ich die Liebe zum Weibe ausſchließen wollte, da die Natur ſelbſt ſie doch gewollt. Von der Art des Weibes hängt es ab, ob ſie, ein Stern, uns emporführt oder uns hinabzieht. Du, mein Stern, mein holdes und geliebtes Mädchen, tritt in Dein Haus. Pia hatte wochenlang ihr Haus und ihren Garten nicht verlaſſen. Bis zur Erſchöpfung arbeitete ſie an ihrer Kompoſition. Sie hatte der Kirche eine Orgel geſchenkt, unter der Bedingung, daß man ſie mit ihrem Requiem einweihe. Sie war zu dieſem Zweck mit dem Geiſtlichen in Verkehr getreten, der erſt dann ihr Geſchenk und die Bedingungen deſſelben annahm, als er die Ueberzeugung gewann, daß Pia auf dem Weg zur Buße ſei. Die Kirche des Dorfes lag etwas abſeits rom Orte, auf einer Anhöhe, und war mit einem Kloſter verbunden. Oben im Chor, hinter einem Gitter, ſangen bei feierlichen Veranlaſſungen die Nonnen. Und dieſe Nonnen ſollten auch Pia's Requiem ſingen. 342 Am Tage der Aufführung war der Himmel be⸗ wölkt. Als Pia durch das Dorf ſchritt, rieſelte ein feiner Regen nieder. Ein dürftiger Leichenzug zog trüb⸗ ſelig durch die Dorfſtraße. Wo er vorüber kam, traten Leute aus den Hütten und beteten ſtill. Schmutziges herbſtliches Laub hing verdroſſen von den Bäumen. Die Leidtragenden, vom Koth der Straße beſchmutzt, hatten ihre großen, bunten Regenſchirme aufgeſpannt und ſahen aus, als dächten ſie, daß es kein großes Unglück wäre, ſich bei ſo trübſeliger Zeit begraben zu laſſen. Als Pia unwillkürlich einige Schritte hinter dem Leichenwagen herging, wandte ſich einer der Leidtragenden um und rief ihr grob zu: „Bei Seite! Still, geſenkten Kopfes ging ſie weiter. Am Ende des Dorfes kam ſie an einem jungen Mädchen vorbei, das auf naſſem Boden vor einem Marienbilde kniete. Als ſie Pias anſichtig wurde, nahm ſie haſtig ihre naſſen, ärmlichen Kleider zuſammen, damit Pias Gewand ſie nicht ſtreife. Ja, ſie war eine Ausgeſtoßene. Wie hatte Gottfried geſagt? „Wer zu ſeinem Privatgenuß die Schranken der Sitte niederreißt, iſt wie einer, der in Hungersnoth ſich heimlich mit Brot verſorgt, während die anderen darben. Mithungern, es nicht beſſer haben wollen, wäre das Rechte geweſen? Sie ſchritt ſchneller aus. Es drängte ſie hinaus aus dieſer trüben, dumpfen Luft, die all⸗ mählich ihr ganzes Innere erfüllte. Der Regen hatte aufgehört, als ſie auf das hügeliche Terrain gelangte, auf dem Kirche und Kloſter ſtanden. 343 Bleichgrau war jetzt der Himmel; bleichgraue Wolken zogen darüber! von fahlem, blaſſem Grün war das Gras der Wieſen, dazwiſchen ſtand hier und da ein grau⸗ ſchimmernder Weidenbaum. Die fahlgrünen Hügel liefen wellenförmig ineinander. Ein ſchmaler Bach von hohem Schilf verſteckt, floß ſacht dahin. Einen ſtillen Frieden, etwas wie Meeresſtille athmete der Ort. Pia trug Scheu, in die Kirche zu treten. Sie ſetzte ſich auf eine Bank vor der Kirchthür und wartete. Sie verſank in Schwermuth, ſie hatte ſtarke Lungen gehabt und viel Luft gebraucht, freie Luft, um zu athmen; da⸗ rum war ſie der dumpfen, engen Atmosphäre der Ge⸗ ſellſchaft entflohen, darum war ſie aus der Gemeinſchaft der Anderen, die ſie der Luft beraubten, getreten. Und nun? „Bei Seite!“ Es klang ihr in den Ohren, es klang ihr im Herzen wieder. Bei Seite, wo man betet, bei Seite, wo einer begraben wird! Und ſie würde es wieder hören, immer, überall: „Bei Seite.“ So war die Iſolirung, die Verachtung der Nebenmenſchen auch eine Schranke, eine unüberſteigliche! auch etwas, das Luft und Athem raubt? Die erſten Töne ihres Requiems erklingen. Sie ſchließt die Augen, ſie hört mit der Seele. Ihre fieberhafte Aufregung geht allmählich in ſtaunende Verzückung über. Das iſt ihre Muſik! ihre! — Das iſt ſie ſelbſt! Ein ſeliger Schauer rieſelt ihr durch die Glieder, Thränen himmliſcher Wolluſt treten ihr in die Augen. Noch immer war in dieſer Muſik etwas von den Aeolsharfen, aber der Hauch Gottes bewegte ſie. Die Töne ſtiegen empor wie Duft aus Lilienkelchen, dann wurden ſie ſtark, flammend, ein Liebestrank Gottes, 344 des Univerſums, eine tönende Gluth, eine myſtiſche Wolluſt, etwas vom heiligen Gral war darin. Dieſes Requiem war: Gott und die Bajaderc. Die Töne wurden zu himmliſchen Vampyren, die ihr alles irdiſche Denken und Fühlen aus der Bruſt ſogen. Sie hatte ſich ſelbſt er⸗ löſt. Das eine höhere Ich in ihr das andere vom Staub der Erde verſchüttete. Sie kniet am Boden, die Augen voll inbrunſtiger Thränen dem Himmel zugewandt. Der Geiſtliche tritt aus der Kirche. Sie erhebt die Hand und wveiſt zum Kloſter: „Dahin, Ehrwürden, für immer. Ich will Buße thun.“ Die Kloſterpforten ſchließen ſich hinter ihr. Als Büßende tritt ſie wieder in eine Gemeinſchaft. Sie wird eine glaubenseifrige Nonne. Sie componirt Choräle voll frommer Gluth. Sie wird gewiſſermaßen zur Lieb⸗ haberin Gottes und genießt die Buße, wie früher die Liebe, in heißer, blühender Andacht, von Weihrauch umduftet, inmitten blinkender Gefäße und blutiger Kreuze, ſchimmernden Marmors, düſterer Kerzen und Draperieen von Scharlach, Hellenin zugleich und Aſcetin. Und in der Buße findet ſie „Plein air Stella lebte in ſtiller Abgeſchiedenheit auf ihrem einſamen Dünenſchloß. Clemens war ihr dahin ſchon in den erſten Tagen gefolgt. Beide waren fortan unzer⸗ trennlich. Sie gehörten zuſammen wie der Himmel und das Meer, in dem ſich der Himmel ſpiegelte. Sie hatte ihm alles geſagt. Er weinte darüber, daß er es nicht früher gewußt und daß er ihr nicht hatte helfen können. Sie wollten zuſammen ſuchen, wie 345 ſich der Reſt ihres Lebens würdig geſtalten ließe. Einige Zeit arbeitete Stella an dieſer Aufgabe mit redlichem Bemühen. Sie richtete ein Hospiz für kranke Kinder ein. Wo Noth und Elend ſich zeigten war ſie zur Stelle. Es blieb ein mechaniſches Wirken. Der Nerv ihrer Thatkraft war gelähmt. Der Schlag, der ſie zu Boden geſtreckt, war zu furchtbar geweſen, ſie konnte ſich nicht wieder aufrichten. Sie überließ Clemens die Fort⸗ führung ihres Werkes und zog ſich ganz in die Einſamkeit zurück. Am Meeresſtraud aber ſah man ſie zu allen Tageszeiten, am häufigſten nach Sonnenuntergang oder beim Anbruch der Nacht; meiſt mit Elemens, zu⸗ weilen allein. Sie rang nach Frieden, nach der ſtillen Reſignation, die das Leben ſanft verrinnen läßt, ohne daß unſer Wille ſich einmiſcht. Immer wieder aber überwältigte ſie das große entſetzliche Staunen darüber, daß ihr Leben nun zu Ende ſei, ohne daß ſie gelebt hatte. Sie ſelbſt war in dieſem Daſein garnicht zu Wort gekommen. Andere hatten ſich ihres Geſchicks bemächtigt, ſie dahin und dorthin geriſſen und ſie ſchließlich zu Boden ge⸗ worfen. „Meine Seele,“ ſagte ſie zu Clemens, „war ein Inſtrument auf dem fremde Hände fremde Weiſen ſpielten, zuweilen waren es Gaſſenhauer und ich mußte es ge⸗ ſchehen laſſen.“ Und nun hatten dieſe finſteren Mächte von ihr abgelaſſen, ſie war frei — frei, wozu? zu leben? nein — zu ſterben. Sie hatte ein Bild von Lis mitgenommen, das ſie als dreijähriges Kind darſtellte. Seltſam, ſie dachte nie an die erwachſene Tochter, vor der ſie erröthet war, 346 immer nur an das kleine Kind, das ihr Kind war, und ſie hatte es nicht gewußt! Daß ſie es nicht gewußt, marterte ſie oft bis zum Wahnſinn. Wie würde ſie das ſüße Geſchöpfchen geliebt haben! In Stunden langen Sinnens und Grübelns fielen ihr naive, nichtsbedeutende Aeußerungen des Kindes wieder ein, die ſie längſt ver⸗ geſſen zu haben glaubte, und die damals ſpurlos an ihr vorübergegangen waren. Sie machte ſich nachträglich Vorwürfe, daß ſie das Kind einmal geſcholten, in Gegenwart eines Beſuches, worüber die Kleine ſo be⸗ ſchämt geweſen war, daß ſie garnicht aufgehört hatte zu weinen. Sie erinnerte ſich: eines Tages hatte ſie ihr in einem Album Bilder gezeigt, darunter ein Bild, das Raphael darſtellte, wie er einen Engel malte. Nach einer Weile, nachdem das Kind eine Anzahl anderer Bilder betrachtet, bat ſie: „Nun zeige mir wieder den Raphael, jetzt hat er doch gewiß ſeinen Engel fertig gemalt.“ Als Lis während einer Krankheit einmal lange in den Vormittag hinein geſchlafen hatte, war ſie mit der Frage erwacht: „Mama, kann man noch beten, weil es doch ſchon elf Uhr iſt: Wie oft hatte ſie zärtlich ihre Aermchen um den Hals der Mutter geſchlungen und geſagt: „Ich liebe Dich wie einen Stern, ich liebe Dich wie einen Engel, und nicht wahr,“ hatte ſie geſagt, „Du ſtirbſt nicht, weil Du keine Sünden machſt: Und für all' dieſe Naivetäten hatte ſie das holde Geſchöpf nicht einmal geküßt, geküßt zum Erſticken. Und es ließ ſich nicht nachholen, nie wieder gut machen. 347 Kam ihr zuweilen die Vorſtellung eines Wieder⸗ ſehens mit ihrer Tochter, ſo wies ſie dieſelbe faſt entſetzt zurück. Stella wollte nichts mehr von den Lebenden. Die Briefe, die an ſie gerichtet waren, mußte Clemens öffnen und vernichten. Einmal aber ſprach er ihr doch von einem Briefe des Grafen Albrecht an ſie, weil er enthielt, was ſie freuen mußte. Lis, theilte er ihr mit, ſei verheirathet und un⸗ endlich glücklich mit einem edlen jungen Manne. Beide hätten es zu ihrem Lebensberuf gemacht, die Kinder Verkommener zu erziehen. Ein ſtrahlendes Lächeln glitt über Stellas bleiches Geſicht „Und wie geht es Albrecht?“ fragte ſie. — „Auch er iſt im Hafen. Der nie raſtende Gram um ſeinen verlorenen Sohn hat ihn mit leidenſchaftlicher Sympathie für alle Kinder erfüllt. Er wohnt bei Lis. In das Haus der Kinder — ſo nennen ſie ihr Heim — iſt er wie in ein Kloſter gegangen. Jedes Kind dort iſt das ſeinige. In ihrer Mitte und für ſie wirkt er.“ „Ich wußte es ja, daß er ein guter Menſch iſt. Gute Menſchen, die Böſes thun, thun es nur wie Leute, die im Dunkeln koſtbare Geräthe umſtoßen, aus Mangel an Licht, an Erkenntniß. — „Noch ein anderer ſeltſamer Brief iſt da,“ ſagte Clemens zögernd, „aus einem wirklichen Kloſter von einer Büßenden, die Deine Verzeihung anfleht, weil ſie vor vielen Jahren durch einen anonymen Brief Dein Lebensglück zerſtört hat, um ſich an Ulla und Albrecht zu rächen. Der Brief iſt von Pia, der einſtmaligen 348 Braut des Grafen Albrecht. Was ſoll ich ihr ſchreiben: „Der Nonne Pia habe ich nichts zu verzeihen. Buße iſt geiſtige Wiedergeburt. „Und das auch muß Dich verſöhnlich ſtimmen, nahm Clemens wieder das Wort, „daß Fürſt Andreas ſchwer büßt, wenn auch unfreiwillig. Dieſer ruchloſe Greis, trotz ſeiner kalt berechnenden Selbſtſucht, geht an einer Leidenſchaft für Irene zu Grunde, die mit ſeinem Sohn verlobt iſt. Er haßt darum dieſen Sohn. Er, der die Welt am Narrenſeil zu leiten, ſich vermaß, endet als Narr.“ Stella machte eine abwehrende Bewegung. Sie wollte nichts mehr wiſſen. Seitdem ſie Lis glücklich wußte, trat auch allmählich das Kind für ſie in den Hintergrund. Vergangenes Gegenwärtige ſchwand dahin. Oft, an kühlen, bewölkten Tagen, lag ſie, in ihr Plaid gewickelt, ſtundenlang am Strande, wenn Himmel, Meer und Land grau waren, vom lichtſilberhellen bis zum dunkeln Schwarzgrau. Die unbeſchreibliche Feinheit dieſer Farbenſtimmung, die ſchlicht war, vornehm kühl und von feinſtem Maß thaten ihrem ariſtokratiſchen Sinne wohl. Wenn die Wolken ſo unmerklich durch⸗ und übereinander zogen, und die Wogen ſo monoton an das Ufer ſchlugen, dann hatte ſie ihre ſanfteſten Stimmungen, wo ſie nichts dachte, nichts fühlte, wo die Zeit nur ſo immerfort hinfluthete, die Minuten gleichſam im Sande leiſe verrannen. „Ich könnte jetzt nirgend wo anders leben, als am Meere,“ ſagte ſie zu Clemens. „Das Meer be⸗ 349 ruhigt, es iſt ſo monoton, ſo univerſell. Vor dem Ewigen ſchweigt das Ephemere. Einſamkeit im Walde hat etwas Unheimliches; nur einen kleinen Raum umfaßt unſer Auge, wir ſehen nicht, was hinter dem nächſten Baume iſt. Und ſo verſchiedene Geräuſche ſind da. Das flüſtert ſo heimlich, das ſummt, ſäuſelt, ſchwirrt in⸗ und durcheinander, darum iſt das Waldweben ſo ge⸗ heimnißvoll. Am Meeresſtrande umſpannt unſer Blick endloſe Strecken, breit, licht iſt der Strand, nichts kann ſich verbergen. Es athmet ſo laut, das Meer. Eine tiefe, verzehrende Sehnſucht nach Sein erfüllte Stella, nicht nach dem Sein in der Welt, die ſie verlaſſen; im Gegentheil, dieſe Welt, die man die große nennt, erſchien ihr jetzt ſo kläglich klein, daß ſie nicht begriff, wie ſie ſo viele Jahre mit ihr ausgekommen war. Sie wußte, die moderne Pſychologie nimmt an, daß ein Theil unſeres Seelenlebens unterhalb der Schwelle unſeres Selbſtbewußtſeins verläuft, das heißt, daß unſer eigentliches Ich nicht erſchöpft iſt mit dem, was wir bewußt in uns wahrnehmen. Dieſes höhere Ich, meinte ſie, ſtehe gewiſſermaßen wartend, lauernd an der Schwelle des Bewußtſeins. Wir wiſſen nur die Zauberformel nicht, die ihm die Pforte aufſchließt. Und nach dieſer Zauberformel ſuchte ſie, ſie ſuchte nach ſich ſelbſt, nach dem Sinne, nach den Bedingungen, die ihr ſeeliſches Schauen erweitern, den Schleier lüften ſollten von dem, was jenſeits ihres Selbſtbewußtſeins lag. Zuweilen, in einem Traume oder in einer wachen Hallucination empfing ſie leiſe Berührungen der Geiſter⸗ 350 welt. Sie fühlte eine ſolche Berührung, wenn am Strande der Sand ſich zuſammenwirbelte in geheimniß⸗ volle Zeichen. Ehe ſie aber dieſe vermeintlichen Schrift⸗ zeichen entziffern konnte, hatte der Wind ſie wieder ver⸗ weht. Der Wind? oder ein Geiſterhauch? oder was? Ein ander Mal fiel ihr bei ſtiller Luft eine Blume in den Schooß. Als ſie danach greifen wollte, ſchmolz ſie hinweg. Dieſe Berührungen waren immer nur wie ein Blitz, der plötzlich eine Welt enthüllt, die gleich wieder in Nacht verſinkt. Clemens beunruhigte ſich über ihre Entfremdung vom wirklichen Leben. „Du biſt wie das Meer, Stella,“ ſagte er zu ihr, „immer will es über das Ufer hinaus. Aber nur im Sturm gelingt es ihm, und auch da nur vorüber⸗ gehend. Es muß wieder zurück in das alte Bett. Sie zeigte in einer dem Strande entgegengeſetzten Richtung hinaus. — „Sieh dort, wo Horizont und Waſſer ſich treffen, iſt für unſer Auge ſchon die Grenze von Himmel und Meer. Nicht nur unſere Phantaſie ſchweift darüber hinaus ins Unendliche, wir wiſſen es auch, das Waſſer ſtrömt fort hinter dieſer Grenze, in weite, weite „ernen hinaus. Und ſo weiß ich auch, daß in meinem Innern etwas fortſtrömt, hin zu einem Urquell. Wie mir, muß einem Blinden zu Sinne ſein. Er weiß, er ſteht in einer herrlichen Landſchaft. Sie iſt da, vor ihm, er ſpürt den Duft ihrer Vegetation, er hört das melodiſche 351 Rauſchen in den Sphären — — wenn er nur dia Augen öffnen könnte! Sie blieb oft bis zu einer ſpäten Stunde am Meere, bis Waſſer und Himmel in tiefgrau, nächtliche Dämmerung verſanken und nur der bleiche, weiß ſchimmernde Strand aus dem Dunkel ſich hob. Von einem fernen Dampfſchiff glühte ein rothes Licht herüber. Boote mit kleinen Laternen glitten laut⸗ los über das Waſſer hin zu jenem großen Schiff; ein Segelboot, das langſam vorüberzog, glich einem mächtigen Vogel, der mit weißen Schwingen über dem Waſſer ſchwebte. Der Rieſenſtern des Leuchtthurms aber durch⸗ glänzte wie eine Liebesbotſchaft des Meeres die Nacht. Dahin zog es Stella, dahin zu jenem großen, ſtillen, vornehmen Licht. Sie beſtieg mit Clemens ein Boot, und ſie ſegelten hinüber. Auf halbem Wege aber ließ ſie umkehren. „Ich weiß ja doch,“ ſagte ſie, „in der Nähe iſt es nur eine große Laterne. Er iſt Staffage, der Leucht⸗ thurm, Staffage ſind jene kleinen Boote, die unſerm Auge wie Meeres⸗Glühwürmchen erſcheinen, Staffage, ſchöner Schein, iſt der Sternenhimmel ſelber. Jener holde Abendſtern, der ſo liebreich niederfunkelt, beherbergt vielleicht in ſeinem Schooße ungeheure Schreckniſſe. Und wir ſelber, Clemens? Vielleicht ſind auch wir nur Staffage, mit allem, was wir von uns wiſſen, Staffage für die Pſyche in uns, von der wir nichts wiſſen. Stellas Geſtalt ſchien immer ſchlanker, ihre Augen immer größer zu werden; auch die Farbe der Augen hatte ſich geändert. Sie waren jetzt von einem eigen⸗ 352 thümlichen, ſtumpfen Stahlblau, das an blinde Augen erinnerte, die nach innen ſchauen. Ihr Geſicht war marmorbleich. Es war ein Nachklang ihrer weltlichen Koketterie, daß ſie ſich immer weiß kleidete. Das gab ihrer Erſcheinung etwas Geiſterhaftes. An einem Tage, als Strand, Himmel und Waſſer ein unendliches, zuſammenſtrömendes Licht ſchienen, ſagte ſie zu Clemens: „Warum ſuchen wir Analogien nur immer in der Thierwelt, nicht auch ſonſt in der Natur. Das Meer iſt ein Rieſengedanke des Weltalls. Seit Jahr⸗ tauſenden rollt es und wird nicht weniger, und es rollt immerfort, ſo weit unſere Gedanken in die Ewigkeit hineindenken. Und wir, und ich, ich ſollte in wenigen Jahren nichts mehr ſein? Ich glaube vielmehr, daß mein Leib das iſt, was die Welle im Verhältniß zum Meere iſt. Die Welle zerſchellt am Strande, ſie iſt todt, das Waſſer aber, das ſie bildete, lebt und fließt zurück in den Ocean ewigen Seins. Sie ſprang auf. Die Sonne war hinabgeſunken. Das ganze Meer war ein melodiſches Tönen, Klingen, Schimmern, eine zartflammige Gluth, ein unendlich leiden⸗ ſchaftlich ſchmelzendes Strömen voll hinreißender Süße. Ein metalliſches Funkeln war in ihren Augen, als ſie hinabtauchten ins Meer. Sie hatte eine Hallucination, nicht zum erſten Male. Unter der Oberfläche des Waſſers ſah ſie, hingleitend mit den Wellen, eine weiße Geſtalt — ſich ſelbſt. Ein leuchtender Streifen ging von der Geſtalt aus, ſtieg empor und verdichtete ſich im Äther zu einem ſtrahlenden, dunſtartigen Gebilde, das 23 353 menſchliche Form hatte, bald aber wieder in der Luft zerfloß. „Nein, nein,“ rief ſie mit dem Ausdruck der Verzückung, „es iſt unmöglich, daß ich nur das bin, was ich ſcheine, nur das, was ich von mir weiß. Es muß ein Daſein geben, wo all die Nebelbilder unſerer vermeintlichen Sünden aufgeſogen werden von der großen Sonne ſeligen Selbſterkennens, eine Daſeinsform, zu der wir erwachen werden, wenn unſere Seele frei vom Körper iſt. Nein, der Tod kann nicht das Ende ſein, denn das Ende kann nicht ſein, wo noch kein Anfang war. Der Tod iſt nichts, nichts als die Entleibung der Seele.“ Sie hatte das Wort in einer ſpiritiſtiſchen Schrift geleſen, und es wich nicht mehr aus ihren Gedanken. Und in dieſes Sehnen nach Entleibung der Seele ver⸗ lor ſie ſich ganz und gar. Es war ein ungewöhnlicher Oktobertag. Die Luft war beinahe ſchwül. Gegen ihre Gewohnheit ging Stella mit Clemens durch das Fiſcherdörfchen dem Meere zu. Sie ſah wie eine Frau aus einem Backofen braune Brote zog. Kinder ſtanden dabei und patſchten frohlockend mit den Händchen auf das warme, duftende Gebäck. Als ſie der bleichen, weißen Frau anſichtig wurden, hörten ſie auf zu patſchen und zu lachen. Auf einem Dünenhügel lagerten junge Leute, die allerhand Spiele trieben. Ein Mädchen im lichten Kleide ſaß auf einem ſcharlachrothen Tuche. Ein junger Mann, im Sande hingeſtreckt, warf ihr Blumen in den 354 Schooß; ſie unterbrachen ihr Spiel und ſtanden auf, als Stella vorüberſchritt. In einem Boote lag eingeſchlafen ein junger Seemann. Ein Dirnchen, das vorüberging, wollte ihn, ſchäkernd, mit einem Grashalm wecken. Als Stellas Blick ſie traf, lief ſie erſchrocken davon. Alle Leute grüßten ſie ehrerbietig, es wurde aber ſtill, ganz ſtill, ſobald ſie in ihren Sehkreis trat. Einem Schatten gleich zog ſie über alle Lebensluſt. Sie ſah und verſtand es. Sie gehörte nicht mehr zu denen, die mitleben im Diesſeits, ſie hatte wo anders Wurzel geſchlagen, in einer tranſcendentalen Exiſtenz. Als ſie an den Strand kamen, hatten alle Fiſcher ihre Boote eingezogen. Sturm drohte. Sie lagen lang am Strande und blickten auf den ſchimmernden Sand, auf das ſchimmernde Waſſer. Nach langem Schweigen ſagte ſie plötzlich: „Ich fahre hinaus Clemens, allein. ¹ „Im Sturm, Stella! „Ich muß.“ Er ſagte kein Wort und löſte das Boot. Sie beſtieg das Boot. Als es ſich kaum vom Strande entfernt hatte, ſprang er nach. Einen Augen⸗ blick umdüſterte ſich ihre Stirn. Sie war unſchlüſſig. Er aber ergriff das Ruder. Sie küßte ihn auf die Stirn, ſie küßte ihn auf die Augen. Als ſie mitten in der ſtrömenden Fluth waren, warfen ſie die Ruder fort. Sie lehnte ſich in die Kiſſen des Bootes zurück. Er ſah in ihr Antlitz, ſie in den Himmel. Der Sturm kam allmählich. Schwarz erſchien das 23* 355 Waſſer gegen den perlenden weißen Schaum der Wogen, die donnernd dahinrollten, daß das Ohr dieſes ungeheure Schluchzen des Meerherzens nicht faſſen konnte. Das Boot tanzte um ſein Leben in dem heulenden Graus. Stella fühlte ſich dieſer titanenhaften Raſerei wohl⸗ verwandt. Auch der Sturm erſchien ihr wie das dä⸗ moniſche Ringen einer Weltſeele, die ſich offenbaren will. In den Sturm hätte ſie ſich ſchmiegen mögen, und mit ihm dahinſauſen, in wilder Jagd, dahin, wo ſich ihr das Geheimniß ihres Ichs offenbaren würde. Da plötzlich brach die Sonne, einem herrlichen Vogel mit Feuerflügeln gleich, unter dem blauſchwarzen Gewölk hervor. Brücken goldenen Staubes durchſchoſſen den finſterglühenden Schooß, ein Kampf zwiſchen Finſter⸗ niß und Licht. Und das Licht breitete ſich aus, und das Meer ein lebendiger Himmel, erglänzte in holdſeli⸗ gem Purpur. In göttlicher Trunkenheit ſchauerte es auf, die Häupter der Wogen mit Roſen bekränzt. Und ſie umrauſchten das tanzende Boot, das bald in die Tiefe ſchoß, bald in der Luft zu ſchwebeu ſchien. Aufrecht im Boote ſtanden Clemens und Stella und hielten ſich umſchungen. Die Sonne ſank hinab. Die zarthingehauchten violettröthlichen Töne am Saum des Horizonts, das Echo eines hinſchmachtenden Regenbogens, der ſanft über dem Waſſer verhallt. „Der Schwanengeſang der Sonne,“ ſagte Stella. Und da war wieder die Viſion: ihre Geſtalt im Waſſer. Der leuchtende Streifen ſtieg empor, und ihre Augen ſahen oder glaubten zu ſehen, wie das zarte 356 Nebelbild hinein ſchwebte in ein Gefilde von wallendem Feuerdunſt, und Himmel, Land und Waſſer erblickte ſie hoch oben in übernatürlicher, ſchattenloſer, verklärter Schönheit. Verkörperte Lichtſtrahlen ſchienen die Geſtal⸗ ten, die das roſige Geſtade durchſäuſelten. Und ihr Ohr vernahm Harmonien, aus wunderſamen Thürmen tönten ſie herab, die flammenden Lilien glichen. Sie wurden ſtärker, die Töne, und wuchſen bis zu Poſaunen⸗ klängen und waren doch eins mit dem ſeligen Farben⸗ blühen in den Sphären. Stella wußte, es war keine Fata Morgana, wie Clemens glaubte, das Land war ihre Heimath, wo ver⸗ wandte Geiſter ihrer befreiten Seele harrten. Thränen der Verzückung füllten ihre Augen. — „Clemens, wir ſterben nicht, wir werden leben! Es waren ihre letzten Worte. Und als jetzt das Boot in die Tiefe ſchoß, ſchien ſie ſeinem Rande zu entſchweben. Er griff nach ihrem Gewande, und Beide ſanken hinab. Und über ihnen glättete ſich das roſige Meer, eine blaſſe Rieſenroſe, die unter dem zarten Abenddunſt des Himmels ſich, leiſe erzitternd, entblätterte. 357 Verlag von E. & P. Tehmann, Berlin W., Körnerſtr. 2. Hermann Sudermann, Frau Sorge. Roman. 12. Auflage. Preis 3,50 Mk., eleg. geb. 4,50 Mk. Hermann Sudermann, Geſchwiſter. 2 Novellen. 7. Auflage. Preis 3,50 Mk., eleg. geb. 4,50 Mk. Hermann Sudermann, Der Kahenſkeg. Roman. 11. Auflage. Preis 3,50 Mk., eleg. geb. 4,50 Mk. Hermann Sudermann, Im Zwielicht. Zwang⸗ loſe Geſchichten. 8. Auflage. Preis 2 Mk., eleg. geb. 3 Mk. Hermann Sudermann, Sodoms Ende. Drama in 5 Akten. 7. Auflage. Preis 2 Mk., eleg. geb. 3 Mk. Hermann Sudermann, Die Ehre. Schauſpiel in 4 Akten. 8. Auflage. Preis 2 Mk., eleg. geb. 3 Mk. Heinz Tovoke, Im Liebesrauſch. Berliner Roman. 3. Auflage. Preis 3,50 Mk., eleg. geb. 4,50 Mk. Heinz Tovokc, Fallobſt. Wurmſtichige Geſchichten. 3. Auflage. Preis 2 Mk., eleg. geb. 3 Mk. Hermine Dillinger, Auch ein Roman und andere Geſchichten. Preis 3 Mk., eleg. geb. 4 Mk. Rudolph Tindau, Der lange Holländer. Preis 3,50 Mk., eleg. geb. 4,50 Mk. Rudolph Lindau, Die Reiſegefährten. Preis 3 Mk., eleg. geb. 4 Mk. Eduard Griſebach, Der neue Tannhäuſer. Preis 2 Mk., eleg. geb. 3 Mk. Eduard Griſebach, Der Tannhäuſer in Rom. Preis 2 Mk., eleg. geb. 3 Mk. Ullſteins Buchdruckerei, Berlin S W. Z N12<107616737010 Deutsche Litt. 10.963. V