HEDWIG DOHM P1896.5843 Sibilla Dalmar Roman aus dem Ende dieſes Jahrhunderts Zweite Auflage Berlin S. Fiſcher, Verlag 1897 Sibilla Dalmar. Neue Romane und Novellen. Soeben erſchienen: Gabriele D'Annunzio, Der Unſchuldige. Roman. Hedwig Dohm, hibilla Valmar. Roman. Arne Garborg, Zei Mama. Roman. 2. Auflage. Arne Garborg, Müde heelen. Roman. 2. Auflage. Gabriele Reuter, Zus guter Familie. Leidensgeſchichte eines Mädchens. 4. Auflage. Jeder Band geh. M. 4.—. Gabriele Reuter, Koloniſtenvolk. Roman. Geh. M. 3.50. Gabriele Reuter, Epiſode hopkins. Novellen. Geh. M. 3.—. Gabriele Reuter, Der Lebenshünſtler. Novellen. Geh. M. 3.—. George Egerton, Diſſonanzen. Geh. M. 3.50. Adine Gemberg, Zufzeichnungen einer Ziakoniſſin. Roman. Geh. M. 3.—. Adine Gemberg, Morphium. Novellen. Geh. M. 3.—. Hans Land, Um das Weib. Roman. Geh. M. 3.—. Peter Nanſen, Uus dem erſten Univerſitätsjahre. Ein Roman in Briefen. Geh. M. 3.—. Maria Janitſchek, Vom Weibe. Charakterzeichnungen. Geh. M. 2.—. Felir Hollaender, Penſion FKratelli. Novellen. Geh. M. 2.—. Hildegard Thildner, Virginie. Erzählung. Geh. M. 2.— Dohm, Drei Generationen II HEDWIE DOHM Sibilla Dalmar Roman aus dem Ende unſeres Jahrhunderts Zweite Auflage Berlin S. Fiſcher, Verlag 1897. Nachdruck verboten. Ueberſetzungsrecht vorbehalten. Ex Biblioth.Regia Berolinenſi. Yx287942/-2 Frau Dalmar lag in der zwölften Nachtſtunde mit einem Buch in der Hand auf der Chaiſelongue ihres Schlafzimmers, und las oder verſuchte zu leſen. Ihr Gatte war mit ihrer Tochter Sibilla auf einem Ball. Vor ihrer Rückkehr mochte ſie nicht zu Bett gehen. Sibilla bedurfte ihrer beim Ablegen der Balltoilette, und dann — — auf dieſem Ball entſchied ſich vielleicht das Geſchick des geliebten Kindes. Frau Dalmar war eine kleine unſcheinbare Frau mit feinen Zügen und einer ſchüchternen Anmut im Weſen. Etwas leicht verkümmertes, dünnes, unaus⸗ gewachſenes hatte ſie. Sie machte den Eindruck einer verwelkten Knoſpe, die nie Blume geweſen war. In der That verbrauchte ſie all ihre geiſtigen und körperlichen Kräfte, um ihre Pflichten als Hausfrau, Gattin und Mutter, die nicht immer leicht waren, zu erfüllen. Es galt, bei den geringen Mitteln, über die die Familie zeitweiſe verfügte, den Schein einer eleganten Lebensführung aufrecht zu erhalten. Ihre Ehe war eine freundliche, friedliche, obwohl der Gatte eine friſchere, robuſtere Gefährtin vorgezogen 1 hätte. So wie ſie einmal war, behandelte er ſie mit Humor, mit gutartigem Spott, und nannte ſie, wenn er mit der Tochter über die Mutter ſprach, unſre ſchwache kleine Mutti. Bezeichnend war, daß niemand den Vornamen von Frau Dalmar kannte. Daß ſie unbeachtet blieb, war ihr gerade recht. Ohne jede Bitterkeit hatte ſie ſich damit abgefunden, nur die Mutter ihrer Tochter zu ſein. Ihrer Tochter Sibilla! ein ſo ſüßes Geſchöpf! All ihre Gemütskraft concentrierte ſich in der Anbetung ihres Kindes. Darum konnte ſie auch jetzt nicht leſen. Sie legte das Buch fort, ſtreckte ſich behaglich aus, ſchloß die Augen und malte ſich die Zukunft ihrer einzigen Tochter aus. Wie bezaubernd hatte ſie ausgeſehen, als ſie zum Ball fuhr, in dem Kleid von Silbergaze, mit der blaß⸗ roſa Roſe in den goldbräunlichen Zöpfen. Wie hatten die großen dunklen Augen aus dem alabaſterzarten Ge⸗ ſicht geleuchtet. Frau Dalmar begriff nicht, daß ſich nicht jeder beim erſten Blick in dieſes engelhafte Geſchöpf verliebte. Sie erhob ſich halb von der Chaiſelongue und nahm von dem Seitentiſchchen ein Album. Es enthielt nichts als die Photographieen Sibillens, von ihren erſten Kinderjahren bis zur Gegenwart, zu ihrem achtzehnten Lebensjahr. Frau Dalmar vertiefte ſich zärtlich in den An⸗ blick dieſer Köpfchen. Man brauchte nicht die Mutter zu ſein, um in ihrem Reiz zu ſchwelgen. All dieſe Geſichtchen, mit dem wirren Gelock, das ein Oval von 2 zarter, weichſter Rundung einrahmte, trugen den Aus⸗ druck ſchalkhaft holdſeliger Lieblichkeit neben ſinniger Klugheit. Als Frau Dalmar an die zweite Seite des Albums kam, waren die Krausköpfchen verſchwunden und lange Zöpfe traten an ihre Stelle, und allmählich änderten ſich auch die Phyſiognomieen ein wenig. Einige der Köpfe zeigten einen faſt grübelnden Ausdruck, mit einem leiſen Hauch von ſchwermütiger Müdigkeit. Dann aber kam wieder ein lachendes Geſicht, das Schulmädchen mit dem Ränzlein auf dem Rücken, das Barett ſchief in die Stirn gedrückt, keck und übermütig. Die nächſte Photographie mit einem Anflug von Trotz und Gelang⸗ weiltheit. Augenſcheinlich hatte „das Kind da dem Photographen widerwillig geſtanden. Was ſchon an den Kinderköpfchen auffiel, trat jetzt noch ſtärker hervor: der eigentümliche Kontraſt zwiſchen den Augen, die wie aus geheimnisvollen Tiefen heraufblickten, und der ſchelmiſchen Lieblichkeit des Mundes. Lächelnder Mund und träumende Augen. Dann verſchwanden plötzlich die Zöpfe, und drei bis vier Bilder zeigten wieder den lockigen Tituskopf. Frau Dalmar lächelte in ſich hinein, während ihr Auge auf dieſen Bildern ruhte. Einmal, ein ein⸗ ziges Mal in ihrem Leben hatte ſich Sibilla vor der Mutter gefürchtet, als ſie ſich heimlich eines Abends die Zöpfe abgeſchnitten hatte. Das Flechten und Zöpfen des Morgens war ihr langweilig und un⸗ bequem geworden. Am Morgen nach der Unthat war 3 1* ſie in die Schule gegangen, ohne der Mutter Adien zu ſagen. Sie hatte ihr aber auf der ſchönſten Schüſſel des Hauſes die abgeſchnittenen, zierlich ge⸗ flochtenen, mit roſa Bändchen geſchmückten Zöpfe ins Schlafzimmer geſchickt, mit einem drolligen Gedichtchen, das ihre Verzeihung erflehte. Und dieſes Gedicht und der wehmütige Anblick der geliebten Zöpfe waren der ſchwachen Mutter ſo ans Herz gegangen, daß ihre quellenden Thränen den aufſteigenden Zorn im Keim erſtickt hatten. Frau Dalmar blätterte weiter in dem Album. Und da war das erwachſene junge Mädchen von ſo eigentümlich berückender, märchenhafter Schönheit, daß ein Ausdruck leidenſchaftlicher Zärtlichkeit Frau Dalmars Züge überflog. Lange hafteten ihre Blicke an einer der Photo⸗ graphieen, die Sibilla in ihrem ſechzehnten Jahr dar⸗ ſtellte. Die Augenlider waren müde über die, wie in Träumen verlorenen Augen geſenkt. Um die fein⸗ geſchwungenen Linien des etwas großen Mundes ſpielte wieder das halbe, kindliche Lächeln. Von der Naſe zum Mund aber zog ſich ein trauriger, faſt bitterer Zug. Dieſer Zug, wie kam er in das Geſicht ihres ſo jungen und ſo glücklichen, ſo ganz glücklichen Kindes! Frau Dalmar forſchte in ihrem Gedächtnis nach einer Erklärung dieſer ſeltſamen Traurigkeit. Sie regte ſich dabei auf. Sie wollte der Erregung Herr werden und erhob ſich aus der liegenden Stellung. 4 In dem geräumigen Schlafzimmer, das Sibilla mit ihr teilte, ſah es ziemlich unordentlich aus. Ein Kommodenkaſten ſtand halb geöffnet; auf dem Stuhle lagen allerhand Gegenſtände, die das junge Mädchen für den Ball probiert hatte, ein Fächer, einige Paar Handſchuhe, künſtliche Blumen neben dem Karton, aus dem ſie herausgeriſſen waren u. ſ. w. Die Mutter begann die Sachen zu ordnen und in die Kommode zurück zu legen. Ein Schreibheft in Oktav⸗ form mit der Aufſchrift „Tagebuch“, das in einem Winkel der Kommode lag, fiel ihr in die Augen. Sie ſelbſt hatte es Sibilla an ihrem elften Geburtstage geſchenkt, und das Kind verpflichtet, all ſeine kleinen Erlebniſſe in das Buch einzutragen. Sie hatte ihr eindringlich vorgeſtellt, was für Freude ſie in ſpäteren Lebensjahren an dieſen ſchriftlichen Erinnerungen haben würde. Im Grunde hatte Frau Dalmar noch einen anderen Zweck mit dem Tagebuch verfolgt. Dieſe Frau, deren Leben kaum je durch einen Schatten von perſönlicher Eitelkeit getrübt worden war, beſaß eine krankhafte Eitelkeit in Bezug auf Sibilla, deren unge⸗ wöhnliche Begabung ſie erkannt hatte. Das Kind ſollte ſeine glänzenden Anlagen ſo vielſeitig und ſo frühzeitig wie möglich entwickeln. In den regelmäßigen Tagebuch⸗ Aufzeichnungen ſah ſie ein Mittel, den Stil und die Denkkraft der Kleinen zu üben. Ein bis zwei Jahre lang hatte Sibilla mit größeren oder kürzeren Pauſen das Tagebuch geführt. Dann war es ihr langweilig geworden, ſie hatte es beiſeite gelegt und vergeſſen. 5 Frau Dalmar hatte abſichtlich, um Sibillas Auf⸗ richtigkeit und Harmloſigkeit beim Niederſchreiben nicht zu beeinträchtigen, nie verlangt, das Buch zu ſehen, ob⸗ wohl ſie wußte, daß Sibilla ihr ohne weiteres den Ein⸗ blick in dasſelbe geſtattet haben würde. Nun fiel dieſes Bedenken fort: ſie nahm das Büchelchen, ſtreckte ſich wieder auf die Chaiſelongue und vertiefte ſich in die Tagebuchblätter, mit lächelndem Stolz über die Frühreife und die Aufrichtigkeit des Kindes. Das Tagebuch begann mit dem 12. Oktober 1867. Sibilla war damals elf Jahre alt. „Ich werde dies Buch heut mit dem Geburtstag des Königs einweihen. Sehr ſchmeichelhaft für den König. Alſo, lege los, würde Herr Vogel (unſer Direktor) ſagen. Am Freitag war ich bei Anna Reicher erſt zum Kaffee eingeladen, nachher war Tanzſtunden⸗ ball. Beim. Kaffee war es wirklich göttlich. Keiner that den Mund auf, außer um Kaffee zu trinken, oder um Konrad Reicher — der einzige Knabe, die andern waren noch nicht da — zu flüſtern. Als aber nachher getanzt wurde, da thauten wir gleich alle auf. Wir tanzten auch Cotillon, und ich bekam natürlich die meiſten Bouquets. Ein Knabe aber, der Jesko von Stubnitz, der war ſehr hübſch, tanzte aber ſchlecht. Alle Übrigen mir un⸗ bekannt. Was wäre ſonſt noch zu erzählen? Ach was — ich werde jetzt leſen. 15. Oktober. Am Sonntag waren wir bei Grünaus eingeladen. Nach dem Kaffee ſpielten die 6 andern: „wie gefällt Dir Dein Nachbar“ und anderes, während Johanna und ich Theaterſtücke von Körner laſen, was mir viel beſſer als das ewige Spielen ge⸗ fällt. Ich habe eine himmliſche Puppe bekommen, in die ich verliebt bin. — Ich wickle ihr den Kopf immer in ein Taſchentuch, damit er nicht zu ſehr ver⸗ ſtaubt. 1. November. Heut waren wir wieder in der Schule, wo es mir ſchrecklicher vorkam denn je, ſo laut, und ein Geſchwirr durcheinander, nicht zum aus⸗ halten. Wir hatten Schreibſtunde, und ich wollte nicht ſchreiben; darum gab ich mir Mühe, unartig zu ſein, um einen Punkt zu bekommen und den Kopf auflegen zu können, als weinte ich; aber ich hatte dann doch nicht den Mut zu der Heldenthat. Geſtern habe ich nachbleiben müſſen, bei Frl. Gerſter in der Religionsſtunde, woraus ich mir ebenſo wenig gemacht habe, wie aus einem Kuß von ihr. Ich kann ſie nicht leiden, weil ſie ſich an der Naſe herumführen läßt wie das unſchuldigſte Kind, und Frau Hegel nicht, weil ſie ſo heuchelt und fromm thut und es dabei gar nicht iſt. Mutter ſagt, ich ſchreibe gut, und darüber freue ich mich. Ich freue mich unſäglich aufs Examen, ich ſage nämlich ein Gedicht auf: „Das Glöcklein des Glücks“, und ich werde mein blaues Kleid an⸗ ziehen. Den 3. November. Ich laufe alle Tage Schlitt⸗ ſchuh und amüſiere mich himmliſch. Heut bin ich einem Herrn in die Arme gelaufen, und das finde ich ſo hübſch. 7 Wir waren bei Kreislers eingeladen und haben abends Chocolade getrunken. Ach, eine herrliche Er⸗ innerung iſt dieſe Chocolade. In der Schule fehlen drei Fräuleins; es iſt große Not, da man die Lehrerinnen nicht auf der Straße findet. Wenn ich manchmal an das Leben in der Schule denke, ſo kommt es mir ſo vor, als ob das, was man ſonſt im Leben Klatſcherei nennt, in der Schule am meiſten gepflegt wird, als lerne man in der Schule erſt die ſchlechte Denkungsart, als wäre alles Schlechte daſelbſt in großen Behältern auf⸗ bewahrt. 1. Dezember. Wie ſchade, das Eis, das mich geſtern mit ſo viel Freude erfüllte, heut iſt es ge⸗ brochen; man ſieht wie alles Irdiſche vergänglich iſt. Prinzens quälen immer ſo, daß wir zu ihnen kommen ſollen, und ich möchte gar nicht gern, weil ich ſie nicht mag. Aus meiner Klaſſe aber möchte ich gern zwei Mädchen zu Freundinnen haben, aber ich weiß gar nicht, wie ich es anfangen ſoll, beſonders Emmy Kaiſer. Es kommt mir manchmal vor als gehöre ſie gar nicht in die Schule, als ſei ihr Geiſt zu groß für einen ſo kleinen Wirkungskreis. Camilla Weller iſt ein reizendes Mädchen, ſehr fleißig, aber ſie hat nicht ſo viel Geiſt wie Emmy; Camilla iſt der Liebling der ganzen Klaſſe, ſo ſanſt iſt ſie, während Emmy manchmal hart und ſtolz iſt. Vorgeſtern waren wir wieder bei Kreislers, wo diesmal die Chocolade angebrannt war. Ich trank aber drei Taſſen, weil die andern ſie ganz verachteten, das that mir ſo leid. Wir verkleideten uns, und ich 8 war zu nackig, da ſagte die Mutter: „aber Sibillchen“. Das habe ich ſo übel genommen, daß ich mich gleich auszog; ſpäter verſöhnte ich mich wieder. Ich habe neulich mein „Soll und Haben“ in der Schule verborgt, ich meine das Buch; das hat Frau Hegel erfahren, die hat es der Frau Direktor erzählt, und nun dürfen wir keine Bücher mehr verborgen. Um Frau Hegel zu verſöhnen, habe ich ihr das Buch geborgt. Ich leſe jetzt „In Reih und Glied“ und bin ganz bezaubert davon. Ich denke immer bei mir, wem ich ähnlich werden möchte: Leo, Silvia, Amalie, oder Joſepha. Ich möchte Leo ähnlich werden, da ich aber ein Mädchen bin, muß ich unter den drei Mädchen wählen, und da gefällt mir Silvia am beſten. Ich werde wohl leider Gottes nicht ſo werden, aber wer kann die Zukunft leſen. 1. Dezember. Am Dienstag in der Religions⸗ ſtunde war Frl. Peſchke ſo ſehr enthuſiaſtiſch und ſchlug immer dabei den Takt mit der Fauſt auf dem Klavier. In der Geographie ſitze ich ziemlich weit unten. Als ich das vorige Mak' mit der Straße von Piombino angriff, glaubte ich mit Beſtimmtheit herauf⸗ zukommen, aber die Erſte wußte es, und da ſitze ich noch, wo ich ſaß. Es that mir ſehr leid; ich thue dann immer ſo, als ob es mir gleich wäre, das iſt aber nur Heuchelei. Mit Anna Prinz bin ich noch böſe, und ſie zeigt mir ihre Feindſchaft durch verächt⸗ liche Blicke und Worte. Ich freue mich aber ſehr darüber, denn es bringt uns immer weiter ausein⸗ ander. Mutter möchte, daß ich mich verſöhne, das 9 kann ich nicht. Ich kann ihr nicht die Hand reichen, nachdem ich die ihre ſchon zurückgewieſen habe. Das kommt mir ganz furchtbar vor. Sie hat auch noch mein „Soll und Haben“; ich glaube nicht, daß ich es ganz wiederbekomme. Ich leſe jetzt „In Reih und Glied“ zum dritten Mal und bin ganz hingeriſſen, und ich nehme mir feſt vor, wie Leo oder Silvia zu werden. Das Ende iſt ſo rührend, daß ich es gar nicht beſchreiben kann. Als ich das Buch aus der Hand legte, kam mir unſer alltägliches Leben ſo un⸗ würdig vor. Zu Oſtern waren wir bei Dorns eingeladen. Wir ſuchten auch da Oſtereier, aber wie armſelig, nur un⸗ gefärbte. Zum Kaffee bekamen wir nur Zwieback und nur eine Taſſe und — — Kochzucker. Gott wie pauvre. Wir haben in der 2b einen neuen Lehrer, der uns Rechnen und Geographie giebt. Er iſt ganz nett, hat mich gefragt, ob ich mit dem Komponiſten Dalmar ver⸗ wandt ſei, und ob ich dichten könne. Das erſtere habe ich bejaht, das letztere verneint. 3. Dezember. Am vorigen Donnerstag kam Tante Emma mit ihren beiden Kindern an. Lotte iſt noch etwas magerer geworden, und Eva hat ſich nicht zum Vorteil verändert. Eigentlich waren wir nicht viel zuſammen, ich vormittags in der Schule, ſie nach⸗ mittags aus. Am Montag reiſten ſie wieder ab. Eigentlich iſt es beſſer ſo, alles in der alten Ordnung. Es iſt doch nicht angenehm, wenn man immer und immer rückſichtsvoll ſein muß, ewig thun, was der 10 andere will, denn die Bitte eines Gaſtes kann man doch nicht gut abſchlagen; und ſie wird doch zum Befehl. Ich habe jetzt Tanzſtunde und amüſiere mich ſehr dabei. Wenn ich ſagen ſollte, was mich denn eigentlich amüſiere, ſo wüßte ich nicht zu antworten. An dem Hopſen allein kann man doch kein Vergnügen finden. Den 4. Dezember. Geſtern, das war wieder ſchrecklich in der Schule. Bertha Gieſe iſt ein armes Würmchen und immer ſo murklich angezogen, und ein ſchlimmes Auge hat ſie auch. Sie bekommt immer nur eine trockene Schrippe mit in die Schule. Geſtern aber hatte ſie eine Schrippe mit Kuhkäſe belegt, und ſie ſchmatzte ſo recht vor Vergnügen beim Eſſen. Da ging Frau Hegel an ihr vorüber und ſchnüffelte ſo, und da entdeckte ſie den Kuhkäſe. „Pfui“, ſagte ſie, „Übelriechendes gehört nicht in die Schule,“ und riß ihr die Schrippe weg. Die Bertha, die ſtand da mit ſo gräßlich hungrigen Augen und wäre beinahe an dem Biſſen im Munde erſtickt. Ich weiß nicht, mir ſtieg das Blut ſo in den Kopf und ich ſagte zu Frau Hegel: „Es giebt noch viel Übelriechenderes in der Schule als Kuhkäſe.“ Ich meinte damit ihr Benehmen, das wagte ich ihr aber nicht zu ſagen. Ich mußte eine ganze Stunde nachſitzen. Es machte mir Spaß, das Nachſitzen, wirklich Spaß. Ich haſſe Ungerechtigkeiten. Darum thun mir immer die Armen ſo ſehr leid. Ich weiß überhaupt gar nicht, warum es Arme geben muß. Es iſt zu dumm. Wenn ich groß bin, entdecke ich es vielleicht. 11 Am andern Tage kam ich auch mit einem Käſebutter⸗ brot in die Schule; es war nicht gerade Kuhkäſe, nur holländiſcher. Und ich aß es ſo recht vor Heglers Naſe. Und ſie ſchnüffelte nicht, und that, als ſähe ſie es nicht. Etſch, Frau Hegler, etſch! etſch! 30. Dezember. Lange, lange habe ich nichts eingeſchrieben; ich will aber auch ſagen warum, damit ich mich ſpäter über den langen Zwiſchenraum nicht ärgre. Das Tagebuch war weg. Ich habe Auer⸗ bachs Dorfgeſchichten geleſen, ſie gefallen mir himm⸗ liſch. Übrigens, was ich da neulich über die Tanz⸗ ſtunde eingeſchrieben habe, hatte ich bloß aufge⸗ ſchnappt; das Hopſen und Springen macht mir doch Vergnügen. Den 1. Januar 1868. Ein neues Jahr hat an⸗ gefangen, — jetzt ſchreibt man 1868. Das kommt mir ganz wunderbar vor. Wie ſchnell das geht. Und wenn ich erſt darüber nachdenke, was habe ich denn eigentlich in dem langen Jahre gethan? Nicht einmal das dumme Büchlein konnte ich ausſchreiben, und ich will Schriftſtellerin werden. Ich will mich aber ändern und in dieſem Jahr fleißiger werden. 6. Januar. Geſtern nahm mich Vater zu einem Kaffee mit, wo nur Erwachſene waren. Ich habe mich ſehr gut unterhalten; zwar unterhalten eigentlich nicht, ſondern zugehört. Dann ſchmeckte mir auch der Kuchen und das Eis herrlich. Am Sonnabend bin ich in Engliſch in die erſte Abteilung gekommen. Alle Kinder murrten und meinten, ſie hätten ebenſo gut in die erſte Abteilung kommen können; ich habe mich aber nicht 12 daran gekehrt. In der Schule werde ich von Emmy Kaiſer der angehende Blauſtrumpf genannt. Unſer Direktor, Herr Vogel, lobt immer Emmy Kaiſer und Sibilla Dalmar, und die anderen müſſen zuhören. 31. Januar. Meiner Treu! Bin ich aber ein Faulpelz. Über vierzehn Tage nichts eingeſchrieben, Noch nicht das neue Buch angefangen! Aber was ſoll man denn eigentlich einſchreiben? Richtig, ich war am vorigen Sonntag bei Prinzens. Gar nicht amüſiert. Wir thaten gar nichts, ſondern mußten mit anhören, wie Herr Prinz ein Karnevalsfeſt beſchrieb, Frau M.s himmliſchen Nacken in den Himmel erhob und ähnliches. Herr Prinz iſt immer ſo albern zu mir, ich kann wirklich ſeine Späße nicht anders nennen. 8. B. ſagte er immer: „Ich bete Dich an, Sibilla, Du machſt mich unglücklich,“ und noch mehr ſolch Zeug, das doch, wenn es auch ein Scherz ſein ſoll, ganz un⸗ ſinnig iſt. Wenn Camilla und Emmy bei mir ſind, kochen wir oft auf der Kochmaſchine. Neulich kochten wir zuerſt höchſt wohlſchmeckende Chocolade, dann ganz prächtigen Eierkuchen mit Apfelmus und Apfelſchnittchen und zum Nacheſſen Chocoladencréme. Nein, was kann ich denn bloß noch ſchreiben, denn ſpäter wird es mir doch nicht mehr intereſſant erſcheinen, daß Frau Hegel fehlt und daß wir deshalb in der Stunde von 12—1 Uhr großen Unſinn gemacht haben, oder ſoll ich ſchreiben, daß am Sonnabend die Tanzſtunde bei uns war und daß Couſine Anna, die gekommen war, uns ſo gut unterhielt, daß alle bis 13 9 Uhr blieben. So, nun ſteht es doch wenigſtens hier und ich kann mich in meinem ſpäteren Alter daran er⸗ götzen. Anna iſt ein außergewöhnliches kluges, liebens⸗ würdiges Mädchen, die ich mir zur Freundin wünſche, denn eine Freundin genügt mir nicht. Die eine, die ich habe, iſt mein Camillchen. In der Schule gefällt es mir gar nicht, wenigſtens nicht die Kinder. Es ſind faſt alle Strohköpfe! Sogar Emmy Kaiſer, die ich früher anbetete, iſt eingebildet und zänkiſch, ſie weiß nur mehr als die andern. Wäre ich doch nur erſt aus der Schule! Ich kann es manchmal nicht aushalten, wenn die andern ſo jedes Wort herauswürgen, und dann ſage ich es, und dann heißt es wieder: Gott nein, immerzu ſagt Sibilla Dalmar vor, weil ſie ſich einbildet klüger zu ſein als wir alle. 3. Februar. Heute rief mir ein Junge „Juden⸗ ſchickſel“ nach. Ich weiß nicht, warum, vielleicht weil meine Zöpfe ſehr lang waren und mit roten Bändern eingeflochten. Ich lief ihm nach und wollte ihm etwas thun, er lief aber ſchneller. Wenn mich einer be⸗ leidigen will, ſo könnte ich ihn — totſchlagen, nein, ſo arg nicht, aber ihn prügeln, prügeln, und mich freu'n, wenn er recht ſchrie. Mutter nennt mich manchmal kleine Furie. Ich hoffe ſo ſehr, daß ich nach der 2a komme. Ich könnte es gar nicht aushalten, wenn es nicht der Fall wäre. Ich bin ſo fürchterlich ehrgeizig. Dann werde ich wohl auch das engliſche Gedicht aufſagen, das heißt, ich will! Ich ſollte eigentlich das fran⸗ zöſiſche mit zwei andern zuſammen aufſagen, und Herr 14 Vogel war auch ſchon einverſtanden damit, und da wollte ich plötzlich nicht, ich glaube aus Eiferſucht. Ich hätte mich ſo gefreut, das Ganze allein aufzu⸗ ſagen, und da wollte ich lieber gar nicht. Und nachher ärgerte ich mich ſo, nicht, weil ich nun das Gedicht nicht aufſage, ſondern weil ich mich ſo albern be⸗ nommen habe. Am Nachmittag ſagte mir Herr Simons, wenn ich das, was die erſte Abteilung rechnet, nicht mit zu rechnen im ſtande wäre, ſo könnte er mich nicht in die 2a verſetzen. Meine Stimmung war ohnehin ſchon nicht die beſte, und ich weinte, ich weinte! Oh, ich Dummkopf! ich Dummkopf!!!!!!!! 5. April. Es war eine große und ereignisreiche Zeit, die letzte Woche. Am Donnerstag hatten wir das unſinnigſte aller Examen. In dem Vierteljahr von Weihnachten an war uns alles ſchon eingelernt worden. Ich ſagte das engliſche Gedicht auf, wie ich es mir in den Kopf geſetzt hatte. Die Martha Franz ſagte dann das deutſche Gedicht; ich kann nicht begreifen, wie ein Menſch um ſolcher geringfügigen Sache willen ſo zittern kann, wie ſie es gethan hat. Abends kam Grete Stadler zu mir, die alle das Wunderkind nennen. Sie iſt ſchon erwachſen, 16 Jahr alt; ſie erzählte mir Geſchichten, und ſie und die Ge⸗ ſchichten gefallen mir ſehr gut. Geſtern war der große Tag der Verſetzung. Nach einer langen Rede, die mich mehrmals zum Lachen brachte, wurde vorgeleſen, wer verſetzt würde. Als die Verſetzungen nach 2a an die Reihe kamen, fing 15 der Herr Direktor ſo an: „Ich werde mit der letzten anfangen, die eigentlich noch gar kein Recht hat, nach 2a zu kommen, weil ſie zu jung iſt (man wirft mir bedeütſame Blicke zu), die aber meiner Meinung nach Euch alle übertrifft: Sibilla Dalmar!“ Meine Freude war und iſt noch grenzenlos. Emmy Kaiſer wird jetzt nicht mehr mit verachtendem Stolze auf mich nieder⸗ ſehen. Sie äußerte neulich, ich wolle ſie alle beherrſchen. Pah, das will ich auch. 8. April. Geſtern hatten meine Eltern Beſuch. Die Frau von dem Dichter F. (ich ſchreibe keine Namen aus, ſonſt geht es mir am Ende wie meiner Couſine Anna; die führte auch ein Tagebuch, als ſie zum Logierbeſuch bei einer unangenehmen Tante war. Und das Tagebuch ließ ſie einmal liegen, die Tante las all die ſchrecklichen Sachen, die ſie über ſie ge⸗ ſchrieben, und Couſinchen wurde natürlich an die Luft geſetzt). — Alſo die Frau F. hatte ich mir viel jünger und hübſcher gedacht. Sie hat ſo viel Falten um die Augen, beſonders wenn ſie lacht. Herr Tau . . . war auch da, ein großer Virtuoſe und der Abgeordnete Herr Las . . . Der hat mir ſehr gut gefallen. Er ſpricht ſo intereſſant, kurz und klug, er hat mir von allen am beſten gefallen. 16. April. Ich muß doch eigentlich auch in das Buch ſchreiben, wenn ich mich ſchlecht benommen habe, und mich nicht immer loben. Couſine Anna, die ſeit einigen Monaten bei uns wohnt, und ich, wir waren alſo am Mittwoch ſehr ungezogen. Anna las im Bett aus einem verbotenen Buch. (Ich muß zu meiner 16 Schande geſtehen, ich würde es auch thun, wenn ich nicht mit Mutti in einem Zimmer ſchliefe.) Ich machte Anna heftige Vorwürfe, und als ſie da weiter las, ſchlug ich ſie und hielt die Thür zu, weil ſie mich wieder ſchlagen wollte; da zerſchlug ſie das Glas in der Thür und that ſich ſehr weh. Vater war, ich glaube zum erſten Mal, ſehr böſe auf mich. Nachher bat ich ihn um Verzeihung; er iſt ſo gut und verzieh mir. Ob ich Anna wohl geſchlagen habe, weil ſie das Buch las und nicht ich? So, nun ſteht doch wenigſtens eine Schandthat von mir hier. Ich leſe jetzt „Die Pickwicker!“ Sie gefallen mir ſehr gut, trotzdem Mutti lachte, als ſie das Buch in meiner Hand ſah, und meinte, ich könnte es unmöglich verſtehen. Vorher blätterte ich in der Bibel, ſie iſt gar nicht ſo langweilig, wie ich immer dachte, ſondern im Gegenteil ſehr unterhaltend. 30. April. Seit 14 Tagen habe ich dich, hold⸗ ſeliges Buch, nicht in Händen gehabt. Damals waren noch Ferien, nun ſitze ich ſchon ſeit 1½ Woche in 2a. Es gefällt mir recht gut, wenn auch anfangs ein paar Gänschen über mich lachten, was ſie jetzt hübſch bleiben laſſen. Die drei Lehrer ſind recht nett, am beſten gefällt mir Doktor Heckel, der iſt am energiſchſten und weiß zu erreichen, was er will. Dann kommt Doktor Bender, der ſich alles gefallen läßt. Höchſtens ſagt er: „Sie bringen mich zur Verzweiflung“ oder „Ich bitte Sie um alles in der Welt, das geht nicht o.“ Darüber muß ich immer lachen, daß er anſtatt g, ſagt. Der dritte, der Doktor Schell — ein Murrkopf. 2 17 30. Mai. Ich habe hier ein Blatt ausgeriſſen, auf dem lauter Unſinn ſtand, und daher hat das, was ich jetzt ſchreibe, gar keinen Zuſammenhang mit dem Vorhergehenden. Was will ich eigentlich ſchreiben? Mir iſt ſo wirr im Kopf. In der Schule reden immer alle über mich. Neulich war Frau Hegel ſehr ungerecht gegen mich. Ich mußte mich die ganze Stunde in acht nehmen, nicht zu weinen. Als aber alle weg waren, außer Frau Hegel und Nette Günzer, da fing ich an fürchter⸗ lich zu weinen, und dann lachte ich wieder, und das Ende vom Liede war, daß ich Frau Hegel bat, nie⸗ mandem zu erzählen, wie albern ich geweſen war, und ich glaube, Frau Hegel und Nette ängſtigten ſich etwas, ich glaube, das war mir nicht unangenehm. Warum war ſie ſo ungerecht!! 17. Mai. Geſtern feierten wir das herrlichſte Feſt, das vor 49 Jahren der Welt den großen Künſtler Dalmar (mein Vater) ſchenkte. Grete und ich, wir hatten zu dem Geburtstag ein Theaterſtück gelernt — „Rotkäppchen“ von Tiek. Ich war das Rotkäppchen, ich glaube ein recht hübſches. Wir ſpielten es vor⸗ mittags, und nachmittags noch einmal, und Couſine Elſe war der Wolf. Sein Fell war aus lauter Pelzkragen zuſammengeheftet. Elſe weinte erſt, ſie ſchämte ſich herauszukommen. 31. Mai. Erſter Pfingſtfeiertag. Wir haben das Vorderzimmer ganz mit Maien geſchmückt. Sieht das hübſch aus! und wie es duftet! Nachmittag fuhren wir nach einem Ort, der Lichterfelde heißt. 18 An und für ſich iſt der Ort nichts weniger wie hübſch, ein paar kahle Villen und verkrüppelte Kiefern. Das Eſſen aber in der Reſtauration, das ſchmeckte mir ſehr gut. Dann aber kam ein Gewitter. Ich fürchte mich immer ſchrecklich vor Gewittern. 5. Juni. O, mein Gott, iſt das heut' langweilig. Vater und Mutter ſind nach Charlottenburg gefahren und wir können in der ſchönen Luft keinen ordentlichen Spaziergang machen. Ich war zwar unten, aber wo ſollte ich denn hin? immerzu bei Milenz vorbeigehen, wo ſo viele Leute ſind? Im Hintergarten ſitzen die Wirte, im Vor⸗ garten ein altes Fräulein mit dem Geſangbuch in der Hand. Wohin? Ich wollte, ich könnte auch ein wenig ſpazieren fahren, oder in irgend einem Lokal wie „Krugs Garten“ oder „Moritzhof“ Kaffee trinken. Aber nichts. — Leſen mag ich auch nicht mehr, über uns klimpern die Kinder auf dem Klavier, und ſo heiß iſt es, ſo heiß. Ach, ich habe ſchon ſolches Kopf⸗ weh, und bin ſo müde, trotzdem es noch ganz früh iſt. Ich dächte gerade, ich hätte nun genug geklagt. Buch zu. 23. Juni. Ich habe ſchon wieder ſeit vielen Tagen nichts eingeſchrieben. Heut vor 8 Tagen hat unſere ganze Klaſſe eine Partie nach den Pichels⸗ bergen gemacht. Wir fuhren dabei über die Havel, die viel breiter iſt, als ich mir gedacht habe. Ich habe mich ſehr gut amüſiert, weiß aber doch nicht, was ich darüber ſchreiben ſoll. Ach, ich bin ſo müde, 2* 19 und es iſt ſo heiß, ich habe ſo viel gearbeitet. Frau Hegel hat heute geſagt, ich wäre nicht mehr die fleißige Schülerin von ehemals, ich fühle, es iſt wahr. Ich weiß gar nicht, wie das gekommen iſt. Ich habe mir vorgenommen, nun ganz anders zu werden, darum habe ich auch jetzt in der Hitze ſo viel gear⸗ beitet. Ich wollte bloß, die Couſine wäre erſt weg, denn es iſt bald nicht mehr zum aushalten mit dem Kinde, ich haſſe ſie, und die anderen lieben ſie auch nicht. 16. September. Wieder habe ich faſt ein viertel Jahr nichts in das Buch geſchrieben. Ich bin jetzt 12 Jahr. Als ich das vorige Mal einſchrieb, war ich noch 11 Jahr. Wie ſchnell das wechſelt, ich denke immer, ich bin noch 11, ich weiß nicht warum. Außer vielen Geſchenken wurde mir zum Geburtstag noch etwas ſehr Hübſches aufgebaut, und das war Gretchen. Am Tag vor meinem Geburtstag waren wir abends bei Günzers eingeladen geweſen, und ſo kam es, daß ich nicht merkte, daß Grete die Nacht über bei uns geblieben war. Als ich am nächſten Morgen aufgebaut bekam, ſtand ſie auf dem Tiſch, in ein weißes Laken ge⸗ hüllt, mit einem grünen Kranz über dem aufgelöſten Haar. Am Nachmittag kam Camilla, wir amüſierten uns ſehr. Ich bin ſo entſetzlich matt und müde, aber ich kann nicht ſchlafen. Ach, es iſt ſo heiß heute und ich habe ſo viel geleſen. 22. September. Ach, ich bin jetzt ſo faul 20 in der Schule, beim Aufſtehen und überhaupt immer. Heut war ich ſehr ungezogen und bin in abſcheu⸗ licher Stimmung, weil Vater böſe auf mich war. Ich dachte, er wüßte von meiner Unart nichts. Ich be⸗ greife gar nicht, wie Mutter es ihm ſagen konnte. Als er nach Hauſe kam, ſagte ich ihm ganz ahnungslos „Guten Tag“, er aber antwortete mir gar nichts, auch abends nicht. Ich muß nur ſchnell von etwas anderem ſprechen. Neulich an Annas Geburtstag war Grete da. Wie habe ich die eine Zeit lieb gehabt, doch jetzt iſt die Liebe verrauſcht und ſie iſt mir gleichgültig, manch⸗ mal kann ich ſie ſogar nicht leiden. Ich mag nicht, daß ſie zu Muttern ſo zärtlich iſt und ſie „Mama“ nennt, überhaupt an Zärtlichkeit fehlt es ihr nicht, es iſt das mit ein Hauptgrund, warum ich ſie nicht mehr leiden kann. Ich habe jetzt eine neue Freundin in der Schule, Hedda Rank, ein ſehr kluges Mädchen. Sie iſt erſt ſeit Oſtern in der Schule, und da ſie klug iſt, iſt ſie natürlich den anderen verhaßt, und wenn die Dummen dann über ſie lachen, dann weint ſie. Das iſt freilich nicht klug. Wir haben Ferien. Gott ſei Dank. Leider nicht lange. Ich habe jetzt keine Luſt zum Schreiben. 13. Januar 1869. Mein Gott, wie lange habe ich nichts in dies Buch geſchrieben, recht dumm von mir, denn welche kleine Mühe macht es mir, und 21 welche große Freude werde ich ſpäter einmal davon haben, wie Mutter wenigſtens ſagt. Weihnachten war es ſehr vergnügt. So viel Geſchenke bekam ich. Grete hat wieder vom 2. Feiertag bis geſtern hier bei uns gewohnt. Ich kann ſie jetzt wieder beſſer leiden, ich liebe ſie nicht, aber ich bin ihr ziemlich gut. Eigentlich glaube ich nicht, daß ſie viel Talent hat, denn neulich las ſie uns ein ganz einfaches Gedicht vor „Das Grab am Buſento“ und „Die Grenadiere“, und ſie las es ſo herzlich ſchlecht, daß alle ſagten, ich hätte es beſſer ge⸗ leſen, und das muß ich auch ſelbſt ſagen, ohne mich loben zu wollen. Was aber Grete bei ihrem Lehrer durchgenommen hat, macht ſie recht gut, manchmal ſogar ſehr er⸗ greifend. Ich bin heut aus der Schule geblieben, weil mir nicht wohl war. Ich gehe ſo ungern in die Schule, ich kann gar nicht ſagen wie. Ich will ja fleißig ſein, will viel, ſehr viel lernen, aber es geht ja nicht in der Schule. (Frau Hegel hat uns die Bibel als das beſte Buch empfohlen, in dem wir fleißig leſen ſollen. Nun befolgen wir ihr Gebot. Grete, Anna und ich, wir haben uns neulich Abend hingeſetzt und die ſchönſten Stellen ausgeſucht von — aber nein, das iſt zu häßlich, ich ſchreibe es nicht. Nun, ſo thun wir doch Frau Hegels Willen. Außer der Bibel leſe ich jetzt Zſchokkes Novellen. Zum Teil recht niedlich, zum Teil ein bißchen langweilig. 9. Februar. Ich erlebe jetzt ſehr viel und doch wird mir die Zeit ſo erſchrecklich lang, nein, eigentlich 22 ſehr kurz, denn wenn ein Tag vorbei iſt, weiß ich gar nicht, was ich überhaupt die ganze Zeit gethan habe, ich bin ſo überdrüſſig. Prutz meinte neulich in ſeinem Vortrag, ein jeder Menſch müßte ſo eine Zeit einmal haben, in der er ohne Grund traurig wäre, in der er tot ſein möchte. Na, zu Grabe getragen werden möchte ich doch noch nicht. Es thut mir ſehr leid, daß die Vorträge von Prutz ſchon zu Ende ſind. Sie haben mir ſehr ge⸗ fallen. Ich freute mich immer ſchon auf den Tag, und war ungeduldig; ſchade, daß es nun vorbei iſt. Ich habe ſehr viel dabei gelernt, ich habe einiger⸗ maßen einen Begriff bekommen von der Litteratur des 18. Jahrhunderts, von der ich nicht das geringſte wußte. Ich weiß nicht, mir ſchwebt immer ein ganz gleichgültiger Vorfall vor, bei dem mir aber unrecht geſchah. Ich war erſt 5 Jahre alt. In unſerem Hauſe wohnte eine alte Frau, bei der hatte der kleine Knabe vom Wirt ſchrecklich geklingelt, die alte Frau lief auf den Hof, mir wurde die Schuld zugeſchoben, und ich bekam eine fürchterliche Strafrede. Dieſer geringfügige Vorfall iſt mir nie aus dem Gedächtnis geſchwunden; Kinder behalten ja immer, wenn ihnen unrecht geſchieht. Jetzt bin ich nicht mehr ſo, im Gegenteil, ich behalte beſſer im Gedächtnis, wenn jemand etwas Gutes und Hübſches zu mir oder von mir ſagt. 23 Neulich war Geſellſchaft bei Löwes. Vater nahm mich mit, obgleich es Mutter ſehr unrecht fand. Ich habe mich noch nie ſo gut amüſiert. Es war eine aus⸗ gewählte Geſellſchaft, meiſt Schriftſteller und Kritiker. Fr . . . vertrat das letztere Fach. Mit dem habe ich Brüderſchaft getrunken und auch mit Auer ... Auer ... iſt ein reizender Menſch. Ich kann ihn nicht nur gut leiden, ich habe ihn auch lieb. Wolt ... war auch da. Grete neckte mich eine Zeit lang mit Wolt . . . Zu dumm! Wenn man jemand gern mag, muß man darum verliebt in ihn ſein? Dann war Julius M . . . . da. Er findet mich ſehr hübſch, er hat es mir geſagt. Es macht mich ſehr, ſehr glücklich, wenn mich jemand hübſch findet. Er hat mir immerzu Schmeicheleien geſagt, das macht mich verlegen, und ich gerate nicht gern in Verlegen⸗ heit. Uebrigens iſt unſer Gefallen aneinander gegen⸗ ſeitig. Ich finde ihn ſehr nett. Nett iſt ein dummes Wort, ich meine etwas ganz anderes, ich kann mich gar nicht ausdrücken Er hat uns auch ſchon einen Beſuch gemacht. Er hat eine Tochter, ebenſo alt wie ich.“ Auerb ... habe ich auch gebeten, uns zu beſuchen, und er hat verſprochen zu kommen. Ich habe ein Viel⸗ liebchen von ihm gewonnen und mir eines ſeiner Werke gewünſcht. Ich hoffe, er wird's nicht vergeſſen. Wie langweilig war dagegen die Geburtstagsfeier von Couſine Anna. Wenn man das Feſt mit der Geſellſchaft am Tage vorher vergleicht, muß man lächeln. Und ich lächelte auch, als Anna zu mir 24 ſagte, daß ich mich doch unzweifelhaft heut beſſer amüſierte als geſtern. Das gute Kind kam mir ſo naiv vor mit ſeiner Frage. Sie kann ſich nichts vor⸗ ſtellen, das über eine Punſchtorte und ein Glas Champagner geht. Ich legte geſtern Prutz einen Lorbeerkranz hin zum Abſchied. Nachher that's mir leid, daß ich es übernommen hatte, denn der Kranz ſah ſchrecklich ruppig aus. 22. März. Was habe ich nicht alles erlebt in dieſen letzten Monaten! Es war eine ereignisreiche, darum nur allzu ſchnell vergangene Zeit. Womit ſoll ich meinen Bericht anfangen? Ich werde mit etwas beginnen, was uns auch für die nächſte Zeit wahr⸗ ſcheinlich viel beſchäftigen wird. Vater wünſcht nämlich, wir ſollen Berlin verlaſſen. Ich fände es wahrhaft ſchrecklich, wenn wir in einer kleinen Stadt leben ſollten. Vater iſt zu einem Muſikfeſt nach Weimar gefahren. Ich kann mir recht gut denken, daß es ihm dort ge⸗ fällt, wenigſtens für einige Zeit. Er wird bewundert, gefeiert, aber wir? Wir ſind nicht berühmt, man wird uns kaum beachten. So egviſtiſch es auch iſt, ich ärgere mich manchmal darüber, daß Vater ſich ſo gut amüſiert, und beſonders über eine Außerung von ihm, daß er ſich ſo wohl fühlt, wie ſeit 20 Jahren nicht. Wenn es ihm gefällt, wenn er ſich amüſiert, gut, das thue ich ja auch, aber daß es ihm ohne uns beſſer gefällt, das kann ich ihm nicht verzeihen. Geſtern bekamen wir Cenſuren. Meine iſt ſehr ſchlecht, ich bin aber ganz zufrieden. Nämlich alle 25 geben zu, daß ich erzfaul geweſen bin und zerſtreut und unaufmerkſam, aber meine Fortſchritte loben ſie alle. Das iſt mir eine rechte Befriedigung, denn es beweiſt mir, daß ich nicht dumm bin, was ich übrigens längſt wußte. Fräulein Glaſer verließ die Schule mit einer rührenden Abſchiedsfeier. Unſere Klaſſe hatte ihr den Goethe geſchenkt und ich hatte ihr ein Gedicht dazu ge⸗ macht, ein bißchen hat mir Mutter dabei geholfen. Es lautet: Du ſcheideſt, und Du wirſt nicht wiederkehren, Was Dein an Glauben und an reichem Wiſſen, Du gabſt es uns, in Beiſpiel und in Lehren. Ach, Teure, ſchmerzlich werden wir dich miſſen. Fahr wohl! Es lächle Dir zu allen Zeiten (a, na!) Das Leben nur im heiteren Feſtgewand, Und unſere Wünſche mögen Dich geleiten, Haſt Du Dich treulos auch von uns gewandt. (Hier fing ſie an zu heulen und ſich zu verteidigen.) Und wandelſt Du auf Goethes Zauberfluren Am Wunderſtrom, wo nie verſiegt die Quelle, So denke derer, die jetzt Deinen Spuren Nachweinen, Vorbild Du, uns leuchtend helle. Und biſt Du leiblich uns auch längſt entſchwunden, Du lebſt in unſerm Herzen jetzt und immer, Du wirkeſt fort — wir ſind an Dich gebunden Und uns umſtrahlt von Deinem Geiſt ein Schimmer. (Gut gelogen, Sibillchen.) Dies Gedicht habe ich eigentlich nur eingeſchrieben, um Raum zu füllen. Ich habe mir nämlich vor⸗ genommen, in möglichſt kurzer Zeit dies Buch auszu⸗ füllen. 26 Ich war in einer Geſellſchaft bei Roſa Bär. Dort war auch Trudchen Henning, die ſo fremd und herab⸗ laſſend zu mir that. Auch ihre Schweſter Alice hat, wenn ich ihr einmal begegne, ein eigentümliches Weſen zu mir, ſo leutſelig. Sie haben bei Vater Muſik⸗ unterricht. Es macht mir immer den Eindruck, als ob ihr Vater zu ihnen geſagt hätte: „Seid recht freund⸗ lich zu den armen Dalmars.“ Ich will ihre Freund⸗ lichkeit nicht. Sie ſollen ſie für ſich behalten, die geld⸗ ſtolzen Hennings. Geld! Geld! kommt mir manchmal ſo ordinär vor. Heut, als ich mit Mutter im Tiergarten ſpazieren ging, ſahen wir einen ſehr prachtvollen Kinderwagen, in dem lag ein prachtvoll geputztes Kind mit dicken, roſigen Bäckchen, und eine noch viel prachtvollere Spree⸗ wälderin ſchob den Wagen. Als wir das Kind und den Wagen und die Amme bewunderten, kam eine arme Frau heran mit einem zerriſſenen Umſchlagetuch. Sie hatte auf dem Arm ein Kind, das war nur Haut und Knochen und nur in eine Art Lumpen eingewickelt. Das vermagerte Ding kreiſchte vor Vergnügen über den ſchönen Wagen und wollte dem prachtvollen Kind Händchen geben. Ganz empört ſtieß die prachtvolle Amme das magere Händchen — ſchmutzig war es ja — zurück und fuhr ſchnell davon. Was Kinder für ſonderbare Augen haben können. Ich kann die Augen von dem Haut⸗ und Knochenkind nicht vergeſſen. Ob es wahr iſt, was in der Bibel ſteht: „Der Herr, der die Lilien wachſen läßt u. ſ. w.“ Frau G. ermahnt uns immer, recht bibelgläubig zu 27 ſein. Wenn nur die armen Kinder von Bibelſprüchen ſatt würden! Eiſenach, den 29. April 1869. Wenn ich nach langen Jahren dieſes Buch überleſen werde, ſo werde ich mich natürlich fragen, wie kam ich damals ſo plötz⸗ lich nach Eiſenach? Um dann nicht lange darüber nachdenken zu müſſen, ſchreibe ich hier einfach den Grund. Mutter iſt im Winter recht krank geweſen: Gelenk⸗ rheumatismus; ſie ſollte früh aufs Land. Sie wählte Eiſenach, weil da eine ſehr gute Penſion für mich ſein ſoll. Ich paſſe doch gar nicht in eine Penſion. Vater iſt in der Nähe von Dresden auf den Landſitz eines Freundes gereiſt, um, wie er ſagt, die letzte Feile an ſeinen Merlin zu legen. Es iſt recht häßlich von mir, aber wie ich Vatern kenne, legt er die Feile doch nicht an. Die Gegend um Eiſenach iſt ſehr ſchön. Jeden Tag entdecken wir neue Schönheiten. Die Wartburg haben wir immer vor Augen. O, es iſt wundervoll, wenn ſich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne in ihren Fenſtern wiederſpiegeln. Es ſcheint dann, als ob ein flammendes Meer ſich darüber er⸗ göſſe, bis der Schein nach und nach matter wird und endlich die glühende Röte ſich in ein dunkles Lila verwandelt und der Abendſtern hoch und hehr darüber ſchwebt. Unſere Wohnung iſt hübſch und geräumig. Und die Schule — beſſer als unſere in Berlin iſt ſie jeden⸗ falls. Auch eine Bibliothek giebt's hier und was für 28 eine! Ein paar Novellen und Romane, hauptſächlich aber Ritter⸗ und Räubergeſchichten. 10. Juni. Als ich eben das Vorhergehende überlas, wollte ich die paar Seiten ausreißen, nur, um mich nicht immer über meine Albernheiten ärgern zu müſſen; etwas ſchildern zu wollen, was ich nicht kann, und etwas empfinden zu wollen, was ich nicht empfinde. Ich finde es ja hier recht ſchön, aber ich kann nicht ſagen, daß mich die Natur ſehr ergriffe oder rührte, wie ich mir in den letzten Seiten den Anſtrich geben will. Vater war hier. Wir haben eine kleine Reiſe durch Thüringen gemacht. Zu Haus konnte ich mich gar nicht wieder an das langweilige Leben gewöhnen. Tag für Tag in die Schule zu gehen, Schularbeiten zu machen und mit Amanda Schulz, meiner Freundin (weil ich keine andere habe), ſpazieren zu gehen. Ich möchte wohl noch etwas ſchreiben, aber da ruft ſchon wieder die dumme Schule. 31. Juli. Wie die Zeit ſo raſend ſchnell ver⸗ ſtreicht. Schon wieder über einen Monat voller Langweile, ſeit ich zum letzten Male eingeſchrieben habe. Viel iſt ſeitdem nicht vorgekommen. Das vorige Mal ſprach ich mit meiner Freundin Amanda Schulz, jetzt muß ich von meiner Feindin Amanda Schulz erzählen. Ich konnte das Mädchen von vornherein nicht leiden, und habe keine Ahnung, wie ſo urplötzlich unſere innige Freundſchaft gekommen war, denn wir 29 paſſen gar nicht, aber gar nicht zuſammen. Ich war ſogar ihretwegen einige Mal recht böſe auf Julie Herbig, von der ich es recht unfein fand, daß ſie immerfort ſagte, mit einem ſolchen Mädchen würde ſie nie umgehen, und ſie wußte doch, daß ich mit Amanda befreundet war. Es iſt wahr, Amanda iſt ganz oberflächlich, es iſt ihr unmöglich, etwas ernſtes vorzunehmen. Ihre höchſte Seligkeit iſt, wenn ein paar dumme Gymna⸗ ſiaſten ſich in ſie verlieben und ihr nachlaufen. Die Urſache unſeres Zankes war nun folgende. Ich ging mit aufgelöſtem Haar ſpazieren (offen ge⸗ ſtanden macht es mir Vergnügen, wenn die Leute ſich nach mir umſehen) und Amanda, die ganz Klein⸗ ſtädterin iſt, wollte ſo nicht mit mir gehen. Es iſt unanſtändig, ſagte ſie, und flechteſt Du Dir nicht augenblicklich die Haare ein, ſo gehe ich fort und komme nie wieder. Ich ließ ſie gehen, und bis jetzt hat ſie, Gott ſei Dank, ihr Verſprechen gehalten! Doch genug von der langweiligen Amanda. Ich habe jetzt Conſuelo geleſen. Es hat mir einen tiefen Eindruck gemacht. Ach, hätte ich doch auch eine ſo ſchöne Stimme. 31. Januar 1870. Seitdem ich nichts in dieſes Buch geſchrieben — es iſt ein halbes Jahr her, bin ich um viele Erfahrungen reicher geworden. Vater, der noch den ganzen Winter über in Dresden an ſeinem Merlin arbeitet, wünſchte, daß ich in Eiſenach in der Penſion bleiben ſollte. Ich wollte aber nicht, 30 ich wollte nicht, ich ſträubte mich dagegen mit aller Macht, warum, weiß ich eigentlich ſelbſt nicht zu ſagen. Ich dachte es mir entſetzlich in der Penſion zu ſein, ohne freien Willen, immer mit allen anderen zum Spazierengehen ausgetrieben zu werden, wie eine Herde Schafe, pardon Lämmer, dabei tödliche Lang⸗ weile. Und ich ſetzte es durch, nach vielen Kämpfen und vergoſſenen Thränen. Wir kamen glücklich in Berlin an, und nach einigen Bummeltagen wurde ich in die Schule von Frau H. geſteckt, welche Dame wir mit Tante anreden mußten. Dieſe Schule nun iſt ſüß, entzückend, balſamiſch, berauſchend. Ich gehe mit Ent⸗ zücken hin. Wir haben aber auch reizende Lehrer. Zu⸗ erſt mein Liebling, der Geſchichtslehrer Dr. G. Er iſt ein hübſcher Mann von Witz, Geiſt, Humor, Ironie, kurz, er hat alle möglichen Vorzüge, nur iſt er ein wenig, ſagen wir ſehr exaltiert. Dann kommt der Profeſſor L., der Schwarm aller jungen Mädchen, ge⸗ wiſſermaßen meiner auch. Bei ihm haben wir Aufſätze, die mir teils ge⸗ lingen, teils auch nicht. Leſen und Gedicht bezeichnet er in meiner Cenſur als talentvoll. Profeſſor H. unterrichtet, iſt aber kein Schulmeiſter. Wir thun bei ihm was wir wollen. Dr. K. Der unſelige Mann unterrichtet in zwei mir verhaßten Gegenſtänden: Rechnen und Phyſik; das dient nicht dazu, ihn mir angenehmer zu machen. Profeſſor L. ein orthodoxer Herr. Miß N. eine dumme Trine. 31 11. März. Nach langer Unterbrechung nehme ich den Faden meiner Erzählung wieder auf. Mutter iſt fort, zu einer kranken Schweſter nach Stuttgart ge⸗ reiſt, ſie bleibt vielleicht Monate lang fort, und ich bin allein hier, bei den Großeltern. Die erſten Tage glaubte ich es nicht ertragen zu können, ohne ſie zu leben, heimlich vergoß ich bittere Thränen. Doch der erſte Schmerz der Trennung legte ſich. Wir ſchreiben uns ganz regelmäßig, teilen uns alle Erlebniſſe mit, aber von meiner Sehnſucht ſchreibe ich kein Wort mehr, ſeitdem die kranke Tante aus Stuttgart an Großmama geſchrieben hat, was ich für lamentable Briefe ſchriebe. Ich kann's nicht leiden, wenn eine dritte fremde Perſon das lieſt, was nur für meine geliebte Mutter be⸗ ſtimmt iſt. Zu Weihnachten habe ich mich hier ſo unglücklich gefühlt, daß ich aus Mitleid mit mir ſelbſt hätte weinen können. Mein einziger Troſt war wirklich die Schule, wo ich mich durch Übermut und Unart für die häusliche Sittſamkeit entſchädigte. Das wurde mir aber in der Cenſur eingetränkt, die vielen Einzelrüffel abgerechnet. Gerade als ich 4 Wochen bei Großmama war, mußte ſie nach Breslau zu einem verheirateten Sohn reiſen, und ich kam zu der Familie Haller, mit der Vater ſehr befreundet iſt, und wo ich 4 Wochen blieb. Es gefiel mir hier ungleich beſſer als bei Großmama, doch glücklich war ich auch hier nicht. Marie Haller, meine Schulfreundin, und ich, wir ſind zu ungleiche Naturen, um in Frieden nebeneinander leben zu 32 können. Sie iſt klug, aber ſie iſt ein Kind, und das bin ich nicht mehr, vielleicht bin ich es nie geweſen. Wir wurden nun auch wie Kinder behandelt, und daran bin ich nicht gewöhnt, weder von Mutter noch von Großmamd. In der Schule gefällt es mir noch immer aus⸗ gezeichnet, trotzdem ich meine Meinung in Bezug auf mehrere Lehrer geändert habe. Zum Beiſpiel Profeſſor L. iſt nicht mehr mein Schwarm, ſondern iſt zu einem langweiligen Peter zuſammengeſchrumpft, der ſich das Air unermeßlicher Gelehrſamkeit zu geben weiß. Die Tante ſelbſt kann manchmal außerordentlich liebenswürdig ſein und manch⸗ mal wieder das Gegenteil. Von jemand, der mich ganz beſonders intereſſiert, habe ich noch gar nicht geſprochen, das iſt meine einzige Freundin Timäa Burg; ihre Mutter iſt eine Ungarin, daher der Name Timäa. Sie iſt mir ein Rätſel. Eins ſteht feſt, ſie iſt ſehr klug, ſehr originell und ſehr launenhaft. Ich habe mir ſchon mehr von ihr bieten laſſen als von irgend wem, doch alles hat ſeine Grenze, und als ſie ſich neulich ſehr unfreundlich benahm, war ich zum erſten Mal ernſtlich böſe; zu meiner Ver⸗ wunderung fing ſie am nächſten Tag an, die Verſöh⸗ nung anzubahnen. Ihre Mutter habe ihr geſagt, ſie müſſe mich um Verzeihung bitten, und dabei ſah ſie mich ſo an, als wollte ſie ſagen: es thut mir leid, daß ich Dich beleidigt habe, aber ich kann nicht abbitten. Da fiel ich ihr um den Hals und ſagte, daß ich ihr nicht mehr böſe ſei. Timäa iſt nun einmal ſo ſonder⸗ 3 33 bar, gar nicht wie andere Mädchen, aber ſie muß ſich doch auch beherrſchen lernen, denn wie Goethe ſagt: „Wer ſich nicht ſelbſt befiehlt, bleibt immer ein Knecht.“ 15. Mai 1870. Am Mittwoch gehe ich für dieſen Sommer zum letzten Male in meine vielgeliebte Schule. Meine Gefühle ſind geteilt. Einmal zieht's mich nach Eiſenach, wo ich Vater und Mutter treffe, und dann wieder möchte ich mit aller Leidenſchaft hierbleiben, und der Gedanke an die Penſion erfüllt mich mit Schrecken. Eiſenach, 2. Auguſt 70. Schon wieder hat ſich alles gewendet und verändert, und wenn ich alles nachtragen wollte, was ich in dieſem Zeitraum erlebt, würde ich Tage dazu brauchen. Ich will darum nur die wichtigſten Ereigniſſe niederſchreiben. Berlin habe ich am 23. Mai verlaſſen mit unendlichem Bedauern, das ſich natürlich nur auf die Schule bezieht. Der Profeſſor G. hielt mir eine ſchöne große Abſchiedsrede, bei der ich beinahe Thränen vergoſſen hätte. „Wirken Sie nur auf Timäa,“ ſagte er unter anderem, „damit treten Sie ein in den apoſtoliſchen Beruf der Menſch⸗ heit. Sie haben ein großes und gutes Gemüt, ich weiß es! Leben Sie wohl, Sibilla, Gott mit Ihnen!“ Ein großes und gutes Gemüt habe ich? In Weimar erwartete mich Vater, der ſich dort zum Beſuch einige Wochen aufhält. O war ich glück⸗ lich, als ich ihn ſah. Was für ein anderes Leben mit jemand, den man lieb hat, zuſammen zu ſein, als immer nur mit gleichgültigen Menſchen. In Weimar 34 hatte ich ſehr viel Vergnügen, ſo viel wie nie zuvor, doch ich muß ſagen, ich möchte nicht immer in dieſem Rauſche leben. Das ermüdet und ſtumpft ab gegen höhere Intereſſen. Ich habe berühmte Perſönlichkeiten kennen gelernt, unter denen Franz Liszt die Haupt⸗ rolle ſpielte. Ich bin hingeriſſen von ihm, er war zu liebenswürdig, ich begreife, daß man ihn lieben kann. Ich glaube aber doch, daß hauptſächlich Eitelkeit mir dieſe Worte diktiert. Nach Liszt kommt Frau Viardot, die ſo mütterlich liebevoll zu mir war. Noch un⸗ endlich viel andere Leute lernte ich kennen, und alle fanden mich ſehr hübſch und ſehr klug. Soll ich's glauben? Als ich nun nach einem achttägigen Freudenrauſch nach Eiſenach in die Penſion kam, fühlte ich mich erſt recht unbehaglich, aber was thut nicht alles die Ge⸗ wohnheit! Jetzt fühle ich mich ganz wohl hier. Mutter kam eine Woche nach mir in Eiſenach an. Als ich die Depeſche, die ihre Ankunft meldete, erhielt, glaubte ich die Freude nicht überſtehen zu können, nachher aber, als Mutter nun wirklich da war, wurde ich übel gelaunt. Warum? Weil ich ſie allein haben wollte und ſie doch mit ſo vielen andern ſprach. Ich bin, glaube ich, ſehr egoiſtiſch. Ich ſoll doch aber ein gutes Herz haben? Eiſenach, 12. Auguſt. Wir haben in den großen Ferien ziemlich viel Vergnügen gehabt. Ein⸗ mal eine Waldpartie mit Herren. Es kam aber an dem Tag zu viel zuſammen. Vater telegraphierte mir am Vormittag, Liszt würde durchkommen, ich möchte 3* 35 an den Bahnhof gehen. Fräulein Hahn wollte mir erſt keine Erlaubnis geben, weil ſie es (lächerlich klein⸗ ſtädtiſch) unſchicklich fand. Endlich durfte ich mit einer jungen Dame, einer Lisztſchwärmerin, hingehen. Wir mußten ſehr lange warten, während welcher Zeit meine Begleiterin aller Welt erzählte, daß wir Liszt erwarte⸗ ten. Ich ärgerte mich darüber. Endlich kam er und brachte mir ein wunderſchönes Bouquet mit und Grüße vom Vater, und dann — küßte er mir die Hand. Ich wurde dunkelrot. Einige Blumen des Bouquets ruhen gepreßt in dieſem Buche. Ich mußte mich nun ſehr beeilen, um die Partie noch einzuholen. Wir amüi⸗ ſierten uns ſehr gut. — — Ach, ich kann heut nicht ſchreiben, mein Kopf ſchmerzt ſchrecklich und mir iſt ſo wirr, gar nicht als ob ich lebte. Ich möchte wiſſen, wie lange dieſer Zuſtand noch dauern wird. Ich wollte, ich wäre recht krank. Eiſenach, den 5. September 1870. Das, wo⸗ von alle Welt voll iſt, vom Kriege, habe ich noch gar nichts geſchrieben. Empfindungen darüber kann ich nicht ſchreiben, denn meine Feder kann dieſe wechſelnden Empfindungen nicht ſchildern. Manchmal denke ich gar nicht an das grauſe Schickſal der Tauſende und Tauſende, die da zuſammen in einem großen Grabe ruhen, mit der Wunde in der Bruſt, und ich bin dann ganz vergnügt. Durch irgend eine Gedanken⸗Verbin⸗ dung aber werde ich dann plötzlich auf das Schlacht⸗ feld verſetzt, und ich bin dann ganz ſtarr und ſtaune nur ſo, daß man da ſo ruhig ſitzt, ißt und trinkt und ſich womöglich rühmt, zwei Paar Socken geſtrickt 36 zu haben für die, die da draußen ihr Leben laſſen müſſen. Wir haben bis jetzt nur Siege erfochten; der Krieg naht ſeinem Ende. Es nimmt ſich gar nicht ſo wichtig auf dem Papier aus, wenn man da lieſt: „Geſtern wurde Napoleon III. gefangen genommen. Und doch, welche ungeheure Wirkung haben dieſe paar Worte hervorgerufen — in ganz Europa. Und es iſt wahr: „des großen Dämons großer Affe“, er ſitzt auf Wilhelmshöhe gefangen. Auch in dem kleinen Eiſenach regte ſich endlich die Freude, wenn auch etwas lau. Nie werde ich die Scene vergeſſen, die in unſerer Schule ſtattfand, als ſich mit dem erſten Kanonenſchuß von der Wartburg die Nachricht von der Gefangen⸗ nahme Napoleons verbreitete. Jubel, tolles Lachen, heftiges Rotwerden begleitete den erneuten Kanonen⸗ donner. Mir ſtürzten die Thränen aus den Augen und eine Freude, wie ich ſie wohl nie empfunden, durch⸗ glühte mich. Fräulein ſchloß die Schule; die Tages⸗ ſchülerinnen ſtürzten nach Haus und wir ſtürmten in den Garten, wo wir im Lauf von zehn Minuten ſechsmal die Wacht am Rhein ſangen. Unterdes war auch Mutter herbeigeeilt, und ich und Julie Herbig, wir kleideten uns ſchnell an und nun ging's auf den Marktplatz. Ein ledernes Volk! Kein Geſang, kein Lärm, keine Umarmung, faſt alles wie immer, nur wehende Fahnen verkündeten die Größe der Stunde. Auf dem Markt kaufte Mutter uns vor Freude Pflau⸗ men und Birnen, ſchrecklich viel. Am Abend war ein großes Konzert zum Beſten der Verwundeten. Aber auch hier ſtimmte kein begeiſterter Patriot in die Vaterlands⸗ 37 lieder mit ein, die ein Männerchor wunderſchön ſang. Eine wunderbare Scene war ſehr geeignet, die Lachluſt zu erwecken. Fräulein Dreier, ein Eiſenacher Kind, ſollte Herrn Wilhelm, dem Komponiſten der Wacht am Rhein, einen Lorbeerkranz überreichen. Es war ein Rieſenkranz, und Fräulein Dreier war ganz in weiße Gewänder gehüllt, und Herr Wilhelm, der in der Thür ſtand, blinzelte erwartungsvoll zu dem Kranz hinüber. Nach jedem Liede machte Fräulein D. einen Hopsverſuch zu ihm hinauf, aber immer wieder traute ſie ſich nicht. Endlich, nachdem alle Lieder geſungen waren, kriegte ſie Courage und — „O hehre Stunde“ — begann ſie ihr Gedicht und ſtülpte ihm dabei den Kranz auf das ehrwürdige Haupt. Aber o Mißgeſchick! Ihr bleibt das Wort in der Kehle ſtecken, ihm aber nicht der Kranz auf dem Kopf; er rutſcht und umſchlingt als Rieſenhalsband ſeinen Hals. Er lächelt verlegen über die Lorbeeren fort, und ſie läuft kirſchrot auf ihren Platz zurück. Und „die hehre Stunde“ war vorüber. Nach dem Konzert gingen wir noch einmal durch die Stadt, die ſpärlich illuminiert war und ſo duſe und ledern wie nur je. Ich haſſe dieſes Eiſenach und mein ganzes Sinnen iſt auf mein Berlin gerichtet. Ich will nach Berlin! Ich will! Mutti muß! Frau Dalmar ließ die Hand mit dem Buch ſinken. Allmählich war ſie bei der Lektüre ernſter und zuletzt traurig und nachdenklich geworden. 38 Waren nicht in dem Büchelchen da Anzeichen einer herrſchſüchtigen, herben, kapriciöſen Eigenart? zugleich etwas Krankhaftes? dieſe immer wieder erwähnte Müdigkeit? Sie beſann ſich. Ja, das Kind hatte eine Zeit lang gekränkelt, ohne beſtimmte Urſache. Sie war nur blaß und unluſtig und müde geweſen. Der Arzt hatte die üblichen Mittel gegen Blutarmut verſchrieben. Nach und nach war es auch beſſer geworden. Sie las noch einmal die eine und die andere Seite des Tagebuchs. Allmählich beruhigte ſie ſich. Sie ſah Sibilla vor ſich in all ihrem Liebreiz, all ihrer Lebens⸗ freudigkeit. Nein, es war nichts auf dieſe Außerungen eines frühreifen Backfiſches zu geben. Trotzige Kindereien, aus dem Milieu der Schule heraus. Sie tröſtete ſich damit: wenn Kinder ſich ſelbſt oder anderen etwas er⸗ zählen, ſo übertreiben ſie gern, unabſichtlich, auch ihre Fehler. Ein ſo junges Geſchöpf war außer ſtande, ſein innerſtes Sein zu veranſchaulichen. Nur für Gröberes, Außerliches reichten ſeine Ausdrucksmittel hin. Freilich ſie, die Mutter, hätte ſtrenger, konſequenter die Erziehung der Tochter handhaben müſſen, anſtatt in allzu zärtlicher Schwäche jeder Laune des Kindes Vorſchub zu leiſten. Streng ſein! Konſequent! Sibilla gegenüber, die Augen hatte, die einem das Herz um⸗ kehren konnten! Vor dieſen Augen, wenn ſie ſich mit Thränen füllten, hielt keine Pädagogik ſtand. Hätte wenigſtens der Vater mit ein wenig Energie die Schwäche ihrer Behandlungsweiſe ausgeglichen. 39 Der Vater als Erzieher! ſie mußte lächeln. Franz Dalmar war ein hervorragender Muſiker, obgleich er eigentlich nie etwas anderes publiziert hatte, als Lieder, allerdings reizende, ergreifende. In keinem Konzert⸗Programm durften ſie fehlen. In ſeinem Pult aber lag eine Opernpartitur, ſeit Jahrzehnten vollendet, faſt vollendet, deren Text er ſelbſt gedichtet hatte: „Merlin“. Er glaubte an dieſes Werk der Werke. Wenn mein Merlin erſt heraus iſt, pflegte er zu ſagen. Seit Jahren ſchon legte er immer die letzte Feile an ſeinen Merlin. Dalmar war lebensfreudig bis zur Genußſucht, leichtſinnig bis an die Grenze des geſetzlich Erlaubten, dabei ein berühmter Cauſeur, voll ſprühender Laune. Einige Jahrzehnte hindurch war er der verzogene Lieb⸗ ling aller Salons geweſen. Sorglos wie ein Kind trieb er auf dem Strom des Lebens einher. Sein Fahrzeug kenterte nie. Von jeder Sandbank kam er wieder los, an den gefähr⸗ lichſten Klippen glitt er glatt vorüber. Trotzdem er zeitweiſe viel Geld einnahm, kam er auf keinen grünen Zweig. Die Familie lebte von der Hand in den Mund. Er war ehrlich genug ſich einzugeſtehen, daß er eigentlich nur arbeitete, um die Mittel für ſeine Amüſements zu gewinnen. Er gab für hohes Honorar einigen Prinzen, Prinzeſſinnen und Millionären Unter⸗ richt. Kam er unregelmäßig oder gar nicht in die Stunden, er erhielt dennoch ſein Honorar; es fiel ihm nicht ein, daß man damit nicht den Lehrer, ſondern 40 den bezaubernden Geſellſchafter honorierte, der mit ſeiner Perſon die Gegenleiſtung beſtritt. Seine Verheiratung gehörte auch in das Repertvire ſeiner Leichtfertigkeiten. Er hatte ſeine Frau — die Tochter eines Landpredigers — auf einer Reiſe kennen gelernt, ſich unter dem Duft einer Linde in das zier⸗ liche, feine Mädchen verliebt, und ſie nach drei Monaten geheiratet, unbekümmert darum, ob ſie zueinander paßten, und ob er die Mittel zur Erhaltung einer Familie er⸗ ſchwingen würde. Der reſervierten Haltung ſeiner Frau war es zu⸗ zuſchreiben, daß das Bohémetum, zu dem er neigte, in ſeinem Hauſe keine Wurzeln ſchlug. Sibilla liebte ihre Eltern, den Vater ein wenig mehr als die Mutter, den lieben berühmten Vater, der nebenbei auch als Perſönlichkeit ſo charmant war, während die Mutter nur Mutter war. Sibilla kam es gar nicht in den Sinn, daß dieſe Mutter auch ein Leben für ſich haben könne. Und in der That, ſie hatte keins. Als Mutter aber beſaß ſie unſchätzbare Vorzüge. Sie war wie geſchaffen zur Vertrauten, zur Beraterin und Tröſterin, Qualitäten, die das Töchterchen ausnutzte. Den Vater behelligte ſie nie mit ihren kleinen Geheimniſſen und Kümmerniſſen. Leidvolles, Unangenehmes hätte er wie eine Zudring⸗ lichkeit, die ihn beleidigte, abgewehrt. Sibilla pflegte ſelbſt ein gelegentliches Unwohlſein vor ihm zu ver⸗ bergen. Er, der Kerngeſunde, glaubte nicht an Krank⸗ heiten und Kränklichkeiten. 41 Auf ſein ſchönes Töchterchen war er über alle Maßen eitel, und dieſe Eitelkeit verleitete ihn, das dreizehn⸗ und vierzehnjährige Mädchen ab und zu mit in die Geſellſchaft Erwachſener zu nehmen, gewiſſer⸗ maßen zum Spaß. Frau Dalmar, die immer Scheu trug, den Wünſchen ihres Gatten zu widerſtreben, ließ es zu, trotz der Oppoſition ihres Verſtandes. Daß ſie ſelbſt eine geheime Freude an dem Entzücken hatte, das ihr Kind erregte, geſtand ſie ſich nicht. Die übertriebenen Huldigungen, die Sibilla erfuhr, hätten leicht dem Kinde das Köpfchen verdrehen können, wenn dieſes liebreizende Köpfchen nicht einige Gran Verſtand mehr beherbergt hätte, als die Köpfe anderer junger Mädchen. Mit ihrem ſechzehnten Jahr wurde ſie regelrecht in die Geſellſchaft eingeführt. Der Vater diente ihr als Chaperon. Frau Dalmar hatte ſich ſchon ſeit Jahren aus dem Geſellſchaftsverkehr zurückgezogen. Anſammlungen vieler Menſchen, und die heiße, dicke Luft der Ge⸗ ſellſchaftsräume vertrugen ihre ſchwachen Kopf⸗ und Herznerven nicht. Aber Abend für Abend erwartete ſie auf der Chaiſelongue oder im Bett liegend die Rückkehr der Tochter. War ſie eingeſchlafen, ſo er⸗ wachte ſie regelmäßig einige Minuten bevor der Schlüſſel in der Korridorthür gedreht wurde. Und immer von neuem klopfte ihr Herz, wenn die Licht⸗ geſtalt des jungen Mädchens auf der Schwelle er⸗ ſchien. 42 Sibilla pflegte ſich dann an das Bett der Mutter zu ſetzen, und ihr bis in die kleinſten Einzelheiten zu erzählen, was ſie erlebt hatte, und es war faſt immer Heiteres, Beluſtigendes. Und ſie erzählte ſo lebendig, ſo wahr, die Mutter erlebte alles mit, ſie identifizierte ſich mit der Tochter, ja ſie genoß ihre Triumphe und empfand ihre Enttäuſchungen noch intenſiver als Sibilla ſelbſt. Denn auch Enttäuſchungen blieben ihr nicht erſpart, wenn ſie auch leichter darüber hinwegkam, als andere junge Mädchen. Hatte ſich ein Verehrer von ihr gewendet, im nächſten Augenblicke war die Lücke ausgefüllt. Die Erfolge dieſes jungen Mädchens in der eleganten Welt waren phänomenale. Sie galten nicht nur ihrer zugleich poetiſchen und ſtrahlenden Schön⸗ heit, Sibilla war auch intelligent, wiſſend, weit über ihre Jahre hinaus, in ihrem Denken, ihrer Ausdrucks⸗ weiſe von einer verblüffenden Frühreife. Dabei fehlte es ihr nicht an Koketterie, eine unauffällige, nicht nachweisbare, und doch unwiderſtehlich anlockende, oft nur eine einſchmeichelnde Flexion ihrer tiefen und weichen Stimme, eine Biegung des ſchlanken Halſes, ein Blick. Süße magiſche Augen hatte ſie, die bald ſchwarz erſchienen, in ſammtnem Schmachten, bald grünlich ſchimmernd, Augen von träumeriſcher Pracht wie Meeresleuchten. Ein Fluidum ſchien von ihnen auszugehen, das geheime Fäden von Seele zu Seele ſpann. Ganz eigenartig war auch ihr luftiges, lockeres, leicht ſich-kräuſelndes Haar, das verſchiedene Farben 43 zeigte, ein Streifen aſchblond, daneben oder darüber rötliches Hellbraun. Über der Stirn ein zartes aſch⸗ blondes Gekräusle. Man wurde nie darüber einig, ob ſie blond oder brünett ſei. Ihr Teint, von der Farbe des zarteſten Elfenbeins, bei Tage oft von krankhafter Durchſichtigkeit, erſchien abends oder ſobald ſie erregt wurde, wie von innen durchleuchtet, roſigem Abendſonnenſchein auf Schnee ver⸗ gleichbar. Einen Mangel aber hatte das reizende Mädchen. Sie verſtand nicht zu lachen. Ihr Lachen klang faſt rauh. Es lachte etwas Fremdes aus ihr. Es disharmo⸗ nierte mit der Poeſie ihrer Erſcheinung. Die Geſellſchaftskreiſe, in denen Dalmar mit ſeiner Tochter verkehrte, waren aus verſchiedenen Elementen zuſammengeſetzt. Freidenkende Ariſtokraten, Finanziers, Beamte, die künſtleriſche oder litterariſche Intereſſen hatten, Politiker, Attachés. Den Kern bildeten die Schriftſteller und die Bankiers. Letztere waren weitaus in den meiſten Fällen die Feſtgeber. Sie waren es, die die Bilder und Bücher ihrer Gäſte kauften, die in ihre Konzerte gingen, oder wenigſtens die Billets dazu nahmen. Ihre Salons ſtanden jedem offen, der durch Esprit, Schönheit, Rang, Reichtum oder Berühmtheit etwas war, oder etwas ſchien. Skeptiſche und frivole Lebensanſchauung herrſchte in dieſem Kreiſe vor, eine Atmoſphäre, die die natür⸗ liche kritiſche Veranlagung Sibillas förderte. Und in einem Alter, in dem andere junge Mädchen nur für Tanz, Cotillonbouquets, Schmeicheleien und für 44 diejenige Lektüre ſchwärmen, in der das Sichkriegen die Hauptrolle ſpielt, las ſie die Aufſätze von Schopenhauer, las ſie politiſche Zeitungen, oft mit der Landkarte in der Hand. Fade Schmeicheleien fertigte ſie mit Ironie ab, das heißt nur die faden, andere beſſer fundierte behagten ihr außerordentlich. In ihren erſten zwei Geſellſchaftsjahren war das Leben Sibillas eine einzige Feſtfreude, die ſich oft bis zum Rauſch ſteigerte. Aber ſchon in der dritten Saiſon ſchwand bei der Achtzehnjährigen der Rauſch und die erſten Spuren einer nervöſen Erſchlaffung machten ſich bemerkbar. Frau Dalmar hatte kaum Unrecht, wenn ſie meinte, jeder müſſe ſich auf den erſten Blick in Sibilla ver⸗ lieben. In der That war ſie Grund und Urſache von viel Herzeleid, wenn auch immer in der zwölften Stunde die eigene Umſicht der Entflammten oder der Beiſtand anderer das Schadenfeuer glücklich löſchte. Da hatte unter anderen ein junger, vielverſprechen⸗ der Docent ſein Herz ſo völlig an ſie verloren, daß er ſich gezwungen ſah, plötzlich abzureiſen, um nicht — wie er einem Freunde brieflich mitteilte (dieſer trug die Mitteilung in weitere Kreiſe) durch ſeine wahnſinnige Leidenſchaft ſeine Carriere zu untergraben. Ein anderer, ein Millionärsſöhnchen, wurde Knall und Fall nach Wien, woher er gekommen, von ſeiner Familie zurück⸗ gerufen, die Wind bekam, daß er im Begriff ſei, mit einem armen Mädchen reinzufallen. Maſſenhaft erſchienen auf dem Plan Jünglinge aus der jeunesse dorée — Sibilla nannte ſie die goldnen 45 Grünen — die ihre Paſſion für den jungen „star an die große Glocke hingen, ihre Augen gierig an ihrem Liebreiz ſättigten und das ſüße Geſchöpf wie Trüffeln, Champagner und Auſtern zu ihren Diner⸗ amüſements rechneten, natürlich ohne die entfernteſte Abſicht, eine junge Dame zu heiraten, die keine Partie war. Daß ihre Herzen nicht brachen und die Sinne ihnen keinen Streich ſpielten, dafür ſorgten leichte Dämchen aus andern Sphären. Sibilla hatte durchaus nicht den Wunſch, ſich früh zu verheiraten, ſie amüſierte ſich viel zu gut. Daß in ihrem elterlichen Hauſe niemals Geſell⸗ ſchaften gegeben wurden, gab ihrer Poſition eine etwas unſichere Baſis, und leiſtete der Vorſtellung, daß Vater und Tochter ſich durch den Glanz ihrer Perſönlichkeit für die ihnen erwieſene Gaſtfreundſchaft zu revanchieren hätten, Vorſchub. Jede einzelne der Treuloſigkeiten, die Sibilla erfuhr, brachte ihr keine Enttäuſchung. Als aber die Abfälle liebeſeliger Jünglinge, die ſich durch eine Heirat mit reichen Mädchen — mochten dieſe häßlich oder geiſt⸗ und gemütlos ſein — ihrem Strahlenkreis entzogen, immer häufiger wurden, da ſtutzte ſie. Ihre harmloſe Weltluſt erlitt eine Trübung. Sie mochte auch wohl für dieſen oder jenen eine leichte Neigung empfunden haben. Anfangs litten ihr Stolz und ihre Eitelkeit ein wenig unter den Kränkungen, deren Urſache ſie bald durchſchaute. Dann aber bäumte ſich dieſer Stolz 46 dagegen auf, er wuchs darunter. Sie wurde übermütiger, kälter, anſpruchsvoller; ſie ließ ihren Launen freieren Lauf. Sie wurde bewußtlos koketter — eine Art Rache: Wie Du mir, ſo ich Dir. Aus dieſem Milieu heraus entwickelte ſich ihre Beobachtungs⸗ und Urteilskraft zu größter Feinheit und Schärfe. Freilich entging ihr nicht, daß unter den jüngeren Herren der Geſellſchaft auch etliche vorkamen, die an der Frivolität des galanten Sports nicht participierten. Da war z. B. ein junger Offizier, der die mittelloſen jungen Mädchen wie Geächtete floh — aus Ehren⸗ haftigkeit. Dieſe geldloſen Geſchöpfe exiſtierten für ihn nicht. Er tanzte nie mit ihnen, nicht einmal eine Pflicht⸗ tour, ſelbſt dann nicht, wenn ſie Töchter des Hauſes waren, in dem er zu Gaſt gebeten war. Sie hatten ſich durch unheilbare Pauvreté jedes Recht an ſeinem Intereſſe verſcherzt. Sibilla mußte ſogar zugeben, daß unter den vielen Minneſchwätzern etliche andere es ernſt meinten, nur waren dieſe Herren leider nicht acceptabel, beim beſten Willen nicht. Da war ein blutjunger Maler, der ab⸗ ſolut nichts beſaß als ſeinen Größenwahn, nicht einmal Talent. Dazu ſchnüffelte er infolge eines Stockſchnupfens. Ein anderer Bewerber war zwar Millionär, neutrali⸗ ſierte aber dieſen Vorzug durch Altlichkeit und ordinäre Manieren. Das Betrübendſte war nun, daß dieſe Phalanx der goldenen Grünen gewiſſermaßen einen Kordon 47 um Sibilla zog, ſo daß ernſte, verdienſtvolle Männer ſich ihr weder nähern konnten noch mochten. Indeſſen fühlte ſich ſeit einiger Zeit die jeunesse dorée in den Hintergrund gedrängt durch einen noch ziemlich jungen Dichter, der bereits über ein anſehn⸗ liches Lorbeerreis verfügte, mit beſter Anwartſchaft auf einen ſpäteren vollen Kranz. Denn er gehörte nicht zu denen, die über die Schnur hauen. Wohl aber ver⸗ ſuchte er auf ſeichtem Sande den Oſſa auf den Pelion zu türmen, ein echter, rechter Bourgois⸗Titan. Frau Dalmar wußte, daß Ewald Born — Sibilla nannte ihn den Troubadour Ewald de Born — raſend in das junge Mädchen verliebt war. Sie ſympathi⸗ ſierte mit ihm und ſah ſeit Monaten lächelnd dem Ge⸗ bahren dieſes naiven, kraftſtrotzenden Menſchen zu, der außer ſtande war, ſeine Gefühle zu beherrſchen. Daß er ſich noch nicht erklärt, mochte an der kühlen Haltung Sibillas liegen, mit der ſie anfangs ſeine Huldigungen — gereimte und ungereimte — entgegennahm. In der That waren ihr das naiv⸗feurige Temperament, die ſtrotzende Robuſtheit des Dichters unſympathiſch, und ſeine Naſe fand ſie komiſch. Indeſſen blieb ſein feuriges Werben doch nicht ohne Wirkung auf ſie, und allmählich war eine gute und bequeme Neigung für ihn in ihr gekeimt und gewachſen, ganz ſicher die Neigung, ihn gern zu hei⸗ raten. Trotzdem bewahrte ſie eine kühle Gelaſſenheit ihm gegenüber. Es ließ ſie auch kalt, daß eine reiche Landsmännin (er war Sachſe) und Verwandte des Dichters, die fünf bis ſechs Jahre älter als er war, 48 ihn minnte, mit der zähen Leidenſchaft eines energiſchen, allzu reifen Weibes. Freunde und Verwandte liehen ihr Beiſtand, ohne in der Wahl der Mittel, wie es ſich ſpäter herausſtellte, wähleriſch zu ſein. Bei Sibilla und Ewald Born waren jetzt alle. Ge⸗ danken Frau Dalmars, als ſie in ſtiller Nacht auf der Chaiſelongue ruhte. Ob das liebe Kind als Borns Verlobte nach Hauſe kommen würde? Es war ja gar nicht anders denkbar. Am vorigen Abend war ein ſehr erfolgreicher Einakter von ihm im Schauſpielhaus aufgeführt worden. Sibilla war ganz glücklich und erregt aus dem Theater nach Hauſe gekommen. Sie trank noch ihren Thee, die Mutter war ſchon im Schlafzimmer, als um 10½ Uhr die Klingel gezogen wurde: Ewald Born. Ein Schreck, der nur halb freudig war, zitterte durch Frau Dalmars Seele. Sie zögerte eine Minute. Sollte ſie die beiden allein laſſen und ihnen Zeit zur Ausſprache gönnen? Ihr Zartſinn verneinte. Was mußte Ewald Born ſelbſt denken, wenn ſie ihn ſo ſpät abſichtlich mit der Tochter allein ließ? Sie warf das Kleid, das ſie ſchon abgelegt, ſchnell wieder über und trat in den Salon. Sie wurde rot; ein Unbehagen beklemmte ſie, als ſie das Paar nebeneinander ſtehen ſah, er ſo nah, zu nah bei ihr, ihre Hand in der ſeinen haltend, mit einer grellen Flamme in den Augen. Er entſchuldigte ſich Frau Dalmar gegenüber, daß er ſo ſpät noch gekommen, er habe vergebens 4 49 ihren Gatten und Fräulein Sibilla am Ausgang des Theaters geſucht, und in der Beſorgnis, irgend ein Unwohlſein könne Sibilla verhindert haben, ins Theater zu gehen, habe er ſich die Freiheit genommen U. ſ. w. Er ſprach abgebrochen, wie abweſend, und während er ſprach, verſchlang er Sibilla mit den Augen. Offenbar that er ſich den äußerſten Zwang an, um das reizende Mädchen nicht an ſeine Dichterbruſt zu ziehen. Frau Dalmar, die bisher in jeder Weiſe ſeine Werbung begünſtigt hatte, wurde plötzlich in der Em⸗ pfindung, daß etwas Ungehöriges vor ihren Augen ge⸗ ſchähe, kalt und unfreundlich. Nach zehn Minuten ging er, verwirrt wie be⸗ rauſcht. Mutter und Tochter blieben in einer ſeltſamen Stimmung zurück; die Tochter, unzufrieden, daß die Mutter die Ausſprache gehindert. Frau Dalmar, ihre Dazwiſchenkunft bereuend. Zwar begriff ſie, daß der Dichter in ſeiner tiefen ſeeliſchen Erregung das officielle Wort nicht über die Lippen gebracht, und doch — — ſie war mißmutig. Sie plauderten heut nicht wie ſonſt miteinander, ehe ſie zu Bett gingen. Auf morgen, hatte er geſagt, als er ging, und dieſes morgen war heut. Alſo heut! Frau Dalmar wünſchte, daß Sibilla dieſen Mann heiraten möge. Sie fühlte ſeit einiger Zeit eine Wand⸗ lung im Weſen ihres Kindes, ein allmähliches Verblaſſen 50 ihrer ſtrahlenden Weltluſt. Und einmal würde ſie ja doch heiraten. Als Borns Gattin blieb ſie wenigſtens in Berlin. Dieſe Vorſtellung war nicht ohne Einfluß auf ihre Begünſtigung des Dichters geblieben. Sie hatte aber auch beſſere, reinere Motive. Born war nicht nur ein guter Menſch, er war auch eine kerngeſunde Natur, körperlich und geiſtig! Das würde die nervöſe Veran⸗ lagung Sibillas ausgleichen. Ja, ſie war ganz und gar einverſtanden mit dieſer Heirat. Plötzlich zuckte Frau Dalmar zuſammen. Ein Ge⸗ räuſch da draußen, die Korridorthür wurde geöffnet, das Atmen wurde ihr ſchwer vor innerer Erregung. Im nächſten Augenblick trat Sibilla ein. Frau Dalmar erſchrak. Blühend, leuchtend war das Kind von ihr gegangen, und nun ſtand ſie da, blaß, übernächtig, mit dunklen Schatten unter den Augen. Ein paar mißfarbige Roſenblätter waren in dem wirren Haar hängen geblieben. Die Silbergaze des Kleides hing ſchlaff an den zarten Gliedern nieder. Sibillas Köpfchen fiel kraftlos zur Seite, Frau Dalmar empfing ſie zärtlich und begann ihr Kleid aufzuneſteln. Ihre Hand zitterte ein wenig. Sie fühlte an Sibillas Bewegung, daß ſie ungeduldig und gereizt war. fragte die „Wo haſt Du denn Deine Bouquets?“ Mutter, nur um das Schweigen zu brechen. „Verſchenkt. Ich wollte ſie nicht. Der ſtarke Geruch hat mir Kopfſchmerzen gemacht. 4* 51 Sie ließ ſich, halb ſchon im Stehen ſchlafend, ent⸗ kleiden. Und wie ſie mit dem gelöſten Haar, in dem langen, weißen Nachthemd, dem geneigten Köpfchen da⸗ ſtand, meinte Frau Dalmar, daß ihr nur Flügel und eine Lilie fehlten, um wie ein Engel auszuſehen — ein kranker Engel. Als Sibilla den Kopf in den Kiſſen barg, begegnete ſie dem unruhig forſchenden Blick der Mutter, die nichts zu fragen wagte. „Sieh mich nicht ſo an, Mutti, ich mag's nicht. Ich weiß ja was Du wiſſen willſt. Er war gar nicht da. Er iſt verreiſt, auf lange. Er kommt nicht wieder, wenigſtens nicht zu mir. Ich erzähl's Dir morgen — morgen. Brich Dir nur nicht mein Herz, arme Mutti — — ach, ich bin ſo müde. In der nächſten Minute war ſie feſt eingeſchlafen. Frau Dalmar hielt mühſam ihre Thränen zurück. ſie zweifelte keinen Augenblick an der Richtigkeit deſſen, was Sibilla geſagt. Hätte ſie als Mutter nicht vorſichtiger ſein müſſen! Wie konnte ſie nur die jedes Maß überſchreitenden Hul⸗ digungen des Dichters dulden, die man nun ihrem Kinde nachtragen würde! Aber was hätte ſie thun ſollen? Das entſcheidende Wort ihm abpreſſen? Mußte er ſich nicht erſt der Liebe ſeines Mädchens verſichern? Er ſchien ſo anders als jene frivolen jungen Männer, deren Lebensführung er ſtreng verurteilte. Er ſchien ſo ganz Gentleman, und nun hatte er ebenſo gehandelt wie jene, nein, ſchlimmer als die gewiſſenloſeſten unter ihnen. Hätte 52 er nicht, ehe er innerlich mit ſich einig war, ſeiner Leidenſchaft, ſeinen Gebärden und Worten Zügel an⸗ legen müſſen, anſtatt förmlich mit Poſaunenſtößen der Welt kund zu thun, daß er in Flammen ſtehe? Und nachdem er das gethan, und in dem Augenblick, wo alle Welt ſeine Verlobung erwartet, geht er auf und davon, unbekümmert darum, was er dem jungen Ge⸗ ſchöpf anthut. Sie fand es lächerlich, unerhört, daß die Sitte auf dem Gebiet der Liebe immer zu Gunſten des Mannes entſcheidet, ſelbſt wenn die Thatſachen ſonnenklar Zeugnis gegen ihn ablegen. Er benimmt ſich nichtswürdig, und das Opfer iſt kom⸗ promittiert. Sibilla ſchlief feſt und ſanft. Frau Dalmar weinte. Als am anderen Vormittag Sibilla in ihrem hübſchen himmelblauen Morgenkleid beim Frühſtück ſaß — die Mutter leiſtete ihr dabei Geſellſchaft — ſah ſie zwar etwas matt, aber keineswegs betrübt aus. Die Mutter ſtrich ihr das Brot mit Butter, ſchlug ihr das Ei auf, und freute ſich an ihrem Appetit. Sibilla aß zierlich und langſam. Frau Dalmar fiel ein Stein vom Herzen. Viel⸗ leicht war es doch ſo am beſten. Im Grunde paßten ſie ja gar nicht zuſammen, er ſo ſchmiedeeiſern derb, ſie feinſtes Filigran. Frau Dalmar lief in die Speiſekammer und kam mit einem Büchschen Orangegelée — einer Lieblings⸗ näſcherei Sibillens — zurück. Lachend fiel Sibilla darüber her. „Mutti, willſt mein krankes Herz mit 53 Orangegelée heilen? Eigentlich iſt Dir die Geſchichte ganz recht. Du haſt ſie mir eingebrockt, Du haſt mir dieſe Neigung für den Troubadour eingeredet, ja, ja Du. Und da wärſt Du nun zur Strafe um meinen Liebhaber gekommen, Du arme betrogene, hintergangene Mutti.“ Frau Dalmar war zu glücklich über die Heiter⸗ keit ihres Kindes, um über den Spott empfindlich zu ſein. „Und nun, Mutti,“ fuhr Sibilla in demſelben Tone fort, „ich ſehe ja, Du brennſt vor Neugierde die Schauermähr zu vernehmen von der Untreue des Ritters Ewald de Born. Ach, hieße er Bertram, nie hätte er ſolchen Verrat geübt. Nämlich: Frau Rechts⸗ anwalt Barer ſchenkte mir reinen Wein ein, aus „herz⸗ licher Freundſchaft“, die herzliche Freundſchaft mit An⸗ führungszeichen. Alſo eine Verſchwörung gegen mich, Klatſch, Ver⸗ leumdung, meine Koketterie, alles iſt ihm hinterbracht worden. Frau Rechtsanwalt brannten darauf, mir die Details dieſer Verleumdung — pardon — unter die Naſe zu reiben. Ich aber zuckte ſo abwehrend hoheits⸗ voll meine ſilbergazenen Schultern, daß ihr der Klatſch in der Kehle ſtecken blieb.“ „Und die Verſchwörer?“ fragte Frau Dalmar. „Freunde, Verwandte, Mitfühlende jener Jugend⸗ geſpielin Born's, die ſein Bild ſchon ſeit einigen Jahr⸗ zehnten im verſchwiegenen Buſen tragen ſoll. 54 Augenblicklich weilt ſie in Dresden, wo ſie expreß erkrankt ſein ſoll, um den Vetter und Landsmann an ihr Sterbelager rufen zu können. Gott ſchenke ihr ein langes Leben an der Seite meines Ex⸗Troubadours. Weißt Du was jemand neulich von ihm ſagte? Er dichte mit geballten Fäuſten. So, nun weißt Du alles, Mutter. Ich grolle ihm nicht, und wenn das Herz auch bricht, denn wem anders als ihm verdanke ich dies köſtliche Orange⸗ gelée.“ Plötzlich aber ließ ſie den vollen Löffel mit dem Gelée fallen und wurde verdrießlich. „Fort in die Speiſekammer mit dem Gelée, ich verdiene es nicht. Das hatte ich ja ganz vergeſſen. Die Geſchichte hat ja ein Nachſpiel, ein ſchauriges, ein trauriges! Wehe! wehe! Rette mich, Mutti! rette mich! oder ich muß den ſchönen Arthur heiraten, Arthur Meier natürlich.“ In halb komiſcher Verzweiflung warf ſie ſich der Mutter in die Arme. Und ſie erzählte: Über Ewald de Borns Abtrünnigkeit wäre ſie doch wohl etwas ver⸗ ſtimmt geweſen. Das Tanzen hätte ſie gelangweilt. Darüber hätte ſie ſich wiederum geärgert, und da ſie doch nicht auf den Ball gegangen wäre, um ſich zu argern, hätte ſie ſich nun à tout prix amüſieren wollen. Der ſchöne Arthur — Mitternacht — ein Erker — rote Ampel, Palmen und Blumen, ſüßduftende, aus dem Nebenzimmer ſchmelzender Geſang: „Das Lied vom Asra“, und ſie, erpicht auf etwas Extraes, Schlagſahnenſtimmung. — Und da — hat er ihr ſein 55 Herz offeriert, und ſie, in einer halben Verliebtheit, aus Champagner, Blumenduft, Muſik und Rache⸗ gefühlen notdürftig zuſammengekratzt, habe nicht — nein geſagt. „Und nun, Mutti,“ ſchloß ſie ihre halb verdrießlich, halb neckiſch vorgebrachte Geſchichte, „nun wird er heut kommen, im Cylinder und hellen Hand⸗ ſchuhen mit ſchwarzen Nähten, und Dich um meine Hand bitten. Rundweg abſchlagen, Mutti, ſelbſtver⸗ ſtändlich. Ich kann ihn doch unmöglich heiraten, pour ses beaux veux, die er wirklich hat. Komm, wir wollen uns auf Gründe beſinnen, da ich mich nun doch einmal ſo ſchofel benommen habe.“ Mutter und Tochter hatten kaum ihre Beratung begonnen, als das Mädchen mit einer Karte eintrat: „Frau Kommerzienrat Moller.“ Die Kommerzienrätin war die Schweſter des ſchönen Arthur. Mutter und Tochter ſtutzten. Was wollte die? Sie kannten ſie nur oberflächlich und ſtanden in keinem geſellſchaftlichen Verkehr mit ihr. Frau Dalmar ging hinaus, um mit der Schweſter des ſchönen Arthur zu ſprechen. Sibilla war doch etwas neugierig. Sie nahm die Zeitung zur Hand. Anfangs blickte ſie nur zerſtreut hinein, allmählich aber intereſſierte ſie der Inhalt, und ſie hatte den ſchönen Arthur und ſeine Schweſter im Nebenzimmer faſt vergeſſen, als Frau Dalmar wieder eintrat. Der Ausdruck ihres Geſichts, zwiſchen Ärger und Lachen ſchwankend, war ſo komiſch, daß Sibilla ſofort erriet. „Der ſchöne Arthur hat ſich übereilt,“ rief ſie der Mutter mit drolligem Entſetzen entgegen. 56 „Ungefähr. Der ſchöne Arthur habe noch auf dem Ball ſelbſt der Familie — und er hatte ſehr viel Familie — ſeine Heiratsprojekte kundgethan. Vormittags, Schlag 10 Uhr, Familienrat im Hauſe der Kommerzienrätin. Allge⸗ meines Lamento. Beſonders Schweſter Alice hatte ſo geweint, aber ſo. Nämlich: der ſchöne Arthur war gar nicht in der Lage ein armes Mädchen zu heiraten. Ein lockerer Zeiſig war er. Erſt im vorigen Jahr hätte die Familie ſeine Schulden bezahlen müſſen. Fräulein Sibilla wäre auch viel zu geiſtreich für ihren dummen Jungen von Bruder, welcher Anſicht er ſelbſt ſich nicht ganz hätte verſchließen können. „Alſo, Du möchteſt den ſchönen Arthur freigeben. Natürlich habe ich geantwortet, Du hätteſt die Galan⸗ terien des jungen Herrn überhaupt nur für einen Ball⸗ ſcherz gehalten und nicht einen Augenblick daran gedacht, Frau Meier zu werden.“ Sibilla lachte aus vollem Halſe. Sie amüſierte ſich noch eine Weile über den zurückgezogenen Heirats⸗ antrag, dann aber wurde ſie doch wieder unmutig. Sie warf ſich müde in den Fauteuil zurück und ver⸗ ſchlang ihre Hände über dem Kopf, den ſie hin und her wiegte. „Ach, Mutter, ich konnte mich geſtern nicht aus⸗ ſtehen, und ich kann mich überhaupt nicht ausſtehen, und die andern auch nicht. Alle dieſe Meiers und Borns und die goldenen Grünen, ſie ſollen mich in Ruhe laſſen; dieſes ewige Courmachen wächſt einem ja zum Hals heraus. 57 In ihren böſeſten Stimmungen gebrauchte ſie ge⸗ legentlich einen vulgären Ausdruck, was der Mutter jedesmal einen Stich ins Herz gab. Es kontraſtierte zu ſtark mit ihrer poetiſchen Schönheit. Und plötzlich erklärte ſie, überhaupt nicht mehr in Geſellſchaft gehen zu wollen. Sie müſſe ſich von all den Körben, die ſie bekommen, erholen. Frau Dalmar machte ihr ſanfte, aber eindringliche Vorſtellungen. Man würde ihr Verſchwinden aus der Geſellſchaft in Zuſammenhang mit der Abreiſe Borns bringen. Sibilla ſah es ein, und ſie ging nach wie vor aus, aber ihre Haltung änderte ſich ſichtlich. Jede An⸗ näherung der goldenen Grünen wehrte ſie mit ſüperbem Stolz ab. Denen wurde ſie auch bald zu klug. Faſt ausſchließlich wendete ſie ſich jetzt ernſten, meiſt älteren Männern zu, Männern, die in der Politik, Wiſſenſchaft oder Litteratur eine Rolle ſpielten, und die entzückt und überraſcht waren, mit einem jungen, ſchönen Mädchen ernſte Geſpräche führen zu können. Sibillas Intelligenz gewann dabei, und in betreff der Huldigungen blieb es beim alten. Gerade wie die Lieutenants, die Referendare und die goldenen Grünen entdeckten auch Profeſſoren und Geheimräte — ſie nannte ſie ihre Johanniskäfer — im Verkehr mit Sibilla ihr Herz. Auch ein Brackenburg war da, ihr rettungslos verfallen: ein junger Kaufmann, Benno Raphalo, der in einem der erſten Bankhäuſer eine erſte Stellung einnahm. Sie ſelbſt aber, ſo 58 ſchien es, ſollte bei dem Neigen von Herzen zu Herzen immer zu kurz kommen. Dem Brackenburg konnte ſie doch unmöglich Gegenliebe widmen. Er war ja amüſant und gutherzig, aber — Benno Raphalo! Außerdem war ſie ja in den Grafen Jürgen Planer verliebt. Ganz im Gegenſatz zu dem wortreichen, überſchweng⸗ lichen, weißglühenden Ewald de Born verhielt ſich der Graf in ſeinem Liebeswerben faſt ſtumm. In ſeiner reſervierten Haltung aber lag eine ſtille Inbrünſtigkeit. Wenn er nach einem Beſuch ſich empfahl, ſo pflegte er langſam, wie zögernd, rückwärts der Thür zuzugehen, mit unheimlicher Intenſität ſeine Blicke an ihr feſt⸗ ſaugend. Er blieb dann wohl auf der Schwelle ſtehen, als könne er ſich nicht entſchließen ſie zu überſchreiten. Zuweilen trat er noch einmal ins Zimmer zurück, als hätte er etwas vergeſſen, oder erwarte er, daß ſie etwas ſage. Er ſprach faſt nie mit einer andern Dame als mit ihr, und mit ihr in ſo leiſem Tone, als flüſtere er Geheimniſſe. Alles was er ſagte war nur wie ein Andeuten, Hindeuten auf etwas Verborgenes, Tiefes, das in gewöhnliche Worte nicht zu faſſen ſei. Ein myſtiſcher, krankhafter Zug war in ſeinem bleichen Ge⸗ ſicht, in ſeinen ſtahlblauen Augen. Gerade das zog Sibilla an. Er erzählte ihr mit Vorliebe von Hallucinationen, die er gehabt. 59 Zuweilen konnte Graf Planer auch ſarkaſtiſch ſein. Sein Sarkasmus richtete ſich dann gegen Benno Raphalo, deſſen Natürlichkeit ihm unbehaglich war. Der rächte ſich durch harmloſe Witze. Er meinte, der Graf ſchweige einem Löcher in den Kopf, ſeine Seele ſei ſo flach, wie das Weltmeer tief ſei u. ſ. w. Nach einigen Monaten ſeiner ſtillglühenden Werbung kam der Graf ſeltener, und wenn er kam blickte er düſter drein. Eines Tages erſchien er ganz ſchwarz gekleidet, mit einem Trauerflor um den Hut. Er müſſe zu einem Leichenbegängnis. Wer tot ſei? Sein einziger Freund. Woran er geſtorben? An leidenſchaftlicher Liebe zu einem jungen, bürger⸗ lichen Mädchen. Er dürfe ſie nicht heiraten. Seine ganze Willenskraft habe er daran geſetzt, um die Einwilligung ſeines Vaters, von dem er abhängig war, zu erlangen — vergebens. Müſſe er das Bild des engelhaften Mädchens aus ſeinem Herzen reißen, das Herz ginge mit in Stücke. Bei den letzten Worten war er aufgeſtanden, und langſam, rückwärts, wie er pflegte, ging er der Thür zu, nur langſamer noch als ſonſt, ſeine Augen mit drohend hypnotiſcher Starrheit in die ihren tauchend, und er flüſterte vor ſich hin: Komm! Beim Hinausgehen ließ er die Thür offen, und ſie ſah ihn durch die offene Thür im Vorzimmer, immer noch rückwärts fortſchreitend, die Lippen be⸗ wegend. 60 Ein Zug entſtand von irgendwo her, und die Thür fiel krachend ins Schloß. Sibilla hatte verſtanden. Es war ihr erſter wirklicher Schmerz. Zitternd, bitterlich weinend fiel ſie in die Arme ihrer Mutter, der ſie nun alles ſagte. Ein Fieberanfall zwang ſie das Bett zu hüten. Sie ſchauderte vor dem Anblick einer Zeitung. Sie ſah nur ihre Mutter an, um in ihren Augen zu leſen, ob etwas geſchehen wäre. Vierzehn Tage mochten ver⸗ gangen ſein, als die Mutter ihr eine Zeitung hinreichte. Der junge Graf Jürgen Planer war der chineſiſchen Geſandtſchaft attachiert worden und bereits nach Peking abgereiſt. Sibilla erholte ſich ziemlich ſchnell von ihrer Nervenerſchütterung. Der Kummer richtete mehr Un⸗ heil in ihrem Kopf als in ihrem Herzen an. Was ſie noch an Illuſionsfähigkeit beſeſſen, ging unrettbar verloren. Es dauerte nicht lange, und ſie ſprach ganz ruhig und kühl von ihrem „Vampyr“, dem chineſiſchen Attaché. Vorherrſchend in ihrer Empfindung war die Scham, eine bittere Scham, ein zitternder Zorn darüber, daß ſie ſich immer wieder zu den Abenteuergelüſten dieſer Hochſtapler der Liebe mißbrauchen ließ. Sie fühlte, wie unter dem heißen Hauch all dieſer buhlenden Ge⸗ bärden, die ſie zu verſtehen anfing, ſich etwas in ihr abnutzte, welkte: die Blume der Empfindung. Die letzte Erfahrung legte den Grund in ihr zu einer kalten Skepſis, zu einer Geringſchätzung, die ſie 61 nicht nur gegen andere, ſondern auch gegen ſich ſelbſt richtete. Nein, ſie hatte auch dieſen nicht geliebt, wenigſtens nur ſo obenauf, ein Nervenreiz, eine Luſt, eine Neugierde am Ungewöhnlichen, Geheimnisvollen. „Und weißt Du,“ ſagte ſie einmal zu ihrer Mutter, „ich traue mir die unglaubliche Albernheit zu, daß der Grafentitel bei mir mitgewirkt hat, bei mir! Und ich halte mich für radikal. Ich gehe mit dem Plan um, Laſſalle'ſche und Marx'ſche und andere ſoziale Schriften zu leſen — Dummkopf ich!“ Sie ſtellte auch Reflexionen an, die ihre Gering⸗ ſchätzung gegen die Abtrünnigen einigermaßen dämpften. War ſie nicht ungerecht aus perſönlicher Rancüne? Warum ſollte das Weib dieſen jungen Männern alles ſein? Sie hatte von neuem Luſt, ſich aus dem Geſell⸗ ſchaftsleben zurückzuziehen. Aber was anfangen im Hauſe! Da war es auch nicht mehr ſo behaglich wie ſonſt. Der charmante Vater neigte ſich mehr und mehr dem Bohémetum zu. Sibilla war jetzt 21 Jahre alt, ſie bedurfte ſeiner als Chaperon nicht mehr. An ihre Triumphe hatte er ſich gewöhnt, ſie intereſſierten ihn kaum noch. Er war bequem geworden, der Zwang des Fracks, der eleganten Haltung und des Geiſtreichſeinmüſſens fiel ihm läſtig. Er zog es vor, halbe Nächte in Cafés und Reſtaurants zuzubringen, mit amüſanten Witz⸗ bolden und flotten Künſtlern, bei einem Glas Wein 62 es durfte auch eine Flaſche ſein — und einem Spielchen — es durfte auch Roulette ſein. Sibilla konnte es ſich nicht verhehlen, der Vater, der einſt ſo ſüße Lieder komponiert, der der Lion der Ge⸗ ſellſchaft geweſen, er verbummelte. Mit dem Reſpekt vor dem Vater ſchwand auch ihre Liebe. Stolz und indolent, wie ſie geworden war, machte ſie keinen Verſuch, ihn ſchmeichelnd oder mit ernſter Mahnung zurückzuhalten. Sie zürnte ihm, daß er keine Rückſicht auf ſie und die Mutter nahm. Er bemerkte die innere Auflehnung ſeiner Tochter, und da er Peinlichem ſtets aus dem Wege ging, ent⸗ ſchwand er mehr und mehr aus dem Geſichtskreis der Seinen. Die Mutter, ja, die war lieb und gut, ſie war ihr, was ihr in den Kinderjahren das Tagebuch geweſen, das Blatt, in das ſie ihre Geſchichte ſchrieb. Aber die liebe Mutter war doch eigentlich ein halbes Kind, ſo ſchwach, ſie leiſtete ihr niemals Wider⸗ ſtand, nicht ihren ärgſten Launen. Sie fürchtete ſich ſogar ein wenig vor dem Töchterchen, wenn es ſchlechter Laune war. Schlief Sibilla bis in den Vormittag hinein, ſo ſchlich ſie leiſe durch das Haus und ſorgte dafür, daß kein Laut den Schlummer ihres Lieblings ſtörte. Hatte der Liebling Kopfſchmerzen, ſo las Frau Dalmar ihr vor, und Sibilla kommandierte: „Leiſer, oder ſchneller, oder: ſinge nicht ſo, Mutti.“ Mit einem Wort, Sibilla war ganz Gebieterin, die Mutter ganz Dienerin, eine freiwillige, zärtliche. 63 Und Sibilla hätte jemand gebraucht, der ſie auf⸗ und zuſammengerüttelt zu irgend etwas — ja — wozu? „Die einfältigſten unter den goldenen Grünen,“ äußerte ſie einmal im Geſpräch mit der Mutter, „ſind am Ende doch noch mehr wert, als wir unnützlichen Mädchen, zwiſchen Morgen und Abend liegt bei ihnen Arbeit. Aber wir? Was thue ich denn? Ich ſchlafe bis 10 Uhr, ich ſtelle meine Ballbouquets ins Waſſer, ich leſe die Zeitung, ein Buch, ich richte meine Toilette für den Abend, ich empfange oder mache einen Beſuch, mediſiere mit Timäa über Frau E. und Herrn 2). Tc. Frau Dalmar bemerkte, daß andere junge Mädchen Zeichnen und Muſik trieben, Vorträge im Lyceum hörten. Dieſe Beſchäftigungen wären Gummipfropfen, wie man ſie hungrigen Kindern in den Mund ſteckte, um ſie zu betrügen. Für eine ſolche Verſchwendung von Lebenskraft, wie die Ausbildung ihrer Talentloſigkeiten, wäre ſie doch zu klug. Ob ſie etwa Luſt habe in Zürich zu ſtudieren? Frau Dalmar fragte es etwas ängſtlich, (damals hatte die Univerſität Zürich ſeit einem Jahrzehnt ungefähr ihre Pforten den Frauen geöffnet). Nein! Sibilla wollte nicht. Wozu? Bloß um zu lernen, um ſich Kenntniſſe zu erwerben? Dazu brauchte ſie keine Univerſität; aus Büchern konnte ſie ebenſo gut und ebenſo viel lernen. Gott, wieviel Männer blieben trotz regelrechter Univerſitätsſtudien lebenslang unwiſſende, bornierte Simpel. Sie hatte 64 auch gar keine ſpezielle Neigung für irgend einen Wiſſens⸗ zweig. Ja, wenn die Frauen die auf der Univerſität er⸗ worbenen Kenntniſſe praktiſch verwerten könnten, dann fiele wenigſtens der Heiratszwang fort. Aber daran war ja in abſehbarer Zeit gar nicht zu denken. Allenfalls bot die Medizin einige Chancen. Trotz aller Hochachtung aber vor dieſem Studium, hatte ſie eine ſchaudernde Abneigung gegen die Ausübung dieſes Berufs, ganz im Gegenſatz zu ihrer Freundin Timäa, die halb und halb entſchloſſen war nach Zürich zu gehen. Ihre Freundin Timäa? wirklich Freundin? Dem Titel nach. Ein komplizierter Charakter. Hatte Sibilla eine Enttäuſchung erfahren oder war ſie krank, ſo bewies ſie ihr hingebende Zärtlichkeit. Je beſſer es aber Sibilla ging, je mehr man ſie feierte, je kühler zog ſich Timäa von ihr zurück. Letzthin hatte ſie die Herzensgeſchichte mit dem jungen Diplomaten erraten. Sibilla wußte es und litt unter ihrer mitleidigen Zärtlichkeit. Sie fing an ſich beinah leidenſchaftlich nach einer Veränderung zu ſehnen, mit der nörgelnden Sehnſucht aller Unzufriedenen und Kranken, die von einem Ortswechſel auch einen Stim⸗ mungswechſel erhoffen. Sie drängte die Mutter zu einer Reiſe nach Italien. Frau Dalmar wagte nicht, ihren Gatten ganz ſich ſelbſt zu überlaſſen. Es war auch kein Geld da. Sibilla fühlte ſich nicht gerade unglücklich, aber böſe, verdroſſen. — „Ach, Mutti,“ klagte ſie, „ich bekomme 5 65 einen ſchlechten Charakter, ich fühl's. Ich will fort von Berlin.“ „Könnteſt Du nicht Benno Raphalo heiraten?“ fragte nicht ohne Bitterkeit die zärtlich bekümmerte Frau. „Du brauchteſt dann nicht in Berlin zu bleiben. Die Direktorſtelle an der erſten Münchener Bank iſt ihm angeboten, was die Anwartſchaft auf den Erwerb von Millionen bedeutet. Er liebt Dich treu, und er iſt ein guter Menſch.“ Sibilla zuckte geringſchätzig mit den Achſeln. Frau Dalmar ſprach nicht mehr davon und ſie ſchwieg gern. Nur nach einem ſchweren Kampf mit ſich ſelbſt hatte ſie den Hinweis auf Benno Raphalo über ihre Lippen gebracht. Indeſſen kam der junge Mann ſeit einiger Zeit faſt täglich in das Dalmarſche Haus. Sibilla ſah ihn gern. Auch gefiel ihr, daß er ſehr ſoigniert in ſeiner äußeren Erſcheinung war. Er war entſchieden ein Original. Aus einer unbemittelten Familie hervor⸗ gegangen, hatte er ſich ſeine Stellung im Schweiße ſeines Angeſichts erworben, freilich auf Koſten ſeiner Bildung, für die ihm keine Zeit geblieben war; daher ſeine rührende, durch keine Intelligenz gemilderte Un⸗ wiſſenheit. Aber er hatte Humor, und die Drolligkeit ſeiner Einfälle wurde noch durch gewiſſe kleine Angewohnheiten und Redewendungen erhöht. Er ſtand inſofern ganz jenſeits von gut und böſe, als er nie in ſeinem Leben eine Erwägung auf ethiſchem Gebiet angeſtellt hatte. Er handelte gut oder nicht 66 gut, wie es die Verhältniſſe eben mit ſich brachten. Ein großes Kind war er, in Geſchäftsſachen ein ſchlaues. Wie er als Schuljunge es nicht als ein Unrecht empfand, wenn er ſeinem größeren Bruder den größeren Apfel aus der Mappe ſtibitzte, und ihm ſeinen kleineren dafür einſchmuggelte, ebenſo wenig hätte er ſich ein Ge⸗ wiſſen daraus gemacht, durch einen ſchlauen Börſencoup ſeine Mitmenſchen zu ſchädigen. Dazu war doch die Börſe da. Benno Raphalo erſchien Sibilla unter den Ewalds, Planers und vielen anderen verhältnismäßig brav und einfach. War er doch immer bereit, allen und jedem zu helfen. Daß er mit allzu leichter Hand, ohne An⸗ ſehen der Perſon, ſo gewiſſermaßen zum Pläſier ſeine Wohlthaten ausſtreute, merkte ſie nicht. Auch hörte ſie nicht die Anekdoten, die er flüſternd, unter dem Siegel der Verſchwiegenheit, lüſternen Herren zum Beſten gab. Sie ſah nur ſeine Güte und ſeine unverwüſtliche Heiterkeit. Und ſie ſah, daß er ſie auf ein Piedeſtal ſtellte, unter Roſen, von denen er ihr täglich einen vollen Strauß ſchickte. Und ſie ſtand gern auf einem Piedeſtal. Je weniger Franz Dalmar arbeitete, je knapper wurde das Geld im Hauſe. Sibilla ſah, daß die Angſt um ihre Zukunft an der Mutter nagte. Von Zeit zu Zeit wiederholte die immer Sorgende ihre ſchüchternen Verſuche, das Töchterchen für irgend eine Berufsthätigkeit zu erwärmen. Was der Mutter nur einfiel! Alle diejenigen Erwerbsthätigkeiten, (das Wort ſchon widerſtand 5* 67 Sibilla) die einer Frau ohne einen allzu großen Aufwand von Energie zugänglich waren, widerſtrebten ihr. Freilich, die Ausſicht auf die ſchäbige Exiſtenz eines alternden Mädchens war auch nicht gerade ver⸗ lockend. Eine entfernte Verwandte ihres Vaters pflegte alljährlich einige Male aus einem benachbarten kleinen Orte herüberzukommen, um eine kleine Unterſtützung in Empfang zu nehmen. Ella Ried war ein altes, durch eigenen Leichtſinn heruntergekommenes Fräulein, mit zitternden Fingern, bläulichen Lippen, ſchwarzen Nägeln und zottligem Haar. Einen großen zerſchliſſenen Pompadour trug ſie am Arm und einen ſchmutzigen Shawl um den Hals. Nicht anzuſehen war's, wie un⸗ gebärdig ſie ſich freute, wenn man ihr ein abgetragenes Kleid ſchenkte. Sibilla fand, nicht ganz mit Unrecht, daß dieſes armſelige Geſchöpf ihr ähnlich ſähe. Es war ihr jedesmal unbehaglich, wenn es hieß: Die Couſine iſt da. Hatte ſie wirklich nur die Wahl: zu heiraten oder Lehrerin zu werden, mit einem Gehalt, das nach Ab⸗ lauf einiger Jahrzehnte die fabelhafte Summe von 2000 Mark erreichen konnte, oder — Ella Ried? Sie ſchauderte. Diejenigen Männer, die ſie liebte, oder hätte lieben können, die heirateten ſie ja doch nicht. So war Benno Raphalo mit dem hübſchen Geſicht, dem guten Herzen, den luſtigen Geſchichten und glänzenden finanziellen Aus⸗ ſichten doch am Ende ernſt zu nehmen. Sie war ihm ſogar gut, wenigſtens beinah. 68 Wenn er da war, kam ſie gar nicht aus dem Lachen heraus, Timäa auch nicht. Letztere ſuchte ihre Freundin an Mutterwitz und Munterkeit zu überbieten. Sibilla hatte nicht die luſtige Replik der Ungarin. Benno Raphalo und Timäa verſtanden ſich vortrefflich, und es ſchien, als ob ſie wohl zu einander kommen könnten, Timäa wenigſtens war deſſen ſicher. Sie hatte aber ohne die Herrſchſucht und Eitelkeit Sibillas gerechnet, die ſie durch ihr erſichtliches Werben um den jungen Mann herausforderte. Wenn Sibilla wollte, ſo hatte ſie einen Charm ſondergleichen. Und ſie wollte jetzt. Und eines ſchönen Tages fand ſie ſich mit Benno Raphalo verlobt. Vier Wochen ſpäter war die Hochzeit, die man auf Sibillas Wunſch im engſten Familienkreis feierte. Das tiefe Weh, das bei der Hochzeit das Herz der Mutter zerſchnitt, wurde durch die Sorge um Sibilla zurückgedrängt. Ein ſo ſonderbarer Ausdruck lag in den umflorten Blicken der jungen Braut, etwas wie Ver⸗ wunderung, ein Sichnichtzurechtfindenkönnen, ein in leere, weite Fernen Schweifendes. Und dann wieder blitzte es in den dunklen Augen auf, wie Wetterleuchten in ſchwüler Nacht, vor einem Gewitter. Es war kein fröhliches Hochzeitsfeſt. Von dem Bräutigam war auch nichts zu erwarten. Vielleicht zum erſten Mal in ſeinem Leben war er ernſt, ja feierlich geſtimmt. Er liebte Sibilla wahrhaft. Glücklicherweiſe ventilierte die unbeirrbare Gutgelauntheit des Vaters, der Hochzeiten nicht feierlicher als andere Feſte nahm, die bedrückende Atmoſphäre. 69 Er ergriff gern die Gelegenheit, eine launige Tiſchrede zu halten und berauſchte ſich an ſeinen graziöſen Worten und dem unbezahlten Champagner, und in dem Hoch auf das Brautpaar ließ er „ſeinen Merlin“ mit einfließen, an dem er ſoeben die letzte Feile lege. Gegen das Ende des Mahls fiel ihm plötzlich ein, daß er mit dem Muſikalienhändler eine Ver⸗ abredung habe, eine Viertelſtunde nur, gleich ſei er wieder da. Er ſchloß Sibilla in ſeine Arme, küßte ſie mehrmals, ſchüttelte ſeinem Schwiegerſohn die Hände, und fort war er und — kam nicht wieder. Sibilla hatte es im voraus gewußt. Er hatte die Flucht vor dem Abſchied ergriffen. Er konnte Thränen nicht ſehen. Und ſie floſſen in Strömen aus Sibillas Augen, als ſie am Halſe ihrer Mutter hing. Eine grenzenloſe Traurigkeit und Mutloſigkeit war über ſie gekommen, das Gefühl, als hätte ſie etwas Unerhörtes, Ungereimtes, ganz Wahnſinniges gethan, und wenn die Mutter, die begriff, was auf dem Spiel ſtand, nicht mit zärtlicher Über⸗ redung, mit ſanftem, aber feſtem Ernſt Ol in die Wogen des aufziehenden Sturmes gegoſſen hätte, wer weiß, ob nicht der Anfang dieſer Ehe zugleich ihr Ende geweſen wäre. Der gute Benno ahnte nichts von dem, was in der Seele ſeiner jungen Frau vorging. Als ſich aber Sibilla gar nicht von der Mutter trennen wollte, ſchüttelte er mit einem kräftigen Ruck die feierliche Rührung ab und riskierte ein Scherzwort. „Spaß beiſeite,“ rief er 70 fröhlich, „und bringen wir unſer Schäfchen ins Trockene.“ Und Sibilla lachte, lachte ebenſo krampfhaft, wie ſie vorher geweint hatte, und unter Lachen und Weinen reiſten ſie zu einer kurzen Hochzeitsreiſe ab. Sibilla Raphalo unterſchied ſich in den erſten Jahren ihrer Ehe völlig von Sibilla Dalmar. Zu ihrem eigenen Erſtaunen wurde aus dem verhätſchelten Weltkind eine junge Frau, wie viele andere auch. Die Briefe an ihre Mutter aus dieſer Zeit waren mit wirtſchaftlichen Fragen angefüllt. Sie ließ ſich zu einer ganz paſſablen Hausfrau an. Da Benno auf einen guten Tiſch hielt, ſtudierte ſie die Phyſiologie der Nahrungsmittel und ſtellte Menüs auf einer wiſſenſchaftlichen Baſis her. Sie ver⸗ ſchrieb die Wurſt aus Gotha, den Schinken aus Schleſien, Poularden aus Belgien, Kaviar aus Berlin und den Salat bereitete ſie ſelbſt. Es machte ihr ſogar etwas Spaß, nicht viel. Ihr Gatte, der ſie auf Händen trug, hatte eine hübſche Wohnung elegant und nicht ohne Geſchmack eingerichtet. Seidenplüſch und Damaſt, Ebenholz⸗ möbel mit Bronzeverzierung, niedliche kleine Kunſt⸗ werke, antike und moderne, wie Zufall und Gelegenheit ſie ihm in die Hände geſpielt. In ihrem Salon war ſogar eine Wandfläche mit einem Gobelin bedeckt, ein Gobelin von einer allerdings etwas groben Struktur. 71 Er ſtellte einen Überfall aus der Ritterzeit dar, und Tote und Verwundete gab's darauf. Beſonders ein Sterbender mit langen blonden Locken, dem eben ein Rittersmann einen Pfahl mitten durch den Leib ſtößt, zog ihre Blicke magnetiſch an, ſobald ſie in den Salon trat. Jedes Winkelchen in der Wohnung war aus⸗ gefüllt, ſo daß Sibilla, wenn ſie die Abſicht gehabt hätte, der Einrichtung eine andere, ihr zuſagendere Phyſiognomie zu geben, das Vorhandene erſt hätte beſeitigen müſſen. Aber ſie hatte gar nicht die Abſicht. Es war ja alles da, was ſie brauchte. Sie mochte auch den guten Benno, der ſo ſtolz auf ſeine Einrichtung war, nicht betrüben. Und dann — ſie war ſo indolent und bald auch zu kränklich, um auf irgend einem Gebiet ſich zu einer energiſchen Thätig⸗ keit aufzuraffen. Zu Hauſe aber fühlte ſie ſich nie⸗ mals in dieſem, von Benno Raphalo ausgeſonnenen Heim. Im erſten Jahr ihrer Verheiratung gebar ſie ihm Zwillinge: Zwei Knaben. Sie ſtarben kurz nach ein⸗ ander, ehe ſie ihr erſtes Lebensjahr vollendet hatten. Die ſchwere Geburt hatte der zarten Mutter Kräfte ſo erſchöpft, daß ſie Jahre brauchte, um ſie nur einiger⸗ maßen zu erſetzen. In der Münchener Geſellſchaft hatten ſie kaum Anknüpfungspunkte. Bald nachdem ſie ſich häuslich eingerichtet, tauſchten ſie Beſuche mit einigen Kollegen Benno Raphalos aus und gaben die Empfehlungs⸗ briefe ab, die Franz Dalmar ſeiner Tochter an eine 72 kleine Anzahl von Muſikern, mit denen er in Ver⸗ bindung ſtand, geſchickt hatte. Dazu kamen einige Maler, deren Bekanntſchaft der junge Bankdirektor in der Künſtlerklauſe bei einem Glaſe Bier gemacht, und die die finanzielle Verwertung der neuen Bekanntſchaft im Auge hatten. Ebenſo wenig wie in ihrer Wohnung wurde Sibilla in dieſer Geſellſchaft heimiſch. Die Muſiker und die Kollegen ihres Mannes waren Leute einfachen Schlages. Sibilla war ganz verdutzt über dieſe neuen Menſchen, die ganz andere Gewohnheiten und Anſichten hatten, ganz andere Geſpräche führten und andere Toiletten trugen, als in der Berliner Geſellſchaft üblich war. „Wie weit, weit liegt Berlin hinter mir,“ ſchrieb ſie einmal an ihre Mutter. „Kein Menſch kümmert ſich hier um einen. Das ſollen ſie überhaupt in München nicht thun, und wenn der Herrgott in Perſon vom Himmel herunterſtiege, und der Herrgott bin ich doch noch lange nicht, nur die Frau von Benno Raphalo und noch dazu aus Berlin. Eine komiſche Geſellſchaft! Die Muſiker ſind meiſt ältere Herren mit dürren Hälſen, die auf unſerem Flügel herumpauken bis der Hahn kräht, und ſie rauchen und trinken und trinken und rauchen, ſo recht urdeutſch, und mitunter, wenn unſere Mädchen ſchon zu Bett gegangen ſind, nehmen ſie die Bierkrügel unter den Arm und holen ſich über die Straße fort ſelber noch ein Maß. 73 Die Kollegen meines Mannes verhandeln nur Ge⸗ ſchäftliches untereinander, und wenn es hoch hergeht, regaliert Benno ſie mit einer ſeiner gemütlichen Anek⸗ doten „Für Herren“. Und die zu dieſen Herren gehörigen Damen! ladylike ſind ſie nicht, o nein. Vor und nach Tiſch hocken ſie zuſammen, machen Handarbeiten, und ihre Unterhaltungen drehen ſich aus⸗ ſchließlich um Wirtſchaftsangelegenheiten, und wie man kleine Kinder, Goldfiſche und Möpſe am beſten füttert, und Frau A. rühmt ſich, daß ihr fünf Monate altes Kind ſchon ein Zähnchen hat, was Frau B. ſehr demütigt, die ein ſechs Monate altes Kind hat — ohne Zähnchen. Und ſo einfach ſind ſie alle angezogen, daß ich mich meiner Toilette ſchäme; ich fiel neulich mit meinem einfachſten Kleide ganz aus dem Rahmen, und ſie können mich nun gewiß wegen dieſes Himmelblau⸗ geſtickten alle nicht leiden. Die Frau des Muſikprofeſſors Zeltinger, die iſt aber wirklich ſehr nett und ſo herzlich und natürlich mit mir. Darum verzeihe ich ihr auch, daß ſie mich „kleines Frauchen“ nennt. Kleinbürgerlich, recht klein⸗ bürgerlich ſind ſie alle. Denke Dir, ſie haben noch „gute Stuben“. Das Erſtaunlichſte aber Mutti, — Mutti Du wirſt's nicht glauben, ich kann's Dir aber nicht er⸗ ſparen — niemand macht mir den Hof, niemand! Die Männer, inſoweit ſie Maler ſind, fühlen ſich durch alles Weibliche, das das Niveau der Modelle überſteigt, geniert; die Muſiker bekümmern ſich nur um Muſik, wozu ſie die Frauen nicht rechnen, und die Kollegen 74 meines Mannes, inſoweit ſie nicht verheiratet ſind, ſuchen und finden ihre Ideale in irgend einer Viertels⸗ welt. Für Berlin bin ich — vielleicht — eine beauté. für München — Kaviar. Eine neidhammlige Dame verriet mir, daß man mich Blaßſchnabel nennt. Frei⸗ lich, ins Geſicht ſagen ſie mir nicht Blaßſchnabel, aber doch „Schöne Frau“, was nicht viel anmutiger iſt Nur auf der Straße, da feiere ich Triumphe. Man bleibt plötzlich ſtehen, als wäre man von meinem Anblick geblendet, man läuft mir nach. Und wenn meine „Würde und Hoheit die Vertraulichkeit nicht ent⸗ fernte“, würde ich ſelten ungeleitet nach Hauſe gehen. Am Sonnabend war ein kleiner Tanzabend beim Muſikprofeſſor Zeltinger, wirklich ganz anheimelnd. Die netten, ſympathiſchen kleinen Wurſtſtüllchen, ſie kamen direkt vom Herzen der Wirtin, und die 300 Brötchen, die hatte die Frau Profeſſor ſelbſt geſtrichen, und die vielen Zwiebeln im Heringsſalat entſprangen ſicher einer wohlgemeinten Abſicht. Nur ſah ich den Zweck der vielen jungen Muſiker nicht ein, die an den Wänden herumſtanden. Einer von ihnen tanzte allerdings ſpäter mit mir in des Profeſſors kleinwinzigem Studier⸗ ſtübchen und nannte mich gnädiges Fräulein, was ich begreiflich fand, denn ich tanzte wie ein Kikelchen. Der Herr Profeſſor tanzte auch mit mir, und drückte mich dabei ſo innig an ſich, daß ich der oftgemachten Beob⸗ achtung mich nicht entſchlagen konnte, daß die Männer, auch die alten Herren, durchweg ein Geſchlecht von Schwerenötern ſind. 75 Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, muß ich ab und zu auch einige Leute zu mir einladen. Das macht ſo viel Umſtände. Die Köchin will immer ſo viel feine Speiſe kochen, und ich muß das gute Silber herausgeben, und Benno braut eine ganze Stunde lang an der Bowle, und dann haben die Dienſtboten immer die Idee, daß die Gäſte lediglich zu dem Zweck erſcheinen, um in den entfernteſten Ecken Staub aufzuſtöbern, und am Vorabend der Geſellſchaft veranſtalten ſie ein großes Staubkeſſeltreiben, daß man gar nicht weiß wohin, und man atmet erſt wieder auf, wenn das Silber wieder eingeräumt, die reingemachten Ecken wieder verſtaubt und die Reſter aufgegeſſen ſind. Ich habe eine Idioſynkraſie gegen Reſter und gegen Klein⸗ bürgerliches überhaupt. Im allgemeinen gleitet mein Leben ſo ſacht, wie ein Schiff mit eintönigen Ruderſchlägen über das Waſſer gleitet, vorbei an duftigen Gärten, märchen⸗ haften Wäldern, romantiſchen Felſen, — aber immer nur vorbei — vorbei. Ich ſteige nie aus. Ich möchte aber einmal ans Ufer. Ich bin neugierig. Ich will ſehen, was da los iſt. Deine liebe, nicht ganz vergnügte Sibilla.“ Wie zarte ſüdliche Pflanzen, die, in ein nordiſches Erdreich verſetzt, eingehen oder Jahre brauchen, um in dem neuen Boden Wurzel zu ſchlagen, ſo ſchien auch Sibilla in den erſten Jahren eingehen zu wollen. Sie blieb jahrelang in der fremden Stadt eine Fremde. Niemand wußte ja, daß ſie die geſuchteſte, reizendſte Dame der geiſtreichſten Geſellſchaft Berlins geweſen 76 war. Der Abſtand war zu groß. Dort der verzogene Liebling, hier in inferioren Kreiſen eine unbeachtete Perſönlichkeit. Sie blieb dieſer Thatſache gegenüber verſtändnislos. Sie wäre nicht ungern mit der eleganten Geſell⸗ ſchaft Münchens in Berührung gekommen. Man kannte ſie dort. Streifte man ſich doch im Theater, in Konzerten, auf Spazierfahrten. Thatkräftige und ehrgeizige Frauen mit der Perſönlichkeit Sibillas hätten leicht Mittel und Wege gefunden, ſich Eingang in dieſe Kreiſe zu ver⸗ ſchaffen. Sie war aber zu indolent und auch zu ſtolz, um für ihre ſoziale Poſition zu kämpfen. Wer ſich ihr nicht gewiſſermaßen aufdrängte, blieb ihr fern. Und man drängte ſich ihr vorläufig nicht auf. Was boten denn die Raphalos groß? Sie machten kein Haus. Frau Raphalv war zwar ſchön und graziös, aber ihre reſervierte und doch anſpruchsvolle Haltung hatte für den Süddeutſchen nichts Anheimelndes. Und ſie hielten nicht einmal einen Diener. Sibilla hatte nie irgend welche Kräfte an die Er⸗ reichung irgend eines Ziels geſetzt, mochte dieſes Ziel nun auf geſellſchaftliche Erfolge oder auf ihr inneres Leben gerichtet ſein. Sie las niemals Bücher, die im Dialekt geſchrieben waren, — ſelbſt mit Reuter machte ſie keine Ausnahme, weil ſie die Mühe des Sichhinein⸗ leſens ſcheute. Sie ging in Gemälde⸗Ausſtellungen an Bildern, deren Glaseinrahmung die Beſichtigung er⸗ ſchwerte, vorüber. Am allerwenigſten aber hätte ſie einen Finger gerührt, um Menſchen, die nicht von ſelbſt kamen, in ihr Haus zu ziehen. 77 In all den Jahren war es wie ein Stillſtand in ihrer Exiſtenz geweſen; kein Stillſtand in ihrer inneren Entwickelung. Sie las viel und mit Auswahl, nicht in bewußter Strebſamkeit, um ihren Horizont zu er⸗ weitern, ſondern einfach, weil ihr dieſe Bücher Ver⸗ gnügen machten. Und faſt ohne ihr Zuthun, aus innerſter Naturnotwendigkeit, wurde ihre Intelligenz zu einem klaren, ſtetigen Licht, das nichts Schatten⸗ haftes duldete, auch nicht in den entlegenſten Winkeln ihrer eigenen Seele. Ihr Zug nach abſoluter Objek⸗ tivität entwickelte ſich immer feiner. Die ſozialiſtiſchen Anklänge, die ſchon in ihre Kinder⸗ und Jungfrauen⸗ jahre wie Glockentöne einer fernen Kirche hinein⸗ geklungen waren, wurden jetzt zu vollen Accorden. Sie gelangte zu einer radikalen Weltanſchauung, zu einem Sozialismus der reinen Vernunft, ohne ſtarke Gemüts⸗ beteiligung. Benno, der allezeit Heitere, huldigte einem ganz entgegengeſetzten Geſchmack. An den Büchern liebte er nur die hübſchen Einbände und am Leben luſtige Ge⸗ ſelligkeit. Da Sibilla ſie im Hauſe nicht pflegte, ver⸗ gnügte er ſich häufig auswärts. Er war nicht wähle⸗ riſch in Betreff ſeiner Luſtbarkeiten. In den Brau⸗ ſtübeln Münchens, in den luſtigen Künſtlerklauſen wurden ſeine Anekdoten mit Acclamation aufgenommen. Auch als Skatſpieler war er berühmt und umworben. Sie führten eine recht glückliche Ehe, eben weil jedes dem andern erlaubte, ſich auf ſeine Facon zu amüſieren. Er — in den Varieté⸗Theatern, ſie — in den Dramen Ibſens oder Hauptmanns. 78 Er betete ſeine Gattin an wie am erſten Tage ihrer Ehe, obwohl ſie für ſeinen robuſten Geſchmack ein wenig zu fein, zu zerbrechlich war, nicht ſo recht für die Werkeltage. Er wagte nicht in ihrer Gegenwart zu rauchen oder gar zu gähnen. Er fühlte ſich nie „Herr“, was doch auch ſeinen Reiz gehabt hätte. Darum bedurfte er einiger Zerſtreuungen, wie ſie gewöhnliche Sterbliche gern haben. Darum pflog er auch ab und zu der unerlaubten Minne, ganz heimlich, wie er glaubte. Sibilla aber wußte immer, woran ſie mit ihm war, trug aber nicht das geringſte Verlangen, die Details ſeiner kleinen Aventüren zu erfahren. Im vierten Jahr von Sibillas Ehe ſtarb ihr Vater, Franz Dalmar. Er ſtarb, weil er, wie er an die Krankheiten anderer nicht glaubte, auch an ſeine eigenen nicht geglaubt hatte. Von einer ſtarken Influenza noch nicht ganz hergeſtellt, gab er ſeinen Freunden eine luſtige Geneſungsfeier. Sie wurde zur Totenfeier. Ein Herzſchlag traf ihn inmitten einer launigen Rede, die er unter dem Applaus ſeiner Freunde hielt. Und er ſtarb, ohne die letzte Feile an ſeinen Merlin gelegt zu haben. Sibilla, obwohl ſchon ſeit Jahren eine Entfremdung zwiſchen ihr und dem Vater eingetreten war, betrauerte ihn tief und aufrichtig. Frau Dalmar brachte nun oft Monate bei ihrer kränkelnden Tochter in München zu. Sie pflegte ſie und wäre mit Sibillas Los zufrieden geweſen, wenn 79 das geliebte Kind ſich nur etwas kräftiger und lebens⸗ froher gezeigt hätte. Eins aber konnte die eitle Mutter nicht begreifen: daß Sibilla mit ihrem Geiſt und ihrer Schönheit die Stadt nicht auf den Kopf ſtellte. Mutter und Tochter ſchloſſen ſich inniger als je aneinander. Die alte Frau blühte förmlich unter dem Einfluß der Tochter auf, ihre Intelligenz erfuhr einen Johannestrieb und entwickelte ſich bis zum vollſten Verſtändnis der gewagteſten und kühnſten Ideen Sibillas. Sie wurde die Schülerin der Tochter. Inzwiſchen war Benno Raphalos Vermögen rapide gewachſen. Nach Ablauf ſvon kaum ſieben Jahren ge⸗ hörte er zu den reichſten Leuten der Stadt. Sibilla bekümmerte ſich nicht viel darum und lebte weiter, wie ſie es gewohnt war, in behaglichem Wohl⸗ ſtand, ohne beſonderen Luxus. Im Sommer pflegte ſie mit der Mutter eine Wald⸗ oder Bergfriſche in der Nähe Münchens auf⸗ zuſuchen, wo Benno ſie ab und zu beſuchte und wo ſie kaum anders lebte als in der Stadt. Sie ſcheute weite Spaziergänge. Den größten Teil des Tages lag ſie auf der Chaiſelongue, leſend oder mit der Mutter plaudernd. Das eiſenhaltige Waſſer, das ihr die Ärzte ver⸗ ſchrieben, trank ſie nicht. Sie wußte ja im voraus, es würde nichts helfen. Sie hatte eine Abneigung gegen kaltes Waſſer wie gegen die Kälte überhaupt. Schlechtes Wetter war ihr unerträglich. Sobald im 80 September die erſten Regentage eintraten, kehrte ſie in die Stadt zurück. Ein finanzielles Unternehmen, die Gründung einer Zuckerfabrik, brachte Benno Raphalo in Beziehung zu einem Grafen Ferlani, der in Südbayern Güter beſaß, ſich aber den größten Teil des Jahres in München aufhielt. Als der Graf eines Tages den Banquier in ſeiner Wohnung aufſuchte, ſah er Sibilla. Ihr Weſen und ihre Schönheit machten einen tiefen Eindruck auf ihn. Er beteiligte ſich ſofort an dem Unternehmen und bat um die Erlaubnis, der Frau vom Hauſe ſeine Auf⸗ wartung machen zu dürfen. Der Graf war ſehr lebhaft, ſehr geiſtreich, ſehr frivol und ſehr häßlich. Mit ihm kam die Welt wieder zu Sibilla. Kurz nach dieſer Anknüpfung ließ ſich ihre alte Freundin Timäa, die einen hervorragenden Maler, Peter von Gregori, geheiratet hatte, in München nieder. Ihr Erſtaunen, Sibilla in einer verhältnis⸗ mäßig untergeordneten Poſition zu finden, war grenzen⸗ los. Die Eigenſchaften, die Sibilla fehlten, um ihr Leben zu geſtalten, Energie, Ehrgeiz, Ausdauer, beſaß Timäa im höchſten Maße. Sie begriff nicht, wie eine Frau von der Perſönlichkeit Sibillas, die noch dazu immens reich war, wie eine bourgeoise leben könne. — „Du biſt doch eigentlich die geborene Botſchafterin, redete ſie auf Sibilla ein, „Dein Bankdirektor iſt nur ein zufälliger Nebenumſtand. Und ſie ruhte nicht eher, bis Sibillas Bank⸗ direktor ein, wundervolles Haus mit einem großen 6 81 Garten kaufte, eine Art Palaſt, deſſen Ausſtattung Sibilla mit Hilfe Timäas beſorgte. Dieſe Ausſtattung, vornehm und behaglich, von künſtleriſch phantaſtiſchem Charakter, trug Sibillas Gepräge. Ein Gemiſch aller möglichen Stile. Die einheitliche Wirkung durch eine tiefe geſättigte Farbe gewahrt, die an verglimmendes Feuer erinnerte. Die Wandbekleidung: matte Seide oder Gobelins. Die Möbel: königlich altväteriſcher Hausrat voll feiner Skulpturarbeiten. Altitalieniſche feudale Marmorkamine, in denen rieſige Holzſcheite brannten. Säulen und Bilder, Marmorgruppen, Palmen, phantaſtiſche Land⸗ ſchaften, Glasmalerei an den Fenſtern. Überall vor⸗ nehme Formen und ſinnlich ſüße Farbe. Unter Ferlani's und Timäa's Einfluß regten ſich wieder alle weltlichen Inſtinkte Sibillas und gaben ihr, wenigſtens für einige Zeit eine Thatkraft und eine Daſeinsluſt, die ſie ſich nicht mehr zugetraut hätte. Sie mußte auf Timäa's Veranlaſſung reiten, Schlitt⸗ ſchuhlaufen, Spaziergänge machen. Die Folge davon war, daß ſich ihr Geſundheitszuſtand in überraſchender Weiſe beſſerte, ſo daß ſie im ſtande war, den An⸗ forderungen, die die neue Situation an ſie ſtellte, zu entſprechen. Aber ſie vermied auch jetzt alles, was den Anſchein erwecken konnte, als wolle ſie ſich in die elegante Geſellſchaft drängen. Das war auch nicht nötig, Timäa und Ferlani waren ja da. Letzterer führte ſeine Nichten, erſtere die hervorragendſten Künſtler Münchens bei ihr ein. Die Verehrerinnen derſelben, 82 teilweis ſehr ariſtokratiſche, folgten ihnen auf dem Fuß. Nach Ablauf weniger Monate bildete das Haus Raphalo eines der Centren für die Geſellſchaft Münchens. Timäa verfolgte bei dem, was ſie für Sibilla that, egoiſtiſche Nebenzwecke. Zwar befand ſie ſich in einer bevorzugten Stellung, aber ihre Mittel waren beſchränkte. Sie brauchte ein Haus, über das ſie ver⸗ fügen, und auf das ſie, teilweiſe wenigſtens, die Koſten und Umſtände ihrer Geſelligkeit abwälzen, ihre Ver⸗ gnügungspläne zur Ausführung bringen konnte. Inner⸗ lich hatte ſie Sibilla nie verziehen, daß ſie von ihr in der Konkurrenz von Benno Raphalo geſchlagen worden war. Den erſten Winter der neuen Lebensgeſtaltung Sibillas hatte Frau Dalmar zum größten Teil in München zugebracht. Dann hörten ihre Beſuche bei der Tochter auf. Ein Ischiasleiden, das in Zwiſchen⸗ räumen immer wieder und immer heftiger auftrat, erſchöpften ihre Kräfte und bannten ſie ans Haus Den Bitten Sibillas, nach München überzuſiedeln, wider⸗ ſtand ſie: ein Abſterbender gehöre nicht in einen Kreis von Aufſtrebenden. Und als ſie ſich trennten, in ſchmerzlicher Zärt⸗ lichkeit, da mußte Sibilla mit Herz und Mund ge⸗ loben, der Mutter rückhaltlos, in voller Wahrhaftigkeit alles zu ſchreiben, was ihr inneres und äußeres Leben bewegte. „Und wenn ich einmal nur Betrübtes zu melden hätte? 6* 83 Gerade das vor allem wollte Frau Dalmar wiſſen. Freudiges würden auch andere mit ihr teilen, Betrübtes nur ſie, die Mutter. Sibilla hielt ihr Verſprechen. Ihre Briefe waren ein Spiegel ihrer Seele. 1. September. „Alſo, liebſte aller Mütter, los wie Herr Direktor Vogel in der Schule zu ſagen pflegte, wenn ich etwas aufſagen ſollte. Ich berichte, ich beichte, ich rede frei von der Leber weg. (Warum man gerade die Leber mit dieſer Funktion betraut?) In Deinen treuen Buſen — Du haſt's gewollt — ſchütte ich Leid und Freud', Thees und Soiréen, Gewiſſens⸗ biſſe, Größenwahn, Toiletten⸗Fragen und Sorgen, und was ſonſt noch das Leben einer Mondaine (habe ich's wirklich ſchon ſo herrlich weit gebracht?) mit ſich bringt. Alles was mein iſt, iſt Dein, Du Liebe, Einzige. Wie anders hat ſich nun faſt plötzlich mein Leben geſtaltet. Das iſt auch ein Zeichen der Zeit: Frau Zeltinger nennt mich nicht mehr „kleine Frau“. Ich war ja ganz zufrieden, ſo ziemlich zufrieden in der Windſtille, die dem jetzigen Gewoge voraus⸗ ging. Ich konnte ausſchlafen, ausdenken und hätte nichts dagegen gehabt, mich ſo allmählich ſanft und ſacht in das Alter hinein und etwas ſpäter aus dem Leben heraus zu verlaufen. Und nun — keine Raſt noch Ruh', Beſuche bei Schneiderinnen, Digeſtionsbeſuche. Haben 84 Sie ſchon bei Frau E digeriert? fragt man, will ſagen, den Dankbeſuch für eine Einladung gemacht. Theater, Schlittſchuhlaufen, Konzerte, Geſellſchaften, überhaupt der Tag reicht nicht aus, um all meinem Nichtsthun zu genügen. Aber ich amüſiere mich, oft ſogar ſehr gut. Meine Erfolge in der Geſellſchaft ¹ Du eitle Mutter, hörſt ja gern dieſe Preis⸗ notierungen vom Markt der Eitelkeit — ſind im Steigen. Leute, die mich ſeit Jahren kennen und nie beachtet haben, beachten mich mit einem Male ſehr. Warum weiß ich nicht. Wegen meines neuen glän⸗ zenden Milieus? meiner Wiener und Pariſer Toi⸗ letten? Ich trage faſt nur weiße oder creme Kleider, ſie dürfen ſilber⸗ oder golddurchwirkt ſein, oder ſo lichtes blau, roſa oder grün, daß es kaum wie das Echo einer Farbe wirkt, verklingend, verdämmernd, verblutend. Er iſt vom Stapel gelaufen am Montag, mein erſter jour, mein five o'clock tea. Alle Welt hat hier einen ſolchen jour. Alle Welt, das iſt nämlich die „Geſellſchaft“. So nennen ſich anſpruchsvoll ge⸗ wiſſe elegante und tonangebende Kreiſe Münchens. Der oder jener gehört oder gehört nicht zur Geſell⸗ ſchaft, iſt eine beliebte Redewendung. Man ſpricht da weniger gutes Deutſch als bei uns, aber mehr fran⸗ zöſiſch. Hervorragende Wiſſenſchaftler und Politiker verlieren ſich in München ſelten in die Salons, deren Zierde ſie in Berlin ſind, aber deſto mehr Maler und Barone giebt's hier, oft beides in einer Perſon. Unſere Barone ſind⸗ übrigens nicht alle ſo ariſtokratiſch als 85 man denken ſollte, es giebt auch recht plebejiſche und unpräſentable darunter, aber es macht ſich beim Vor⸗ ſtellen immer gut. Geht es hier in den Geſellſchaften oberflächlicher zu als bei uns oder ſcheint mir nur alles flacher, weil ich ſelber tiefer geworden bin? Anwandlung von Größenwahn? Außer der „Geſellſchaft“ giebt es noch einen ganz exkluſiven Kreis in der Stadt: die hohe Ariſtokratie, zu der bei weitem nicht alle Barone und Grafen der Geſellſchaft gehören. Exkludiert iſt von vornherein, wer nicht den Prinzeſſinnen vorgeſtellt worden iſt. Dieſe Geſellſchaft Nummer 1 parliert noch wie vor fünfzig Jahren ganz oder halb franzöſiſch. Ihre Allüren, hautaine und ridicüle, wie ſie der norddeutſche Groß⸗ ſtädter nur noch aus gröberen Luſtſpielen kennt. Nebenbei haben ſie den Ruf einer ſo ſteifleinenen Lang⸗ weiligkeit, daß nur wenige Snobs aus der Geſellſchaft Nummer 2 ambitionieren, in der Geſellſchaft Nummer 1 recu zu ſein, wo ſie allerdings die Chance hätten, ſich eventuell mit einer Prinzeſſin in demſelben Raume zu befinden. Charakteriſtiſch für dieſe beiden Geſellſchaften iſt, daß ſie nicht die leiſeſte Ahnung haben von der Welt⸗ wende, an der wir ſtehen. Für ſie giebt es keine ſoziale Frage, für ſie nicht Dolch und Dynamit, nur Kleider, Liebe, Theater und perſönliche Angelegenheiten. Sie tanzen auf einem Vulkan — Cancan. Ich laufe hier keine Gefahr, wegen meines Radikalismus boykottiert zu werden. Man lacht über 86 meinen Amateur⸗Sozialismus, und da ich weder zum Malen, noch zur Muſik, noch zum Spiritismus Talent habe, läßt man ihn als harmloſen Salon⸗Sport paſſie⸗ ren. Höchſtens beſchuldigt man mich der Originalitäts⸗ haſcherei. Alſo mein erſter jour. Alle die ich rief, kamen zwar nicht, aber doch immer noch viel zu viele. Es iſt hier nicht chic, wenn Mann und Frau zu gleicher Zeit auf einem jour erſcheinen. Entweder kommt er, wenn ſie geht oder gegangen iſt, oder ſie kommt heut und er in der nächſten Woche. Komiſch, nicht? Darum hält ſich der gute Benno auch in diskreter Entfernung von meinen Thees, nicht ungern, ſchon wegen des Fran⸗ zöſiſchen, in welcher Sprache ſich zu äußern ſein Bildungs⸗ grad ihm nicht erlaubt. Apropos Benno. Höre mal, liebe Mutter, Du weißt, daß ich immer zugeſtimmt habe, wenn Du mir den Benno in allen Tonarten geprieſen haſt; ſingſt Du aber, wie in Deinem letzten Briefe, ſogar ſeiner Gattentreue ein Loblied, ſo muß ich ihn doch dieſes falſchen Heiligenſcheins entkleiden. Freilich, er meint es nicht böſe mit ſeinen kleinen Lüderlichkeiten. Wie er die Varieté⸗Theater oder irgend eine Sehenswürdig⸗ keit im Panoptikum beſucht, ſo verkehrt er mit einigen luſtigen Dämchen, um ſich bequem zu amüſieren. Es gehört eben dazu. Er würde einfach lachen, wollte man das Wort Ehebruch auf ſeine erotiſchen Späßchen an⸗ wenden. Ich thu' es ja auch nicht. Mein guter Benno nimmt in meiner neuen Welt eine etwas iſolierte Stellung ein. Stolz und glücklich 87 iſt er über den Glanz ſeines Hauſes, und möchte um alles in der Welt die illüſtren Perſönlichkeiten nicht miſſen. Die Langeweile, die er dabei ausſteht, verkneift er ſich. Er zwingt ſich ein reſerviertes Weſen an, und je vornehmer die Gäſte ſind, je ernſthafter wird er und je drolliger erſcheint er mir. Aber gewiſſe plebejiſche Angewohnheiten die er hat, reizen mich jetzt zuweilen, z. B. wenn er plötzlich ein Federmeſſer aus der Taſche zieht und ſich damit die Nägel reinigt, oder wenn er jemand beiſeite zieht, um ihm eine ſeiner Anekdoten „für Herren“ zu verſetzen, oder wenn er, wie es einmal geſchah, den päpſtlichen Nuntius beim Rockknopf feſthält und ihm „auf Ehrenwort“ verſichert, daß wir ſechs Grad Kälte haben. In ſolchen Augenblicken kann ich ihn nicht aus⸗ ſtehen, und ich ſchäme mich ſeiner, und dann ſchäme ich mich wieder meiner Beſchränktheit, daß ich mich ſeiner ſchäme. Alles in allem iſt er doch ein Original, eine Perſönlichkeit, ein Stück naiver Schöpfung. Vielleicht gehört eine gewiſſe Horizontenge dazu, um eine Perſön⸗ lichkeit zu ſein. Ich bin es nicht. Nach allen Seiten flattere ich und ſtiebe ich auseinander, lauter Atome, die ſich nicht zu einem Ganzen verdichten. Aber mein jour! Mein Salon, Mutti — reizend! Eine entzückende Kompoſition zwiſchen Oratorium und melodiſcher Lyrik: Leier und Orgel. Heidentum, Ro⸗ mantik, Katholizismus, Buddhismus verſchmelzen ſich darin. Proteſtantismus ausgeſchloſſen. Wie paßt da mein Böcklin hinein mit der magiſchen, von ge⸗ heimnisvollem Mondlicht überrieſelten, träumeriſchen 88 Märchengeſtalt, die auf dem Einhorn durch den Wald reitet. Und die Stuckſche „Sünde“ (leider nur eine Kopie) und Bücher und Blumen, ſeltene hochragende. Unzählige Madonnen, geſtickte, gemeißelte, gemalte, eine ſitzt in einem bronzenen, von Säulen getragenen Tem⸗ pelchen als Hüterin eines Uhrwerks. Die weiße Farbe fehlt ganz in dem Raume. Kein Marmor, kein Gold, alles gedämpfte, ſüße, milde, tiefe Glut. Keine einfache, konventionelle Form. Die Thee⸗ fanne von getriebenem, dunklem Silber ſieht wie ein Weihgefäß aus. Die Decken über Tiſche und der Chaiſe⸗ longue wie uralte Altardecken, die Wandſchirme wie zum Verſteckſpielen für Amouretten. Die Fenſter haben zum Teil Glasmalerei; wo ſie frei ſind, ſieht man in einen Wald von Bäumen und zwiſchendurch das Sieges⸗ thor. „Venus und Madonna reichen ſich in Deinem Salon die Hände,“ ſagte Timäa. Ferlanis Vergleich war noch ausdrucksvoller, indem er meinen Salon einen Hörſelberg nannte, in dem der heilige Gral umginge. (Hörſelberg! wenn ich die Wahl hätte zwiſchen Venus und Eliſabeth, möchte ich am liebſten zwiſchen beiden abwechſeln.) In meiner Robe empire von gelblicher Liberty⸗Seide, mit feinſten Silberſpitzen garniert, paſſe ich da ganz hinein, ſetzte er hinzu. Und meine Gäſte? Den Ferlani, der immer zuerſt kommt und zuletzt geht, kennſt Du. Daß er verliebt in mich iſt va sans dire, daß ich es nicht in ihn bin, va auch sans dire. Ganz entgegengeſetzt dem Cäſar, mag ich nicht dicke Leute um mich ſehen, 89 und auch nicht ſolche, die für Klaſſicität ſind, und dabei nicht einſchlafen können, ohne ein Kapitel aus dem neueſten lasciven Pariſer Roman geleſen zu haben. Im Salon frivol und geiſtreich, verwandelt er ſich im Abgeordnetenhauſe im Handumdrehen in eine phraſendreſchende Hauptſtütze für Ordnung, Sitte und Religion. Ich reize ihn oft, und darum iſt er bald böſe mit mir, bald nur zu gut, und abwechſelnd regaliert er mich mit Impertinenzen und Schmeicheleien. Er trägt gern Geſchichten von einem zum andern. Geſtern fing er damit an, mir eine kleine Perfidie Timäas zu in⸗ ſinuieren, die gar nicht begreifen könne, warum man von meiner Schönheit ſo viel Weſens mache, es gäbe doch ſo viel Schönere in unſeren Kreiſen, z. B. die und die u. ſ. w. Sie habe vielleicht recht, meinte er, nur verſchwänden die Schönſten neben mir wie virtuos ge⸗ malte Portraits neben einem Bildnis von tief ſeeliſchem Charakter, ich wäre nämlich Pſyche und Aspaſia in einer Perſon. Das hörte ich gern, konnte aber doch nur mit Bedauern konſtatieren, daß er ſo gar nichts vom Perikles habe oder vom — Amor. Ach, Du lieber Ferlani, wir kommen ja nie zu⸗ ſammen. Alles, was mich intereſſiert und entzückt, ver⸗ dammt er in Grund und Boden, z. B. jede neue Rich⸗ tung in Kunſt und Litteratur. Ich ſchlage ihm immer Timäa zum lieben vor. Natürlich war ſie auch auf meinem erſten jour. Die glaubſt Du nun in⸗ und auswendig zu kennen. Irrtum, Mutti. Ihre früheren Eigenſchaften beſitzt 90 ſie zwar noch, aber in vergrößertem Maßſtabe. Alles iſt raffinierter, berechneter geworden. Exotiſcher und unwahrſcheinlicher als je ſieht meine ungariſche Schul⸗ freundin aus, wie ein Überreſt aus irgend einem chaldäiſchen Zeitalter, mit den übernatürlich großen ſchwarzen Augen und dem prachtvollen, pechkohlraben⸗ ſchwarzen, ideal angewachſenem Haar. Sie trägt es jetzt griechiſch, hochaufgebunden. Hier und da eine Locke. Freilich, bei den Augen endet ihre Schönheit. Die Naſe — weniger als Durchſchnitt. Ein Kinn — kaum. Sie braucht aber weder Naſe noch Kinn. Die Augen genügen. Dazu hat ſie ſich neuerdings eine ſchloddrige Grazie angewöhnt, wie ſie etwa die Camelien⸗ dame auf der Bühne haben könnte. Es lodert immer alles an ihr. Intim ſind wir noch wie in der Schule. Ich ver⸗ mute aber, ſie beutet unſere Intimität aus für ihre Mediſance — gegen mich. Mag ſie! Ihr Mann war im vorigen Winter in Rom. Du haſt ihn alſo gar nicht kennen gelernt. Ein ſtiller, feiner Menſch. So ſind auch ſeine Bilder. Schöne Gegenden ſtören ſein Auge. Sie kommen ihm wie ein Senſationskapitel aus einem Kolportage⸗Roman vor. Und da malt er nun grau in grau — ſilbergrau, licht⸗ grau — ſo fein, ſo fein! Sein Pinſel haucht, ſeine Töne lächeln und ſeufzen, ſo zart, ſo zart, und dann noch das Ganze eingeſchleiert — der Traum eines Traumes. Auf der letzten Ausſtellung waren Zeichnungen von ihm,⸗leis getönt wie Geiſterhauch. Zuerſt ſah man 91 gar nichts. Bei genauerem Hinblick entdeckte man eine Nymphe, die aus einer Waſſerlilie ſteigt. Auf einem anderen Blatt ein Fiſch unter dem Waſſer über einem Korallenzweig, eine Libelle auf einem Blütenzweige. Wie verhallendes Piano beim Geſang wirkten die Blätter. Meine liebe alte Muſikprofeſſorin war auch ge⸗ kommen. Du hätteſt ſehen ſollen, wie die anderen Damen moquant lächelten, als ſie eintrat in ihrem ſchwarzſeidenen Kleid, goldener Uhrkette, glattem Scheitel, und ohne Paletot und Hut, da es doch nicht chic iſt, bei einem jour Hut und Jaquet abzulegen. Sie war aber ganz unverfroren, ſtippte ihr halbes Dutzend Küchelchen in den Thee und fragte Frau Bürgens, ob ſie denn in ihrem dicken Paletot nicht ſchwitze. Da der Paletot ganz neu und ſehr koſtbar war, ſchwitzte Frau Bürgens natürlich nicht, abgeſehen davon, daß man überhaupt nicht ſchwitze. Frau Bürgens, Hamburgerin, reich von Hauſe aus und Gattin eines ſehr reichen Fabrikanten, ſtrotzt von Eleganz und Einbildungen und führt ein beneidens⸗ wertes Phantaſieleben, indem ſie das immenſe Glück der Dummen, die ſich für klug halten, genießt. Eine fausse mondaine, ſchwankt ſie immer zwiſchen übertriebener Weltlichkeit und Peterſon'ſcher (ſie iſt eine née Peterſon) Spießbürgerlichkeit. Sie iſt immer auf dem Wege, ſich ein neues Kleid machen zu laſſen, was ihr Mann — ſie nennt ihn „mein Lamm“ oder (von Dagobert ab⸗ geleitet) „Dagochen“ — ſo ſehr liebe. Drei neue Hüte hat ihr das eigenſinnige böſe Dagochen ſchon wieder 92 aufgeſchwatzt. Ihr Lamm ſagt jedesmal, wenn ſie ſich etwas Neues, Hübſches angeſchafft hat: „ich danke Dir. Die née Peterſon hat aber auch recht viel Sorgen. Nur entſpringen ſie alle aus verletzter Eitelkeit oder Hochmut, z. B. bedrückte es ſie, daß in ihrer letzten Soirée niemand erſt um zwölf Uhr gekommen war, was doch ſo chic ſei. Daß man ſich außerhalb der eleganten Geſellſchaft amüſieren kann, hält ſie für ausgeſchloſſen; daß man Offiziere von der Linie einlade, ebenfalls. Kavallerie oder Garde — ja. Sie teilte mir mit, ſie gelte in Hamburg dafür, daß man ihr keine nichtadligen jungen Leute empfehlen dürfe. Aber das dächten ſie nur ſo in Hamburg, es ſei aber eigentlich gar nicht ſo, denn, ſagte ſie, warum nicht, wenn ſie nett ſind, dann ganz gern; nein wirk⸗ lich, dann habe ſie nichts dagegen, ganz gern, aber in Hamburg glaube man das von ihr. Und der Stolz leuchtete ihr aus allen Poren, daß ſie das in Hamburg von ihr glaubten. Eine meiner Intimſten iſt die kleine, originelle Traute Riedling, eine der reizendſten Perſönlichkeiten Münchens. Unberechenbar, pikant, launenhaft, auf⸗ richtig, oft von größtem Charm. Ihr Teint, weiß wie Schnee, das Haar ſchwarz wie Ebenholz, ihre Lippen rot wie Blut. Sie ſieht aus wie ein Kind der Liebe, das Lucifer mit einem Erzengel gezeugt. Und Mut hat dieſer ſüße Kobold! zu allem, zu den extravagan⸗ teſten Toiletten, zu Liebhabern, zum Geiſtercitieren. Und ſie reüſſiert immer. Nimmt ſie an einer Spiritiſten⸗ 93 ſeance teil, ſo tanzen und klingen und klopfen die Tiſche. Früchte und Blumen fallen ihr in den Schoß, einmal erſchien ihr ſogar der Aſtraleib eines verſtorbenen Schweſterchens. Daß ſie nichts weiß, nichts denkt, thut nichts. Sie begreift nicht, wozu der Verſtand da iſt, er wirft doch keine Emotionen ab, und die ſind das einzig Lebenswerte. Sie iſt reizend wie ein Kind, verliebt wie ein Käfer, naſcht beſtändig Chocoladenbohnen, natürlich nur Firma Marquis. Und immer Arm in Arm mit ihrer Couſine, Eva von Broddin, die ebenfalls graziös und zerbrechlich iſt wie ſie, ein wahres kleines biſon, nicht mehr ganz jung, von mütterlicher Seite Deutſch⸗ ruſſin. Als Gattin kann ich mir die Riedling gar nicht denken, eher als die Geliebte eines Byron oder Heine. Und doch hat ſie einen Gatten. Friedrich Riedling iſt auch Maler. Er geht faſt nie in Geſellſchaft, weil ihm das die Arbeitszeit kürzen würde. Er hat ſo viel gewaltige Ideen und iſt — in ſeiner Meinung — unter den Lebenden der Einzige, der das Zeug hat, ſie auszuführen. Beſonders häufig kommt der Geiſt des Rubens über ihn. Nur findet er keine Modelle zu ſeinen Rubensſchen Ideen. Schweninger iſt ſchuld daran, der läßt kein roſiges Fett mehr aufkommen, alles vermagert. Er ſpricht mit ebenſo viel Enthuſiasmus von ſeinen kühnen Entwürfen, wie von der Inferiorität ſeiner Kollegen. „Iſt das ein Leib? Sind das Beine?“ rief 94 er neulich mit begeiſterter Entrüſtung vor dem Bilde eines unſerer erſten Maler aus. Natürlich beſitzen wir auch ein Bild von ihm mit ſehr viel Leib und ſehr viel Bein. Ich habe ſchreckliche Angſt vor ihm, weil ſein Bild auf der Diele ſteht, noch dazu auf einer geliehenen Staffelei, und — in falſchem Lichte. Ach Gott, es iſt ſo ſchwer mit Menſchen umzu⸗ gehen. Schriftſteller? Die wollen immer, daß man ihre Bücher lieſt und kauft. Das Kaufen ließe ſich erſchwingen, aber das Leſen und — Loben! Maler? Nicht nur, daß man ihre Bilder kauft, man muß ihnen auch einen guten Platz geben, gerade da, wo ein Renaiſſanceſchränkchen oder ein nützliches Möbel hin⸗ kommen ſollte. Am liebſten wären mir noch die Mu⸗ ſiker, die komponieren doch ſelten, und über ihre Muſik brauche ich nicht zu reden, weil ich abſolut nichts da⸗ von verſtehe. Einer der eifrigſten Verehrer der Couſinen iſt der franzöſiſche Attaché Vicomte George de Hautbois, der auf ſeine mangelnden Sprachkenntniſſe hin Dinge ſagt, Dinge — ich wiederhole ſie lieber nicht, wozu Deine lieben keuſchen Ohren kränken? Überhaupt Mutti, Mutti, Du Kind, ich habe Dich im Verdacht, daß Du nichts weißt, nichts ahnſt. Du biſt nicht nur in Arkadien geboren, Du lebſt noch immer in dieſem naiven Schäferland, vor Erſchaffung des fin de siecle, der Decadence, des Naturalismus, Nietzſchia⸗ nismus u. ſ. w. Ich öffne Dir ein Gucklöchelchen. Überwinde den ahnungsvollen Schauder und ſchaul 95 ſchau! Ich bringe die Welt zu Dir. Schaudere nur auch getroſt über mich, Dein einziges Kind iſt auch ſchon auf dem Wege der Entartung. Ach, Mutti, dieſe Wege wandeln wir alle, faſt alle, wir begabten klugen Frauen, die wir in dem Zeitalter leben vor „der Um⸗ wertung aller Werte“. Ich habe Dir nur einige Haupttypen unſerer Kreiſe ſkizziert. Mehr kannſt Du nicht bewältigen, darum ein ander Mal von Hilde Engelhart, dem Profeſſor Hen⸗ nings u. ſ. w. Wer nennt die Namen alle, die zum Jahrmarkt des Lebens in der „Geſellſchaft“ hier zu⸗ ſammenſtrömen. Alle dieſe Damen wetteifern miteinander in der Dekolletiertheit ihrer Kleider und der Anzahl ihrer Ver⸗ ehrer, platoniſche und weniger platoniſche. Jemand, ich weiß nicht wer, hat dieſen Weltkindern den Kollektivnamen Haut-gont⸗Damen angehängt, nicht ganz mit Unrecht, und ich fürchte, Mutti, man wirft mich mit ihnen in einen Topf. Das Diner iſt ſerviert Morgen Fortſetzung. 2. September. Gott, Gott, Mutti, etwas Hoch⸗ intereſſantes, das, fettgedruckt, gleich am Anfang dieſes erſten Briefes hätte ſtehen müſſen. Er iſt hier! er! der Strotzende mit der wabernden Lohe, der komiſchen Naſe, mit einem Wort: Ewald de Born. Schon ſeit einem Jahre leben ſie in München und ich wußte nichts davon. Man ſagt, daß Mangel an Anerkennung ihn nach München getrieben, wo die „Moderne“ ſich noch nicht ſo breit mache. Sie hatten ſchon vor acht Tagen ihre Karten bei mir abgegeben. Ich ſchickte ihnen 96 eine Einladung zu meinen jours, und da ſind ſie nun gekommen. Er und ſie. Iſolde heißt ſie. Er iſt der alte biedere Barde geblieben, aber man will von alten biederen Barden nichts mehr wiſſen. Er denkt, bloß in Berlin nicht. Irrtum. In München iſt man auch helle. Er nimmt die Feder voller als je und dichtet und troubadourt drauf los, daß die Schwarte knackt. Und ſie? Eine kleine herzhafte Schadenfreude hatte ich doch bei ihrem Anblick. Nicht, als ſähe ſie nicht gut aus, im Gegenteil, ſie iſt ſogar eine Straßen⸗ ſchönheit, richtiger eine Über⸗die⸗Straße⸗Schönheit. Sie wirkt aus der Entfernung. Ihr Hütchen iſt ſo klein, ſo klein, ihr Härchen ſo golden, ſo golden. Wer denkt daran, daß ſie mindeſtens fünfundvierzig Jahre alt iſt. Und wie ihre Redeweiſe zu dem kleinen Hüt⸗ chen und dem goldenen Härchen paßt, ſo ganz kind⸗ lich naiv. Habe ich erſt ihre nähere Bekanntſchaft gemacht, erfährſt Du mehr von ihr. Die beiden andern Thees, bei der Bürgens und Frau von Gehrt, die ich, außer dem meinigen in dieſer Woche mitgemacht habe, will ich auch gleich mit wenigen Worten abthun. Frau von Gehrt, ſchön, elegant, parfümiert, cigarettenrauchend, iſt ein mit allen Hunden gehetztes Kunſtprodukt des fin de siecle, eine luſtige Frau Flut, und liebedurſtig, ſo durſtig, daß ſie trinkt, wo der Becher winkt. Die Gehrts haben ein Gut in der Nähe von München, und ſie bringt — um der Erziehung ihrer 7 97 Kinder willen — jeden Winter einige Monate hier zul. Sie iſt ein Chamäleon, ſchillernd zwiſchen häßlich, hübſch und reizend, ganz wie ihre rote Toilette. Oder war ſie ſchwarz? Undefinierbar ſpielten die Farben ineinander. Ultrakokett. Kaperte gleich mit ihren Baſiliskenaugen den ſchönen Maler Raphael Fernmor, der ausſieht, wie einer vom Stamm der Asra, welche ſterben, wenn ſie lieben, es aber nicht thun. Das heißt, ſie wollte ihn kapern. Er liebt mich aber. Sonſt thut er den ganzen Tag nichts, träumt, liegt auf der Straße, zieht ſich raffiniert an, immer eine Blume im Knopfloch, eine Roſe, und beſucht jeden Nach⸗ mittag eine hübſche Frau. Da er von mir nichts zu erwarten hat, wird er ſich wahrſcheinlich nächſtdem in Timäa oder Frau von Gehrt verlieben, die dazu nach jeder Richtung hin ge⸗ eignet ſind. Bei der Gehrt ein echter, rechter jour, wie er ſein muß, weltlich, oberflächlich, amüſant, ſehr adlig, leicht flüſſige Konverſation, männerreich, was immer für beſonders ehrenvoll gilt. Der Salon, capriziös eingerichtet, in allen Farben gedämpfte Lampen⸗ ſchirme, zu eſſen nichts, aber Cigaretten. Die Wirtin, ein reizendes grünes Sammetkleid und zu hübſch ge⸗ färbtes Haar. Eine Miſchung von Künſtler⸗ und Ariſtokraten⸗ Atmoſphäre, nicht ohne Charm. Einzelne Herren und Offiziere vorherrſchend. Der bürgerliche Regierungsrat Hellſchmidt erklärte die Adligen für bevorzugte Men⸗ ſchen, die nun aber auch zeigen müßten, daß ſie 98 wirklich aus beſſerem Stoff ſeien, und eine Frau Hahnemann, née Baroneſſe Fink, behauptete (natürlich pro domo) eine Adliggeborene bleibe immer adlig, möge kommen, was da wolle, (möge ſie ſelbſt auch aus ſehr unnobligen Gründen einen reichen Banquier geheiratet haben). Einen Baron, neben dem ich eine Weile ſaß, ver⸗ letzte es ſehr, Chriſtus und den buckligen Märchen⸗ ſchneider in „Hannele“ zuſammen auf der Bühne ſehen zu müſſen, obſchon er durchaus religiös⸗frei⸗ ſinnig ſei. Lebhaft wurde eine Theater⸗Affaire beſprochen. Der alte ariſtokratiſche Intendant hatte ſeinen Abſchied genommen. Ein bürgerlicher, ſehr leiſtungsfähiger Direktor war an ſeine Stelle getreten. Kopfſchütteln unter den Damen. Mein Gott, wer ſoll denn da nach oben vermitteln und verkehren? Etwa Excellenz Schmidt? Gelächter. Und das im Zeitalter, wo die Erde dröhnt von dem Vormarſch der Millionen mit der ſchwieligen Fauſt. Da ſind wir Berliner doch beſſere Menſchen. Frau von Gehrt meinte unter anderem, der Winter ließe ſich ſo langweilig an, man müßte ſich aufraffen und irgend etwas Luſtiges unternehmen; es fiel ihr aber nichts ein. Vorläufig hat ſie ſich aber zu dem Luſtigen drei neue Kleider machen laſſen, und unter dem moraliſchen Zwange dieſer wertvollen Anſchaffungen fällt ihr mit der Zeit gewiß noch etwas ein. Als zwei veritable Fürſtinnen Arm in Arm in den Salon⸗traten, zog ich mich zurück, um noch acte 7* 99 de présence bei Frau Bürgens zu machen, deren jour auf denſelben Tag fiel. Kein echter und rechter jour, ein wenig monde à cöté mit ſtattlichen Titeln. Die Bürgens will nur den Salon füllen und nimmt die Leute, on elle les trouve. Darum einige Putzbaroninnen, auch eine ci-devant Schönheit, ſchlechter Ruf, kein Geld, gemalt, gefärbt, obgleich alt und auf „Figur gekleidet. Sie ſoll aber amüſant ſein. Das weiß ich nicht, denke mir aber, ſie wird wohl unanſtändige Geſchichten erzählen, das iſt ja für die monde immer amüſant. Ein paar belangloſe Bürgerliche. Das Prinzip mancher Salons iſt ja: je péle-méler, je beſſer. Abenteurer in Moiréeweſten neben Miniſtern U. ſ. w. Die Wirtin, née Peterſon, hatte ihren weltlichen Tag, drehte dauernd Cigaretten zwiſchen den Fingern, die nicht Feuer fangen wollten, und bediente ſich ebenſo dauernd ihrer langen Lorgnette aus Fenſterglas, und über dem Ganzen ein unvertilgbarer Hauch hamburg⸗ ſcher Spießbürgerlichkeit. Dazu ſchlechter Thee. Die vornehme Alabaſterlampe roch ein wenig, aber alles kann der Menſch nicht haben. Dafür reiſt ſie in der nächſten Zeit auf zwei Monate nach Paris und hat ſich bis an den Hals (teilweis nicht ganz ſo weit) mit Toiletten verſehen. Man ſprach viel vom Cirkus⸗ und ſonſtigen Gäulen, und die Konverſation wurde franzöſiſch geführt, weil eine Baronin — die vollkommen gut deutſch, ſprach — Ausländerin war. Die Bürgens ſchwoll vor Stolz 100 obwohl kaum zwölf Perſonen anweſend waren, und zum größten Teil Damen. An ihrem vorigen jour, renommierte ſie, wären zwanzig Perſonen gekommen, da ſie aber keine Namen nannte, wird es wohl Creti und Pleti geweſen ſein. Denke nur nicht, lieb Mütterlein, daß meinen Schilderungen Herzensbosheit zu Grunde liegt. Ich bin wirklich nicht mediſant. Die Damen ſind doch ſo. Ich gebe Dir in meinen flüchtigen Schilderungen nur ſchwache Reflexe der Wirklichkeit. Ich erkenne ja gern an, daß alle, oder faſt alle dieſe Haut-goüt⸗Damen reizend, temperamentvoll be⸗ gabt ſind. Sie haben einen Überſchuß von Herz, Phan⸗ taſie, Thatkraft. Wohin damit? Ich weiß ja auch nicht, wohin damit. Brachliegende Felder produzieren Unkraut. Über den Höhen mit ihren Sternen iſt für Frauen die Lokalſperre verhängt. Da bleiben ſie hübſch in den Niederungen, wo die Irrlichter ihre flimmernd ge⸗ ſpenſtigen Lockungen tanzen, und walten da als Nymphen, Nixen, Sphinxe, Vampyre, Meluſinen, und wie die Fabelweſen alle heißen mögen, ihres unnatür⸗ lichen Amtes. Ja, wenn ſie Bismarcks werden könnten, oder Helmholzes, oder millionäre Banquiers, oder etwas ähnliches. Aber ſo! Keine Lorbeeren, kein. Eichenlaub, nicht einmal Titel und Orden. Bloß Dornen? Da kränzen wir lieber das Haupt mit Roſen, mit roten Roſen. 101 Jolante freilich, meine Jolante, die würde auch gegen Dornen nichts haben. Ja, weißt Du denn, wer Jolante iſt? Gott war ihr gnädig, als er ſie zur Baroneſſe machte. — Wäre Baroneſſe Jolante Mühlheim nicht Ariſtokratin mit einflußreichen und reichen Verwandten, man hätte ſie längſt an die Luft geſetzt. So begnügt man ſich über ſie zu kichern, gelegentlich auch laut zu lachen, ſie für einen Spaß⸗ vogel paſſieren zu laſſen und ſie, wenn ſie einmal gar zu deutlich wird, z. B. die Damen „faule Sünden⸗ knüppel“ nennt, dahin zu wünſchen, wo der Pfeffer wächſt. Meine Jolante! Eine Engelnatur. Aber ein Engel mit dem feurigen Schwerte, das dreinhaut. Alle Kontrebande der Geſinnung ſpürt ſie auf und ſchleppt ſie auf die Anklagebank. Sie pflegt meiſtens wie eine Bombe in unſere Kreiſe hineinzu⸗ platzen, mit irgend einer gedruckten Trophäe, die ſie einem Täſchchen von Rehleder entnimmt, das ſie unent⸗ wegt am Arme trägt. Sie iſt immer begeiſtert oder empört, immer bringt ſie Kunde von irgend etwas Herrlichem oder Schreck⸗ lichem, das geſchehen. Sie haßt den Krieg, die Todes⸗ ſtrafe, den Antiſemitismus. Was „Menſch“ heißt, iſt ihrer Sympathie würdig. Sie iſt Vegetarierin, Mit⸗ glied des Tierſchutz⸗, des Jugendſchutz⸗, des ethiſchen⸗ und vieler anderen Vereine. Von ihren blauen Augen ſagte Ferlani, ſie wären ſo hell, weil ſie überall Licht aufſaugten, während die 102 meinigen ſo dunkel blickten, als kämen ſie aus Ab⸗ gründen. Jolante wäre hübſch mit dieſen ſchönbewimperten Augen und dem vollen, farbigbraunen Haar, wenn ſie nicht einen ganz kleinen Höcker hätte. So klein er iſt, aber der Liebhaber würde ſich doch immer daran ſtoßen, trotz des dunklen Shawls, mit dem ſie ihn bedeckt. Ich glaube, ſo iſt unter all den Menſchen hier die Einzige, die wahrhaft Teil an mir nimmt. Und von dieſer liebwerten Jolante ſagt die boshafte Timäa, ſie habe ſich einen Charakter angewöhnt, um durch irgend etwas zu imponieren, da ihr die Grazien in den Rücken gefallen wären. Ich habe zwar keine Grazien, wohl aber gute Freundinnen, die mir in den Rücken fallen. Ich ſoll herzlos ſein und kalt, die Gehrt ſoll ſogar ge⸗ äußert haben, kalt wie eine Hundeſchnauze, und gar nichts hätte ich als meine verdammte echt norddeutſche Kritik. Es iſt ja wahr, Imagination habe ich keine. Ein träumeriſches Gemüt bin ich auch nicht. Zu keiner Kunſt das geringſte Talent. Ob zur Gattin? weiß ich's? Ob zur Mutter? meine Kinder ſind ja geſtorben. Aber gelt, Mutti, Herz habe ich doch? Der Pro⸗ feſſor G. hat es doch ſchon in der Schule entdeckt. Und ich liebe Dich ja, und die Sonne liebe ich und die Blumen, überhaupt die Natur, und die Bücher liebe ich, etliche unter ihnen mit intimſter Buſen⸗ freundſchaft. 103 Merkwürdig, wenn ich nicht lieben, fühlen und denken kann, wie dieſe Damen, warum lebe ich denn ſo? Iſt es eine undefinierbare Luſt am Rauſche, an herrlichen Bildern, an Grazie, Schönheit, flutender Bewegung? Die Luſt, eine Schranke zu überklettern, über irgend einen Zaun zu ſehen, oder der Schauder, mich andernfalls rettungslos ins platt Bürgerliche zu verlieren? Vielleicht auch, um von Benno ein wenig loszukommen? Dem guten Bennol Ich weiß es ja, das Niveau dieſer Geſellſchaft iſt niedrig. Man ſieht gleich auf den Grund, und der iſt trüb und ſchlammig, oder ſteinig. Kein Meeresleuchten, keine Perlen und Korallen, keine verſunkenen Städte, keine Nixen und Meergötter. Ich möchte ja gern nur mit ernſten, gehaltvollen Menſchen umgehen, Männern und Frauen; gewiß, ſie exiſtieren. Aber wo? Wollen wir Palmen ſehen, gehen wir nach Sizilien, ſuchen wir Oxangen⸗ und Citronen⸗ wälder, wir finden ſie in Italien. Die Adelsmenſchen aber, die ſind über den ganzen Erdkreis zerſtreut, und an keinem Merkzeichen ſind ſie erkennbar. Und hätte ich Jolante nicht, und könnte ich Dir, Einzige, nicht alles ſagen und klagen, ich wäre längſt zur klingenden Schelle geworden oder zum tönenden Erz. Erz? Nein — Blech. Ich küſſe Dich zärtlich. Sibilla. 19. September. Schönen Dank, Mütterlein, für Deinen lieben, lieben Geburtstagsbrief und die Geſchenke. Du erſinnſt doch immer etwas, das mir Freude macht, und das iſt nicht leicht. Ich bin ja ſo 104 wunſchlos, weil ich die Lendemains der erfüllten Wünſche kenne. Benno will auch immer, daß ich mir zum Geburstag und zu Weihnachten etwas wünſchen ſoll. Da ſagte ich neulich: ſaure Kirſchen, nur um ihn los zu werden. Und richtig, er hatte irgend woher, aus dem Süden, ſaure Kirſchen verſchrieben — zu ſaure. Unter den Kirſchen aber, wie der Dolch unter Myrten, lagen Perlenſchnüre und allerhand andere Koſtbarkeiten, wie ſie ein anſpruchsloſes, wunſchloſes Gemüt braucht. Auch ein ſchönes Bild war aufgebaut. Ich ſtehe mir ſo verlegen vor Geſchenken, muß mich ſo bedanken für Sachen, aus denen ich mir im Grunde nichts mache. Und ſo viel Blumen! Viel zu viel. Alles Maſſen⸗ hafte wirkt wie Lärm auf mich. Ich hielt den Tag über förmlich Cour ab. In aller Morgenfrühe, um die elfte Stunde, als erſter Gratulant natürlich Ferlani, der ſich immer mehr zu meinem ariſtokratiſchen Brackenburg auswächſt. Im all⸗ gemeinen, da er weiß, daß von mir nichts zu erhoffen iſt, begnügt er ſich mit der Rolle des liebenswürdigen und beratenden Freundes, zuweilen begnügt er ſich auch nicht, beſonders wenn ein anderer — — Sage ich es Dir, Mutti? ſage ich es Dir nicht? Soll ich es an den Knöpfen abzählen? Nein. Entweder ſage ich Dir alles, oder nichts. Mutti, ich bin verliebt! verliebt! verliebt! In Deiner Überſchätzung meiner wirſt Du mindeſtens an⸗ nehmen, daß ich es unter einem Ibſenſchen Adels⸗ 105 menſchen oder einem Nietzſcheſchen Übermenſchen nicht thäte. Weit vom Schuß. Er iſt ſchön und er liebt mich. Voila tout. Was er iſt? Denke Dir — nichts; das heißt ſo halb und halb iſt er Maler, unter⸗ ſcheidet ſich aber vorteilhaft von ſeinen Kollegen dadurch, daß er einen nie auffordert ſeine Bilder zu ſehen und zu — loben, woher es denn kommt, daß noch nie ein Sterblicher etwas von ihm Gemaltes erblickt hat. Vielleicht malt er auch bloß, weil er zufällig Raphael heißt. Nun haſt Du ſihn erraten. Außer Maler iſt er auch ein Vulkan, und immer mit einer Roſe im Knopf⸗ loch. Und wie ein Vnlkan liebt, kannſt Du Dir denken. Und ſchön iſt er, wie ein junger Gott. So einen goldnen Menſchen hat noch nie ein menſchliches Auge erblickt. Sein kurzgeſchornes Haupt iſt nicht blond, nicht braun, nicht rot, Gold iſt's, eitel Gold, dito der Vollbart. Er ſpricht nicht viel, er denkt wohl auch nicht viel, er behilft ſich mit Strahlen: Helios im Sonnenwagen. Sage Mutti, hat die Äſthetik keine Exiſtenz⸗ berechtigung in der Liebe? Findet man es doch ganz in der Ordnung, wenn der Mann im Weibe die Schön⸗ heit, und nur die Schönheit liebt. Irgend ein renom⸗ mierter Schriftſteller ſagt ſogar: „Schönheit iſt die Miſſion des Weibes, und nur unter dieſer Bedingung exiſtiert es. Wie? Den verſtand⸗ und vernunftſtrotzenden Männern ſpricht man das Recht zu, um des phy⸗ ſiſchen Vorzugs der Schönheit willen zu lieben, und 106 wir ſchwachen Weiber, wir Oberflächlichen, Vernunft⸗ armen ſollen unſere Herzen nur an Charaktere und ſtarke Geiſter hängen? Wir ſollen die Liebe mittels der Vernunft, die Männer ſie aber durch die Sinne empfangen? Das iſt ja umgekehrte Welt, Widerſinn! Wider⸗ ſinn — ja. Wie komme ich dazu, von irgend etwas auf dieſem Erdenrund Sinn zu verlangen! Ich ſehe ihn täglich, ſei es bei mir, ſei es an irgend einer unerwarteten Straßenecke. Und den Ferlani ſehe ich auch täglich, und ich treffe ihn auch ſehr oft an Straßenecken. Natürlich finden ſich die Beiden häufig in meinem Salon zuſammen, wo denn ihre Feindſeligkeit recht pikant durch die höflichen Geſellſchaftsformen hindurch⸗ ſchimmert. Mein Raphael erduldet die geiſtreichen Tiraden Ferlanis, ohne mit der Wimper zu zucken. Er ſieht mich nur an mit ſeinen glänzenden Augen, die ſagen: laß ihn nur reden mit ſeinen kleinen Kalmückenaugen (das eine Ferlaniauge ſieht ſogar mit einem falſchen Schielen verquer), vor der Hoheit meiner Geſtalt zer⸗ fällt all' ſein Geiſt in nichts. Am Vormittag meines Geburtstages gab ein Gratu⸗ lant dem andern die Thürklinke in die Hand. Ferlani hielt ſtand, Raphael floh, als Frau Bürgens mit einem enormen, auf Draht gezogenen Roſenbouquet acte de présence machte. Sie war eben erſt von einer Reiſe nach Rom zurückgekehrt. Man fragte nach ihren römiſchen Eindrücken.⸗ 107 „O Gott,“ ſeufzte ſie als Antwort, „was ich in⸗ zwiſchen hier alles verſäumt habe, die Mariſſon und die Spitzer“ — — das ſind, wie Du vielleicht nicht weißt, zwei berühmte Wiener Schneiderinnen, die in jedem Winter auf acht Tage nach München kommen, um Be⸗ ſtellungen der eleganten Welt einzuheimſen. Auch römiſche Eindrücke! Und nun wiſſe ſie gar nicht, was für ein Kleid ſie in der Geſellſchaft bei der Baronin Burgdorf anziehen ſolle. Ihr eleganteſtes kenne alle Welt ſchon, das zweit⸗ beſte ſei eine Imitation des Koſtüms der Kommerzien⸗ rätin Meyer. Unglücklicherweiſe wäre dieſe Meyer auch eingeladen, und den Triumph dürfe ſie ihr doch nicht gönnen u. ſ. w. Timäa trat ein, und Frau Bürgens, die ihren Spott fürchtet, brach das Tiolettengeſpräch ab und ſuchte ihr und mir durch die Mittheilung zu imponieren, daß der berühmte Schriftſteller X. und der ebenſo berühmte Maler 2). ihren nächſten jour beſuchen würden. Sie hätte ſich durchaus um dieſe Herren nicht bemüht, o nein, ſo wäre ſie nicht, ganz von ſelbſt hätten ſie ihre Beſuche gemacht. Übrigens ſei ſie gern bereit, wenn ich es wünſchte, Herrn K. und Herrn 2). bei mir einzu⸗ führen. Zu ihrem Bedauern wünſchte ich es durchaus nicht, zöge es ſogar vor, meinen Salon mit dem, was un⸗ ſterblich von ihnen iſt, mit ihren Büchern und Bildern zu ſchmücken. Ich mache mir übrigens wirklich nichts aus be⸗ rühmten Leuten im Salon. Man drängt ſich immer 108 um ſie, die andern Gäſte ſind böſe darüber und lang⸗ weilen ſich, und eine Geſellſchaft ſoll doch für jeden Einzelnen fruchtbar ſein. Frau Bürgens empfahl ſich etwas gereizt mit ihren refüſierten Berühmtheiten. Es iſt eigentlich unrecht, daß wir ſie immer necken und ärgern. Wir haben doch alle unſere Schwächen. Und Timäa wohl nicht? Z. B. die hat nie Zeit. Sie iſt immer erregt, immer aufs lebhafteſte mit irgend welchen Plänen beſchäftigt. Augenblicklich iſt ſie feſt entſchloſſen, erſtens: eine nicht mehr ganz junge Nichte zu verheiraten. Zweitens: alle Hebel für das Aufkommen einer verkrachten Familie in Bewegung zu ſetzen. Drittens: die proteſtantiſche Traute zum Katholicismus zu bekehren und viertens: ſingen zu lernen. Durch all ihre feinen und großen Geſpinnſte aber zieht ſich wie ein roter Faden immer irgend eine Herzensaffaire, zuweilen nur ein Funkenſtieben, öfter aber eine Feuersbrunſt. Ferlani hat ſie Frau Venus getauft. Da gerade unter den Gratulanten einige Unver⸗ heiratete waren, brachte ſie geſchickt das Geſpräch auf ihre Nichte, deren Vorzüge ſie pries. „Habe ich nicht recht, lieber Graf,“ wandte ſie ſich an Ferlani, der die Nichte kannte. Er antwortete in ſeiner phlegmatiſch ſüffiſanten Art, er liebe Weintrauben nur, wenn ſie gekeltert und junge Mädchen nur, wenn ſie einige Jahre ver⸗ 109 heiratet ſeien, am allerwenigſten aber dann, wenn ſie ſchon jahrelang verheiratet ſein könnten. „Oho!“ rief Timäa erzürnt, „ziemen ſich ſolche Dekadencewitze für den konſervativen Agrarier; der im Parlament ſeine Reden für die Heiligkeit der Familie, Ehe, Religion u. ſ. w. mit Donnerkeilen und Pfuis würzt? Zweierlei Moral, mein Herr Graf! „Schöne und geiſtesgewaltige Timäa,“ entgegnete Ferlani, „viele Dinge auf Erden und im Himmel ſind Ihnen kund geworden, nur die Politik nicht. Staatsklugheit und Weltweisheit iſt eben zweierlei. Gerade weil ich Volksvertreter bin, rede ich im Par⸗ lament nicht was mir, ſondern was dem Volke frommt.“ „Gott, Sie Übermenſch mit Ihrer ſchwächlichen Sophiſterei,“ ſpottete Timäa. „Das wird ein Spaß werden, wenn wir Frauen erſt in den Reichs⸗ und Landtagen ſitzen, und Euch Blitzeſchleuderer als komiſche Operetten⸗Jupiterleins entlarven werden. Wir haben die Sachkenntnis.“ Sie verfährt immer recht unglimpflich mit meinem Brackenburg. Weil es nicht der ihre iſt vielleicht? „Wiſſen Sie,“ flüſterte Ferlani mir zu, „warum ich Timäa Frau Venus getauft habe? — „Wegen ihrer griechiſchen Haarfriſur etwar — „Nein, weil immer ab und zu irgend ein Tann⸗ häuſer aus ihrem Hörſelberg auskneift. Jolante trat ein, wie immer in Aufregung. Sie hatte wieder ſo viel Niedriges erfahren, und jetzt 110 käme ſie zu mir, um ſich ein bißchen moraliſch zu ver⸗ ſchnaufen. Na Mutti, eine große Menſchenkennerin iſt meine Jolante nicht. Sie ſchwärmte von einem großen univerſellen Bund, den ſie ſtiften wollte, einem Bund aller guten Menſchen. Na, meinte Ferlani, dann ſolle ſie ſich nur die Laterne des Diogenes anſchaffen, um Mitglieder zu ſuchen. O, es gäbe viele, viele gute Menſchen, nur müſſe man verſtehen die Seelen richtig anzubohren, damit der Quell des Guten hervorſpränge. Ob die Guten etwa durch Selbſteinſchätzung ihre Zugehörigkeit zum Bunde erklären ſollten, fragte Ferlani mit überlegenem Spott. Nein, nur gut ſein wäre nicht genug. Durch Thaten im Sinn der Menſchenliebe müſſe die Mit⸗ gliedſchaft erworben werden. Thaten wie Trompeten⸗ ſtöße, die Schlafende wecken, auf zum Kampf! Oder Thaten wie Schalmeienklang, die in zerriſſene Seelen Frieden tragen, oder Thaten wie ein Läuten an der Burg Gottes, daß die geharniſchte Gerechtigkeit heraus⸗ ſchritte, mit Palmen geſchmückt. Allerſeelen⸗Bund ſollte der Name des Bundes ſein; denn der nur habe eine Seele, eine Seele aus Gottes Hand, der zum Wahr⸗ ſpruch ſeines Lebens die herrlichſten aller Dichterworte gewählt: „Seid umſchlungen Millionen, dieſen Kuß der ganzen Welt“ 111 Was für eine inbrünſtig Gläubige iſt meine Jo⸗ lante, Mutti. Nicht nur an die Menſchheit glaubt ſie, ſondern auch noch an jeden Einzelnen. Heilig iſt ihr der Menſch. Sie ſah in ihrer Begeiſterung beinahe ſchön aus mit ihren hellen, hellen Augen. Ich fiel ihr um den Hals, ich nannte ſie „Du“, ich küßte ſie mit dem Kuß der ganzen Welt. Reine Güte wirkt auf mich ſtark und befreiend wie Bergluft. Als ich aufſah, bemerkte ich, daß Ferlani aus der Thür ſchlüfen wollte. — „Mephiſto, der vor dem Kreuz flieht,“ rief ich ihm nach. Er habe mit einer That den Anfang machen wollen, indem er als Böſer ſich den Guten aus dem Wege räume. „Gehen Sie nur,“ ſagte Jolante, „was geht Sie auch das Elend der Welt an? Sie ſitzen in Ihrer Bel⸗ Etage in der Maximilianſtraße bei Ihrem Diner von vier oder fünf Gängen, und gehen, wenn es kalt iſt, in einem dicken Zobelpelz ſpazieren. Hunger und Kälte giebt's nicht, weil Sie ſie nicht fühlen. „Irrtum, Baroneſſe, ich hatte einen Freund, der ſchoß ſich todt, weil der Arzt ihm jeden Tropfen Wein verboten, und er verſchmachtete darnach. Das Leiden iſt dasſelbe, ob die Not oder ob der Arzt einem die irdiſchen Genüſſe verbietet. Ich z. B. hungere und dürſte leidenſchaftlich, wenn auch nicht nach materieller Speiſe, ich verſchmachte nach — —“ 112 Ein eiſiger Blick von mir hielt ſeine Zunge im Zaum. Verdroſſen ſetzte er hinzu: „Bekümmert ſich das Volk um mein Elend? Be⸗ dauert mich der Proletarier, daß ich nicht haben kann, was ich erſehne? Opfer hüben und drüben — Menſchen⸗ loos, Baroneſſe! Menſchenloos! Schon auf der Schwelle, wandte er ſich noch ein⸗ mal zurück. „Wo ſind Sie eigentlich geboren, Baroneſſe? Ich ſchwanke zwiſchen Utopien, Arkadien oder einem olym⸗ piſchen Hain. „Ich würde den olympiſchen Hain vorziehen,“ ant⸗ wortete ſie, „da wohnen Götter. „Gleich mehrere? „Eigentlich habe ich nur einen Gott: die Ge⸗ rechtigkeit. „Auf Dich, Sibilla, rechne ich für unſeren Bund,“ ſagte ſie, als Ferlani gegangen war. Ich ſchüttelte wehmütig mein Haupt. „Ich und Thaten thun, Jolante! Ich ſolle nur erſt ganz klein anfangen, meinte ſie, z. B. in den nächſten Tagen mit ihr zu den Armen gehen. Aber jetzt könnte ich wirklich nicht, wehrte ich ab, vielleicht ſpäter — nach dem Karneval. „Nach dem Karneval,“ ſagte ſie leiſe, und ſah mich ſo eigen an. Ich verſtand ſie, aber ich weiß, Mutti, ich bin un⸗ brauchbar für dieſe kleinen Detaildienſte. Ich weiß im voraus, ich werde Mitleid bis zum Grauen empfinden, 8 113 ich werde entnervt — was der Franzoſe écoeuré nennt — nach Hauſe kommen, und ein Bad nehmen, na — darum. Wozu ſolche Emotionen aufſuchen? Ich ſchäme mich ja auch ſo ſchon, daß es mir ſo gut geht, obwohl es mir eigentlich gar nicht ſo gut geht. Im Gegenteil. Ich bin nicht ſo grob geartet, daß ich nötig hätte, das Elend zu ſehen, um daran zu glauben und zu helfen. Ich habe eine Art Püdeur vor dem Glorienſchein der wohlthätigen Fee. Peinlich, der Dank der Armen, als bedankten ſie ſich für etwas, das ihnen von Rechts wegen zukommt, und als ſchmückte ich mich mit fremden Federn. Das ungefähr ſagte ich Jolante. „Aber nach dem Karneval, da gehſt Du mit mir: Sie ſagte es mit traurig⸗lieblichem Ernſt. Ich verſprach's. Die liebe, liebe Jolante! Du viel, viel liebere Mutter! Müßte ich nicht wie die Perle im Golde zwiſchen Euch beiden ſitzen? Perlen ſollen ja eine Krankheit der Muſchel ſein. Ja, Mutti, ein Krank⸗ heitsprodukt in der großen Muſchel Welt — das bin ich. Jetzt muß ich zur Schneiderin. Nachher Fort⸗ ſetzung. Alſo: Abends hatten wir zur Feier des Tages eine kleinere Geſellſchaft geladen. Timäa und Traute mit ihren Gatten, Profeſſor Hennings und Profeſſor Kruſen, Jolante. Ferlani und Raphael ſelbſtverſtändlich, außer⸗ dem noch ein paar Maler. 114 Gegen 7 Uhr kamen uneingeladen Borns zur Gratulation, die wir gleich zum Abendeſſen da⸗ behielten. Profeſſor Hennings iſt eine wiſſenſchaftliche Größe, mit dem Ausſehen eines Waldmenſchen, dem Cylinder eines Poſſenreißers und den Manieren eines von der Kultur noch unbeleckten Wilden. Seinen Thee pflegt er in die Untertaſſe zu gießen und dann hörbar aus⸗ zuſchlürfen. Eigentlich iſt er ſehr intereſſant, aber nur zu genießen, wenn man allein mit ihm iſt, und dann bringt er einen um. Die Feier fing recht lebhaft, wenn auch nicht ge⸗ rade geburtstagsmäßig an. Daran war das Bild, das Benno mir geſchenkt hatte, ſchuld, und auf das ſich von vornherein die Aufmerkſamkeit konzentrierte. Ein reizendes Bild. Der Maler — einer der jüngſten von den Modernſten. Roſenrote Wolken, himmel⸗ blauer Himmel. Friſche Schöpfungsfreudigkeit, ein Paradieſeshauch darüber. Zwei nackte Menſchen in der Landſchaft, keuſch und friſch wie der junge Morgen, ſo unſchuldsvoll, ſo ſelbſtverſtändlich nackt, daß daneben bekleidete Geſtalten einem unnatürlich, widerſinnig vor⸗ kamen. In dem Kunſtgeſpräch, das ſich daran entwickelte, platzten gleich die Geiſter aufeinander. Man haran⸗ guierte Benno, wie er ein ſolches Bild habe kaufen können. „Aber ich bin doch Kunſtmäcen,“ verteidigte er ſich ganz naiv, „und da dachte ich, ich müßte der neuen Richtung ein⸗ bißchen unter die Arme greifen. 8* 115 Man fand das Bild unmöglich, lächerlich, und hagel⸗ dicht fielen die Stich⸗ und Schlagworte von dem Mangel an Idealität, vom Kultus des Häßlichen, dem Verrat an Wahrheit, Schönheit u. ſ. w. Und die Rufe: Hie Uhde, hie Liebermann! Hie Rubens und Titian! ſchwirrten leidenſchaftlich durcheinander. Auf meiner Seite ſtand nur Gregori und natürlich Raphael. Profeſſor Hennings meinte, es gäbe heutzutage wohl noch Maler und Bildhauer, aber keine Kunſt mehr. Höchſtens wolle er drei Künſtler gelten laſſen: Thoma, Böcklin und Hildebrandt. Und die moderne Land⸗ ſchaft — vulgäres Handwerk. Kunſt — nur die Land⸗ ſchaft auf den alten italieniſchen Bidern von Perugini und ſeinen Zeitgenoſſen. Das fand Riedling denn doch ſehr einſeitig, wenn auch die Beſtrebungen der Genannten immer noch beſſer ſeien als die moderne Leidenſchaft, alte armſelige Weiber zu malen, mit oder ohne Eimer, mit oder ohne Beſen, mit welchen Requiſiten ſie über dreckige Dielen, über Felder oder am Meeresſtrande einherzuſchlurren für ihre Aufgaben hielten. Jolante, die eigentlich von Kunſt nichts verſteht, ſpitzte die Ohren. Sie kann es nicht mit anhören, daß man irgend welche Armen und Elenden, wenn ſie auch nur auf Bildern vorkommen, verunglimpft, und ſofort warf ſie ſich zum Ritter der Armeleute⸗ maler auf. Ob der Herr Profeſſor nicht bemerkt hätte, daß ein Zug durch die Welt gehe, alles, was man bisher 116 mißachtet, ans Licht zu bringen, ein Zug ungeheuren, ſozialen Mitleids! Sie halte das Herz für die Quelle aller echten Kunſt, und darum, wenn dieſe armen alten Weiber nicht etwa nur angelerntes oder nachgeahmtes wären, ſondern ihnen direkt aus den Herzen flöſſen (Jolantes Worte), ſo wären die Armeleutemaler ſicher echte, rechte Künſtler. Man lächelte und ihre Apoſtrophe wäre ohne Ant⸗ wort geblieben, wenn nicht Iſoldchen mit ihrer Flöten⸗ ſtimme Partei gegen ſie genommen hätte. Wie die Baroneſſe nur Mitleid und Kunſt ver⸗ mengen könne! Schmutz bleibe Schmutz und Kunſt — Kunſt! Es paſſierten jetzt aber wirklich unglaub⸗ liche Dinge in der Kunſtwelt. In Wien z. B. (ſie hätten ſich dort auf der Rückreiſe im Herbſt einige Tage aufgehalten) da ſtände auf einem der vor⸗ nehmſten Plätze ein Denkmal von einem ſogenannten berühmten Bildhauer. Am Sockel des Denkmals zwei weibliche Figuren, die Poeſie und Philoſophie darſtellend. Und ſie wiſſe es ganz authentiſch, zur Philoſophie habe ihm ein dem Trunke ergebenes Proletarierweib, und zur Poeſie eine Kellnerin ge⸗ ſeſſen. Unfaßlich, wie man einem ſo ſittenloſen Schlingel, wie dieſer Apologet betrunkener Proletarier⸗ weiber, und der gewiß auch nicht immer nüchternen Kellnerin es notoriſch ſei, die Ausführung eines patriotiſchen Denkmals habe übertragen können. Da wäre doch in Wien der Bildhauer E. (ich habe den Namen vergeſſen), deſſen Moralität über allem Zweifel erhaben ſei — 117 „Ja, über allem Zweifel,“ unterbrach ſie Gregori trocken, „ebenſo wie ſeine Talentloſigkeit. Der ſitten⸗ loſe Schlingel aber iſt ein Genie.“ „Ach, Sie Spaßvogel,“ zirpte Iſoldchen und wandte ſich dann an Timäa. „Nicht wahr, Frau von Gregori, Sie ſind meiner Meinung? „Ach was,“ wehrte Timäa ab, „ich bin in der Kunſt für Feuerzauber!“ (Zwiſchenrufe: „Aha, Wagner.“ Sie hatte ſich in den Fauteuil zurückgelehnt, und aus ihren halbgeſchloſſenen Augen fuhr ein ſchwefel⸗ feuriger Blitz, der auf Riedling gemünzt war und auch einzuſchlagen ſchien. Die gemalte Serpentin⸗ dame, das wäre ihr Fall, durchſeeltes Anilin. Sie ſprach entzückt von einem Bild auf der letzten Aus⸗ ſtellung: „Der Maskenball“. Wie da aus Pantalons, Lampions und allerhand Fratzen brechende Feuer⸗ flammen, durch elektriſch geladene, glühende Lüfte geraſt ſeien! Und die Bilder der Schotten, die wie brennende Kaleidoſkope wirkten. Jawohl — die Apotheoſe der Kleckſe! ſchrie man durcheinander. Solche Bilder ſollte man zum Reinigen zu Spindler ſchicken. Riedling rief, er hätte augenblicklich ein prächtiges Modell für dieſe Kleckſer und ihre grünlich⸗blaue Schule. Sein Diener ſei die Treppe herunter⸗ gefallen u. ſ. w. Traute drohte ihrem Mann: „Aber Georg! „Die Schotten gehen Dich ja nichts an, liebes Kind,“ beſchwichtigte er, „ich laſſe Dir ja Deinen Gabriel Max. 118 Ja, das ſei ihr Mann. Sie liebe in der Malerei das Verklingen, Verträumen, Verbluten, zartgebrochene Töne wie aus einem verzauberten Harmonium, oder myſtiſche Schatten, hinter denen ein Neuland der Seele locke. Sie wandte ſich zu Gregori: „Sie, Gregori, nähern ſich ja dem Geiſterreich, indem Sie wenigſtens das Irdiſche faſt unſichtbar machen.“ Der arme Gregori iſt in Traute verliebt. „Möchten Sie mir nur ein einziges Mal ſitzen, bat er, „und ich würde das Überirdiſche ſchon ſichtbar machen.“ Sie ſchüttelte den Kopf, ſie möchte noch nicht ins Schattenreich. Die Worte thaten ihr aber gleich leid, als ſie ſah, daß er zuſammenzuckte, und ſie verſprach ihm eine Sitzung, aber erſt im Sommer, wenn er nach Berchtesgaden käme. In der Nähe ihrer Villa ſei ein See, am Rand des Sees wolle ſie für ihn, ganz Ophelia, in irrer Schwermut maleriſche Kränze flechten. Eva Broddin ſaß immer irgendwo in einer reizenden Poſe, und flüſterte mit irgend jemand zuſammen. Von den jüngſten Malerſchulen zu den jüngſten litterariſchen Richtungen war nur ein Schritt. Ewald de Born that ihn, indem er verkündete, daß er auch ſchwarz in die Zukunft der Dichtkunſt ſähe. Der mo⸗ derne, widrige Geſchmack vergifte den reinen caſtaliſchen Quell aller wahren Poeſie, und was das ärgſte wäre, dieſe Giftdünſte lähmten allmählich auch die Flügel des Genies. 119 „Doch nur,“ warf Gregori ein, „wenn die Flügel von Wachs und ihr Beſitzer Ikarus iſt. „Ob etwa ihr Ewald Flügel von Wachs habe: fuhr Iſoldchen auf. Gregori, der den Einwurf überhörte oder über⸗ hören wollte, beſtand darauf, daß Sterne nicht er⸗ löſchen, nur kleine Lichter blaſe ein friſcher Wind⸗ zug aus. Wo wäre denn das große Werk der bildenden oder der poetiſchen Kunſt, das die moderne Richtung unter⸗ drückt, die moderne Kritik totgeſchwiegen hätte? Ein „Oho, oho!“ antwortete ihm. „Namen nennen!“ verlangte er. Sekundenlanges Schweigen. Born räuſperte ſich: „Hm! hm! Er ſtammelte, er wollte ſagen: „Und ich?“ und brachte es doch nicht über die Lippen. Riedling wollte auch ſagen: „Und ich?“ und brachte es auch nicht über die Lippen. Schlankweg ſprang wieder Iſoldchen in die Breſche. Ob Gregori nicht im Theater geweſen wäre, als man die „Hohenſtaufen“ ihres Ewald aufgeführt? Und wie habe ſich das Publikum und die Kritik dieſem — ſie könne nicht anders ſagen als Meiſterwerk gegenüber verhalten? Ablehnend, total ablehnend, nach der zweiten Auf⸗ führung beiſeite geſchoben. Nach den Worten ſeiner Gattin ſah ſich der Dichter erwartungsvoll im Kreiſe um. 120 Schweigen. Endlich raffte Riedling ſich auf. Born habe recht, tauſendmal recht. Es ſeien nicht die Götter, die die Titanen (er meinte uns Titanen) ſtürzten von oben, ſondern der Kunſtpöbel von unten. Eine Schmach, wie jetzt die älteſten, bewährteſten Maler ſich in das Fahrwaſſer der Moderne forttreiben ließen, und plötz⸗ lich anfingen violette Kohlköpfe und violette Kinder zu malen. Ja, wer hätte früher gedacht, daß es ſo viel Vio⸗ lett in der Natur gäbe, ſtimmte Ferlani zu. Born rief, er würde nie violett dichten, er bliebe bei Purpur. Inzwiſchen hatte man ſich zu Tiſch geſetzt. Und da die Streitaxt immer noch geſchwungen wurde, bat ich, da doch mein Geburtstag wäre, um die Erlaubnis, auch einen kleinen Kunſtſpeech halten zu dürfen. Mein Vorſchlag wurde mit Acclamation aufgenommen. Und alſo ſprach Sibilla Dalmar: „Riedling, Ewald de Born und die meiſten von Ihnen meine Herren — und Damen natürlich auch — ſind der Meinung, daß die moderne Richtung einen Despotismus ausübe, der alles, was anders malt oder dichtet als er vorſchreibt, ecraſieren will?“ Ja, ja! ſchallte es im Chor. — „Nein, Nein! kam es von meinen Lippen zurück. „Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Parole, die die neue Kunſt⸗ richtung ausgiebt, heißt: Gar keine Kunſtrichtung! Sie heißt: Fort mit der Schulmalerei! Fort mit den Kunſt⸗ dogmen! Fort mit dem Zopf des Sollens und Müſſens! Freie Bahn für den Gott, der jedem Künſtler im Buſen 121 wohnt, und wäre es auch ein Götze, und wären es auch nur ein paar lange ſymboliſche Striche.“ (Zwiſchen⸗ rufe: Aha, Trollope!) „Mir ſcheint dieſer Streit über die modernen Kunſt⸗ richtungen der überflüſſigſte von der Welt. Wo und was iſt denn die von Ihnen bekämpfte neue Richtung?“ (Zwiſchenruf des Profeſſor Hennings: „Ouatſch mit Sauce!“) „Sehen wir nicht die entgegengeſetzteſten Richtungen mit gleichem Erfolg gekrönt? Giebt es größere Gegen⸗ ſätze als die myſtiſch ſchattenhafte, mondſcheinbleiche Muſe eines Mäterling und den ſchweflig feurigen Satanismus eines Huysman? Größere Gegenſätze als die lodderig pikante Grazie eines Guy de Maupaſſant und den tiefen, wuchtigen Ernſt eines Tolſtoi? Die grandioſe Frescomalerei eines Zola kommt ebenſo zur Geltung, wie die feine, pſychologiſche Zergliederungs⸗ kunſt eines Bourget oder Doſtojewski. Soll ich, weil ich die Odyſſee würdige, Heine'ſche Lyrik verabſcheuen? Brauche ich den Lorbeerkranz, den ich Uhde und Lieber⸗ mann reiche, erſt von der Stirn Titians oder Rem⸗ brands zu reißen? Nie hat man Böcklin mehr be⸗ wundert als heute, und ſeine herrlichſten Schöpfungen ſtammen aus einer Zeit, wo von Naturalismus noch nicht die Rede war. Ich ſelbſt bin heute noch von den Heiligenbildern eines Giotto oder Ghirlandajo ge⸗ rade ſo entzückt wie meine Voreltern es waren, was mich nicht hindert mit Uhde und Liebermann durch dick und dünn zu gehen, wobei ich die Schweineſtälle des letzteren ausnehme, weil ich Schweine in keinem 122 Zuſtande, ſei es ein gekochter, ein ungekochter oder ge⸗ malter, leiden kann.“ (Allgemeines Zwiſchengrunzen.) „Ob Realismus und Verismus, ob Klaſſicität, Romantik oder Myſtik, ob Schönheit, Häßlichkeit, Wahr⸗ heit oder Phantaſtik — was ich mir dafür kaufe! (Pardon Mutti, der Champagner, der zu kreiſen an⸗ fing, öffnete meinen Berlinismen die Schleuſen, aber auch dem Pathos, das jetzt ſogleich folgen wird.) „Auf die Fahne, die ich im reinen Äther der Kunſt kühn ent⸗ rolle, ſchreibe ich: Subjektivismus! Perſönlichkeit! Individualismus! „Und Kannibalismus“, ergänzte Riedling. Ich überhörte den Kannibalismus und fuhr unentwegt fort: „Willkommen in der Kunſt jeder, dem ein Gott gab zu ſagen, was er fühlt (es kann auch natürlich eine „Sie ſein) und nicht was andere fühlen oder gefühlt haben, oder was er fühlen ſollte. Willkommen ein Thoma mit ſeiner ſüßverdämmernden Schwermut, ſeiner ſehnſüchtigen Landſchaft — er hat ſie mit der Seele geſchaut. Will⸗ kommen Stuck mit der Fülle ſeiner Geſichter, ſeinen geſpenſterhaften oder graziöſen Viſionen. Sie ſind Manifeſtationen ſeines Ichs. Willkommen vor allem mein Böcklin mit ſeinen Götterträumen, ſeinen blühenden Idyllen, ſeinen wildtönenden Requiems. „Alles, was aus der Tiefe einer Künſtlerſeele quillt, mag es ſich in Wort, Stein, Ton oder Farbe ver⸗ körpern, es ſei willkommen, gleichviel ob es verklingende Seufzer ſind oder wilde Schreie, ob myſtiſches Raunen, ob phantaſtiſche Schatten der Nacht oder in jauchzender Lebensfreude Erblühendes. Ja ſelbſt das Wahnſinns⸗ 123 delirium eines mit der Hölle Liebäugelnden, die exca⸗ tiſchen Hallucinationen eines von ſataniſcher Brunſt Berauſchten, die Totentänze tollgewordener Geſpenſter, Seelenagonieen, ſie ſind immer noch beſſer als gar keine Seele, beſſer als die kalten, ſteifen Phraſen einer an⸗ gelernten Schulkunſt. Darum ein Hoch der Moderne, der Erlöſung von der Autorität, vom Dogma, von der Phraſe! Es lebe Pſyche, die Schutzgöttin der modernen Kunſt!“ Uff! das war eine lange Rede! Ich glaube, ich habe ſie ein bißchen retouchiert für Dich, Du eitle Mutter. Leider trat die gehoffte Wirkung nicht ein. Man rief mir zu, ich plaidierte für Ichſucht, für Größen⸗ wahn, meine Theorieen öffneten den Schmierern Thor und Thür. Man hörte gar nicht mehr, daß ich einige Schmierer zugab, daß ich techniſches Können als ſelbſt⸗ verſtändlich vorausſetzte. Ferlani, der fürchtete, ich könnte mich ſchließlich doch verletzt fühlen, ſchlug jetzt an ſein Glas, indem er mir zuzwinkerte, welches Zwinkern ich ſo verſtand, daß er Ol in die Wogen der wilden Bewegung gießen wolle. Das Ol war aber eine Miſchung von Eſſig und Ol, in dem der Eſſig vorherrſchte, und der Salat, den er damit anrichtete, mundete nicht jedem. Mäuschenſtille trat ein. Man erwartete, daß er mich durch ſeine Gegenrede ecraſieren würde. „Wenn man den Ausdruck nicht zu hart findet, begann er, „möchte ich ſagen: Tant de bruit pour une omelette. Die Omelette iſt die Kunſt, der bruit der 124 fanatiſche Streit um die Kunſtrichtungen. Kunſt! Warum überhaupt ſo viel Weſens von der Kunſt machen! Kunſt lockt in der ſozialen Welt keinen Hund vom Ofen, höchſtens ein Damenmöpschen. Die Kunſt hat die Welt noch nicht um einen Schritt vorwärts ge⸗ bracht. An dem maſſiven Gebäude der Kultur beſorgt ſie nur die Ausſchmückung, die Ornamente. Hätte es nie einen Titian, Rubens, Raphael gegeben (die An⸗ weſenden ſind ausgeſchloſſen, ſonſt würde ich ſagen einen Riedling, Born, Gregori), die Welt wäre wie ſie iſt. Selbſt als Freudenſpender und Sinnenweide finde ich die Kunſt diskutabel. Kann ſie uns mehr bieten als die Natur, die ſie doch nur nachſtümpert? Die Krone der Schöpfung iſt das Weib. Wer möchte es nicht lieber lebendig beſitzen, als gemalt! Und es iſt ſehr die Frage, ob es nicht lohnender wäre, durch— durch wiſſenſchaftlichen Calcül (bitte anzuerkennen, daß ich hier das Wort Zuchtwahl unterdrücke) die Schön⸗ heit des Menſchen in Fleiſch und Blut zu veredeln, zu potenzieren, anſtatt ſie in Stein und Farbe uns vorzulügen. Mit einem Wort: die Kunſt iſt nur das Schmunzeln, das die großen Zeitereigniſſe be⸗ gleitet. Nun denken Sie ſich aber einmal die Wiſſenſchaft aus der Welt fort und diejenigen, die ihre Theorieen in Praxis umſetzen. Denken Sie ſich die Erfindungen und Entdeckungen fort! Wir lebten noch heute in geiſtiger Wildnis, und den grünen Zweig, auf den wir gekommen wären, könnten wir höchſtens als eine veredelte Affenart occupieren. 125 Die Malerei iſt eine Illuſtrationsfrage. Erfindet aber eine Maſchine mit der Kraft von 10,000 Pferden, die in einem Moment 100,000 Nähnadeln einfädelt — das iſt grandios. Bewäſſert die Wüſte Sahara, er⸗ findet die Flugmaſchinen und ich beuge die Kniee. Mithin, den großen Entdeckern und Erfindern die goldenen Lorbeerkränze! Ein paar grüne Blätter den Herren Künſtlern!“ Man war noch unentſchieden, ob man lachen oder böſe werden ſollte, als Born unheilverkündend ſeine Backen blähte. Er wolle ſich über die bildenden Künſte kein Urteil erlauben, aber die Litteratur, die Dichtkunſt, die Preſſe — das ſei eine Macht. „Ha!“ fiel ihm Ferlani ins Wort, „die Preſſe! Die Künſte ſeien wenigſtens unſchädlich und angenehm, die Preſſe aber ſei ebenſo unangenehm wie gemein⸗ gefährlich. Nicht bloß eine Macht, eine Tyrannei ſei ſie. Alles Unheil komme von der Erfindung der Buch⸗ druckerkunſt, ohne ſie gäbe es den gottverdammten Journalismus nicht, dem er damit ſeinen Fluch nicht einen Augenblick vorenthalten wolle. Wenn heute einer von ihm drucken ließe, er wäre als Offizier wegen falſchen Spiels infam kaſſiert worden, ſo ſei er ruiniert. Er könne es dementieren, den Verleumder beſtrafen laſſen, er ſei doch ruiniert. So ein einzelner Schuft würde nur ihm ſchaden, verleumdeten aber 25—30 Schufte der Preſſe die ſtaatserhaltenden Kräfte, Miniſter u. ſ. w., ſo machten ſie Weltgeſchichte, eine miſerable Weltgeſchichte von Reporters Gnaden.“ 126 Darum rufe er, nicht wie vorhin unſere anmutige Wirtin „Tod der Autorität,“ er rufe: „Eine Axt an den Giftbaum des Journalismus! eine Bartholomäus⸗ nacht für die Preſſe!“ Jetzt lachte alles. Ferlanis Paradoxe hatten die Kampfluſt beſiegt, ſeine Paradoxe oder der Champagner, den Benno immer ſchneller kreiſen ließ. Es wurde fabelhaft luſtig. Muſikaliſche Talente wuchſen üppig unter dem Champagner ans Licht. Du weißt, daß der „Mikado“ jetzt die ganze Geſellſchaft beherrſcht. Einige Gäſte benahmen ſich gegen Ende ſchon ganz mikadohaft, mit prickelnden Tönen, watſchelndem Gange, gewagten Geſten und ſonſtigen Reminiscenzen aus dieſer ſo reizenden, luſtigen Operette. Es wurde Muſik gemacht von Wagner herunter bis zur Fiſcherin und zum Schunkelwalzer, und je vulgärer es wurde, je größer war der Beifall. Die beiden letzten Nummern erregten Enthuſiasmus, wurden mit Geſang und Geſchunkel be⸗ gleitet und da capo verlangt. Jolante, die ſaß da wie ein Schatten der Freude, und ihre hellen Augen irrten ſuchend und ängſtlich um⸗ her, als wären ſie im Dunklen. Ich ärgerte mich, blieb aber im Unklaren, ob über ſie, oder über mich; über ſie, weil ſie ſo eine urwüchſige Luſtigkeit mißbilligte, über mich, weil mir doch ſchien, als ob Champagnerluſt und echter Frohſinn zweierlei ſeien. Iſoldchen ließ ſich ſtramm von Benno den Hof machen, um mir ein Paroli zu biegen. Wenn ſie wüßte, 127 wie es mich freut, wenn der gute Benno ſich ein bischen amüſiert. Plötzlich erloſch das elektriſche Licht, ſo daß wir eine kleine Weile im Dunklen ſaßen, was als Gipfel des Bohémetums eine raſende Heiterkeit hervorrief. Ich erſchauderte, als ich den Hauch eines Mundes auf meinem Scheitel fühlte. Als Licht gebracht wurde, ſtand Ferlani hinter meinem Fauteuil; unter dem Hauch ſeiner Lippen hatten meine Haarſpitzen gezittert. Nicht einmal mehr ſeinen Nerven kann man trauen. Da ſchreibe ich und ſchreibe ich, und habe vergeſſen, der Köchin zu ſagen, daß wir heut eine halbe Stunde ſpäter eſſen. Schrecklich, wenn ſie den Hammelrücken zu früh aufgeſetzt hat. Da bin ich wieder. Gott ſei Dank, ſie hat ihn noch nicht aufgeſetzt. So alſo endigte geſtern mein Geburtstag. Ja Mutti, ich bin verliebt. Ob mit wirklicher Liebe? Weißt Du etwa, was Liebe iſt? Liebe und Liebe kann ſo verſchieden ſein, wie Waſſer und Feuer, das höchſte und das gemeinſte, das tiefſte und flachſte, ein phyſiſcher Hunger oder eine dithyrambiſche Werde⸗ luſt, ein flüchtiges Momentbild oder der Inhalt eines ganzen Lebens, ein Tropfen oder wie das Meer ſelber. In den meiſten Fällen Selbſtſuggeſtion, oft auch eine dürre Gegend, die Abendſonnenglanz oder Mondſchein verklärt. 128 Und die meine? Mondſchein? Abendſonnenglanz: Dürre Gegend? Autoſuggeſtion? Wir werden ja ſehen. Gute Nacht, einzige Mutter. 28. September. Guten Morgen, Mutti. Schon wieder zwei Maler und ein Schriftſteller, die uns beſucht haben. Und nun muß ich ihre Bilder ſehen, ihre Bücher leſen. Freilich hat der Schriftſteller mir verſichert, ſeine Bücher wären ſenſationell, und er hätte ganz neue Krebsſchäden aufgedeckt. Ich hatte ihn letzthin bei Borns getroffen. Dort war auch Raphael. Der Schlaue hatte Iſoldchen ſo lange den Hof gemacht, bis glücklich die Einladung vom Stapel lief. Das kränkte Ferlani ſehr, der meinte, es gäbe nun bald kein Lokal mehr, wo man nicht dieſen zuwideren Schatten von mir träfe. Beinahe rührend war Iſoldchens Ambition, es den eleganten Welkdamen gleich zu thun, in Toilette, Einrichtung der Wohnung u. ſ. w. Ganz unver⸗ mittelt ſind an den Wänden ihres Salons hier und da bunte Läppchen angebracht, von Brokat oder Sammet, die etwas orientaliſch⸗üppig⸗flottes vorſtellen ſollen. Neben einem vulgären Mahagoniſchreibtiſch ein Schränkchen italieniſcher Renaiſſance. An einer der Figuren fehlt der Kopf. Sie iſt ganz ſtolz auf den Kopf, der nicht da iſt, in der Meinung, Antiquitäten müßten kaput ſein. Das heißt „kaput“ ſagt ſie nicht. Als poetiſche Dichtersgattin drückt ſie ſich immer nobel aus, und der kopfloſe Rumpf iſt natürlich ein Fragment. 129 9 Eigenhändig hat ſie ein Stückchen Fenſterglas bemalt, das myſtiſch, weihräucherlich wirken ſoll. Ein Blumentopf mit einer feurigen roten Blume (künſtliche) mitten auf dem Tiſch iſt für das Poetiſche. Und Iſoldchen ſelbſt! Ganz à la Troubadours Gemahl koſtümiert: hochrotes Kleid, kurze, rote Tüll⸗ ärmel und goldene Schuhe. Komiſches Abendbrot bei Borns. Makkaroni mit Leberchen, und dann Reis mit wieder etwas darin, viel⸗ leicht waren es noch einmal Leberchen oder etwas Ähn⸗ liches. Und dann etwas Merkwürdiges in aspic, keines⸗ falls Leberchen. Ich ſaß zwiſchen einem berühmten Schriftſteller und einem berühmten Maler, was entſchieden noch ſchöner klingt, als es in Wirklichkeit war. Der Dichter hatte überhaupt einen ſo ſonderbaren gelblichen Klecks auf ſeiner bedeutenden Naſe, von dem ich nicht wußte ob er Natur oder Butter ſei, und der mich ungemein beſchäftigte. Da er ſchließlich verſchwand, wird es wohl Butter geweſen ſein. Nach dem Souper ſetzte man ſich im Salon um einen runden Tiſch zu einem Glaſe — ich glaube es war Roſinen⸗ oder Stachelbeerwein, und Iſoldchen bat den berühmten Dichter, doch einige ſeiner Gedichte vorzutragen. Ein Muſenalmanach, in dem ſie ſtanden, wurde gebracht (ganz Goethe⸗ und Schillerzeit, nicht? und nun las er im Singſangton eine Anzahl Ge⸗ dichte vor, ſo daß man keinen Sinn, ſondern nur ein allgemeines Geklingle auffaßte. So viel aber hörte 130 ich heraus, daß die Verſe dem behäbigſten Optimismus huldigten. Es ſcheint, der Dichter mit dem gelben Klecks auf der bedeutenden Naſe ſchwankt noch zwiſchen alt und nen. Ich taxiere ihn auf Opportunitätspoeſie. Er wird je nachdem dichten, aber immer ſo, daß er auf einen grünen Zweig kommt, wenn es auch kein Lorbeer⸗ zweig iſt. Darauf fragte Iſoldchen ſchüchtern, ob es vielleicht intereſſiere, wenn Ewald ſeinen neueſten Einakter vor⸗ läſe. Natürlich intereſſierte es enorm. Und nun las Ewald von dem Dornröschen Poeſie, das in tiefem Schlaf verzaubert lag, bis endlich, wie in dem Märchen, der Prinz (Ewald Born) mit dem Kuß die Muſe weckte. In einer kleinen Pauſe, die Ewald machte, um einen Schluck Waſſer zu nehmen, fragte mich Iſoldchen flüſternd, wo ich mein Kleid hätte machen laſſen. Sie pflegt, wenn ich ihr die Adreſſe meiner Schneiderin gegeben, hinzugehen und ſich ein gleiches zu beſtellen, nur um einen Stich mehr ins Jugendliche. Gott ſei Dank, nachdem Born geendet, lieh ſie ſo⸗ fort ihrem Entzücken Worte, ſo daß wir andern uns inzwiſchen zum Loben ſammeln konnten. Es waren auch wirklich ſchöne ſchwungvolle Verſe. Das rollte und rauſchte wie Wogenſchwall und Donner⸗ braus, allerdings mehr Theaterdonner und Kolo⸗ phoniumblitze. Ich drückte ihm ſtumm die Hand, als beraubte mich die Erſchütterung der Sprache. Er küßte mir 9* 131 mit der ihm eigenen feiſten Inbrunſt die Hände. „O, Sibilla! Sibilla!“ flüſterte er, und ich las aus ſeinem Feuerblick das Bekenntnis: „O ich Eſel — damals.“ Du ſiehſt, Mutti: Rinaldo in den alten Banden. Iſolde warf einen langen Blick herüber und trat dann raſch auf uns zu. In dieſem Augenblick ſchämte er ſich der goldenen Schuhe und der feuerroten Kurz⸗ ärmlichkeit ſeines Gemahls, das wirklich etwas nach Ballet ausſah. Ich ſtellte mich neben ſie in meinem elfenbeinfarbenen Atlaskleid mit dem breiten, im Muſter venetianiſcher Spitzen ausgeſchnittenen ſchwarzen Sammet⸗ gürtel, damit der Kontraſt ihn frappieren ſollte. Und er frappierte ihn. So bin ich, Mutti. Ein häßliches Spiel, das ich da ſpiele. Um Rache an meinem Ex⸗ troubadour zu nehmen? Gott! in den heiligen Hallen meiner Seele kennt man die Rache nicht. Warum alſo? ach darum. Müßiggang iſt aller Laſter Anfang. Um ſo häßlicher mein Spiel, da er doch ein guter, reiner, vollblütiger Dichter iſt, wirklich ein Dichter, nur dichtet er mit den Nerven, mit dem Gemüt — ohne Kopf. Und er hat auch ſicher ſein Iſoldchen nicht wegen ſchnöden Mammons geheiratet, ich habe das früher nur aus Bosheit geſagt. Daß ſie ihn ſo ſehr liebte, und daß alle es ſo ſehr wünſchten, und weil ich ſo kokett war, darum geſchah es. Ich glaube, im Grunde gefällt ihm ſeine Gold⸗ blonde recht gut, und er kann Gott danken, daß er mich im Stich gelaſſen hat. Wäre ich ſo Feuer und Flamme 132 für jedes ſeiner Werke geweſen wie ſie? Hätte ich wie ſie Gift und Galle geſpieen gegen jede böſe Kritik der⸗ ſelben? Er ſchämt ſich ſeines Ehegemahls augenſchein⸗ lich nur vor mir. Allmählich wird er auch an ihre Jugend, Schönheit und Eleganz glauben, wie eigentlich auch alle andern es thun. Natürlich hoffte höflich ein jeder von uns, daß Borns Einakter auf der Bühne noch ſtärker wirken würde als bei der Lektüre. Riedling und Profeſſor Kruſen traten ein. Sie kamen aus einer Premiere im Theater. Ihre Kunde von dem großen Erfolg des Stückes, das man gegeben, war Waſſer auf Borns Mühle. Das Stück heißt „Glück“. Ich hatte es geleſen: ein banales Machwerk. Spießbürger⸗Weltanſchauung unter der Deviſe: „Freut Euch des Lebens, weil noch das Lämp⸗ chen glüht.“ Das Stück hatte Enthuſiasmus erregt, nicht nur des Philiſters, nein, auch ganz geſcheuter Leute. „Ihr Ibſen,“ rief mir der ſo kluge Profeſſor Kruſen zu, „könnte froh ſein, wenn er je ſo etwas geſchrieben hätte. Gott ſteh' mir bei! Da man aber gerade am Werk war, geriet man in eine Max Nordau⸗Stimmung und that ſich gütlich im Verhöhnen aller modernen künſtleriſchen Beſtrebungen mit dem bekannten Hohnlächeln: eine nette Geſellſchaft da beiſammen. Mir giebt's immer einen Ruck, wenn ich dergleichen höre. Vor den Klingerſchen Bildern und Radierungen 133 habe ich Leute ſtehen ſehen, die ſich den Bauch vor Lachen hielten. Andere grinſten wenigſtens über „das verrückte Zeug“, „den Blödſinn“. Und bis zu Friedrich Nietzſche, dem einſamen Adler, der, über Bergwipfel kreiſend, ſeine Schwingen in Morgen⸗ und Abendröten taucht, blaffen ſie hinauf. Sarcey, der erſte Kritiker Frankreichs, nennt ſeinen Hund Ibſen, um dem Dichter die ganze Tiefe ſeiner Verachtung auszudrücken. Der berühmte Chirurg Billroth traktiert Nietzſche ſogar als Kerl und Schuft. Aber Billroth war ein ehrenwerter Mann, und Nietzſche ſitzt im Irrenhaus. O Mutti, wenn ich dergleichen höre, bäumt ſich ein dämoniſcher Stolz in mir auf. Ich empfinde eine Art Shakeſpeareſches Schimpfbedürfnis, etwas vom Nietzſche⸗ ſchen Herrenrecht, meinen Fuß auf den Nacken von Sklaven zu ſetzen (mit meinen netten, kleinen Schuhen würde es den Sklaven nicht gar zu wehe thun). Einen Durſt nach Rache ſpüre ich und einen Hunger nach Manna, Götterſpeiſe. Manchmal kommen mir dieſe geſchmähten Denker und Dichter wie edle Gladiatoren vor, die wilden Beſtien (wobei ich natürlich weder an Sarcey noch an Billroth denke) vorgeworfen werden, wenn letztere auch meiſt ganz zahme Philiſter ſind. Man mag weder Ibſen noch Nietzſche oder Klinger verſtehen und würdigen, aber nicht den Inſtinkt zu haben, daß ein Dichter oder ein Denker zu uns ſpricht, das verzeihe ich nicht. Es giebt einen Grad von ſee⸗ liſcher Dickfelligkeit, der einen tief melancholiſch macht, 134 aus dem der Ekel an Leben und Menſchen erwächſt. Ach, Mutti, es ſcheint, wir beide ſind einſame Menſchen. Übrigens habe ich mich bei Borns, trotz der alt⸗ modiſchen Allüren der Geſellſchaft, ſehr gut unterhalten. In frohſinnigſter Stimmung war ich und hatte doch kaum zehn Worte mit Raphael gewechſelt. Aber wie in feinen Atherwellen drang ſein ganzes Weſen zu mir und vermählte ſich dem meinen. Ein Nervenrapport faſt ſpiritiſtiſcher Art. 1. Oktober. Ich ſtehe oft vor der Sünde von Stuck und bewundere das künſtleriſche Raffinement des Bildes: wie der weiße Leib aus dem dunklen Grunde leuchtet, das Geſicht mit den ſtillen, feinen Zügen ganz im Schatten bleibt. Unheimlich dieſe kleinen Augen, die zugleich kalt und heiß ſind, trocken, lauernd, die Augen eines verzauberten Raubtieres, ſpähend und doch ſiegesſicher. Sie wiſſen von dem weißen, leuchtenden Leib, um den die feiſte, rieſige, ſchillernde Schlange ſich windet. Es ſcheint, daß ein wunderſchöner weißer Leib ſchon an und für ſich Sünde iſt und die wunderſchöne rote Liebe auch. Gott ſei Dank, daß man wenigſtens ſeine Mutter noch unbeanſtandet lieben darf. Aber wer weiß, viel⸗ leicht wird auch dieſe Liebe noch einmal widerrufen. Bis dahin ſei zärtlich umarmt von Deiner Sibilla. 5. Oktober. Liebe Mutti! Von eigentlicher Ge⸗ ſellſchafts⸗Saiſon iſt natürlich noch nicht die Rede. Man behilft ſich wohl oder übel mit Thees und jours. Da 135 aber Frau von Gehrts Geburtstag, gerade wie der meine, in den Herbſt fällt, und ſie gern jede Gelegenheit zu etwas Luſtigem bei der Stirnlocke ergreift, ſo ließ ſie eine Abendgeſellſchaft los, mit der hoffnungsvoll roman⸗ tiſchen Ausſicht, nach dem Souper im mondbeſchienenen Gärtchen zu luſtwandeln. Du erinnerſt Dich doch der Gehrt? Du hielteſt ſie für eine ſo zärtliche Mutter, weil man ſie immer Hand in Hand mit ihrem fünfjährigen Töchterchen auf der Straße trifft. Timäa behauptet, das geſchehe nur wegen des hübſchen, maleriſchen Effekts, den ſie dadurch erzielt, daß ſie und das Kind immer gleiche Blumen auf dem Hut und am Kleide tragen. Es war eine ſehr elegante, attachéenreiche, mit zahlreichen Baronen und Grafen verſchnörkelte Ge⸗ ſellſchaft. Da ich unter all den Baroninnen und Excellenzen in abſteigender Linie noch eine der jüngſten war, hatte man mich bei Tiſche zwiſchen zwei ſehr junge Herrchen placiert, von denen der eine natürlich Baron, der andere Graf iſt. Das Barönchen, ein guter Badenſer, der längere Zeit in Paris gelebt hat, wollte mir durchaus nicht glauben, daß die Bälle hier, nicht wie in Paris, um elf oder halb zwölf, ſondern um acht oder halb neun anfingen. Fatzke! Und das Gräflein — als ich beiläufig erwähnte, ich wäre in den letzten Tagen nicht ausgegangen, weil ſich mir der ſchauderhafte Nebel immer ſo auf die Bruſt lege, meinte er, das könne er dem Nebel gar nicht ver⸗ denken, denn — — u. ſ. w. 136 Daß mir Hautbois trotz der anweſenden Traute, die ſeine Coeurdame iſt, den Hof machte, war ganz ehrenvoll, daß er aber, als er die Armelloſigkeit meines Kleides lobte, hinzufügte, er fände es eine Gemeinheit. daß ich meine Schultern verhülle, iſt wohl mehr auf ſein mangelhaftes Deutſch als auf ſeinen ſchlechten Charakter zu ſchieben. Überhaupt, Mutti, Du haſt keinen Begriff von der unglaublichen Redefreiheit, die in dieſen Kreiſen herrſcht. Sie ſagen Dinge, Dinge, die echt bürgerliches Blut in echt bürgerlichen Adern erſtarren machen. Und was ſie blicken! Der mir gegenüberſitzende Geſandte, Graf Göll, erhob einmal ſein Glas und tvaſtete mir zu als der reizendſten aller Damen, worauf der Jüngling zu meiner Linken, der von Paris gekommene, zuſtimmte: „Ja. charmante, bien ronde, bien potelée. Und der Jüngling zu meiner Rechten machte mich auf eine Gruppe von Herren an einem Nebentiſch auf⸗ merkſam. Da ſäße ein ganzer Hirſchpark beiſammen. Ich verſtand nicht. Da explizierte er: die Herren da trügen ſämtlich Geweihe. Und als von einer häßlichen Dame — ſie ſaß in unſerer Nähe — und ihren vielen Eroberungen die Rede war, und ich mich über die letztere Thatſache wunderte, ſagte er ganz brutal un⸗ geniert: „Sie haben ſie halt immer nur angezogen geſehen,“ und war ganz erſtaunt, als ich mir in hoch⸗ fahrendſtem Ton ſolche Konfidenzen verbat. Und das ſind die Kreiſe, aus denen die Haupt⸗ kämpfer für Sitte, Ordnung und Religion hervorgehen. 137 Unter den Gäſten fiel Hilde Engelhart beſonders auf. Denke, ſie hat auf einmal rote Haare bekommen, die ihr reizend ſtehen, behauptet, infolge eines ganz un⸗ ſchuldigen, ihr vom Arzt empfohlenen Waſſers. Sie wäre wütend auf den Arzt. Gut gelogen, rote Hilde. Nur immer den Leuten die Hucke voll lügen. (Pardon, Mutti, wegen der Hucke.) Hilde Engelharts Gatte geht nicht mehr in Ge⸗ ſellſchaft. Er iſt über ſiebzig Jahr alt und langweilt ſich in Geſellſchaften, weil er ſich abſolut nicht daran gewöhnen kann, ältere Damen zu Tiſchnachbarinnen zu bekommen. Und die Männer machen ſich damit nicht einmal lächerlich. Schreiende Ungerechtigkeit. Die Krone des Abends waren zwei morganatiſche Gattinnen, Witwen irgend welcher Prinzen. Die eine, ehemalige Sängerin, der Gipfel grotesker Geſchmack⸗ loſigkeit, beweglich, munter, bohémienne, ganz mit Schmuck behängt, kann ihre Theatertriumphe nicht ver⸗ geſſen, hört nicht auf am Klavier zu meckern. Die andere, eine einſtige beauté, von ſeriöſer Vornehm⸗ heit, mit einer gräflichen Geſellſchafterin, iſt hier, um ein paar Jucker zu kaufen. Hat ſicher in ihrem Reſidenzſchloß gallonierte Lakais und Speiſeſervice mit fürſtlichem Wappen. Schrecklich dumm und lang⸗ weilig. Erwähnenswert auch die ganz neue Erſcheinung einer eben aus Paris nach München verſchlagenen Süddeutſchen, einer Frau Charling, nicht einmal „von“ Ihre Allüren aber, ihr Auftreten, ganz Gräfin, nein, ganz Madame la comtesse vom Scheitel bis zur 138 Sohle. Soll eine koloſſale Vergangenheit haben, be⸗ deutende Empfehlungen u. ſ. w. Nach dem Souper ſaß ich erſt lange Zeit auf einem kleinen Eckſofa mit Raphael, und er vertraute mir an, was für eine Schlange ich eigentlich mit Ferlani an meinem Buſen nähre. Ein Spieler ſei er und wegen Schulden oder weil er fahrläſſig mit den Karten umgegangen, habe er ſeinen Abſchied als Offi⸗ zier nehmen müſſen, und trinken thäte er auch, und ſeine politiſche Überzeugung verkaufe er an den Meiſt⸗ bietenden. Und nachher ſaß ich längere Zeit mit Ferlani auf einem anderen Eckſofa, und von ihm erfuhr ich, was Raphael für ein Menſch ſei: ein Gigerl, ein Schwindler, und krumme Beine habe er, und ehe er mir den Hof gemacht, habe ihn Eva Broddin gründlich abfallen laſſen. Na ja — eben — o jemine! Ganz amüſant, dieſe Erdichtungen der Eiferſucht, nicht? Als die meiſten gegangen waren, blieb noch ein kleiner Kreis Intimer zuſammen und es entſpann ſich eine jener Kauſerieen, wie ſie ſich au coin du feu abzuſpinnen pflegen, wo alles ſich um Perſönlichkeiten dreht. Pikanter, frecher, witziger Klatſch. Unter an⸗ derem ſtritt man, ob es ſtatthaft wäre, Frau Charling zu empfangen, die ihre Liebhaber wie ihre Hand⸗ ſchuhe wechſele. Man war geneigt, die Frage zu ver⸗ neinen, als Frau von Gehrt die Diskuſſion mit den Worten abſchnitt: „Kinder, habt Euch nicht ſo! Das iſt ja alles nur korporel bei der Charling.“ Alle 139 lachten. Ein brutal⸗cyniſches Wort. Ein Körnchen Wahrheit iſt darin. Merkwürdiger Kontraſt unſerer Zeit. Auf der einen Seite zügelloſe Frivolität bis zur frechſten Un⸗ moral in den höheren und höchſten Ständen, und auf der anderen Seite die unaufhaltſam vorwärts drängende Wiſſenſchaft, Männer mit dem apoſtoliſchen Zug, wie Tolſtoi, Egidy, politiſche Schwärmer, und der zu voller Lebensintegrität heranreifende vierte Stand. Und ich ſtehe dazwiſchen, und halb zieht es mich dahin, halb ſinke ich dorthin, und da wird's denn wohl um mich geſchehen ſein. Meine Situation iſt ungefähr die eines Wanderers, der in kalter Nacht ein Feuer im Freien anmacht. Aber die Kälte aus der Peripherie dringt doch zu ihm, und im Mittel⸗ punkt des Feuers kann er nicht leben. So pendelt er zwiſchen Froſt und Hitze. Auf der einen Seite gebraten zu werden und auf der andern zu frieren, das iſt unſere Situation. „Und ſo ſoll ich die Brahmane, — Mit dem Haupt im Himmel weilend, — Fühlen Paria dieſer Erde — Niederziehende Ge⸗ walt.“ (Ein indiſcher Spruch, den ich irgendwo ge⸗ leſen habe.) 8. Oktober. Geſtern war ich müde und abge⸗ ſpannt, ließ mich aber doch von Benno überreden, mit in die Oper zu fahren: Triſtan und Iſolde. In meiner Müdigkeit hörte ich nur klingende Schreie, ab⸗ geriſſene Töne, ſchmetternde hohe A's und dazwiſchen ein Gemurmel, das ſich ins Orcheſter hinein verlief. Trotzdem war ich hingeriſſen mit dem allgemeinen 140 Gefühl, daß ich mich in Poeſie badete und daß die geiſtreichſte Kauſerie daneben — Pardon — Schund iſt. Raphael iſt nicht geiſtreich — o nein — aber ſeine Erſcheinung iſt wie aus einem Roman geſchnitten, von Poeſie förmlich umfloſſen. Was er blickt, iſt ab⸗ wechſelnd glutvolle Innigkeit und Melancholie, letztere wegen einer verſtorbenen Braut. Er erweckt den Ein⸗ druck, als ob er nächſtens — auf Grund dieſer toten Braut — im Reigen der geſpenſtiſchen Willis mittanzen würde, um andern Tags unter einem Roſenſtrauch als Leiche aufgefunden zu werden, von mir natürlich. Daß ſeine Braut, wie man behauptet, eine Geldpartie war, glaube ich einfach nicht. Und Du mußt nicht etwa denken, daß er dumm iſt. Er ſpricht wenig, aber alles, was er ſagt, iſt durchaus comme il faut. Und ſeine Stimme, ſein Blick und ach, ſein Händedruck (von ſeinem Kuß weiß ich nichts), alles ſo — ſo liebeheiſchend, ſo diskret, ge⸗ heimnisvoll ſich einem ins Herz hineinſchmeichelnd. Mit einem Wort: er iſt ein Charmeur. Man meint immer, daß ein bedeutendes Schickſal hinter ihm liege und eine Tiefe in ihm gähne. Ich glaube an dieſe Tiefe, ja, ich glaube daran. Und ſelbſt wenn ſie nicht gähnte — ſchwebt uns Deutſchen nicht Goethes Gretchen als eine Idealgeſtalt vor? Und ſie liebte doch ihren Fauſt auch mehr aus unbekannten Gründen als wegen ſeiner philoſophiſchen Tiefe. O Gott, was ich möchte, einzigſte Mutti, etwas Schreckliches, unſagbar Entſetzliches! Nimm die Brille ab, damit Du es nicht leſen kannſt — Du kriegſt eine 141 Gänſehaut. Ich möchte einmal, nur einmal an die Bruſt des Mannes ſinken, in den ich verliebt bin, un⸗ ſinnig verliebt. Niemals die Geliebte des geliebten Mannes ſein — wie triſte! Haſt Du mich auch lieb, Einzige? Deine Sibilla. 10. Oktober. Ich habe Dich mit meinem letzten Briefe in den Harniſch gejagt, arme Mutter. Komme nur wieder heraus aus dem Harniſch; ich übe noch immer Treu und Redlichkeit und weiche keinen — wenigſtens kaum einen Fingerbreit von Gottes Wegen ab. Rein — keuſch — ich! lächerlich! Und ich habe Kinder von Benno gehabt. Ach, Mutti, unſere ethiſchen Anſchauungen ſtecken noch in den Kinderſchuhen. Die tödlich widrige Em⸗ pfindung der Unkeuſchheit, der bittern Scham haben wir doch nur bei der Hingabe an den Mann, den wir nicht lieben, mag er noch ſo legitim ſein. Je mehr wir lieben, deſto natürlicher, ja deſto idealiſcher an⸗ gehaucht iſt unſere Hingabe. Erſt die Reflexion, daß wir ein Sittengeſetz gebrochen haben, befleckt unſer Em⸗ pfinden — hinterher. Du ſchreibſt, daß, ganz abgeſehen von ſittlichen Gründen, ſchon aus Rückſicht auf die Welt und meinen Ruf, ich nicht dürfte was ich möchte. Ja, ſelbſt den Schein eines Unrechts müſſe ich vermeiden. Den Schein vermeiden? Fällt mir gar nicht ein, und wäre es auch nur aus Hochmut gegen das Urteil der blöden Menge, „das Rabenlied des Pöbels, das 142 ich ganz verachte“. Es iſt mir ſo gleichgültig, was Frau K. oder Frau 2). von mir denken. Und über⸗ haupt iſt's ſo ungeheuer gleichgültig, wie und was ich bin. Ob ich einen Liebhaber habe oder ob ich keinen habe, im Weltall kräht kein Hahn darnach. Und in fünfzig Jahren ſind wir ja alle, alle tot. Rückſicht auf die Welt? Welcher Welt? Der, in der ich lebe und in der die Haut-goüt-Damen domi⸗ nieren. Die thun mir nichts, Mutti, ſie ſind ja froh, wenn man ihnen nichts thut. So lange ſie Vorteile von mir erhoffen oder Nachteile fürchten, kann ich getroſt über die Stränge ſchlagen. Unter gewiſſen Umſtänden freilich kann man durch einen oder mehrere Liebhaber ſeinen Ruf verlieren. Dieſe gewiſſen Umſtände aber ſind ſeltener als Du denkſt. Wüßte alle Welt von einer illegalen Liaiſon zwiſchen mir und Raphael, würde man meine Diner⸗ einladungen refüſieren? Gewiß nicht, wenn Frau K. wüßte, daß ſie Herrn 2). bei mir träfe, und die kuli⸗ nariſche Perfektion meiner Köchin unter meiner morali⸗ ſchen Imperfektion nicht litte, und wenn Benno, der gute, nicht etwa Lärm ſchlüge. Wenn aber mein Ruf intakt bliebe und ich verlöre nur all mein Geld, mit dem damit verknüpften Zauber, und ich ladete meine jetzigen Gäſte zu mir in die vierte Etage, in ein nettes Stübchen, zu einem falſchen Haſen und einem Gläschen Moſelblümchen, ob ſie kommen würden? 143 In jedem Fall kämen ſie widerwillig, und ſie würden mir den liebevollen Nachruf widmen: ſie ſoll ſich Geheimſekretäre und Poſtbeamte und alte Jungfern zu ihrem falſchen Haſen und dem ſauren Wein ein⸗ laden. Ich habe Dir von Frau Charling und ihrem miſe⸗ rablen Ruf geſchrieben. Als ſie nach München kam, feierte der Klatſch förmlich Orgien über ihre Vergangen⸗ heit. Man beſchloß, ſie zu boykottieren. Da eröffnet ſie ihre Salons, nachdem ſie vorher durch die Heirat einer Schweſter einen gräflichen Schwager und außer⸗ dem eine ausgezeichnete Köchin und einen franzöſiſchen Diener acquiriert hat. Man macht Front gegen die Verleumdungen und drängt ſich dazu, eingeladen zu werden. So iſt die Welt, wenigſtens die monde, aber Geld gehört dazu, viel Geld. Und wenn ich nun wirklich in den Beſitz eines ſo ſchlechten Rufes gelangte, daß die elegante Geſellſchaft ſich von mir zurückzöge, würde ich denn unter dieſem Ruf ſehr leiden? Ein paar Dutzend Menſchen, aus denen ich mir nichts mache, würden mich nicht mehr grüßen. Das Malheur! Der ſchlechte Ruf würde mir ſogar einige Vorteile bringen. Ich brauchte nach der Welt nicht mehr zu fragen. Ich hätte ſie gewiſſermaßen über⸗ wunden. Frei wäre ich wie der Vogel in der Luft, und anſtatt mit Hunderten zu verkehren, die mich langweilen, würde ich der Wenigen ſchon habhaft werden, die mich amüſieren und intereſſieren. Und mein blieben noch alle guten und beſten Bücher und 144 die ganze holde Natur. Und der Roman der Liebe, der doch das Buch der Bücher bleibt, wenigſtens für uns, einige Jahrzehnte zu früh geborene Frauen, die wir im Vorfrühling der großen Frauenbewegung leben. Dieſen Roman könnte ich ausleſen bis zur letzten Seite. Dieſe letzte Seite, die würde tragiſch ſein? Gott ja. Aber iſt das Ende nicht immer tragiſch? Das Ende von allem? Na Mutti, lege nur kein großes Gewicht auf das, was ich ſo herſchwatze. Es iſt nur Niedergeſchriebenes. In Wirklichkeit — nein, ich will keinen ſchlechten Ruf, er wirkt häßlich, ſtände mir nicht zu Geſicht. Ein ſchlechter Ruſ wirkt wie ein Fleck, malpropre, un⸗ äſthetiſch, oder wie ein Gewicht, das mich vielleicht tiefer und tiefer herabziehen würde, bis zuletzt — Ella Ried! Und Timäa und Frau Bürgens, die würden mir ein abgelegtes Kleid ſchenken — — quel horreur! Wie ich das ſo dachte, fiel mir eine Vaſe in die Augen, auf der ein nacktes, reizend freches Liebespaar abgebildet iſt. Malen darf man das, ja malen! Ich ſchlug in zorniger Aufwallung gegen die Vaſe, nicht gerade, damit ſie fallen ſollte. Sie fiel aber doch und zerbrach. Eine ſo koſtbare Vaſe! Hätte ich wenigſtens die gegenüberſtehende getroffen, auf der ein völlig bekleideter Engel — er ſchien einen Choral zu ſingen — abgebildet war, — die war nicht halb ſo koſtbar. Immer aufs neue ſtaune ich über die Wider⸗ ſprüche, die uns allerorten in der ethiſchen Welt be⸗ 10 145 gegnen. In Dramen, auf der Bühne, mit Kunſt⸗ werken und Büchern dürfen wir für eine Sittlichkeit Propaganda machen, der die Umwertung aller Werte zu Grunde liegt. Im Drama: Ein hochedler Pole zettelt aus glühen⸗ dem Patriotismus eine Verſchwörung an: „Bravo! bravo!“ im Zuſchauerraum. Jeder Buſen ſchmilzt in Sympathie für ihn. In Wirklichkeit wird er gehängt, der edle Pole. Die Frau verläßt (auf der Bühne) den ihr zwar angetrauten, aber nichtsdeſtoweniger ſchuftigen Gatten, und folgt dem großherzigen, aber nichtsdeſtoweniger illegitimen Manne ihres Herzens. „Bravo! bravo! In Wirklichkeit wird die, wenn auch aus edelſten Motiven durchgegangene Frau aus der Geſellſchaft ab⸗ geſchoben. Eigentlich merkwürdig, daß eine Frau ſich nur durch Liebſchaften einen ſchlechten Ruf zuzieht. Im übrigen kann ſie von Schlechtigkeit triefen, ihr Ruf bleibt rein; ſie iſt ja tugendhaft. Mein Ruf blieb auch intakt, als ich Benno heiratete, und ich wußte doch, was ich that. Was mich auch ärgert, iſt, daß kein Menſch mir meine Tugend als Verdienſt anrechnen wird. Die Damen ſind ja einig darüber, Sibilla Raphalo iſt kühl bis ans Herz hinan. Die hat es leicht, nicht über die Stränge zu ſchlagen. Wir Feuerbrände dagegen, wenn uns einmal das Herz zu Kopfe ſteigt — wer wirft den erſten Stein auf uns? 146 Auf Dein ſanftes Herz aber würde ich einen Stein werfen, wenn — — darum kein „wenn“. Ich will keine Schlange ſein, die Dir am Herzen frißt. Ich küſſe Dich. Deine Sibilla. 13. Oktober. Aber Mutti, nun ſchließt Du gar noch den „armen Raphael“ in Dein ſorgendes Herz. Ich ſchwöre Dir, es wird alles ganz ungefährlich für ihn verlaufen. Wenn ich's nicht wüßte, nicht ganz genau wüßte! Das Herz meines Adonis iſt robuſt, nicht den kleinſten Sprung wird es davontragen. Erhöre ich ihn nicht bald — ich taxiere innerhalb der nächſten vier Wochen — ſo ſinkt er in die Arme — die weitgeöff⸗ neten — der Dame Gehrt, welche Circe auch eigentlich viel beſſer für ihn paßt als ich. Du kennſt ſie ja nicht, dieſe liebedurſtigen Heiß⸗ ſporne. Lies nur die Romane unſerer jungen und jüngſten Naturaliſten — beſſer Naturalüſtlinge — in denen dieſe vollſaftigen, wie friſcher Moſt gäh⸗ renden Jünglingsherzen uns ſonder Scham und Scheu ihre Liebesfrühlinge ſingen, nein, nicht ſingen — kreiſchen. Aus ihnen habe ich meine Menſchenkenntnis ge⸗ ſchöpft, was gewiſſe männliche Gefühlsregiſter betrifft. Raphael iſt auch ſo ein Naturaliſt in der Liebe. Und einen ſolchen Mann liebe ich? Ach ja, Mutti, leider. Wie Emilia Galotti ſchon ſagte: „Auch ich habe Blut.“ Und all dieſe üppigen Gelage, dieſe ganze dekolletierte Atmoſphäre, in der ich lebe, und in der ſich alles auf Liebe und Triebe reimt, ſind 10* 147 Gift für mich. Es ſcheint aber, dieſes Gift iſt mein Lebenselixier. Ich werde mir öfter Jolante als Gegengift ein⸗ laden. Warum eigentlich ein Gegengift? Dieſe ſtarke, intenſive Sehnſucht — — des Gemüts? und wäre es auch nur eine pathologiſche Sehnſucht des Blutes, der Nerven, warum — — Die Schneiderin iſt da, die darf ich nicht anti⸗ chambrieren laſſen, ſonſt fabriziert ſie mir einen künſt⸗ lichen Buckel. 27. Oktober. Guten Morgen, liebe Mutter! Zuerſt die neueſte Neuigkeit: ich bin mit Ferlani erzürnt. Eigentlich iſt unſer Diener, der Otto, mit ſeiner Bildung daran ſchuld. Ich fürchte, ich muß ihn abſchaffen. Er ſpricht franzöſiſch, ſieht aus wie ein Provinzialſchauſpieler, dichtet, läßt ſeine Gedichte zufällig umherliegen, oder ſteckt ſie beim Decken unter die Teller. Haar natürlich gekräuſelt. Geſtern, im Beiſein von Benno, Ferlani und Frau von Gehrt zündet er die Theemaſchine an, wobei eine förmliche Feuersbrunſt entſteht. Heldenmütig erſtickt er die Flamme mit der Hand, und dem Zaun ſeiner Zähne entflieht das klaſſiſche Wort: „Da wäre ich beinahe zu einem Mucius Scävola geworden.“ Wer iſt Mucius Scävola? fragt Benno. Ferlani lächelt unangenehm, und als ich ſpäter mit ihm allein blieb, erlaubte er ſich einige leichte Spöttereien über Mucius Scävola. Ich erſuchte ihn, ſich gefälligſt meines guten Benno nicht als Hanswurſt zu bedienen. Der hätte ein Herz 148 von Gold, einen Humor von Gottes Gnaden, und ſeine Erzählungen wären ganz reizende kleine Kultur⸗ bilder, mit einem Wort, er ſei ein Unikum. Ich ſah, wie tief ich ſeine Eitelkeit verletzte; was mir aber geradezu poſſierlich vorkam, er wurde eiferſüchtig, eifer⸗ ſüchtig auf Benno! Er nahm ſeinen Hut. „So, dann wäre es ja gut, und es würde wohl das beſte ſein . . . . „Ja wohl, es wird das beſte ſein,“ ſagte ich kalt. Er grüßte kurz und ſteif und ging. Und ſeitdem ſind vierzehn Tage vergangen, und er iſt noch nicht wiedergekommen. Wird ſchon. Raphael triumphiert über den Nebenbuhler, der auf der Strecke liegt. Er malt mich jetzt, vorläufig mit den Augen und der Seele. Ehe er der Hand die delikate Arbeit anvertraue, müſſe er meine Züge ſtu⸗ dieren. Und da ſtudiert er nun, bald mit, bald ohne Zeichenſtift; bald zieht er die Fenſtervorhänge ſo weit zu, daß nur ein einziger Sonnenſtreifen über mein Haar hüpft und mich — ſeine Worte — in Glorie taucht, bald tritt er dicht zu mir heran, eine Locke aus dem leicht aufgeſteckten Haar zupfend, die ſich zärtlich von meinem Schwanenhals — ſeine Worte — abheben ſoll. Einmal ſtand er neben meinem Fauteuil und bog mit leiſem Händedruck meinen Kopf hinten⸗ über, ſo daß unſere Augen ineinander tauchten, tief, ſehnſüchtig. Daß dieſer Augenblick ohne — weiteres vorüberging — mein Verdienſt, Mutti, meines ganz allein. 149 Er ſtreicht und ordnet — im Intereſſe des Bildes — die Falten meines Kleides, er wickelt mich in Pelz und gräbt mich wieder aus den Pelzen heraus, und überhaupt — — — lauter verliebte Spielereien und voll gefährlichen Charms ſind ſie. Immer fühle ich ſeine warmen, feinen, zitternden Finger, ich fühle ſeine glänzenden, zehrenden Blicke, ich fühle den Pulsſchlag ſeines ſchnell ſtrömenden Blutes und meiſtens, ach, Mutti, ſei nicht böſe, ſtrömt das meine in demſelben Tempo und in derſelben Richtung. Zuweilen, wenn die Stimmung zu ſchwül wird ſchlage ich einen Spaziergang im engliſchen Garten vor. So auch geſtern. Die Natur will in dieſem Jahre nicht ſterben. Ende Oktober noch eine un⸗ wahrſcheinliche Farbenpracht im Park. Raphael liebt vor allem die breite Allee hochſtämmiger Bäume in der Nähe des kleinen Tempels. Dahin gingen wir zuerſt. Ein himmliſcher Tag. In ihrer rotbraunen Pracht ſchimmerten die Bäume wie eitel Gold. „Eine Allee für Liebesgötter“ flüſterte Raphael, und er nahm meinen Arm. Und wir ſchmiegten uns aneinander. und die roten Blätter rieſelten auf uns nieder, und der Herbſtwind koſte mit unſerm Haar. Ab und zu kamen Menſchen. Dann ließ er meinen Arm los, und wir gingen ernſthaft nebeneinander her, als wäre gar nichts los. Entſchwanden die Leute unſeren Blicken. ſo kehrten wir zu einander zurück mit leiſe ſchauernder Wonne. Was wir redeten? Nichtiges. Er: „Iſt's nicht ſchön hier?“ Ich: „Nicht wahr?“ Er: „Sind 150 Sie glücklich, Sibilla?“ Ich: „Ja, Raphael.“ Aber ſeine Stimme klang ſo weich, ſo weich, und die meine wahrſcheinlich auch. Es war alles ſo kinderhaft lieb und traut und heimlich und ſüß. Als wir ans Ende der Allee kamen, betrat ich ſchnell das Brücklein, das zu meinem Lieblingsweg führt. Den Opheliagang habe ich ihn getauft, den ſchmalen Weg zwiſchen grünen, grünen Wieſen, am ſtrömenden Bach entlang, an dem die Weidenbäume ſtehen. Ein Schimmer der untergehenden Sonne fiel zärtlich auf das transparente, zartduftige Laub. In ſo lautloſer Haſt ſchießt der Strom dahin, eilig, eilig, als ob man ihn irgendwohin riefe. Und unwillkürlich gingen wir auch lautlos ſchnell und immer ſchneller, und haſtig ſtrömten unſere Ge⸗ danken, und wir wußten, wohin ſie uns riefen. Daß ich Dir das alles ſchreibe, Mutti, gräßlich! nicht? Aber, tu l'as voulu, Dandin. Ach, Mutti, ich möchte ſie auch einmal kennen kernen, die große ſchranken⸗ loſe Liebe, die wie die Poſaunen Jerichos die dickſten Mauern der dickſten Vorurteile ſtürzt. Gebiete Deinen Thränen, teures Weib, ich thu's ja nicht. Wie werde ich denn! ſo etwas Schlechtes! Böſes! Das heißt eigentlich, Mutti, wäre es ſo ganz un⸗ vernünftig? Und Benno? Ach Benno, der würde ja durch eine wirkliche Liebe meinerſeits in die größte Verlegenheit geraten. Daß ich ſchön bin, daß ich gut empfange, daß ein Prinz mit mir getanzt hat, daß man meine Toiletten nachahmt, das iſt, was er von mir verlangt.⸗„Meine Frau ſoll einen Nimbus haben, 151 ſagt er. Übrigens erſt vor einigen Tagen fand ich in ſeinem Zimmer eine Rechnung für ein Brillant⸗ kämmchen, das nie meine Augen geſehen. Nicht von Belang, nicht wahr? So iſt nun einmal die Natur des Mannes. Und die unſere? — — — Aber nein, Mutti, ich bleibe bei der Stange der Tugend, vielleicht, wenn ich mich recht prüfe, mehr aus Äſthetik als aus Ethik. Die Reue, die ich möglicherweiſe nach der Un⸗ treue empfinden würde, die fürchte ich weniger, aber — vorher! Ich anticipiere alle Schreckniſſe, die ein Amant, ein Rendezvous mit ſich bringen, all den häßlichen Apparat, die vulgären Heimlichkeiten. Ich ziehe mir ein ſo einfaches Kleid an, wie man es gar nicht hat; ich kann es mir ja von der Jungfer borgen, die es wahrſcheinlich auch nicht hat. Der komiſch dichte Schleier, den ich mir erſt extra beſorgen muß, die Droſchke, und der Kutſcher — wenn ich ausſteige, gewiß, der wird grinſen. Und der Geliebte ſelbſt — das Wort „Geliebter“ degoutiert mich ſchon. Wie er ſchon an der Thür lauernd ſtehen wird, ſo erregt und verlegen, und wie er mich dann mit übertriebenem Zart⸗ gefühl und geſpielter Paſſion ins Zimmer ziehen wird, das er zweckentſprechend parfümiert hat. Und auf dem Tiſche werden Blumen ſtehen — natürlich Roſen — und eine roſaverhängte Lampe. Ob auch Früchte und Champagner, wie es in den Romanen von Bourget und Maupaſſant zu leſen iſt? Dieſer imaginäre Champagner erkältet mich bis ins Mark. Und die Freuden der Untreue? Ach, es würde 152 auch wieder nichts ſein. Und darnach würde er in meinem Salon, mir gegenüber, eine familiäre Hal⸗ tung einnehmen, er würde rauchen und vielleicht ſogar — gähnen. Er würde gähnen, der Elende! Ich haſſe ihn dafür im voraus. Und o Gott, wie ſoll ich ihn ſpäter wieder los werden! Ich ſtelle mir das alles ſo ſehr lebhaft vor, weil ich ſo ſehr in ihn ver⸗ liebt bin. Du ſiehſt, geliebte Mutti, Du kannſt ruhig ſein, ganz ruhig. Gute Nacht, Einzige. 28. Oktober. Raphael iſt jetzt einig mit ſich, wie er mich malen wird: dekolletiert, in dem pfirſichfarbenen Sammetkleid. Vor der erſten Sitzung will er mich erſt noch einmal in dem Kleide ſehen, um eine Skizze anzu⸗ fertigen. Ich hatte keine Luſt, ſeinem Wunſche zu will⸗ fahren. Da ich aber kein Charakter bin, unterliege ich gewöhnlich dem, der mehr Willen hat als ich. Das Bild ſoll ja auch ſeinen Ruhm begründen. So gab ich nach. Morgen, um acht Uhr abends, kommt er mit dem Zeichenſtift. Übermorgen ſchreibe ich Dir, wie die Sitzung abgelaufen iſt. Übermorgen. O Mutti, man ſoll doch nie den Tag vor dem Abend loben. Alſo, ich hatte geſtern eben meine Toilette für Raphael beendet, als es klingelte. Ich ſehe nach der Uhr: halb acht. Ich mag nicht, daß man früher kommt, als man erwartet wird. Er war es auch gar nicht. Ferlani war's, der reuige Sünder, der zu mir zurückkehrte. Wenn Du den Brief zu Ende geleſen haſt, wirſt 153 Du Dir Deine Haare ausraufen mögen über das Un⸗ heil, das dieſe Rückkehr angeſtiftet hat. Er begrüßte mich ſteif. Er hätte gehört, ich ſei nicht wohl (Lüge), er käme nur, ſich nach meinem Be⸗ finden zu erkundigen. „Und von nun an wollen Sie wohl ganz cere⸗ moniell mit mir verkehren?“ fragte ich. „Freilich,“ ſagte er, „haben Sie nicht bemerkt, daß ich im Cylinder komme: Ich lachte. Da thaute er auf; das heißt, er wurde wütend und ſprudelte alles heraus, was in der Tiefe ſeiner Bruſt brodelte: ſeine Qual, ſeine Liebe, meine Koketterie. Er hätte nie wiederkommen wollen, da ich doch fände, daß mein Mann alle und er gar kein Talent habe, und ich ſo weit geſunken wäre, ſogar von den ſchönen Augen des geiſtloſen Adonis Notiz zu nehmen. Wenn er wüßte! Er rührte mich. Ohne Speer des Achilles zu ſein, heile ich gern die Wunden, die ich ſchlage. Ich war ganz Milde und Güte. Vielleicht trug die dekolletierte Sammetrobe zu meiner Gemütsverfaſſung bei. Über⸗ haupt lag an dem Abend über meinem Zimmer ein zärtlicher Hauch. Ich bin ein Stimmungsgeſchöpf, immer von meinem Milieu beeinflußt. Ich merkte ſpäter, daß in dem Blumenſtrauß auf meinem Schreib⸗ tiſch Orangenblüten waren. Ferlani gehört zu den Menſchen, die, wenn man ihnen den kleinen Finger reicht, gleich die ganze Hand nehmen. In der That küßte er de⸗ und wehmütig 154 meine Rechte, wobei er ſogar den Arm in Mitleiden⸗ ſchaft zog und flehte: „Sire, geben Sie mir Rede⸗ freiheit.“ Ich nickte gnädig Gewährung, indem ich mich be⸗ quem in meinem Fauteuil Henri quatre zurücklehnte und auf die Boule⸗Uhr blickte, die auf der Rokkoko⸗ Kommode ſtand und dachte: ach Gott, wenn er nur fertig wird, ehe Raphaels Stunde ſchlägt. Er war ſo klug, ſich in den Schatten des Wand⸗ ſchirms zu ſtellen, als er mir das Anſinnen ſtellte, mir einmal vorzuſtellen, daß ich ſeine Gefühle erwiedere. „Ich will's verſuchen,“ ſagte ich, hielt die Hand vors Geſicht und blinzelte ihn ſo ſchelmiſch als es meine Mittel erlaubten an. Er gab ſich alle Mühe, ſo ruhig wie möglich zu bleiben, aber in ſeinen Augenſternen flackerte es, und mit einer etwas heiſeren Stimme machte er mir die Offerte, im Fall meiner Auchliebe den Zug meines Herzens mit der Stimme des Schickſals gnädigſt identi⸗ fizieren zu wollen. „Was meinen Sie?“ fragte ich naiv, mit geſpieltem Erſtaunen. Selbſt wenn mein allzu weiches Herz in Liebe für Eure gräfliche Gnaden dahinſchmölze, ich würde mich doch von meinem guten Benno nicht ſcheiden laſſen. Oder wollen Sie mich auf den Weg drängen, der meiſtens bei der monde à cöté endigt? Darauf könnte ich Ihnen doch nur mit einem der in Ihrer Partei ſo beliebten „Pfuis“ antworten.“ Er fand meine Antwort unehrlich. Und er redete und redete mit einer Wärme und Verve! Sein Ge⸗ 155 dankengang war ungefähr folgender: Ich ſolle doch unſere gefeiertſten und reizendſten Damen (er nannte eine Anzahl Namen, die ich diskreterweiſe verſchweige) Revue paſſieren laſſen, ſie alle, faſt alle hätten Liaiſons oder hätten ſie gehabt oder würden ſie haben. Und alle Welt wiſſe es, und alle Welt ſcherze oder mediſiere darüber hinweg. Und wenn ich dieſe Revue in der Geſchichte und Litteraturgeſchichte fortſetzte, könne es mir nicht entgehen, daß unter den erlauchteſten Geiſtern die echteſten Leidenſchaften immer illegitim vor ſich gegangen wären. Und er buddelte Abälard und Heloiſe aus ihrem Grabe, er beſchwor die Schatten von Byron und ſeiner Geliebten herauf, dito die jenes ſpaniſchen Königs (Name mir augen⸗ blicklich entfallen) mit ſeiner Jüdin von Toledo. (Kainz war neulich entzückend als König.) Und noch eine ganze Reihe ebenſo berühmter als unverheirateter Liebespaare ſchnurrte er herunter. Er verſtieg ſich ſogar bis in den Olymp und langte ſich den Jupiter vom Thron, deſſen Amours doch von jeher Gegenſtand der erhabenſten Kunſtdarſtellungen geweſen wären. Und wer ſich für Triſtan und Iſolde begeiſtere, der ſolle einmal wagen, Sibilla und Engelbert zu ſchmähen — — Er machte eine Kunſtpauſe, offenbar von der kühnen Neuerung, ſeinen Vornamen (ich kannte ihn bis jetzt gar nicht) mit einfließen zu laſſen, einen Effekt erwartend. Der arme Ferlani! Wie er ſich bemühte, ſeinen feurigen Worten durch einen ſehnſüchtigen Liebesblick 156 Nachdruck zu geben, bohrte ſich ſein verquerblickendes Auge anſtatt in mein Geſicht, in die neben mir ſtehende Zuckerſchale, was durchaus ſpaßhaft wirkte. Er fand, daß wir alle, alle grobe Lügner ſeien. Und ehe wir nicht das ſchauerlich ſüße Mitleiden, das wir für Triſtan und Iſolde fühlen, dem König Marke — — — „Aber wiederholen Sie ſich doch nicht, Engelbert Ferlani.“ Ich murmelte noch etwas von Tartüfferie und Sophiſtik, aber mir fehlte der Bruſtton der Überzeugung. Er fühlte das heraus, ſeine Stimme wurde leiſer, ein⸗ dringlicher, von triumphierendem Ahnen durchblitzt, förmlich pathetiſch. Der kluge und normale Menſch, behauptete er, wiſſe in ſeinen beſten, freieſten Stunden vollkommen, was gut und böſe ſei. Die geſunde Natur belehre ihn darüber. Was ſpräche man nicht alles heilig! Den natür⸗ lichen Gefühlen der Liebe aber dichte man einen Schwefelgeruch und einen Pferdefuß an und nenne ſie Laſter. Die Liebe aber ſei das Herz der Natur, der Wille zum Leben ſelbſt. Die Scheu und Scham vor dieſem ſüpremen Willen der Natur ſei doch nur wegen der Zuſchauer da. Wir lebten und handelten auf Applaus. Abſtrahierten wir einmal von den Zu⸗ ſchauern, von ihrem Beifall oder ihrem Ziſchen, wie würden wir dann handeln, Sibilla? wie dann? voraus⸗ 157 geſetzt, daß wir uns liebten — daß wir uns liebten, wiederholte er langſam. Er bückte ſich, um ein Scheit Holz in den Kamin zu werfen, und wie die Flamme aufloderte, vergoldete ſie ſeinen graugeſprenkelten Bart, ſeine kleinen ariſto⸗ kratiſchen Füße. Er war nicht mehr häßlich, aber gar nicht, auch nicht alt. Da ich nicht gleich ant⸗ wortete, benutzte er den günſtigen Moment, um mir zu beteuern, ich ſei ſo ſchön, ſo ſchön, und er liebe mich ſo ſehr, ſo ſehr, und „was wir von der Minute ausgeſchlagen, brächte keine Ewigkeit zurück;“ warum alſo den Tantalus ſpielen? Ein freiwilliger Tantalus wäre beinahe komiſch. Und wenn ich ihn nicht lieben könne, wie er mich liebe — er ſähe ein, das ginge nicht — ob das nichts wäre, gar nichts, einen anderen tief und unausſprechlich zu beglücken. „Wäre das nichts, Sibilla? Nichts Mein Herz klopfte. Einen anderen unausſprechlich beglücken! Ja, vielleicht wäre das wirklich nicht ſo ohne. Eine Art Neugierde in Betreff dieſer Liebe à la Samariterin ergriff mich. Der feurige Reflex der Kaminflamme traf die rote Zunge der Schlange, die zu lechzen ſchien nach dem Herzen in der weißen Bruſt der Sünde. Plötzlich trat Ferlani — der Ungeſchickte — unter eine elektriſche Flamme von ſechsundzwanzig Kerzen Stärke: ein Faun! Nein, ich hatte entſchieden keine Luſt ihn zu beglücken, und meine Neugierde in Betref dieſer Empfindung ſank zuſammen wie die Holzſcheite im Kamin. 158 Er wollte meine Hände ergreifen. Ich hielt ſie im Rücken, ſenkte die Augen und ſchüttelte den Kopf. — „Niemals, Sibilla? Niemals?“ fragte er leiſe. Ich ſchüttelte wieder und wieder den Kopf. Aber in mir war alles elektriſch geſpannt, hätte er meine Hand berührt — Funken wären geſprüht und — wer weiß — wer weiß —. Mit langſamen, ſchweren Schritten ging er hinaus, ſo unbeholfen, daß er im Vorübergehen das Stuckſche Bild von der Staffelei riß, ſo unbeholfen, daß er die Thür weit offen ließ. Und durch dieſe Thür, die er offen gelaſſen, kam Raphael. Ich fiel in ſeine Arme. Mein Muttichen, ja, wir haben uns heiß geküßt, mit elementarem Entzücken, ganz in purpurnem Glück. Wir ſaßen lange zuſammen, wortlos, Aug' in Aug', Hand in Hand. Um die Holzſcheite im Kamin hatte das Feuer langſam gezüngelt. Plötzlich aber hüllte es die großen Scheite in praſſelnde Umarmung, und die Flammen lohten. Er flüſterte nur ab und zu: mein! mein! Und ich empfand, daß ich ſein war, ganz ſein. Jauchzendes, Inbrünſtiges empfand ich und — ſeltſam — auch Gutes, Reines. Feuer, ſcheint es, iſt immer rein, wovon es ſich auch nährt. Übermorgen gehe ich zu ihm. Wir haben es verabredet. Ja, ich will ihm gehören. Wie kann ich Dir nur das alles ſagen! Aber ſiehſt Du, Einzige, ich muß es mir von der Seele 159 ſchreiben. Iſt es nicht eigentlich auch nur ſo ein an⸗ geſtammtes Gefühl, eine Gewohnheitsmeinung, daß die Tochter der Mutter — und in unſerm Fall einer ſo geliebten Mutter — nicht ſagen darf, was ſie etwa mit einer Freundin — meiſtens nur einer ſogenannten — ungeniert beſpricht? Nicht ein Vorurteilsreſt, der noch aus der Zeit ſtammt, wo die Kinder ihre Eltern „Sie“ nannten und in äußerlichem Reſpekt vor ihnen erſtarben? Freilich, Timäa, ſelbſt die Gehrt und alle andern auch, ſie würden indigniert ſein, wenn ſie meine Briefe an Dich läſen. Die andern ſind eben die andern. Ich aber bin ich und Du biſt Du. Das heißt, Johanna Dalmar und Sibilla Dalmar laſſen ſich nicht erſchöpfend in den allgemeinen Begriff Mutter und Tochter zwängen. 29. Oktober. Geſtern war's, und bis morgen — lange, lang' iſt's bis dahin, und zwiſchen Lipp' und Kelchesrand läßt ſich viel — ſinnen und denken. Ich muß immerzu an Dich ſchreiben, Mutti. Ich bin ſo unruhig im Gemüt. Die meiſten Menſchen machen wohl bewußt oder unbewußt, insgeheim oder vor aller Welt alle möglichen widerſpruchsvollen Denk⸗ und Gefühlsſtadien durch. Bald lauſchen ſie dem Sirenengeſang aus der Tiefe, der ſie hinabzieht, bald den Harfentönen aus der Höhe, die ſie emporheben. Ganz fauſtiſch. Der uralte Kampf zwiſchen Himmel und Hölle. Wir Tartüffes verſchweigen nur meiſtens die Hölle, den Himmel aber poſaunen wir aus. Ich habe Stimmungen — alle andern werden ſie wohl auch haben — woedas triſteſte aller Worte: „L'homme 160 machine“ mir das einzig Richtige erſcheint, und Worte wie Tugend, Entſagung, Pflicht, mir hohl und leer klingen, ein auswendig gelernter Katechismus, da wir ja doch in fünfzig Jahren alle tot ſind, und das mit der Menſchheit auch nur eine Phraſe iſt und nur der Menſch — was in dieſem Falle ich bin, in Betracht kommt, das Wohl und Wehe des Einzelnen. Warum aber immer nur das Wehe? Ich weiß mit abſoluter Sicherheit, meine Natur iſt gut. Alles ſittlich Häßliche und Gemeine ſtößt ſie ab. Selbſt in meinen höllenmäßigſten Augenblicken könnte ich nichts Schlechtes, nichts wirklich Schlechtes thun, aus Inſtinkt nicht. Bosheit, Ungerechtigkeit, jede Art von Niedertracht empören mich. (Herr Gott, ſagte nicht Mephiſto Ferlani Ähnliches? Und nun iſt es doch dieſelbe Natur, die mich ſo zaubergewaltſam hindrängt zu ihm, meinem Sonnen⸗ gott. Und das ein böſer Trieb? eine Schuld, eine Schande? Was wollen wir denn? in ſüßer Extaſe einer des anderen ſein? Und Benno? Ach, Unſinn! Ich war nie ſein Weib. Wir ſollen mit unſeren Handlungen unſeren Nächſten nicht ſchädigen. Würde ich Benno ſchädigen? Er behielte alles, was ich ihm zu geben im ſtande bin. Die Ehe heilig? Eine heilige Ehe mit einem ſo Unheiligen, wie Benno iſt! Gott, wie würde es ihn ſelbſt genieren, wenn etwas Heiliges mit ihm zuſammenhinge. Er würde gar nicht mehr wagen, unter dem Siegel der Verſchwiegenheit unanſtändige Anekdoten zu erzählen Ich kann die Ehe mit ihm nicht ernſthaft 11 161 nehmen, da ich doch den ganzen Menſchen nicht ernſt⸗ haft nehme. Warum ich ihn geheiratet habe? Vom Schuljungen bis hinauf zum greiſen Philoſophen weiß es doch ein jeder, daß die Ehe unſer Beruf iſt. Fand ſich in meiner Mädchenzeit einmal Herz zu Herzen, ſo ſprach doch die Vernunft des ausſchlag⸗ gebenden männlichen Teils, wegen mangelnder Mitgift, immer dagegen. Da nahm ich — um meinen Beruf zu erfüllen — was ſich mir bot. Ich konnte ja auch Deinen Benno recht gut leiden. Ehebruch! Breche ich denn eine Ehe? eine wahre Ehe? Kennſt Du das ſchöne Wort Nietzſches, das wie ein Pſalm klingt: „Ehe, ſo heiße ich den Willen zu zweien, das Eine zu ſchaffen, das mehr iſt, als die es ſchufen. Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe als vor den Wol⸗ lenden eines ſolchen Willens.“ Ja, das wäre vielleicht eine Ehe. Eine ſolche Ehe, ich und Benno? Wer lacht? ich. Ob man nicht in hundert Jahren vielleicht unſere Auffaſſung der Ehe, die das Weib zu lebenslänglicher Hingabe an ein beſtimmtes Individuum verpflichtet, als ſchamlos, als eine Vergewaltigung der Natur brand⸗ marken und als einen Nonſens verlachen wird? und ob Phyſiologen nicht entdecken werden, daß die ſolchen Zwangsehen entſproſſenen Kinder inferior organiſiert ſein müſſen? Und ob nicht die Anſchauung, daß junge, ſtarke und blühende Liebestriebe guter und wiſſender Menſchen zu unterdrücken ſeien, dem Spott verfallen wird, wie jetzt etwa die Meinung, als dürfe man den 162 phyſiſchen Durſt nur mit einem beſtimmten Getränk löſchen, etwa mit Weißbier, das mir vielleicht widerſteht, beſonders wenn Champagner daneben ſteht. Der gute und intelligente Menſch weiß in ſeinen beſten Momenten vollkommen, was er darf und was er nicht darf. Und ich darf, Mutti, ich darf. (Gott, das ſind ja wieder Ferlanis Gedanken. Denke ich ihm etwa nach, dem Mephiſto?) Und habe ich denn auch wirklich jetzt gerade meine beſten, intelligenteſten Momente? Ich merke ſchon, ich thu's gewiß wieder nicht. Ich weiß ja, ich komme niemals an die Reihe. Um gegen den Strom zu ſchwimmen, muß man ſtark ſein, Muskeln von Stahl haben. Und die meinen? — Zwirnsfäden ſind's. Ich käme bei ſolchen Schwimmverſuchen immer gleich auf den Grund. Ach — und da iſt auch wieder mein Ge⸗ ſpenſt: Ella Ried. Daß ſie mir doch immer — — aber Mutti, ich ſage ja nicht, „in die Suppe ſpuckt“, ich be⸗ gnüge mich mit einem klaſſiſchen Citat — — da iſt das Citat meinem Gedächtnis entfallen, aber es war aus Fauſt. Alle Philoſophen beſtätigen die Unfreiheit des menſchlichen Willens. Es wird alſo wohl ein Schick⸗ ſalsmuß ſein. daß ich immer hübſch philiſterhaft auf der Landſtraße bleibe. Und links ab winkt Waldes⸗ grün und Vogelſang, und rechts ein poetiſcher See mit Waſſerroſen. Immer vorüber — auf der Landſtraße Alles in mir ſträubt ſich gegen dieſes Müſſen. Nun gerade nicht! wie die Kinder ſagen, wenn ſie trotzig ſind. Ich will⸗mir ſelbſt beweiſen, daß mein Wille frei iſt. 11* 163 Als ich meine Unehe einging, habe ich doch kein Ent⸗ haltſamkeits⸗Gelübde gethan. Angſtige Dich nicht, Mutti. Was riskiere ich denn? Es iſt keiner da, der mich hinterher um⸗ brächte. Abends um 11. Ich nehme noch einmal die Feder. Ich werde die Gedanken nicht los, die blaſſen. Verſchiedene innere Stimmen in mir liegen ſich — um ein paſſendes Bild zu gebrauchen — in den Haaren. Ganz Gretchen im Fauſt. Erſte Stimme (tief und kirchenglockenartig). Nur keine Untreue! Sünde iſt's, Seelentod. Zweite Stimme (hoch und kichernd): Ach was! Treue oder Untreue! über allem Zauber — Liebe. Dritte Stimme (müde und ernſt): Und alſo ſpricht die Vernunft: Alles Unſinn! In fünfzig Jahren ſind wir alle tot. Und ehe man nicht den Tod aus der Welt ſchafft, iſt alles andere Blech! Blech! Blech! Nur der Schlaf iſt nicht Blech, den ich jetzt ſchlafen werde. Gute Nacht, ſüße Mutter. Mitternacht. Ich bin wieder aufgeſtanden, ich kann nicht ſchlafen. Carteſius ſtellt den Satz auf: „ich denke,“ das heißt „ich bin.“ Ich möchte umgekehrt ſagen: „ich denke,“ das heißt „ich bin nicht.“ Vor dem Denken, dem wirklichen, wurzelhaften, verſchwindet meine Per⸗ ſönlichkeit wie in eine Verſenkung. Ich denke mich fort aus meiner Haut, aus meinem ſündigen Leib, und mein Ich treibt hinab in den großen Ozean, in den alles mündet, und darüber ſchwebt als einſamer Stern: das Denken. 164 So lange ich denke, lebe ich nicht bewußt genießend, und lebe ich, ſo denke ich — leider — meiſtens nicht. Habe ich nicht geſtern gelebt? ein paar Minuten — intenſiv — in wahrer Seelenſeligkeit gelebt? Meine Freunde, und meine Feinde erſt recht, be⸗ mühen ſich immer mit ſo viel Witz und Phantaſie, mich zu definieren. Die ſelbſtverſtändliche Sphynx reicht wegen ihrer Abgedroſchenheit für dieſen Zweck nicht aus. Ferlanis Definition: Sibilla hat Eigenſchaften wie die Zweige eines Baumes in Indien, die polypen⸗ artig alles feſthalten, was ſie ergriffen haben, darum thut man gut, in einem weiten Bogen um den Baum herumzugehen. Gregori: Sibilla iſt eine Pflanze mit einer Fülle von Blüten auf einem dünnen Stengel nnd einer kranken Wurzel. Darum fallen die Blüten ab, ehe ſie Früchte angeſetzt. Timäa: Sibilla iſt eine Danaide mit dem be⸗ kannten lecken Faß; die ſchöpft und ſchöpft, und das Faß bleibt leer. Es iſt alles, alles nicht wahr. Ich bin ein mittag⸗ heller Verſtand mit einer verwaſchenen, dämmernd romantiſchen Seele, das bin ich. Das heißt: eigent⸗ lich bin ich gar nichts. Nichts Romantiſches, nichts Schwingendes und Klingendes iſt in mir, wie in den Generationen, die vor mir waren und die für Byron und Schiller ſchwärmten, nichts von der ſublimen Nüchternheit und Einfachheit, die vielleicht im 20. Jahr⸗ hundert ſein wird. Gallertartig fließe ich auseinander. 165 Ein triſtes Übergangsgeſchöpf bin ich. Ich weiß eigent⸗ lich auch immer ganz gut, was ich zu thun und zu laſſen habe. Ich thue aber das Eine nicht, und das Andere laſſe ich nicht. Warum? Weil ich Sibilla Dalmar bin, weil Du meine Mutter biſt und Franz Dalmar mein Vater war. Du weißt ja das alles von der Erb⸗ lichkeit, Erziehung u. ſ. w. Ich bin ein paſſiv indolenter Menſch mit dem Temperament der Aktiven. Alles iſt intermittierend bei mir: der Hochſinn, der Blödſinn, die Intelligenz, die Dummheit, die Tugend, das Laſter. Eine Bohémienne des Geiſtes bin ich. Ob morgen das Laſter, das ſo⸗ genannte, an die Reihe kommen wird? Ich bin ſelber am neugierigſten. Daß einem die einfachſten Dinge doch ewig un⸗ möglich ſind. Ich denke oft darüber nach, ob wir Menſchen im allgemeinen, und Sibilla Dalmar im ſpeziellen nicht fauſtdicke Narren ſind, die das Leben mit lauter Feſſeln ſo verbarrikadieren, bis jede ſpontane Bewegung unmöglich wird. Wer leicht iſt, kommt auch leicht über einen Sumpf. Ich bin nicht leicht genug, ſchleppe ſo viel Gedanken mit, ſchwere, laſtende. Mutti, Nachdenken hilft ja kein bißchen, und friſcher Mut iſt tauſendmal mehr wert, als die feinſte Philo⸗ ſophie. Ferlani hat recht. Ein freiwilliger Tantalus iſt beinahe komiſch. „Was Du von der Minute aus⸗ geſchlagen, bringt keine Ewigkeit zurück.“ Die ſcheuß⸗ liche Schlange auf dem wildſüßen Stuckſchen Bilde iſt ein maleriſcher Effekt, nichts mehr. 166 O, Mutti, nicht ſo traurig blicken. Du haſt's ja nie gekannt, dies drängende, irre, wilde Sehnen, das jede Fiber ſchwellt. — Er iſt ſo ſonnenhaft ſchön. Fürchte nichts. Ich bin nicht Hero, er nicht Leander, und die Waſſer ſind nicht tief, im Gegenteil flach — flach. Mutter, liebe Mutter, ich will mir auch einmal was zu liebe thun. Meine Seele ſoll nicht wiſſen, was meine Sinne, was mein Herz thun, wie beim Wohl⸗ thun die Linke nicht wiſſen ſoll, was die Rechte thut. Was geht das mich — mich als Seele gedacht - eigentlich an, was Körper und Sinne thun? Daß Seele und Leib verſchiedene Wege gehen, ich kann nicht dafür. Still, liebe Seele, ſtill, ich habe ſchon ſo viel für Dich gethan, und ich will ſpäter noch viel mehr für Dich thun. Aber nur morgen quäle mich nicht, nur morgen nicht. Laß den Sinnen ihren Feſttag. Mitternacht! Huh! Zu Bett! Dieſe Selbſtgeſpräche werden Dir ſchwerlich jemals zu Geſicht kommen. 30. Oktober. So, liebe Mutter. Vorüber iſt er, der kritiſche Tag. Die geſtrigen Gedanken noch einmal denkend, zog ich mich in der Dämmerſtunde zweckentſprechend an. Braunwollenes Gewand, dichter Schleier, düſtere, herzklopfende Entſchloſſenheit. Ich gehe zu dem nächſten Droſchkenſtand, nehme einen Wagen, ſage dem Kutſcher Straße und Hausnummer, und drücke mich in die Wagenecke. Wie der Kutſcher ſchon auf dem Bock ſitzt, beugt er ſich noch einmal nach dem Wagenfenſter herunter, und erſucht das drinſitzende Fräule, ihm noch einmal Straße und 167 Nummer zu nennen, aber a bißle lauter, er höre ſchwer. Einige andere Kutſcher und eine Gruppe von Leuten ſtanden in Hörweite. Ich ſollte die Adreſſe heraus⸗ ſchreien! Nicht um alles in der Welt. „Nach dem eng⸗ liſchen Garten“ ſtieß ich zornig hervor. Am Eingang des Parks ſtieg ich aus und ſchlug meinen Lieblingsweg ein, am Opheliabach entlang. Ein Thränchen hing in meinen Wimpern. War es Enttäuſchung, Zorn, Rüh⸗ rung oder allgemeine Wehmut über alles und nichts — ich weiß es ſelbſt nicht. So hatte ich nun doch gemußt! nämlich tugendhaft bleiben. Wäre der Kutſcher nicht ſchwerhörig geweſen, ich läge jetzt in ſeinen Armen. Das eintönige, ſanft⸗ wiegende Läuten der Abendglocken klang zu mir her⸗ über, ſo klarer Frieden, ſo labende Friſche um mich her. Nuf einer Bank ſaß eine arme Frau mit einem Kinde, das ſie an ſich preßte. Ganz elend und verhutzelt ſah ſie aus. Ich ging achtlos an ihr vorüber. Als ich ſpäter noch einmal an der Bank vorüber⸗ kam, beſtrahlte die untergehende Sonne das Geſicht der Frau. Nun hob ſie ſich wie in Glorie getaucht vom dunklen Grün der Bäume ab: Eine Mater doloroſa. Überraſcht blieb ich ſtehen. Ich gab ihr alles Geld, das ich bei mir hatte. Der Goldglanz der untergehenden Sonne funkelte an den Fenſterſcheiben der Häuſer, und aus dem wallen⸗ den, leiſe verglimmenden Feuer am Horizont ragte ein ſchwarzes Kreuz in die Luft — es ſtand auf dem Turm einer Kirche. 168 Es ging in mir etwas vor — wie ſoll ich ſagen etwas wie Gebet — Kindergebet. In immer weiterer Ferne verlor ſich Raphael. Und wie ich ſo dahinſchritt, kam allmählich eine milde Wohligkeit über mich. Wie gut es war, daß ich mich jetzt am kühlen Bach erholen konnte von all den inneren Kämpfen, die ich um ſeinet⸗ willen ausgeſtanden. O des beſeligenden Gefühls, rein geblieben zu ſein! — Wie? Und das ſage ich? denke ich? die Gattin meines Gatten? Ich bin gerade ſo dumm, wie die Zeitbegriffe ſelbſt den Klügſten machen. Aber Du biſt nun froh, Mutti? Um Deinetwillen iſt meine Freude echt. Der weiße Mond ſtieg hinter den Häuſern auf, als ich heimging. Sei ſicher, ich wiederhole dieſen Verſuch nicht, nie. Davon gefahren iſt Helios in ſeinem Sonnenwagen, für immer! immer! Ich fühl' mich Dein Kind, ganz Dein Kind, meine Sibilla. Mutter. 3. November. So, Mutti, da wären wir nun alſo in den Schoß der zwar nicht ſeligmachenden, aber doch bequemen Tugend zurückgekehrt. Raphael habe ich nicht wiedergeſehen. Ich blieb zwei bis drei Tage zu Hauſe, und ließ mich an den erſten beiden Tagen vier⸗ mal hintereinander vor ihm verleugnen. Da merkte er, daß es ſein Abſchied war. Acht Tage darauf war er nach Italien abgereiſt. Ade! ade, mein Phöbus Du! Ob ich es ſpäter einmal bereuen werde? chi lo sa! 169 Um in meinem Tugend⸗Eldorado unangefochten zu bleiben, habe ich beſchloſſen, der „monde“ den Rücken zu kehren, und teils gar nicht mit Menſchen, teils nur mit einfachen, braven Leuten, wie Zeltingers und ähn⸗ lichen zu verkehren, und nebenbei die Intimität mit Jolante zu pflegen. Übrigens mehren ſich die Zeichen der Zeit, daß nächſtens ein Umſchwung in der ethiſchen Welt bevor⸗ ſteht. Augenblicklich iſt zwar äußerſte Dekolletiert⸗ heit, Frivolität und das ſo ſehr verſchrieene Trüffelmus noch im Flor! Aber wer weiß, vielleicht ſchon in we⸗ nigen Jahren ſind Einfachheit, Keuſchheit und Suppen⸗ rindfleiſch (wenn es Rinderbruſt iſt, habe ich nichts dagegen) Mode. In England gilt ſeit jeher Religioſität für vornehm, darum bemüht ſich alle Welt, religiös zu thun, auch die dekadenteſte, und der fetteſte Bourgeois geht Sonntags mit dem Gebetbuch zur Kirche. Aber Moden ſind nur auswendig; ſie beeinfluſſen nur die Formen der Moral oder Unmoral, und Tartüffe ſchlägt ebenſo über die Stränge wie Don Juan. Ich aber möchte mich von innen heraus um⸗ formen. Siehſt Du, Mutti, mit einem Male habe ich eine Sehnſucht nach Altmodiſchem, nach Reinem und Kleinem, von aller Moderne Unbelecktem. Ich glaube ja eigentlich von ganzem Herzen an eine wahre, ſchöne Ehe. Ich möchte einen Mann haben mit klaren, blauen Augen und ohne Bart. In 170 ſchöne goldene Bärte verliebt man ſich ſo leicht. Sein Haar müßte etwas lang geſchnitten ſein, wie auf den Chriſtusbildern. Und Profeſſor müßte er ſein, ein ſehr gelehrter. Und ſanft von Gemüt und naiv wie ein Kind will ich ihn, einen Menſchen will ich, dem ich die Hände küſſen möchte. Von Politik und allem Parteihader weiß er nichts. Er lebt im großen Weltall. Berlin oder München iſt ihm viel zu klein. In einer kleinen Stadt, in Thüringen etwa, würden wir wohnen, in einem Häuschen vor dem Thore, mit einem Garten und einer breiten Linde vor den Fenſtern. Die Möbel: dunkles Mahagoni, grüne Vorhänge vor den Bücherſchränken, und von der Decke hängt eine Ampel auf den runden Tiſch nieder. Vor den Fenſtern — Blumen. Über den Blumen ein Dompfäffchen. Und morgens, während das Dompfäffchen dazu pfeift, tränken wir an dem runden Tiſch unſern Kaffee aus einer Kaffeemaſchine, obwohl der Kaffee aus einer Maſchine nicht ſchmeckt, es macht ſich aber ſo gemüt⸗ lich. Und ich hege und pflege mein Kind von Mann, bin nichts als eine ſorgende Hausfrau. Er dürfte ſogar ein Pfeifchen ſchmauchen, das ich ſonſt nicht ertrage. So ein fröhliches, ernſtes, reines Leben in feiner Stille, das möchte ich leben, mit einem Hauch von Wehmut darüber. Ob ich den Mann je finden werde, dem ich die Hände küſſen möchte? Alſo eine biedere und gediegene Geſelligkeit wollte ich. Den⸗Profeſſor Kruſen hatte ich nie aufgefordert 171 ſeine Frau bei mir einzuführen. Ich kenne ſie von der Straße her. Sie hat eine miſerable Schneiderin. Jetzt machte ich ihr zuerſt einen Beſuch. Sie erwiderte ihn umgehend, und einige Tage darauf erhielten wir ein Billetchen, das uns zu einem Diner einlud. Sie habe nicht mit Karten eingeladen, erklärte mir die Frau Profeſſor ſpäter, weil die Gäſte dann Fiſch erwarteten. — Allerliebſt, ſolche bonmots, nicht? Wir trafen bei Kruſens einige Profeſſoren, Künſtler, Beamte und lauter Damen in hoher, ſchwarzer Seide, mit großen Brochen und Uhrketten. Faſt alles Leute ohne Welt und Routine. Aber, mein Gott, was thut denn das? Schwarze Meſſer und Gabel und Kalbs⸗ braten, ſo recht gemütlich einfach. Mit den Männern habe ich mich gut unterhalten. Die Damen freilich — aber mein Gott, eine Unterhaltung über Dienſt⸗ boten, Fleiſchpreiſe, Kinderernährung u. ſ. w. kann doch menſchlich und nationalökonomiſch ganz inter⸗ eſſant ſein. Das Mädchen, das ſervierte, kicherte über dieſe Geſchichten, benahm ſich aber ſehr freundlich, indem es mit einem: „Ich bitt' ſchön“ die Gäſte zu reichlichem Zugreifen animierte, und ſie auf die beſten Stücke auf⸗ merkſam machte. Ganz amüſant war es auch, als nach Tiſch eine Frau Geheimrätin ſich mir gegenüber ſehr mißbilligend darüber ausſprach, daß eine ebenfalls an⸗ weſende, aber einfache Frau Rätin ſich Meißner Porzellan — echtes — angeſchafft habe, was doch für ihren Stand nicht paſſe, während ſie ſelbſt — die Geheimrätin — 172 ſich erſt ſeit ganz kurzer Zeit ein Meißner Service bezähmt habe. Auch beſäße dieſe Nichtgeheime einen Waſchtiſch mit Marmorplatte, während ſie, die Geheime, mit einer Platte von geſtrichenem Holz, die allerdings wie Marmor ausſähe, vorlieb nähme. Benno behauptete, im Pudding wäre ein faules Ei geweſen. Und wenn ſchon. Mir iſt jetzt immer, als hätte ich Dir nichts mit⸗ zuteilen, Mutti. Eine gewiſſe Leere gähnt in mir. Gute Nacht denn. 13. November. Heut, liebe Mutter, hatte ich über Tolſtoi geleſen. Ich legte das Buch fort, ging in den Garten, nahm den Spaten und fing an zu hacken und zu graben. Ich wollte auch arbeiten, ich wollte auch froh und ſtark werden wie er; denn, ſagte ich mir, die moraliſche Läuterung muß Hand in Hand gehen mit der hygieniſchen. Der Gärtner kam dazu. Er war unzufrieden mit meiner Graberei; ich machte ihm nur doppelte Arbeit. Da haſt Du's. Sich mit Seele und Körper brav ver⸗ halten und dadurch Schaden anſtiften, das geht doch auch nicht. Eine große muſikaliſche Soirée bei Zeltingers. Sie hatten nach der Verheiratung ihrer Tochter eine kleinere Wohnung genommen. Die hatten ſie nun für die Ge⸗ ſellſchaft ganz ausgeräumt, und anſtatt der Möbel ſechs⸗ undvierzig Perſonen hineingezwängt. „Von achtund⸗ vierzig Einladungen nur zwei Abſagen,“ klagte mir Frau Zeltinger. 173 Benno wird Protz. Er erzählte nachher Timäa, daß eine Fülle der unbekannteſten Menſchen dort ge⸗ weſen, und eine Hitze und eine Luft in den drei kleinen Löchern! In dem einen Loch hätten auf einem ſteifen Renaiſſanceſofa an der Mittelwand lauter ſchwarz⸗ ſeidene Damen gethront, wie eine Art entſchleierten Fehmgerichts: eine Geheimrätin, eine Reichsrätin und eine Medizinalrätin. Die Schülerinnen des Profeſſor Zeltinger hätten, in roſa und himmelblau, mit kreiſchigen Stimmen und obligater Leidenſchaft (ſie wollen meiſtens zum Theater) teils ſüße, teils wildbewegte Lieder ge⸗ ſungen, und ein Herr hätte einen ſelbſt komponierten Geſang vorgetragen mit ſehr ausdrucksvollen Backen⸗ knochen und der Verſicherung, daß das Lied noch nicht einmal niedergeſchrieben ſei, was ſeinen Wert jedenfalls erhöhen ſollte. Nach Tiſch wurden allerhand harmloſe Scherze getrieben; z. B. mußte ſich ein Herr behuf eines Experi⸗ ments auf eine Flaſche ſetzen, die leider unter ihm zer⸗ brach. Er gab aber gleich die beruhigende Verſicherung, daß er ſich keine edleren Teile verletzt habe. Mutti, ſoll ich es Dir geſtehen, neulich, bei einem Abendeſſen in dieſen Kreiſen, überkam mich plötzlich eine förmliche Sehnſucht nach etwas Weltlichem, Flottem, Pikantem, ich möchte beinahe ſagen Unſäuber⸗ lichem. Das ſind ſo Rückſchläge, werde ſie ſchon über⸗ winden. Deshalb fuhr ich auch geſtern zu Jolante. Sie lag mit einer leichten Influenza im Bett. Ich traf eine Vorſtands⸗Dame des Wohlthätigkeits⸗Vereins 174 bei ihr, die eben im Begriff war, einige Recherchen bei armen Leuten vorzunehmen. Schnell entſchloſſen, bot ich mich an mitzugehen. Wir fuhren mit der Pferdebahn — ich fahre ſonſt nie in Pferdebahnen — in eine weitentlegene Straße, deren Namen ich nie gehört habe. Die Familie, der unſer Beſuch galt, beſtand aus einer von ihrem Manne verlaſſenen Frau und drei Kindern. Meine Begleiterin hatte über die Frau allerlei Verdächtiges in Erfahrung gebracht. Durch den Thorweg eines vielſtöckigen, triſten, arm⸗ ſeligen Hauſes traten wir in einen von Seiten⸗ und Hintergebäuden eingeſchloſſenen engen Hof. Die Familie, um die es ſich handelte, wohnte im Keller. Die Keller⸗ fenſter waren in halber Höhe, wohl zum Schutze gegen den eindringenden Regen, mit einer Holzbarriere ver⸗ ſehen. Wir ſtiegen mehrere Stufen in den Kellerraum hinab. Eine dumpffeuchte Luft ſchlug uns entgegen. So dunkel war es in dem ziemlich großen Raum, daß ich einige Zeit brauchte, ehe ich die Gegenſtände unter⸗ ſcheiden konnte. Alles war ordentlich aufgeräumt, bis auf ein Bett, das mit ſeinen durcheinandergeworfenen Kiſſen ausſah, als hätte ſich eben jemand daraus er⸗ hoben Eine bleiche, junge Frau kämmte einem etwa zehnjährigen Mädchen das Haar. Kein „Grüß Gott empfing uns. Die Frau hatte uns augenblicklich über den Hof kommen ſehen und empfand unſern Beſuch als Be⸗ läſtigung. Auf die Frage meiner Begleiterin nach ihrem Befinden, antwortete ſie unwirſch: „Nicht gut. 175 Etwas Feindſeliges blitzte dabei in ihren Augen auf. Noch zwei andere Kinder befanden ſich im Zimmer. Alle drei ſahen ſkrofulös aus, und die Geſichter trugen einen ſtumpfen, griesgrämigen Ausdruck. Das eine hatte verbundene Ohren. „Sie ſind wohl eben erſt aufgeſtanden?“ fragte etwas ſcharf meine Begleiterin. Ein kaum hörbares „Ja“ kam von den Lippen der Frau; auf alle weiteren Fragen antwortete ſie mit einer ärgerlichen Ungeduld und einem Ausdruck, als wünſchte ſie uns zum Teufel. Plötzlich vernahmen wir vom Bett her einen leiſen, wimmernden Ton. Eine dunkle Röte ergoß ſich über das Geſicht der jungen Frau. Die Dame trat ſchnell an das Bett heran und ſchob die Kiſſen beiſeite. Ein Kindchen, kaum vierzehn Tage alt, kam zum Vorſchein, ein hübſches Kind mit roſigen Bäckchen und blauen Augen. Mit einem ironiſchen „Ach ſo,“ wendete ſich meine Begleiterin zu der zitternden Frau. Daß ſie ſelbſt⸗ verſtändlich jetzt auf keine Unterſtützung mehr rechnen könne, dürfte ihr bekannt ſein. Einen unmoraliſchen Lebenswandel noch förmlich zu belohnen, ſei gegen die Statuten. Auch würde ſie dafür Sorge tragen, daß man die älteſte Tochter dem ſchlechten Einfluß der Mutter entzöge, und ſie in einem Waiſenhauſe unter⸗ bringe. Die arme Frau bezähmte mühſam ihre Wut und ziſchte zwiſchen den Zähnen: ſie könne ſich und ihre Kinder nicht allein ernähren, darum habe ſie es gethan, darum — er gäbe doch etwas zum Leben zu. 176 Ich drückte ihr, als wir gingen, heimlich zehn Mark in die Hand — „gegen die Statuten“. Privatwohl⸗ thätigkeit wird nicht gern geſehen. Man ſoll das Geld den Vereinen geben. Nur widerwillig folgte ich meiner Gefährtin in eine andere Wohnung. Hier kletterten wir vom Hof aus vier Stiegen empor und traten in ein enges Stübchen. Ein abgezehrter Mann lag auf einem Strohſack im Bett. In ſeinen beſten Stunden, erfuhr ich, ging er mit Streichhölzern hauſierend in den Kneipen umher. Zwei welke, kleine Mädchen ſpielten in dem ſchmutzigen Raume. Das größere wäre wohl im ſtande geweſen, die Kammer auszukehren. Die Frau hatte einen Scha⸗ den am Bein. Sie ſtand vor dem eiſernen Ofchen, das eine wahnſinnige Hitze verbreitete, und kochte einen Kohl, das Mittageſſen der Familie. Und in dieſer gräßlichen Luft leben vier Menſchen Tag und Nacht. Sie öffnen das Fenſter nicht, um die Wärme zu konſervieren, den Schmutz beſeitigen ſie nicht, weil er ſie nicht be⸗ läſtigt. Mann und Frau waren ganz demütige Unter⸗ würfigkeit uns gegenüber. Die kleine, vierjährige Marie, mit einem ſüßen Geſicht und großen blauen Augen, mußte als Zeichen ihrer Bravheit ein frommes Gedicht herunterleiern. Bei der zweiten Strophe fing das Kind bitterlich an zu weinen, ich weiß nicht, warum. In der Folge ſtarrte ſie mich immer an, und einmal kam ſie dicht zu mir heran, ſtreichelte meinen Pelz, legte das Bäckchen darauf und ſagte: „ſo ſön, ſo ſön“ und fragte, 12 177 ob das Ännchen jetzt auch einen ſo ſchönen Pelz im Himmel habe. Das Annchen, eine Schweſter, war vor drei Wochen im Krankenhauſe an der Abzehrung geſtorben. Mit Mühe bekämpfte ich während der zehn Mi⸗ nuten, die wir da oben blieben, ein Unwohlſein. Als wir die ſchmale Treppe zur Hälfte hinabgeſtiegen waren, ſah ich mich noch einmal um. Und da ſtand auf der oberſten Stufe das Kind und ſtarrte mir nach. Ein Schreck durchfuhr mich. Die Blicke des Kindes klam⸗ merten ſich förmlich an mich, eine ſo tödliche Bangig⸗ keit, eine ſo furchtbare Traurigkeit lag darin. Es war, als ginge ein Befehl von dieſen Augen aus. Ich ſtand einen Augenblick unſchlüſſig. Dann ging ich zurück und drückte dem Kinde ein Goldſtück in die Hand. Es entfiel dem halbgeöffneten Händehen und rollte mir nach mit einem ſo dumpfen eigentümlichen Klang. Nein, dieſe Form der Wohlthätigkeit iſt gewiß nicht die richtige. Almoſen, das die Empfänger erniedrigt und verheuchelt und den Gebenden ein böſes Gewiſſen macht. Ich werde dieſe inbrünſtig ſich anklammernden Blicke der kleinen Marie nicht ſo bald vergeſſen. Sie gehen mir nach wie ein ſtummes Drohen. Gute Nacht für heut. 20. November. So, Mutti, nun hätte ich auch eine brave, gediegene Geſellſchaft in meinem eigenen Hauſe hinter mir. Ich mußte mich doch für die vielen Einladungen, die ich erhalten und angenommen, revanchieren. Eigentlich hatte ich mich vor dieſer 178 Geſellſchaft etwas gefürchtet. Ich dachte, ſie würde gräßlich werden, muß aber zu ihrem Lobe ſagen, daß ſie nicht viel gräßlicher verlief, als ich erwartet hatte. Von den Gäſten behaupteten zwar viele, es wäre zu nett geweſen. Aber der Gaſt iſt lügneriſch. Die jungen Mädchen waren nicht hübſch. Und dann Frau Kruſen, die ich nicht leiden kann, und einige andere, die ich auch nicht mag, und eine jüngere Dame, die böſe war, weil ſie neben den alten Zeltinger placiert war, und eine ältere Dame, die auch böſe war, weil ſie nicht neben Profeſſor Kruſen ſaß. Und er, Zel⸗ tinger, der, als eine junge Dame ſang, fragte, ob das eine Ziehharmonika ſei; und eine ältliche Reſpektstante, die ſitzen blieb. Ich hatte alles vorausgeſehen. Und Kruſens, die einen Wagen beſtellt hatten, aber erſt — um ein Uhr. Das hätte beinahe dem Faß den Boden ausgeſchlagen. Aber erſt eine Ohnmacht, die mich am anderen Abend in einer anderen Geſellſchaft anwandelte, ſchlug ihn wirklich aus. Was die Ohn⸗ macht veranlaßte? Erſtickend heiße Gaßluft und Lange⸗ weile. Mutter, liebe Mutter, mein Experiment iſt miß⸗ glückt. Ich kehre reuig in den Schoß meiner „monde“ zurück, wenn ich auch weiß, daß es dort auch nichts ſein wird, erſt recht nichts. Ich weiß nicht, ob der Menſch aus Gemeinem gemacht iſt, das aber weiß ich, daß er die Gewohn⸗ heit ſeine Amme nennt. Nein, Mutti, auch in dieſen ſoliden bürgerlichen Kreiſen kennt man Herzenseinfalt, Natürlichkeit und Seelenhaftigkeit nicht. Markt der 12* 179 Eitelkeit hier wie dort! Nur fehlt hier der entrain, der Esprit, wenigſtens bei den Frauen, und alles iſt ſpießrig. Mir iſt wie einem Fiſchlein, das längere Zeit im Trocknen gezappelt hat und nun wieder in ſeinem Ele⸗ ment munter weiter ſchwimmt. Liebe Mutter, ich kann nun einmal in meinen Kreiſen nicht anders leben als die andern. Nur wer mitraucht, kann ein Zimmer voll Cigarrendampf ver⸗ tragen. Und ich rauche mit, ich dampfe, ich qualme, ich erſticke. Übrigens habe ich mir das Erſticken viel unangenehmer gedacht. Nach der langen Geſellſchafts⸗ ſperre amüſiere ich mich wieder. Taumel, Rauſch, Ge⸗ ſellſchaft auf Geſellſchaft, Koſtüm auf Koſtüm, und ſelbſtverſtändlich der Triumphwagen wieder vollbeſpannt, alles in dem alten Geleiſe. Weit hinter mir liegen die ſchwarzen Meſſer und Gabeln, die falſchen Haſen, die alten Herren, die einem auf die Schulter klopfen und die öde, courmacher⸗ loſe Zeit. Ferlani iſt wieder da und Born und alle die an⸗ dern auch. 5. Dezember. Geſtern ſtürzt Timäa ganz ver⸗ zweifelt zu mir herein. Sie giebt eine Rieſenſoirée, hundert Perſonen, und ſie findet es geradezu haar⸗ ſträubend, was für Zuſagen einlaufen. Leute, die ihrer Meinung nach in tiefer Trauer ſind, Leute, die Welt und Geſellſchaft haſſen, Leute, die eigentlich gar nichts zum Anziehen haben, alles kommt. Und ſie hatte ſo auf die Decimierung durch die Influenza 180 gerechnet, die hier jetzt in Blüte ſteht. Und dazu hat ſie täglich Komiteeſitzung. Es wird wieder eine unge⸗ heure Radau⸗Bazarſache in Scene geſetzt, im Koſtüm. Ich mußte lachen, als ſie mir ſchilderte, wie der Kakao den Platz vorm Thee haben wollte, und der Thee ſpitzig erklärte, was für den Kakao nicht gut genug ſei, wolle er auch nicht, worauf der Kakao mit innerer Erregung und ſehr blitzenden Augen um ſeine Ent⸗ laſſung bat. Ich ſollte mich durchaus am Bazar beteiligen. Ich refüſierte. Dazu, Ihr lieben Leute, bin ich zu eitel und zu friedliebend. Weiß ich doch von früher her, welchen Anblick dieſe Damen allabendlich nach ihrem Achtſtundentag ſchwerer Arbeit gewähren: grau, übernächtig, ſchweißtriefend, mit ausgegangenen Locken. Und halb München pflegt dann am Tage nach der Schließung des Bazars mit Migräne im Bett zu legen, und — verzankt zu ſein. Denn bei dieſer Schlacht auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit giebt es immer viel Verwundete, und wohl auch ein paar Tote. Übrigens eine Abſage von Bedeutung hatte Timäa doch zu verzeichnen: Frau Bürgens. Sie iſt in Trauer, natürlich in ſehr kleidſamer. Ihre Schneiderin, die auch die meinige iſt, hat mir anvertraut, Frau Bürgens hätte ſich für das Trauerkleid auf einen beſtimmten Schnitt kapriziert, der ihre Figur möglichſt ſtraff heraus modelliere. Sie hatte ihren kränkelnden Mann nach Wien ge⸗ ſchleppt, anſtatt an die Riviera, wie die Ärzte es ver⸗ 181 langten. Wien lag ihr aber am Herzen. Dort wollte ſie ihre Tochter mit irgend jemand — irgend jemand war natürlich Graf — verheiraten. Der arme Bürgens iſt in Wien geſtorben und, was das Betrübendſte iſt, vergebens geſtorben. Der gräfliche Schwiegerſohn war inzwiſchen wegen Nahrungsſorgen nach Kamerun ge⸗ gangen. Die Witwe trauert tief, es iſt gar nicht zu ſagen, wie tief. Thürklinken ſchwarz umwickelt, Kutſcher raben⸗ ſchwarz, Pferde große ſchwarze Kokarden, Schleier un⸗ durchdringlicher Krepp. Sie läßt ſich zum Eſſen zwingen oder wenigſtens die Nachricht dieſer erzwungenen Mahl⸗ zeiten verbreiten. Ich muß zur Schneiderin. In dieſen Kreiſen gehen alle Damen immer ausgeſchnitten — und wie tief! Ich muß mir, weiß Gott, noch ein altes Kleid ein bißchen unanſtändiger richten laſſen, ſonſt halten ſie mich für unerlaubt anſtändig — und das will man doch auch nicht. 10. Dezember. Das Feſt bei Timäa war, wie ſolche Maſſenzuſammenkünfte zu ſein pflegen: Toiletten⸗ pracht, Schmuck, Puder, Kerzenglanz, Hyazinthenduft, Flirt und Gedränge am Büffet, buntes Allerlei. Entſetzen erregte die Gehrt, die außer einem Schön⸗ heitspfläſterchen gar wenig anhatte und ein ungeheuer liebevolles Weſen entwickelte. Die lade ich nie mehr ein. Nicht wegen der etwas welken Nacktheit, ſondern — überhaupt. Ich mag ſie nicht, ſie paßt mir nicht, und ich ſehe nicht ein, warum ich mit den Leuten umgehen ſoll, bloß weil ſie wollen. 182 Einmal mußten wir aber doch wieder über ſie lachen. Es fragte ſie jemand, ob ſie Kinder habe. „Ja, ein Töchterchen.“ „Nur eins?“ bedauerte man. Die Gehrt: „Natürlich, man verheiratet ſich doch nicht, um Kinder zu kriegen. Köſtlich das Wort, nicht? Und allen dieſen Damen aus der Seele geſprochen. Frau Charling, die elegante, komteſſenhafte wieneriſche Pariſerin, war nicht eingeladen worden. Denke Dir, Mutti, dieſe Charling, die erſt nach längerer Beanſtandung von uns acceptiert worden iſt, nimmt ſich heraus, erſt eine zuſammengewürfelte Pack⸗ geſellſchaft — zu der auch wir gehörten — zu geben, und zwei Tage ſpäter eine feine Ariſtokraten⸗Geſell⸗ ſchaft. Die Packgeſellſchaft ſtrikte zum großen Teil, ich auch. Wenn ich mich amüſiere, dann bin ich gar nicht ſo. Aber, wenn ich mich noch obendrein langweile, nein, dann mache ich die ſittliche Ent⸗ rüſtung mit. Bei Timäa wurde mir ein intereſſanter junger Livländer vorgeſtellt, Hely von Helmſtröm, uraltes Adelsgeſchlecht, eleganter Weltmann, Gelehrter, ich glaube Hiſtoriker. Reizende Miſchung. Verwöhnter Liebling aller Haut-gont⸗Damen. Sollte ich ihn ein⸗ mal näher kennen lernen, ſo wird ſein Zauber wohl auch vor meiner unheilvollen, um nicht zu ſagen ver⸗ fluchten, Kritik verſchwinden. 15. Dezember. Nein, Mutti, nein, ich bin nicht gut, Du irrſt. Wenn alles geht wie ich will, wenn ich geliebt, umworben werde, wenn ich keine Kopfſchmerzen 183 habe und die Köchin nichts verdirbt, dann bin ich liebenswürdig, von einem univerſellen Wohlwollen für die Menſchheit durchdrungen. Erfahre ich aber der Seele oder dem Leib Zuwideres, ſo werde ich hart, herb, hochmütig und habe eine förmliche Sucht, diejenigen zu kränken, die ich liebe. Tyrannentrieb. Und kaum habe ich meine Opfer in die Flucht gejagt, ſo locke ich die Fliehenden zurück mit einem Blick, einem lieben Billet⸗ chen. Warum thu' ich das? weil man von ſeinen Ge⸗ wohnheiten nicht loskommt. Ich mag meinen Thee nicht allein trinken. Ich bilde mir manchmal ein, daß ich für Einſam⸗ keit ſchwärme. Ich liebe ſie, aber nur en passant. Es ſcheint, ich genieße alles nur en passant: die Natur, die Liebe, Bücher, Geſelligkeit, überhaupt das ganze Leben. Heut war ich nach Tiſch ein wenig eingeſchlummert, als plötzlich der Donnerruf mich weckte: „Brutus, Du ſchläfſt!“ Ich ſchlage die Augen auf: Jolante. „Welchem Cäſar ſoll ich denn zu Leibe gehen frage ich die Grimme, die mit einem hochgeſchwungenen Zeitungsblatt vor mir ſteht. „Afrika,“ ſtammelt ſie, „ſolche Greuel! O Mutti, ſie verlangte weiter nichts als eine Frau, die noch einmal Toms Hütte ſchreiben ſollte, und machte mir bittere Vorwürfe, daß ich keine Beecher⸗ Stowe ſei. Um ſie auf andere Gedanken zu bringen, bat ich ſie, abends mit mir in Lohengrin zu fahren. Da kam ich ſchön an. 184 Jawohl, in die ſeligſte Romantik hinüber⸗ duſeln, unter Lichtfluten, während im dunkeln Erdteil Menſchen, ſage Menſchen, zu Klops und Beefſteaks zerhackt würden? Anſtatt ins Opernhaus ſollten ſich die Gralsritter nach Afrika ſcheren, und den Pfarrer Kneipp gleich mitnehmen, um die Tropenkollerigen zu kurieren. Ich muß immer lächeln über die gelegentlichen rauhen Derbheiten in Jolantes Ausdrucksweiſe, weil ich weiß, daß ſie nur eine halb abſichtlich dick auf⸗ getragene Farbe ſind; immer ſchimmert die Himmels⸗ bläue ihrer Seele lieblich durch das ſchwere Wetter⸗ gewölk ihres Grimms. Ich hatte ſie in einer vertrau⸗ lichen Stunde einmal gefragt, ob ſie denn ſeit jeher immer nur alle geliebt und nie einen einzelnen, mit der Liebe des Weibes? Ein melancholiſches Lächeln war über ihre Züge geglitten. „So unwahrſcheinlich es klingt,“ hatte ſie geantwortet, „ich war verlobt, mit einem Theologen, long, long ago.“ — „Und warum — —“ ich wagte nicht weiter zu fragen. Sie drehte ſacht den Kopf nach hinten, ſo daß ihr geſenkter Blick ihre Schulter ſtreifte, der Blick einer verwundeten Taube, und ſagte: „Man hat ihn einmal Kamelführer genannt, da hielt er nicht ſtand.“ Arme Jolante, wäreſt Du inwendig ganz voll von Höckern, und hätteſt nur das einzige winzige 185 auswendige Höckerchen nicht, wie würde man Dich be⸗ gehren und lieben! Aus dem Treubruch des Theologen war ihr philan⸗ thropiſcher Hang erwachſen. Was Niedriggeartete erbittert, wird für ſchöne Seelen zur Himmelsleiter. Eine ſchöne Seele ſein! ach ja! Geſtern brannte es gegenüber von unſerem Hauſe. Die Feuerwehr kam. Die qualmenden, dampfenden Fackeln mit ihrer dämoniſchen Glut, das tobende Gepfeif und Geraſſel — aufregend war's. Ich habe nie ein brennendes Haus geſehen. Ich ſtand am Fenſter und wartete auf die Flamme, auf ein Flammen⸗ meer wartete ich. Ich ſchmachtete nach einer Feuers⸗ brunſt. Nur ein Schornſteinbrand war's. Die Feuerwehr raſſelte bald davon. An den Schreck und die Angſt der Bewohner des brennenden Hauſes hatte ich nicht einen Augenblick gedacht. So iſt man, wenn man keine ſchöne Seele iſt. 2. Januar. Mir iſt oft alles ſo verleidet, Mutti, ich bin ſo ſtumpf. Dieſes ewige Einerlei, das iſt wie ein Wurm, um nicht zu ſagen ein Totenwurm, der uns aushöhlt, zerbröckelt. Täglich immer dasſelbe thun, um dieſelbe Stunde, an demſelben Ort. Um neun Uhr aufſtehen, ein Bad nehmen, mich anziehen, frühſtücken, mit der Köchin das Menü beſprechen, die Zeitung leſen, der Spaziergang u. ſ. w. Ich könnte darüber zur Selbſtmörderin werden, daß ich mich jeden Morgen waſchen muß. Wüſt, befremdlich, dieſe Mono⸗ tonie. Ich ſpähe nach einer Oaſe aus, wo friſche 186 Quellen rauſchen, Wunderblumen wachſen, und aber ich weiß ſchon, die Wunderblumen ſind immer blutrot, und die Quellen rauſchen — Liebe. All die treibenden, drängenden Kräfte in mir, teils verbrauche ich ſie zum Sinnen und Grübeln, teils ſperre ich ſie ein. Das ſind dann die Poltergeiſter, die Rumor machen und auf Frevel verfallen, Frevel, wie der verfloſſene Raphael. Gott, wenn man ſchon etwas erlebt, merkt man erſt, wie gut es iſt, wenn man nichts erlebt. Könnteſt Du mir nicht ein großes Talent ſchenken, Mutti? oder einen Trieb zur Arbeit, oder irgend einen Glauben, und wäre es auch nur der Glauben an mich ſelbſt. Ich beneide diejenigen, die etwas Beſtimmtes wollen, die einen einzigen großen Ehrgeiz haben, und wäre es auch nur der Ehrgeiz, Vorſtandsdame eines Wohlthätig⸗ keitsvereins zu werden, oder durch originelle Toiletten und raffinierte Menüs zu verblüffen, oder eine Tochter zu verheiraten. Was ſollte ich denn wohl wollen? etwa eine erſte Rolle in der Geſellſchaft ſpielen? Die Mittel ſind ſo vulgär. Und ſpielte ich nun wirklich eine erſte Rolle, was käme dabei heraus? noch mehr Beſuche machen und empfangen, noch mehr Damen, die meine Toiletten imitieren, noch mehr Verehrer? Ich ſtürbe ja vor An⸗ ſtrengung und Langerweile. Die ganze Nüchternheit meiner Exiſtenz macht mich zuweilen raſend. Ich beneide Traute Riedling, Hilde Engelhart, die ſind an einer ſchönen, ſchönen 187 Oaſe gelandet, ſie haben das Wunderland des Spiri⸗ tismus entdeckt. Ich begreife dieſen Drang zur vierten Dimenſion. Nur heraus aus den drei langweiligen, abgenutzten Dimenſionen! Dieſe immergleichen Schranken reizen mich oft zu einer wilden Luſt, mit einem Sprung — und wäre es ein salto mortale — über die Schranken zu ſetzen, aber wohin? wüßte ich nur, ob jenſeits nicht auch eine Leere gähnt! In die vierte Dimenſion bin ich verliebt, trotzdem ich einen ſo ſcharfen Verſtand haben ſoll. Ich möchte da gern mitthun, aber ach, mir fehlt der Glaube, der Glaube an alles, an Spiritismus, an Tugend, an Sünde, an Engel und Teufel, und hauptſächlich der Glaube an mich ſelber, und das iſt das Verhängnisvollſte. Alle, alle glauben an irgend etwas, an den Himmel oder die Hölle, an Bismarck oder den Sänger Alvary, an die Geiſter der Verſtorbenen, an den Antiſemitismus oder an Marx. Ich glaube an nichts. Und mir fehlt auch die ſüperbe Sicherheit des Nichtglaubens, der doch auch ſeine Befriedigungen abwirft. Ich halte ja Geiſter, geflügelte Menſchen, Aſtraleiber, Periſprits, ſingende, klingende Tiſche, Fernſehen, Hell⸗ ſehen, alles, alles halte ich für möglich. Zu dem tief⸗ eindringenden Studium aber, das allein Reſultate liefern könnte, fehlt mir die Vorbildung, die Er⸗ ziehung zum Studium. Fluch der allgemeinen Mädchen⸗ erziehung! Ja, an der Wiege jedes begabten weiblichen Ge⸗ ſchöpfes ſteht eine böſe Fee, die alle Gaben der guten Feen unnütz macht. 188 Süße Mutti, Du kannſt ja nichts dafür. Wer weiß, ob in Dir, Du Willensſchwache, Knochenloſe, nicht auch ein Kraftgenie auf Auslöſung gelauert hat. Mir fällt ein, Du haſt mir einmal Gedichte vorgeleſen — von einer verſtorbenen Schweſter ſagteſt Du — die verſtorbene Schweſter biſt Du geweſen. Leugne nicht, Liebe, Einzige! 10. Januar. Betrübe Dich nur nicht, Mutti, daß ich ſo kopfhängeriſch bin. Es iſt nur auswendig, korporell, wie die Gehrt ſagen würde. Ich habe auch Stunden, wo ich erhobenen Hauptes, kräftigen Schrittes im engliſchen Garten promeniere, voll frohen Über⸗ muts und reinen Herzens, am ſtrömenden Bach entlang, wo die Weidenbäume ſtehen, und ich lauſche, was die Iſar rauſcht. Freilich, neulich im Park, mitten in meiner kraft⸗ freudigen Stimmung, ſehe ich von fern her einen Menſchen herankommen, zerlumpt, einen Knotenſtock in der Hand, mit rollenden Augen. Noch hatte er mich nicht geſehen. Gerade an der Stelle war's, wo erſt kürzlich ein harmloſer Prieſter ermordet wurde. Mein Haar ſträubte ſich vor Schrecken, und ich lief, lief und hielt erſt ein, als ich einer Gruppe von Leuten anſichtig wurde. Und da packte mich wieder der Menſch⸗ heit ganzer Jammer an. Im Sommer will ich auf einen hohen, hohen Berg gehen, auf den Rigi — nein, da kommen zu viel Fremde hinauf — auf den Chimboraſſo oder dahin, wo es nur Sennhütten und Kühe giebt. Und die beſten Bücher, die je geſchrieben wurden, will ich 189 mit auf die Berge nehmen. Frei will ich werden von Menſchen, vom Staube der Heerſtraßen und auf vier Wochen vergeſſen, daß es Barone und Grafen und Clowns, daß es „die Geſellſchaft“ giebt. 15. Januar. Geſtern im Theater ſah ich ein mittelmäßiges Stück. Meine Gedanken und Augen ſchweiften abſeits. Letztere fielen ins Parquet, das heißt, auf lange Reihen kahler, glänzender Schädel. Was für ein merkwürdiges Geſchlecht ſind doch die Männer! Alle haben Glatzen, ſobald ſie das Jünglings⸗ alter hinter ſich haben. Und überhaupt, mit einem Mal kamen mir die da unten mit ihren ſtruppigen Bärten, den kahlen Köpfen und den gräulichen Röcken mit den ſteifen Kragen ſo tierverwandt vor. Und jeder dieſer Männer hat ein Weib, das ihn liebt. Merk⸗ würdige Weiber! Ob die Männer wohl in tauſend Jahren noch dieſe gräßlichen Bärte und Glatzen haben werden? Ich gelte für intolerant, aber weißt Du, Mutti, ich bin noch viel intoleranter als jemand ahnt. Ich habe ſo eine Weltraum, Ewigkeit und die ganze Menſch⸗ heit umfaſſende Intoleranz, natürlich incluſive Sibilla Dalmar, um nicht zu ſagen Sibilla Raphalo. Oft, plötzlich in einer Geſellſchaft oder im Theater kommt mir alles ſo faſtnachtsmäßig, ſo unmöglich vor. Was ſoll das alles? Das dumme unnatürliche Stück, wo das Publikum vor Lachen wiehert, wenn ſich einer aus Zerſtreutheit eine kupferne Kaſſerolle auf den Kopf ſtülpt, und die heiße, ſtickige Luft, die Schauſpieler, die vor Anſtrengung ſchwitzen. 190 Wenn ich Menſchen lachen ſehe, und ich kann nicht mitlachen, ſo erſcheint es mir widerwärtig, wie ſie den Mund aufreißen, die Augen zuſammenkneifen, die Ge⸗ ſichtsmuskeln verzerren. Oder wenn ſie eſſen. Wäre es Sitte, daß jeder bei verſchloſſenen Thüren ſeine Mahlzeiten einnähme, würden wir uns nicht vor dem ungewohnten Anblick ſolcher Fütterung entſetzen? Und iſt es nicht ähnlich in der ſittlichen Welt? Wüßten wir nicht — und wir wiſſen es doch, Mutti, — daß die Ehe etwas Heiliges iſt, würden wir uns vielleicht auch — davor entſetzen? Ich wage kaum, mir ſelbſt zu geſtehen, wie radikal ich denke. Mauchmal erſchrecke ich vor meinen eigenen Gedanken, wie man ſich ſcheut, nackt zu Bett zu gehen, obwohl einen niemand ſieht. Sie ſind ſo blutig rot meine Gedanken oder ſo gleißend weiß. Auch das ge⸗ ſchriebene Wort iſt noch zu laut. Du verſtehſt ja ſo gut zwiſchen den Zeilen zu leſen, Mutti. Man iſt ſo feige, ſo feige. Ich kenne hier überzeugte Spiritiſten. Sie ver⸗ ſchließen ihre Überzeugung im tiefſten Herzensſchrein, damit man ſie nicht etwa für geiſteskrank halte. Ich ſelbſt bin von der Notwendigkeit einer neuen Sittenlehre, die im Widerſpruch ſteht mit allem, was bisher für ſittlich galt, felſenfeſt überzeugt. Aus Furcht, für un⸗ ſittlich gehalten zu werden, ſchweige ich. Nur Dir und Jolante gegenüber öffne ich zuweilen meine Lippen und ſage — ſo ziemlich was ich denke. 25. Januar. Sage mir, ſage mir, Mutti, warum ich ſo elendiglich unzufrieden bin. „Ich habe Diamanten 191 und Perlen, und alles, was Menſchenbegehr und habe — einem on dit zufolge — die ſchönſten Augen, ſag Liebchen, was willſt Du noch mehr?“ Ich möchte eine Indierin ſein in einer Hängematte oder eine Südamerikanerin unter Sykamoren, oder auf einem wilden Pferde über Prairien hin — Löwenritte! Oder, wäre ich die Frau eines Botſchafters, da ſäße ich an der Quelle der Weltgeſchichte und ſähe aus nächſter Nähe das Rieſenrad rollen, könnte vielleicht ein bißchen mitrollen helfen. Immer nur reden — reden — über Litteratur und Kunſt und Toilette, immer nur die Welt ganz im Kleinen. Ich will ſie im Großen, in wildwüchſiger Freiheit, oder auf den Höhen, den höchſten Höhen! Lächerlich, daß ich die Frau eines Banquiers bin, — nein — noch lächerlicher, daß ich dies ſchreibe, als ob ein Banquier unter Umſtänden nicht tauſendmal klüger und wiſſender ſein könnte, als ein Miniſter oder ein Botſchafter. Unter Umſtänden! Ich unterliege einem grübleriſchen Hang der Zeit: das Suchen nach ſich ſelber. Nietzſche mit ſeiner Um⸗ wertung aller Werte, der Spiritismus mit ſeinem Ich jenſeits der Schwelle des Bewußtſeins, ſind die großen Anreger dieſes tiefen und düſteren Hanges. Und hätte ich nun wirklich die Goldader meines Ich's aus den umhüllenden Schlacken herausgeſchält, ich hätte doch nicht die Kraft mich durchzuſetzen, um einen philoſophiſchen Ausdruck zu gebrauchen. Aller weiblichen Kreatur werden von früh an die Flügel 192 geſtutzt. Und dann zuckt man die Achſeln über die Flügellahmen, die nur bis auf den nächſten Zaun fliegen können, wie die Hühner und — Gänſe. Dein Gänschen muß jetzt ſchnell Toilette machen für das Odeonskonzert. Gute Nacht, Du Mutter der Miſan⸗ thropin. 2. Februar. Neulich habe ich die nähere Be⸗ kanntſchaft des Deutſchruſſen Hely von Helmſtröm ge⸗ macht. Er will hier deutſches Leben und deutſche Ver⸗ hältniſſe kennen lernen. Er iſt ein Vetter von Eva Broddin, und dieſe Verwandtſchaft mag wohl der An⸗ trieb geweſen ſein, der ihn gerade München zum Aufent⸗ halt wählen ließ. Hier und da hatte ich ſchon in Ge⸗ ſellſchaft ein paar flüchtige Worte mit ihm gewechſelt. Vor einiger Zeit gab er Karten bei uns ab. Darauf⸗ hin lud ich ihn zu einem kleineren Diner ein. Am Morgen des Dinertages fühlte ich mich krank. Der Diener mußte Abſagen zu den Eingeladenen tragen. Abends erholte ich mich. Ich verließ das Bett und lag leſend, in meinem pikanten Morgenkleid von roſa⸗ ſchillerndem Sammet auf der Chaiſelongue, als mir Herr von Helmſtröm gemeldet wurde. Ich wunderte mich über dieſen Beſuch, und in der Meinung, daß er mir vielleicht irgend eine Botſchaft von Timäa bringe, nahm ich ihn an. Er war im eleganteſten Geſellſchaftsanzug: Frack⸗ weiße Binde, chapeau claque. Ganz erſtaunt und verwirrt blickte er um ſich. Es ſtellte ſich heraus, daß er die Abſage nicht erhalten oder nicht geleſen hatte. Spät nach Hauſe gekommen, 13 193 hatte er gerade nur noch Zeit gehabt eiligſt Toilette zu machen. Helmſtröm iſt eine vollendet diſtinquierte Er⸗ ſcheinung. Schlank, ziemlich groß, blond, zierliches Bärtchen, Geſichtszüge von edelſtem Schnitt, kleine ariſto⸗ kratiſche Hände und Füße. In Haltung und Bewegung die Grazie ſelbſt. Er wollte gleich wieder gehen, blieb aber dann auf meine Aufforderung, und wir plauderten einige Stunden ſehr gut. Er lieſt und weiß alles. Hat ganz beſtimmte Anſichten. Keine Spur von Frivolität. Als das Geſpräch ſich den politiſchen und ſozialen Zeitfragen zuwandte, ſtellte es ſich heraus, daß er konſervativ geſinnt war. Mit ſympathiſcher Wärme ſprach er von ſeinem Vaterlande, mit Schmerz und Abſcheu von der ſchonungsloſen Ruſſificierung, die dort im Werke war. Eine hohe Stellung, die ihm die Regierung angeboten, habe er refüſiert. Der Adel habe in den Oſtſeeprovinzen die heilige Miſſion, deutſche Kultur und Geſittung vor dem Anſturm der Barbaren zu ſchützen. Ich erfuhr, daß der livländiſche Adel der echteſte, wenn nicht der alleinige Adel Europas ſei. Er ſei die Ariſtokratie Rußlands, Ariſtokratie bis in die kleinſten Einzelheiten, bis in die Spitzen der Finger. (In der That ſind die ſeinigen ſpitz, roſig und durchſichtig.) Kein Junkertum, kein Agrariertum, kein Abwenden von dem Volk — — „Und dem Zaren gegenüber kein Frondieren?“ fragte ich. 194 Nein. Der Adel beuge ſich den Geboten des Zaren und antworte auf die Unterdrückung mit unbeugſamem Stolz, indem er heilig halte was unterdrückt werden ſolle. Dem Adel leiſte das Volk Heerfolge, nicht dem Zaren. Ich wunderte mich über ſeine feudalen Anſichten. Er ſuchte ſie mir hiſtoriſch zu begründen, und er that es mit Geiſt. Allmählich wurde die Unterhaltung perſönlicher. Ich ſchloß aus einigen flüchtig hingeworfenen Worten, daß die Neigung zu einem jungen bürgerlichen Mädchen im Zuſammenhange mit ſeinem Aufenthalt in München ſtehe. Er beſtätigte es. Er habe ſich ſelbſt verbannt, um eine Neigung im Keime zu erſticken, die mit ſeinen ſozialen Pflichten im Widerſpruch geſtanden. — „Hätten Sie ebenſo gehandelt, wenn eine große Leidenſchaft im Spiele geweſen wäre?“ „Auch dann.“ „Wo wir ſind iſt Livland“, ſei der Wappenſpruch ſeines Geſchlechts. Wir plauderten noch eine Weile Leichtes und Weltliches, und dabei kam es zur Sprache, daß er eine große Vorliebe für den Tanz hat. Er verſäumt keine Ballettaufführung. Wie wenig das zu ſeinem ſonſtigen Weſen paßt! Merkwürdige Widerſprüche doch in jedem Menſchen. Wir trennten uns, ich glaube, gegenſeitig ſehr zu⸗ frieden mit einander. Als er fort war, verſank ich in Träumerei. Ein reiner, harmoniſcher, ganzer Menſch. Gerade kein 13* 195 Charakter aus Eiſen oder Granit. Ob nur Alabaſter? Nein, mehr. Wenn ich dieſen Livländer jetzt in Geſellſchaft treffe — und man trifft ſich oft — unterhalten wir uns ſtets auf das angeregteſte, aber noch angeregter ſtreiten wir mit einander. Er hat die lebhafteſten künſtleriſchen, litterariſchen und wiſſenſchaftlichen Intereſſen, aber alle weiſen ebenſo ſehr nach rechts, wie die meinigen nach links. Natürlich ſagt er nicht Ungebildetheiten und Dummheiten, wie man ſie hier ſo oft von ganz geſcheuten Leuten hört, die Sozialiſten und Anarchiſten in einen Topf werfen, und die einen wie die andern für eine Bande von Beutelſchneidern halten, die dem, der was hat, das Geld aus der Taſche nehmen wollen, um es in die eigene zu ſtecken. Manchmal begreife ich nicht, wie ich nur mit ſo ungebildeten Leuten um⸗ gehen mag. 5. Februar. Als ich vor einigen Tagen Traute beſuchte, traf ich Helmſtröm bei ihr. Sie ſaß in einem kleinen merkwürdigen Kabinett, das ſie wohl eigens als Folie für ihre originelle Schönheit hat herrichten laſſen. Groteske chineſiſche Vorhänge aller⸗ hand Skulpturfratzen. Um ſie herum ein toller Wirr⸗ warr von Pagoden, Fächern, chineſiſchen und japa⸗ niſchen Spielereien, alles ſo bunt wie möglich. Sie ſelbſt war ganz in graue, ſchleierartige Gewänder ge⸗ hüllt und ruhte in einem Fauteuil, unter der grinſenden Büſte eines mit Weinlaub gekränzten Satyrs. Ihr kleines Füßchen hatte ſie in den Rachen eines Wolfs⸗ fells, das am Boden lag, geſteckt. Reizend ſah ſie 196 aus, wie ein aus dem Geiſterreich herauf materali⸗ ſiertes Kind. Höchſt pikant in Traute das Gemiſch von flotteſter Weltlichkeit und dem Hang und Drang zur Myſtik, zu ſpiritiſtiſchen Geheimniſſen. Sie ſprach gerade, als ich eintrat, von der Süße des Todes an Chloral oder Morphium. Herr von Helmſtröm war offenbar bewegt. Ich kam mir ihr gegenüber reizlos vor, und als dürfe man nur klein und myſtiſch ſein, um zu gefallen, wenigſtens um dieſen Livländer zu gefallen. Ob Traute ein Auge auf ihn geworfen hat? Timäa hat's ſicher gethan. Ihr Herz ſteht ſeit einiger Zeit — wegen Verheiratung des letzten Freundes — verwaiſt. Sie hat Umſchau im Heerlager liebedürftiger Männer gehalten, und ihre Wahl, um die Lücke — eine klaffende Lücke — auszufüllen, iſt auf Helmſtröm ge⸗ fallen. Bin ich prädeſtiniert, die Dritte in dieſem Bunde zu ſein? Er gäbe mir ja doch den Apfel nicht. Timäa, die iſt in Geſellſchaft viel dekolletierter als ich, und Traute iſt pikanter und origineller. Ich habe aller⸗ dings mehr Geiſt, daraus machen ſich aber die böſen Männer meiſt weniger. Gegen den unlauteren Wett⸗ bewerb auf dem Gebiet der Liebe giebt es leider noch keine Umſturzparagraphen. Eva Broddin betrachtet ihren intereſſanten ruſſiſchen Vetter gar nicht. Es hat faſt den Anſchein, als ob ſie ihn abſichtlich ignoriere. Dieſe Eva — ein reizendes Gemiſch von Schlange, Sphinx und Gazelle, verbindet Pfiffigkeit mit Engelsallüren. Letztere nur 197 obenauf; in der Tiefe gährt's bei ihr. Zuweilen gäbe ein kleiner geflügelter Dämon, der beinah wie ein Genius ausſähe, ſeine Viſitenkarte bei ihr ab, meinte Ferlani. Ob Helmſtröm ſie ſchon hat tanzen ſehen? Sie tanzt wundervoll. Traute übrigens auch. Ich nur ſo ſo. Raphael war viel ſchöner, wirkte viel ſenſationeller als dieſer Livländer. Der aber hat etwas zart Lockendes, ſtill Gefährliches. Als ich von Traute heim kam, nahm ich vor dem Spiegel ein Examen mit mir vor. Iſt der Menſch in ſeinem Wahn wirklich das Schrecklichſte der Schrecken? Es kommt doch auf den Wahn an. Meiſt ſcheint er mir recht beglückend. Hätte ich nur einen Gran von dem Wahn der Bürgens, Iſoldens und vieler anderer, flugs bildete ich mir ein, ich würde alle Tage ſchöner, wie viele meiner Bekannten, wenn ſie mich einige Zeit nicht geſehen haben, ſo höflich be⸗ haupteten. Ich habe dieſen Gran nicht, und ich ſehe haarſcharf, wie es mit meiner Schönheit langſam, langſam bergab geht. Ich bemerke das leiſe Entſtehen kleiner Fältchen um die Augen, ich verfolge ihre Fortſchritte, wie ſie länger, breiter werden, ſich vertiefen. Ich kenne häßlich und alt Gewordene, den naiven Glauben aber an ihre Schönheit haben ſie konſerviert, und ſie genießen ihre vermeintlichen Reize wie früher ihre wirklichen. Und merkwürdig — habe Du den ſtarken, feſten Glauben an Deine Schönheit oder Deinen Geiſt, Du ſuggerierſt ihn den anderen. Das 198 erklärt den Erfolg, den z. B. Iſoldehen mit ihren ſüffiſant und naiv vorgebrachten Niaiſerien hat. Es ſcheint wirklich, als beſtimmte die Meinung, die wir von uns ſelbſt haben, unſer Schickſal. Ich könnte mir z. B. einbilden, daß ich das Zeug hätte, einen Salon à la Rambouillet mit ſeinem poli⸗ tiſchen und litterariſchen Zeiteinfluß in Scene zu ſetzen. Vielleicht reüſſierte ich mit einem ſolchen Salon und käme dann ſpäter als berühmte Zeitgenoſſin in die Geſchichtsbücher. Ich aber im Gegentheil, ich habe ein ſo feines leiſes Mißtrauen, ich fühle ſchon im voraus das leiſeſte Abwenden von mir, oft noch ehe der Betreffende ſelbſt davon weiß. Ferlani iſt abgekühlt. Er kommt faſt ſo oft wie früher, aber ich begegne ihm nicht mehr auf der Straße. Wie viel bequemer und angenehmer iſt das jetzt — und doch — — Bin ich reizlos geworden? Der Spiegel iſt vor⸗ läufig dieſer Meinung nicht. Aber — ich habe ent⸗ ſchieden auf Hely Helmſtröm keinen ſonderlichen Ein⸗ druck gemacht. 10. Februar. Geſtern ein Wohlthätigkeitskonzert. Wegen der Wohlthätigkeit zeigte ſich Frau Bürgens ſeit der Trauer zum erſten Mal wieder dem Publikum, das heißt, nur zum Teil. Ein dichter, dichter, langer langer, ſchwarzer ſchwarzer Kreppſchleier über dem ſicher gramzerſtörten Antlitz, entzog dieſes Antlitz pro⸗ fanen Blicken. Die betrübte Wittwe hatte wenigſtens den Trauertriumph, daß die Kleider einiger vor ihr 199 ſitzenden Prinzeſſinnen miſerabel ſaßen, während das ihrige — first rate — war. Hely Helmſtröm war auch da. Er hat nur Augen für Traute Riedling. 12. Februar. Ich bin eine müde Seele, wie Arne Garborg einen ſeiner Romane tituliert. Ich greife nach allem, was wie ein Heilmittel meiner Müdigkeit ausſieht. Ich leſe jetzt Herzkas Buch. Bald tragen mich hochgehende Wogen in weite, herrliche Fernen. Dann Windſtille. Alles trübe, ſtagnierend, faſt ekel, ohne Willen aus dem Sumpf herauszukommen. Da — ein Buch, ein Geſpräch, ein Gewitter. Ich bin friſch. Ich raffe mich auf. Zum Hauſe hinaus. Wohin? Zur Schneiderin. Reizend das neue Kleid. Heute Abend, bei Riedlings wird es Furore machen. Kindiſche Weiber. Ich mittenmang. 13. Februar. Ja, Mutti, zuweilen habe ich ſchon den Wunſch, mitzukämpfen in den Geiſterſchlachten, die jetzt geſchlagen werden. Du liebe Verblendete führſt mir ja immer zu Gemüt, da ich doch nun einmal das ſchöne Talent hätte, ſollte ich es auch verwerten, all⸗ dieweilen man mir doch ſchon in der Schule den „Blau⸗ ſtrumpf“ angehängt hätte. Mir ſagte einmal ein Weltkluger: „Thue nie ſelber, was andere für Dich thun können.“ Ich veredle dieſe egoiſtiſche Äußerung und ſage: „Thue nie etwas, was andere beſſer machen können, als Du. Bücher ſchreiben! ich! Wird noch nicht genug ge⸗ druckt gelogen? Ich würde ja doch nie wagen zu ſagen, was ich denke. 200 Ja früher, als die „Moderne“ noch nicht aufge⸗ kommen war, da legte man ſeine kühnen oder frechen oder radikalen, die Welt aus den Fugen reißenwollenden Gedanken alten Römern, Griechen, Perſern, Abderiten oder ſonſtigen entlegenen Kulturmenſchen in den Mund, und die Schauplätze waren Babylon, China, der Olymp, die Hölle u. ſ. w. An dem Zwiſchendenzeilenleſen findet man heute keinen Geſchmack mehr. Man ſoll Farbe bekennen, und entſetzt ſich dann, wenn die Farbe blutrot iſt. Wenn ich für den Druck ſchreiben wollte das käme mir vor, als wollte mein mittelmäßiger Maler einen genialen Dichter porträtieren. Er würde nie ein gutes Bild von ihm liefern. Meine Ideen wollen fliegen, hoch bis zur Sonne oder wenigſtens bis zu den Gipfeln der Schneeberge; mit meiner Feder, als Bergſtock, könnte ich nur Hügelchen erkriechen. Darin haſt Du recht, Mutti, ehrgeizig bin ich nicht, nein, gar nicht. Würde ich wirklich auf ein paar Monate oder ein paar Jahrzehnte berühmt, ich wäre dabei nicht einmal in guter Geſellſchaft. Kreti und Pleti iſt ja berühmt. Und dann — auch Ruhm iſt Lärm, und ich haſſe Lärm in jeder Geſtalt. Der echte, wahre Ruhm, der kommt auch faſt immer erſt nach dem Tode, und ich bin nicht Spiritiſtin genug, um mir daraus etwas zu machen. Gott, und wie läſtig muß Berühmtheit ſein, ſie verpflichtet zu ſo viel Grimaſſen und Poſen, es wäre gewiß beinahe ſo arg, wie Prinzeſſin ſein. 201 Es iſt auch dafür geſorgt, daß eine Frau nicht ſo leicht auf einen Lorbeerzweig kommt. Uns fehlen die Arbeitsmittel, die dem Manne zu Gebote ſtehen: Wiſſen, Kenntniſſe, hauptſächlich die Kenntniſſe irgend welcher realen Lebensgebiete. Ich z. B. weiß ungefähr, wie es in der eleganten Geſellſchaft zugeht, was man da ſpricht, ißt, trinkt und denkt. Von den weiten Ge⸗ bieten der Politik, des wirtſchaftlichen Lebens, der ſozialen Zuſtände, von Arbeiter und Künſtlertum habe ich keinen Schimmer. Sollen wir wie die Seiden⸗ raupen alles immer aus uns ſelber ſpinnen? Ach, dabei ſpännen wir keine Seide, höchſtens Kattun oder ein plundriges Ballkleid. Und ſpänne ich ſelbſt auf dem Gebiete des reinen Denkens köſtliche Seidenfäden, Ideen werden dis⸗ kreditiert, wenn Frauen ſie ausſprechen, ihr Blüten⸗ ſtaub wird zur Befruchtung nicht weiter getragen. Man ſchweigt ſie tot, weil man gar nicht an ihre Echtheit glaubt. Aber die Frauen würden daran glauben? Ach, Mutti, die denken auch heimlich, der Mann macht's beſſer. Talent! Daraus mache ich mir nichts. Entweder man verſchwindet ſo in dem großen Strom von Mittel⸗ mäßigkeiten für ein billiges Honorar, welches letztere ich ja nicht brauche, oder man iſt ein Genie und geht dann — nach Lombroſo — meiſt im Irrenhauſe oder ſonſt wie unter, was entſchieden für den Hörer oder Leſer intereſſanter klingt, als es für den Inſaſſen der gepolſterten Zelle iſt. 202 Und doch — gieb mir einen Hauch von Wahn⸗ ſinn, Mutter, etwas brauſend Wildes, das Thaten zeugt. Ich will Viſionen, Hallucinationen, Hellſehen, Fernſehen. Ich möchte furchtbar gern ein bißchen genial und ein bißchen wahnwitzig ſein, und ich bin doch nur geſcheut und kritiſch und empfange meine Gäſte — wie man ſagt — reizend. Ob dieſer Wahnſinn, der mir fehlt, vielleicht nur das Nichtglaubenkönnen an meine geiſtige Erlauchtig⸗ keit iſt? 15. Februar. Siehſt Du, Mutti, mitunter neige ich zu dem alten Kinder⸗ oder Köhlerglauben, daß unſere Seele etwas für ſich ſei, ein Flämmchen, ein Fluidum, für das unſer Körper nur die Wohnung abgiebt, und die Bedingung des Glücklichſeins wäre, daß Körper und Seele ſchön harmoniſch ineinander ge⸗ wachſen ſind. Wenn aber ein Rieſe in einer niedrigen Lehm⸗ hütte wohnte und er ſchritte darin auf und ab, würde nicht die Hütte in ein bedrohliches Wackeln geraten? Ein ungemütlicher Zuſtand? nicht? Lachſt Du über meine Rieſenſeele? Nein, an und für ſich iſt ſie nichts weniger als groß, ſie iſt es nur im Verhältnis zu meinem armen Blut und meinen morſchen Nerven. Und ſie — die Seele — drängt und drängt gegen die dünnen Wände, daß alles Blut ins Gehirn ſteigt und daher — — ja, ich habe Fieber. Zuweilen höre ich förmlich das Rufen der Seele, angſtvolles oder frohlockendes, ich höre es wie den 203 Ruf eines unter der Erde Verſchütteten, der über ſich das Arbeiten der Befreier hört. Unſinn das — Mutti! Geſchwollener Unſinn! Das ſind ſo Gedanken, die gar keine Gedanken ſind, anempfundener geiſtiger Firlefanz. An dieſen ärm⸗ lichen Grübeleien ermeſſe ich die Diſtanze zwiſchen mir und einer wirklichen geiſtigen Capacität. Kein Genie ſein, dürfte heute beinahe ein Vor⸗ zug ſein, wenigſtens entgeht man dadurch dem Ver⸗ dacht, ein Dekadent, Neuraſtheniker, Tollhäusler zu ſein, mit welchen Koſenamen Max Nordau alle, die auf Parnaſſen wohnen oder auf Pegaſuſſen reiten, heimſucht. Nach dieſem geharniſchten Ritter der Kritik wäre ich ein Prachtexemplar der Menſchheit — immer auf der breiten Heerſtraße, vernünftig — vernünftig — vernünftig. Schaff' mir die Vernunft vom Halſe, Mutter! 20. Februar. Das iſt ein Merkmal unſerer Zeit, der Widerwille gegen uns ſelbſt. Woher kommt der? Vielleicht von dem Kontraſt zwiſchen dem, was wir wiſſen und erkennen, und was wir — verſchweigen. Das Lügenmüſſen, der gedemütigte Stolz, das böſe Gewiſſen, und daß wir uns bücken müſſen, wenn wir durch das niedrige Thor wollen, das dahin führt, wo die Lebensfreuden winken. Nimm irgend ein Buch der jungen und jüngeren Schriftſteller zur Hand, auf jeder zehnten Seite findeſt Du das Wort Ekel, oft affektiert, oft aber auch aus überzeugtem Herzen kommend. Der Ekel liegt in der Zeitatmoſphäre vorzugsweiſe in der Frauenatmoſphäre. Wir ſind der 204 ewigen Liebeleien müde, auch der Heuchelei, als ob Kindererziehung und Gattinnenpflicht unſer Daſein aus⸗ füllen. Wir verſchmachten nach vollem, ernſtem Daſein: nach allen Richtungen hin wollen wir auswachſen, ins Große, Weite. Was ich habe und haben kann, hat mich nicht. Mein Beruf wäre geweſen zu denken, nichts weiter. Als männliches Geſchöpf geboren wäre ich viel⸗ leicht Spencer oder Stuart Mill oder Nietzſche ge⸗ worden. (Sokrates oder Plato keinesfalls.) Und wäre ich vor 2000 Jahren als etwas Weibliches zur Welt gekommen, ich hätte mich vielleicht zu einer Pythia oder Aspaſia ausgewachſen. Phryne iſt wohl zu hart? Aber wer weiß! Ich traue mir alles zu, nur nicht Dich bis auf den Tod zu kränken. Sei zärtlich umarmt von Deiner Sibilla. 25. Februar. Mutter, liebe Mutter, der Zeitgeiſt hat mich beim Wickel. Sein Gift gährt in mir. Du kennſt ja die Stichworte: Erſchöpfung, Neuraſthenie, Decadence — oder Vererbung? Ja, Du Knoſpenhaft⸗nie⸗erblühte, Du haſt keinen Charakter, o Mutti, und der Vater . . . was für drängend ſehnſüchtige, üppig wilde Lieder hat er kompo⸗ niert, und einige ſo dithyrambiſch hinreißende. Sind das die Gewalten, die mit mir ihr Weſen treiben? Du der Zügel, der mich zurück hält, der Vater die Peitſche, die mich antreibt. Und da werde ich zugleich gezügelt und gepeitſcht, und ich ſtehe ſchäumend, zitternd, ich kann nicht rück⸗ nicht vorwärts — ſchauderhaftt höchſt ſchauderhaft! 205 Aber ich glaube ja gar nicht in dieſem Sinne an Vererbung. An Erziehung glaube ich. Hätte ich eine Erziehung gehabt, wie ich ſie brauchte, eine ſpartaniſche oder Rouſſeauſche: Natur, Kraft, Turnen, Schwimmen, Jagen (pfui, nein Jagen nicht), aber Bergſteigen, Wandern, Wandern das ſoll ja eine Luſt ſein, über Berg und Thal, zu Schiff, zu Roß! und kaltes Waſſer! Kneip, und last not least: Arbeit! Arbeit! Und ſtatt deſſen von früh an — Toilette, Flirt, Klatſch, ein bißchen Lektüre und Klavierklimpern und andere Klimper⸗ und Stümpereien, und das in einem Lebensalter, in dem jeder begabte Jüngling ein Titanide iſt, der mit Göttern oder Götzen kämpft. Ach ja, wir armen, um ein paar Jahrzehnt zu früh geborenen Mädchen. Hineingeboren bin ich zwiſchen Morgengrauen und Tag. Ich bin doch ſchuldlos daran, daß ich zwiſchen zwei Kulturen geklemmt bin, daß ich nicht rückwärts kann zu den ſpinnenden, ſtrickenden Haus⸗ frauen, nicht vorwärts zu den freien Geſchlechtern, die nach mir kommen werden. In dem rauhen Vor⸗ frühling der Frauenfreiheit gehen wir armen Schnee⸗ glöckchen zugrunde. „Es fällt ein Reif in der Früh⸗ lingsnacht.“ Wir Frauen unſerer Zeit ſind wie die eingefrorenen Töne in Münchhauſens Trompete. Aber wenn die Zeit des Auftauens, wenn die Sonne da iſt, ſind wir nicht mehr. Ich will die Sonne aufgehen ſehen. „Gieb mir die Sonne, Mutter! 206 Oswald Alving war noch bei Verſtande, als er die Sonne verlangte. Das reinſte Malheur, vor Sonnenaufgang geboren zu ſein. 1. März. Mein Puls geht ſo ſchnell, meine Ge⸗ danken auch. Krank? fällt mir nicht ein. Ich will nicht. Ich bin nur nervengereizt, ärgere mich über alles, über einen Pickel auf Bennos Naſe, über einen dummen Aufſatz in der Zeitung, einen ſchlechten Roman, daß die Milch zum Kaffee nicht heiß genug war, über die knallgelbe Feder auf dem Hut meiner Jungfer. Ich laſſe mich nachmittags verleugnen, weil ich einige Ekel fürchte, kommen ein paar liebe Menſchen, um die ich mich nun gebracht habe. Um durch einen ſchönen Sonnenuntergang meinen ge⸗ ſunkenen Lebensmut zu heben, fahre ich in den eng⸗ liſchen Garten, da geht die Sonne gar nicht unter oder kaum. Und nach all dieſer Aufregung kann ich Nachts nicht ſchlafen. Da, als die Glocke zwölf ſchlägt — ein Gedanke — Baldriantropfen. Ich finde den Knopf der elektriſchen Lampe nicht und komme endlich auf den geiſtreichen Gedanken, durch den Geruchsſinn die Tropfen unter anderen Flaſchen herauszuſchnüffeln. Sie haben nichts geholfen. 2. März. Nun iſt es wieder Abend. Ich habe tags über viel hingedämmert und geſchlummert, da⸗ zwiſchen Erregendes phantaſiert. Oft erſchüttern mich das Stürmen und Drängen, das Frohlocken und die Schlachtklänge, das ſchmetternde Hotojoho der neuen Menſchen. ⸗ Ruft es Götter oder Teufel“ 207 Ich höre das dumpfe Rollen, das einem vul⸗ kaniſchen Ausbruch vorausgeht, ich höre Wirbelwinde, die Gewitter künden. Und überhaupt, ich kann mir's nicht länger verhehlen, ich habe Fieber, Gliederſchmerzen, mein Kopf brennt, meine Pulſe jagen. Ich dachte, wenn ich ſo thäte, als fehlte mir nichts und ruhig weiter ſchriebe, läſe und ausginge, ſo würde es ver⸗ gehen. Iſt nicht vergangen. Benno hat zum Arzt ge⸗ ſchickt. Er muß bald hier ſein. Adieu, Mutti, ich lege mich ein bißchen auf die Chaiſelongue. Da bin ich wieder. Ich kann nicht ruhig liegen. Es iſt alles ſo ſeltſam um mich her. Die Bilder — alles verſchwimmt. Die Baumſtämme auf dem Böcklin ſehen wie Säulen aus, und um die Säulen winden ſich — nein, Kränze ſind es nicht. Schwarze Fahnen wehen. Und auf dem Fabeltier mit den verzückten Augen ſitze ich, und der tropfende Mondſchein fließt an mir auf und nieder. Und ich weiß, ich weiß, mein Geſicht iſt ganz weiß, ich habe weiße, bleiche Augäpfel ohne Sterne darin, marmorne Augen. Wäre ich nur erſt wieder heraus aus dem Walde — da iſt Morgen⸗ rot — nein, es iſt Feuer. Zu dumm! das Feuer iſt ja in mir und davon ſind meine Fingerſpitzen ſo rot — wie in Blut getaucht. — Ich habe wieder lange im Fauteuil gelegen. Ich habe gehorcht, geſpannt gehorcht. Ich wußte, es würde etwas geſchehen, und — richtig — von oben winkte eine Hand. Ich wollte nicht hin. Ein Meer wogte dazwiſchen, die Wogen brauſende Orgelklänge, 208 oder waren es weiße Vögel, die kreiſchten, kreiſchten. Und was da alles aus dem Waſſer ſtieg, Mutti: Un⸗ geheuerliches — Ungeheuerliches. Und alles hatte Augen, die nach mir blickten, und Ohren, die nach mir hin⸗ hörten. Ich muß leiſe, ganz leiſe ſprechen. Und zuletzt kam auf einem kohlſchwarzen Roß jemand geritten. Sein Geſicht ſah ich nicht, aber ich kannte ihn doch aus dem Stuckſchen Bild: der Tod! Wenn er ſich nur nicht in mich verliebt! gewiß, Mutti, er verliebt ſich in mich. Und wenn er ſich umwendet — er wird die Augen der kleinen Marie haben, ich weiß es. Ich gehe morgen zur kleinen Marie, ganz beſtimmt, Mutti, ich thu's. Da iſt wieder die Hand — da oben, eine Rieſen⸗ hand — ſie will mich packen — ins Herz packt ſie mich — ach — Nur noch zwei Worte. Mir iſt viel beſſer. Der Arzt war da. Ich habe ſtarke Influenza. Ich muß zu Bett. Wie lange werde ich Dir nicht ſchreiben können! Vielleicht nie mehr! Ich küſſe Dich zärtlich, meine Mutter. Dein krankes Kind. Berchtesgaden, 1. Juni. Du liebſte Mutter, wenn ich an die überſtandene Influenza zurückdenke, beſchleicht mich ſtill ſehnſüchtige Wehmut. In meiner Erinnerung gehört Ihr zuſammen, Du und die In⸗ fluenza. Unter Deinen lieben pflegenden Händen, und 14 209 Deinen noch lieberen, guten, zärtlichen Worten und Blicken verlor die Krankheit all ihre Schrecken. Nun biſt Du fort, und ich freue mich kaum über meine täglich zunehmenden Kräfte, da Du nicht mehr die Mitfreude daran haſt. Bennos Angſt und Sorge thaten mir auch wohl⸗ Ich laſſe mich gern lieben, beſonders wenn keine Gegen⸗ dienſte verlangt werden. Der gute Benno, er beſucht mich faſt in jeder Woche auf ein paar Tage. Habe ich Dich recht gequält, Du Einzige? Könnte ich Dir doch all Deine Liebe vergelten! Ich höre Deine Antwort: „Du kannſt's! Werde glücklich!“ O, Mutti, ich bin ja ſchon wieder auf der Jagd nach dem Glück. Ob ich Beute heimbringe? Wenn es an der Zeit iſt, erfährſt Du's. Ich kann mir noch gar nicht vorſtellen, wie ich mich in das alte Leben zurückgewöhnen ſoll. Wird ſich ſchon von ſelbſt machen. Vorläufig herrſcht noch Stille in meiner Villa auf der Höhe, aber wie lange wird's dauern, dann halten verſchiedene meiner Intimen ihren Einzug in das Thal des Friedens. Ich unternehme ſchon täglich kurze Spaziergänge. Man lebt ſich ſo liebevoll ein in dieſe grünſaftigen, hochanſteigenden, von Bergen umrahmten Matten. Wie anmutig iſt der kleine Marktflecken mit ſeinen vor⸗ nehmen Villen, ſeiner leuchtenden Sauberkeit in die friſche herrliche Natur hineingebaut. Zuweilen wird man ſchon an den Süden gemahnt, durch den heftigen Katholicismus. Die Glocken, die läuten und läuten, und die alten Häuſer mit ihren Heiligenbildern, weißen 210 Mauern und Blumen und Blättergerank ſtrömen einen weihrauchartigen Duft aus. Gott ſei Dank hat Berchtesgaden gar nichts von einem Badeort mit der dazu gehörigen geſpreizten Eleganz. Das ſpitze Berggeſtein würde auch feinen Sohlen, Spitzen und Seide übel mitſpielen. Hier im Gegenteil iſt Ruppigkeit Mode: Ein kurzer derber Lodenrock, nägelbeſchlagene Stiefel, Tyrolerhut, je ver⸗ ſchoſſener und verkniffter, je chiker und — teuer. Naive Eitelkeit der Kinder⸗Menſchen, die den vergilbten ver⸗ runjenierten Hut teurer als den neuen bezahlen, um ihren Nebenmenſchen als kühne gewiegte Bergfexe zu imponieren. In Berchtesgaden giebt es keine offiziellen Spazier⸗ gänge, wo die Damenwelt für ihre ſüd⸗ oder nord⸗ deutſchen Schneiderinnen Reklame macht, kein Kurhaus mit Läſteralleen. Ein anderer, neuer Ehrgeiz beherrſcht hier den Städter, beſonders den norddeutſchen: Gipfel erklimmen. Wie forſch er den ſchweren Bergſtock balanciert und ſeinen Ruckſack aufbuckelt, wie wuchtig er mit den Nägelbeſchlagenen emporſtapft. Nur die nackten Kniee riskiert er in den ſeltenſten Fällen. Aber jodeln und juchzen thut er wie der eingeborenſte Tyroler, ein Beweis von dem Anpaſſungsbedürfnis des Menſchen an die jeweilige Ortlichkeit. Würde jemand in Herings⸗ dorf oder Oſtende einen Juchzer riskieren? Wenn nicht zuweilen die roten Weſten und blanken Knöpfe der Lakaien, die in einem Fürſtenſitz nebenan bedienſtet ſind, aufblitzten, man könnte glauben, hier wirklich 14* 211 einmal dem unverfälſchten Buſen der Natur nahe zu ſein. 6. Juni. Ich ſchlafe bei offenem Fenſter. Wenn ich morgens die Augen aufſchlage, kann ich vom Bett aus in die Landſchaft ſehen. Eine Pracht! Und jeden Morgen anders. Geſtern war das Thal in Nebel ge⸗ hüllt, ein wallend glitzerndes Meer, das mir entgegen⸗ ſchimmerte, und die Kirchenglocken klangen zu mir herauf wie aus einer im Meer verſunkenen Stadt. Heut ſah ich in der Morgenfrühe Wolken im Schoß der Berge ziehen, wallende, wogende; die Sonne durchſchoß ſie mit goldenen Pfeilen (genieren Dich die goldenen Pfeile, ſo ſtreiche ſie aus), bis ſie in leuchtend ſchimmernden flimmernden Dunſt zerfloſſen, und die ſtarren Felſen ſich in der zarten ſilbrigen Umarmung weich zu löſen und dahinzufluten ſchienen mit den fahrenden Wolken. Eine zauberhafte Rieſendekoration, die Berge, die der Couliſſenſchieber Wind hin und her ſchob, und der⸗ ſelbe Wind wehte mir Blüten aufs Bett. Roſig ſchön, lauter Sonne und Wonne. Und in aller Frühe höre ich den Hammerſchlag aus dem Thal, und ich höre den Ton der Senſen. Wie ſie alle arbeiten, Tag für Tag, Stunde für Stunde, Jahr für Jahr, als lebte jeder einzelne Jahr⸗ tauſende. Und nicht nur die, die arbeiten müſſen, um zu leben, die anderen auch; alle arbeiten, immer — alle. Ich habe einen Aufſatz von Tolſtoi geleſen: „Nicht“ thun“, in dem er ſich mit dem chineſiſchen Philoſophen 212 (Namen vergeſſen) einverſtanden erklärt, der das Nicht⸗ thun für die Bedingung alles Glücks und aller Wahr⸗ heit hält. Arbeit, meint Tolſtoi, mache nicht gut, ſondern grauſam. Sie ſei keine Tugend, weil der Menſch arbeite, wie das Böcklein ſpringe, aus Naturnotwendigkeit. Der Aufſatz hat mich nachdenklich gemacht. Nachmittags wandle ich meiſt zum Schlöſſel hin⸗ aus. Das iſt eine Gaſtwirtſchaft, die auf einem breiten blumigen Wieſenhügel ſteht. Da ſitze ich gegen Sonnen⸗ untergang auf einer Bank. Über dem Hügel die kahlen Berge, Schnee in ihrem Schoß, und über Granit und Stein die luftigen Wolkengebilde, und über allem der Gedanke des Menſchen. Da ſitze ich, ſo nahe der Erde, unſer aller Grab, und meiner Seele Flug überholt die Wolken, die Berge, den Himmel und verliert ſich im Ather — in eine undefinierbare Unendlichkeit. Immer aufs neue entzückt es mich, wenn dieſe Berge, die tagsüber tot und kalt ſind, im Abendſonnen⸗ licht anfangen zu leben und zu leuchten: Die Geiſter⸗ ſtunde der Berge. Eine Stunde nur. Von dieſen Seelenflügen bin ich vielleicht ſo müde, und es iſt kaum zehn Uhr. Gute Nacht, Du herzige Mutter. Sibilld. 10. Juni. Da bin ich wieder, ſchön ausgeſchlafen. Jeden Morgen dehnt ſich mein Spaziergang weiter aus. Mit vollen Lungen atme ich den würzigen, reinen Wald⸗ morgen. In der Frühe iſt's immer noch wie ein Zwinkern in den ſchlaftrunkenen Augen der Landſchaft. Erſt 213 ſind es nur die Kirchtürme und Dächer, die aus dem zarten nebligen Schleier herausblitzen. Und wohin ich mich wende, immer ſchimmert der mildverträumte bläuliche Dunſt durch das Grün der Wieſen und der Bäume, bis die große Weckerin, die Sonne, höher ſteigt und mit goldenem Finger (nicht zu verwechſeln mit oen goldenen Pfeilen des vorigen Briefes) die Schleier hebt. Ich habe den Tolſtoiſchen Aufſatz noch einmal geleſen. Wenn ich in meiner Lektüre auf originelle Welt⸗ anſchauungen ſtoße, gleich taucht der Wunſch in mir auf, mein Leben darnach einzurichten. Wie dieſer Aufſatz mich wohlthuend angemutet hat. Ja, Nichtthun! Die Vorſtellung durchzuckte mich mit ſolchem Frohſinn. Tolſtoi hat recht, tauſend⸗ mal recht. Ich verſuche es mit dem Nichtthun, und das eben, Mutti, iſt die Glücksbeute, auf die ich Jagd mache. Genau weiß ich allerdings nicht, was Nichtthun iſt. Auch nicht denken? Nicht leſen? Keine Zwie⸗ und Selbſtgeſpräche halten? Nur an Blume und Baum, an Ton und Farbe ſich anranken? Vielleicht — jd. Was ſoll man auch denken! Das ewige: wieſo, warum, wozu und ähnliche Menſchen⸗ und Geiſterrätſel ſind ſo abgedroſchen. Und was man auch denken mag, es wird ja doch widerrufen, wie die Vererbung, das Tuberkulin, der Sündenfall, die Arche Noah u. ſ. w. 214 Und die neueſte Idee, der neueſte Glaube wird doch auch über Nacht alt, ja meiſt bekommen wir die neueſten Ideen ſchon alt, nur auf neu auf⸗ gearbeitet. Siehſt Du, Mutti, ich möchte etwas recht Tief⸗ ſinniges aushecken. Und ich wette, wenn ich glaube, recht tief gedacht zu haben, gelange ich zu irgend einem Gedanken, den Plato oder Sokrates oder Eugen Dühring, Marx oder der Chineſe Fufu ſchon gehabt haben, und der längſt antiquiert iſt. Und ich möchte originell ſein. Auch wieder dumm. Ich meine, man wird erſt dann originell, wenn man alle Originalgeiſter, die vor uns waren, in ſich durchgearbeitet hat. Heine braucht einmal das treffliche Bild, daß ein Zwerg auf den Schultern des Rieſen weiter ſähe als der Rieſe ſelbſt. Ich habe den Anſchluß an den Rieſen verfehlt. Ich fühle mich Zwerg. Aber ich wollte ja vom Nichtthun ſprechen. Ich habe mich für das Nichtleſen und Nichtdenken entſchieden. Nichtthun — Unſinn, wenn man das Denken nicht hindern kann. Denken, nicht die größte Arbeit? die entnervendſte oder erregendſte oder ſchickſal⸗ vollſte? Thun wir alſo, ſagte ich mir, abſolut nichts — was mir ja leichter werden muß, wie vielen andern, da der Abſtand zwiſchen meinem bisherigen Thun und dem Nichtthun nicht gar ſo groß iſt — und lauſchen wir, was die Vögel ſingen und die Winde rauſchen. Ideen, Bilder, Stimmungen, Senſationen, ich will ſie 215 nicht rufen, ich will ſie aufnehmen, wie ſie kommen, ſie nicht halten, wenn ſie fort wollen. Hat mich denn das Leſen klüger gemacht? Ein wenig vielleicht. Heißt klüger werden, glücklicher werden? Nein. Während ich Stunde um Stunde leſe, verſäume ich Gott weiß was für Natur⸗ und Seelenoffenbarungen, ich verſäume Morgen⸗ und Abendröten, ich verſäume mich ſelbſt. Menſchen und Bücher lügen ſo. Immer zwiſchen den Zeilen leſen, immer hinter den Grimaſſen das wahre Geſicht ſuchen, man wird ſo müde davon. Alſo: Menſchen fort! Bücher fort! Alles fort! Nur meine Chaiſelongue nicht, die brauche ich zum Nichtthun, wie das liebe Brot. Mein einzig Thun in den nächſten Tagen ſoll der Brief ſein, den ich an Dich ſchreiben werde. Eigentlich iſt mir die winzige idylliſche Villa, die ich bewohne, nicht ſchön, nicht phantaſtiſch genug für das Nichtthun. Ich möchte in einem Schloß am Meer wohnen, ein Meer, das ſich an Marmormauern bricht, hohe Cypreſſen, wilder roter Wein, verwitterte Säulen, geheimnisvolle Treppen, große wunderſame Blumen — alles düſter, phantaſtiſch. Zärtliche Grüße vom Lotterbett aus ſendet Dir Deine Sibilla. 20. Juni. Da liege ich nun auf meiner ſchönen Veranda, bei wundervollem Wetter. Ich habe mir ein Tiſchchen vor die Chaiſelongue ſetzen laſſen, und meine etwas müden Finger ergreifen die etwas ſchwere 216 „feder, um Dich au courant meines dolce farniente zu halten. Der Anfang war vielverſprechend. Nach Sonnen⸗ untergang. Ein letzter roter Schimmer auf den Tannen. Ich blickte mit der verträumten, angenehmen Müdigkeit eines eben Geneſenen von meinem weichen Pfühl empor zu den weiten Gefilden da oben, hinein in das ſonnendurchglühte roſige Rot auf dem zarten Azur und wartete der Dinge, die da kommen ſollten. Ich ſah die Menſchen auf den Wieſen in dämmerndem Abendſchein untertauchen, und ich ſelbſt fühlte mich in Ton, in Farbe und Duft leiſe verſchwimmen. Die Tannen dufteten und auch ſchon die Roſen, und in der Ferne blies jemand ein Horn. Die Töne trugen mich in meine ferne Jugend und Unſchuld zurück, und eine mildſüße Thräne zitterte in meiner Wimper. Iſt nicht auf Bildern, auf Landſchaften zumal, die Stimmung des Bildes ſein eigentlicher Inhalt, ſeine Poeſie? Und könnte nicht ſo auch unſer Leben nur Stimmung ſein, Stimmung ohne Schickſale, ohne Kämpfe, ohne all' das verzehrende Wollen und Denken? Iſt es wohl denkbar, Mutti, daß die Menſchheit — wie Schopenhauer und Tolſtoi es für möglich halten — ſich, wie der Skorpion in ſeinen eigenen Stachel ſtürzend, durch Abſtinenz von der Zeugung vom Erdball verſchwinden wird? Dieſe Ungeduld! Das Abſterben wird ja ganz von ſelbſt kommen, an Alters⸗ ſchwäche oder durch irgend eine Naturkraft, wie den einzelnen etwa ein Ziegel, der vom Dach fällt, zer⸗ ſchmettert.“ 217 Ach, wie ich mich dehne und recke! Und wie dieſes Nichtthun unter Roſen⸗ und Tannenduft üppig iſt, ſüdlich, äquatorhaft. Ich will's aber geſtehen, ab und zu leſe ich ein lyriſches Gedicht; das, meine ich, paſſiert beim Nicht⸗ thun, wie etwa ein Ei bei den Vegetariern. Ich bin ſchon müde. Nachher ſchreibe ich weiter. Abend. Am Nachmittag regte ſich mit einem Male der Selbſterhaltungstrieb meines Denkorgans, und ſie kam mir ganz kindiſch vor, dieſe Vorſtellung des Nichtthuns. Ich machte mir klar, was für Kämpfe gekämpft und was für ungeheure Arbeit die Menſch⸗ heit hatte leiſten müſſen, damit ein Tolſtoi oder jener Chineſe ihre Gedanken denken, damit überhaupt irgend ein Menſch ſich dem Nichtthun hingeben konnte, ohne von ſeinen Mitgeſchöpfen, ſeien es Beſtien oder Menſchen, unliebſam geſtört, wo nicht gar aufgefreſſen zu werden. Wenn das Nichtthun ein Inſtinkt des Menſchen wäre, dem er von jeher gefröhnt, was für eine naiv⸗brutale Phyſiognomie würde die Menſchheit haben, was für eine ſchaurig dunkle Höhle müßte der Erdball ſein? Denkſt, Mutti, ich werfe die Flinte ins Korn? Noch lange nicht. Auf der Chaiſelongue wird geblieben, das Nichtthun wird fortgeſetzt. Entfurche Dich, Denkerſtirn! Singt, Ihr Vögelein, rinnt, Ihr Bächlein. Rauſcht, Ihr Winde! Wetter wundervoll. Nur zu viel Duft. Akazien und Roſen! Mit müden, aber lächelnden Lippen küſſe ich Dich. Sibilla. 218 1. Juli. Mutti, Mutti! ich habe das abſolute Nichtthun aufgegeben. Was? idealiſtiſch, nirvanahaft das Nichtthun? Aber gar nicht, gar nicht, au contraire: erſchaffenwollend, zeugenwollend iſt's. Noch einen ganzen Tag habe ich gelauſcht, was die Vögel ſangen, was die Winde rauſchten. Ich habe ſo feine, feine Ohren. Ach, Mutti, die Vögel ſangen nimmer: träume, — ſchlafe! Sie ſangen von Luſt und Liebe. Und nimmer rauſchten die Winde ſeligen Frieden, ſie rauſchten Trutz und Kampf. All das Blühen und Sproſſen, das Singen und Klingen, das vollſaftig treibende Leben um mich her, es durchdrang mich, es ſchwellte meine Adern. Spät am Nachmittag war's. Ich ſprang auf von der Chaiſelongue, mich durſtete nach einem Feuertrank. Ich lief in den Garten bis ans Ende, wo er ſich in den Wald verläuft. Im dichten Gebüſch warf ich mich nieder — l'heure bleue? nein l'heure rouge, rouge! Ich begriff das Excentriſchſte. Die Finken ſchlugen anders als ſonſt, ſo wild lockend, mit flammend roter Sehnſucht, ſo dröhnend, daß es mir die Bruſt verletzte. Giebt es ein ſchmerzliches Feuer, Mutti? es war in mir. Wogen von Duft und Farbe und Ton, ſie ſchlugen über mir zuſammen. Ich ſtreckte die Arme empor wie ein Ertrinkender und rief — rief — Raphael! rief ich, Raphael! Was ſtieg aus dem Urgrund meiner Seele? Die nackte Natur? Venus aus dem Schlamm — — Meſſa⸗ linengelüſte? O, Mutti, radiere ſchnell das Wort wieder aus. 219 Warum ſchaudern wir bei der Vorſtellung einer Meſſalina? und warum ſchaudern wir nicht bei der Vorſtellung eines Don Juan? In Dramen freilich, da holen ihn die Teufel zur Hölle, im Leben aber holen ihn die ſchönen Frauen in den Himmel. Und wir — — Gott ſei Dank, ein wolkenbruchartiger Regen ging nieder und regulierte die wilden Schläge meines Herzens. Mag dieſer ſchwüle Drang auch ein Stück Natur ſein, wie die elektriſche Spannung, die dem Gewitter vorausgeht, ich empfand eine Stunde ſpäter einen in⸗ tenſiven Abſcheu vor dieſer Stimmung. Nie wieder! Darum fort mit dem Nichtthun! Mit dem faulen Chaiſelongue⸗ und Lotterleben. Auf die Berge! Hinauf! bis hoch in die Gipfel! Gleich morgen! Heut küſſe ich Dich nicht, meine Lippen ſind entweiht. In Deinen Schoß möchte ich mein Antlitz drücken. Ich ſchäme mich vor Dir. 3. Juli. Da bin ich wieder. Von Bergeshöhen komme ich. Und Ozon bringe ich mit. Von einem Menſchen kommt es. Ich habe etwas erlebt, etwas Großes. Einen Menſchen habe ich erlebt. Ich bin zwar hundemüde von der Partie, mein Geiſt aber iſt fröhlich, und ich ſchreibe Dir auf friſcher That. Alſo gegen ein Uhr — es war noch etwas warm fand der Auszug auf die Berge ſtatt, handſchuhlos, mit grobem Lodenrock, Kattunbluſe, nägelbeſchlagenen Stiefeln, verknifftem Tyrolerhut, wie ſich's gehört. 220 Und die Hauptſache: allein, mutterſeelen allein, zuna erſten Mal auf einer Bergtour allein. Ich muß wirk⸗ lich ſehr echt, bis zum ſtrolchhaften ausgeſehen haben, denn ein paar arme Handwerksburſchen baten mich nicht einmal um einen Zehrpfennig zur Reiſe. Um durch meine Reize niemand, der etwa des Weges kam, zu einer unliebſamen Annäherung zu ver⸗ führen, hatte ich meine auffallende Mähne bis auf die kleinſte Stirnlocke unter den pyramidalen Tyroler gezwängt. Ich war sans phrase häßlich. Eine Kapelle, zwei und eine halbe Stunde von meiner Villa entfernt, war das Ziel meiner Wallfahrt. Ich riskierte ja nichts. Auf halbem Wege lag eine Gaſtwirtſchaft. Ermüdete ich, ſo konnte ich da raſten und umkehren. Es ſind noch nicht viel Fremde in Berchtesgaden. Ich begegnete nur ab und zu einem kniefreien Ein⸗ geborenen, der mir ein „Gott grüß“ zurief. Erſt ging es über breite, mit Gras und Blumen bewachſene Hügel, zur Seite die Waldberge und hoch über den Waldbergen das granitne Geſtein, der Göll, der Watz⸗ mann, der Untersberg. Scharen ſchwarzer Vögel flogen über die Gipfel in den lichtblauen Himmel hinein. Dann der Wald; ein ernſter, dichter Föhrenwald. Zaghaft ſtand ich anfangs vor dieſer düſteren Pforte, ſchwankend, ob ich mich hinein wagen ſollte. Die Sonne ſagte: Geh nur, ich gehe ja mit, und durch die hohen ſchlanken Stämme, die aus weichem, welligem Moos hoch empor ſtreben, liebäugelte ſie mit mir und 221 winkte mir zu einer Lichtung hin, und als ich in die Lichtung trat, lachte ſie hell und luſtig auf: Siehſt Du, da bin ich. Ich und die Sonne, wir verſtehen uns. Nun hatte ich Mut und ſchritt immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Wunderſchön, dieſe Ein⸗ ſamkeit in dem Föhrenwald, und doch beklemmend. Nur einen kleinen Raum umfaßt unſer Auge. Was iſt hinter dieſem Baum? hinter jenem? Wie viel verſchiedene Geräuſche, es ſummt, ſäuſelt, es ſchwirrt. Der Waldſpecht, der Schlag eines Finken, alle dieſe Töne klingen ineinander, oft ſeltſam. Ge⸗ heimnisvoll, unheimlich das Waldweben. Allmählich wurden die Tannen niedriger, dichter, zuletzt ganz niedrig und dicht, geſtrüppartig, ein Gnomenwald von zwerghafter Wildheit. Der Boden dicht mit Nadeln und trockenen Zweigen bedeckt, kein Sonnenlächeln mehr, kein Vogelſingen, ein fernes feines Getön von Herdenglocken der einzige Laut. Etwas Verzaubertes war in dieſer Lautloſigkeit. Ich fing an mich zu fürchten. Früher fürchtete man ſich in der Einſamkeit der Wälder vor wilden Tieren, jetzt vor wilden Menſchen. Wann endlich wird man auch dieſe ausrotten? Legendenhaft wird künftigen Jahrhunderten die Furcht vor Menſchen erſcheinen. Da dieſe künftigen Jahrhunderte aber noch in weiter Ferne ſind, fing ich an zu laufen und atmete erſt auf als ich aus dem Zauberwald heraustrat. Und nun begann der Aufſtieg auf die Berge. 222 In dieſem allmählichen Aufſteigen iſt etwas Rhyth⸗ miſches, die Nerven Beruhigendes. Wohl eine halbe Stunde ſtieg ich frohgemut empor. Wie es dann kam, daß ich, vom Hauptweg abirrend, in einen Waldweg geriet, weiß ich nicht mehr. Thatſache: ich verirrte mich regelrecht. Und wieder umfing mich blaſſe Furcht. Ich ſtand ratlos, das Weinen war mir nahe, und dazu kam — Hunger, wirklicher, ordinärer Hunger. Ich hatte auf halbem Wege in der Gaſtwirtſchaft etwas eſſen wollen und nun den Weg verfehlt. Ich war im Begriff, aufs Geratewohl irgend wohin meine Schritte zu lenken, als ich in der Ferne eines Menſchen anſichtig wurde. Er hatte bedeckte Kniee; das war mir nicht recht. So zuwider mir ſonſt die nackten Kniee ſind, zu ihren Beſitzern habe ich mehr Vertrauen als zu denen mit langen Bein⸗ kleidern. Ehe ich einen Entſchluß faſſen konnte, ob fliehen ob bleiben, hatte er mich ſchon erblickt. Je näher er kam, je beruhigter fühlte ich mich, und als er vor mir ſtand, meinte ich, nie eine vertraueneinflößendere Phyſiognomie geſehen zu haben. Es war ein auffallend großer und kräftiger Mann mit klaren blauen Augen und ſtarkem blonden Kraushaar. Er trug Ruckſack, Joppe und Tyrolerhut und ſah wie ein Förſter oder Forſtgehilfe aus. Getroſt fragte ich ihn nach dem Wege zur Kapelle. Auch er wolle da hinauf; er bot mir ſeine Be⸗ gleitung an. 223 Wir ſchritten nun friſch nebeneinander her, und bald plauderten wir flott und gemütlich miteinander. Die Sicherheit und Einfachheit ſeines Weſens wirkte anheimelnd. Überdies: exceptionelle Situationen ſchaffen immer gleich exceptionelle Beziehungen. Eine einzige Stunde brachte mich dieſem Fremden näher, als es wahrſcheinlich ein jahrelanger geſellſchaftlicher Verkehr mit ihm in München gethan hätte. Daß wir augenſcheinlich eine gleich intenſive Freude an der Natur hatten, trug viel dazu bei. Wer und was mochte er ſein? Zur eleganten Welt gehörte er ſicher nicht. Es fehlte ihm jedes Parfüm der Nobligkeit. Ein Ritter von Geiſt? Eher. Ein Lehrer etwa? Dazu war er zu frei, friſch und gar nicht fromm. Er fand es recht und tüchtig von mir, daß ich mich ſo allein in die Berge wagte. Vom bayriſchen Volk ſei nichts zu fürchten, brav und kernig ſei es. Und er ſprach von den Eigenſchaften ſeines Volks⸗ ſtammes, von ſeinen Gebräuchen, den örtlichen Ver⸗ hältniſſen u. ſ. w. Es war unſchwer herauszufinden, daß ich es mit einem ungewöhnlich gebildeten und in⸗ telligenten Mann zu thun hatte. Immer vertrauter wurden wir. Wir verſchmolzen unſere Stimmen zu den kühnſten Juchzern und Jodel⸗ rufen, wir ſangen zweiſtimmige Volkslieder, von denen ich gar nicht wußte, daß ſie noch in der Tiefe meiner Erinnerung lebten. Z. B. „Wer will unter die Sol⸗ daten —“ und „Wer hat dich du ſchöner Wald“ u. ſ. w. 224 Es marſchierte ſich wunderbar dabei und immer mehr Blumen ſteckte er auf meinen Hut. Ab und zu raſteten wir, und ſaßen dann wie gute alte Bekannte neben einander im Mooſe, kurze Be⸗ merkungen über die Schönheit der Landſchaft aus⸗ tauſchend, oder irgend eine Reflexion daran knüpfend. Er fand einmal, daß die Liebe zur Natur eigentlich eine unglückliche Leidenſchaft ſei, da wir ja immer nur an ihr vorüber gingen, immer Trennung, immer neue Liebe ohne Treue. Und ſie widme uns auch keine Gegenliebe. Sie lebe für ſich, nicht für uns. Wir ſähen den Himmel, die Berge, den Wald, ſie ſähen uns nicht. „Na,“ bemerkte ich beſcheiden, „ſie verlieren viel⸗ leicht nicht viel daran.“ „So?“ meinte er, „ſind unſere Gedanken nicht höher als die Berge, tiefer wie der See, klarer wie die Sterne, und“ — er machte eine Pauſe und blickte mich ſo herzerfriſchend heiter an, „die Berge und der Himmel und die Erde ſehen Sie nicht!“ Mutti, nie hat mir eine Schmeichelei ſo viel Ver⸗ gnügen gemacht wie dieſe. Mich hübſch zu finden trotz meines kupferrot echauffierten Teints, trotz meines greu⸗ lichen Tyrolers und meiner nägelbeſchlagenen Plump⸗ heit — das war ein Kunſtſtück. Einmal fragte er mich geradeaus: „Ich meine, Sie ſind eine norddeutſche Lehrerin? „Wenn ich nun eine verkleidete Fürſtin wäre? Es wohnen ja ſo viele in Berchtesgaden. 15 225 Er lachte. „Eine Fürſtin, allein, führerlos in den Bergen? „Führerlos und proviantlos.“ Ich warf einen ſehnſüchtigen Seitenblick nach ſeinem Ruckſack. Eilig entledigte er ſich des Sackes und entnahm ihm ein weidengeflochtenes Körbchen. Er machte mir unter einer ſchönen Tanne einen weichen Moosſitz zurecht und reichte mir den Inhalt des Körbchens hin: Kirſchen, Brot und Käſe und eine Feldflaſche mit Waſſer und Wein gefüllt. Käſe? ich rümpfte ein wenig die Naſe. — „Am Ende doch Fürſtin?“ ſagte er lächelnd. — „Nur ihre Kammerjungfer.“ Ich bemühte mich, als ich das ſagte, recht ehrlich auszuſehen. Und denke Dir, Mutti, der Unhold ſchien von meiner Mitteilung gar nicht impreſſioniert, er glaubte mir aufs Wort, was mich natürlich einigermaßen ver⸗ droß, ſo daß ich nicht umhin konnte hinzuzufügen „Außerhalb des Waldes wäre Ihnen gewiß ein Mädchen in meiner Poſition zu gering, um mit ihr zu plaudern? Er ſah mich groß und ernſt an. „Sie würden dieſe Frage nicht an mich gerichtet haben, wenn Sie wüßten — —“ „Daß auch Sie Kammerdiener ſind?“ fiel ich ein. — „Daß ich Redakteur eines ſozialiſtiſchen Jour⸗ nals bin. Sie brauchen aber Ihrer Fürſtin nicht zu ſagen, daß Grünhütchen im Walde dem Wolf be⸗ gegnet iſt. 226 Wie konnte ich nur nicht gleich darauf kommen, daß er Schriftſteller iſt. Was hätte er anders ſein ſollen! Ich war einverſtanden damit, und biß tapfer in das Käſebrot. Wir tranken aus derſelben Feld⸗ flaſche — — Mutti, er iſt ja morgen über allen Bergen. Er iſt nämlich auf einer Bergtour begriffen und kommt nicht nach Berchtesgaden zurück. Er hat es mir ſelbſt geſagt. Eine wohlige, übermütige Stunde, durch nichts Vergangenes und Zukünftiges getrübt — Er hatte Erdbeeren entdeckt, ſammelte ſie auf ein Blatt, kniete dann vor mir, und während er ſie mir in den Mund ſteckte, ſang er die der Situation entſprechende Stelle aus Hanſel und Gretel: „Schluck, ſchluck, ſchluck“ u. ſ. w. Eine allerliebſte, funkelnagelneue Situation. Von da an nannte er mich Gretel und ich ihn Hanſel! Und demgemäß betrugen wir uns ganz hanſel⸗ und gretel⸗ haft, kindiſch⸗vergnügt. Es ſtimmte noch manches andere zu „Hans und Gretel“: der märchenhafte Wald, die goldene Brücke, auf der Genien auf⸗ und niederſchwebten (unter Genien die lieben reinen Gemütstöne verſtanden, die in meiner Seele geſchlummert und nun erwachten). Ein Gefühl ſo herzlicher Kameradſchaft zwiſchen Mann und Frau hätte ich kaum für möglich gehalten. Wenn er wüßte, Mutti! wenn er wüßte! Was? Natürlich, daß ich über dreißig Jahre alt bin. Ich feire meine Geburtstage nicht mehr, ganz Vogel Strauß, der 15* 227 bekanntlich ſeinen Kopf in den Sand ſteckt, um nicht geſehen zu werden. In anderthalb Stunden waren wir auf der Höhe. Wir ſetzten uns in eine für die Fremden hergerichtete kleine tempelartige Laube. Die Sonne neigte zum Unter⸗ gang. Mit großen verſchlingenden Augen ſahen wir hinaus in die Pracht der Landſchaft. In zarter ſchattenhafter Verträumtheit lagen die Berge vor uns, von ſchier ſagenhaftem Flimmer um⸗ woben, der in den leuchtenden Spitzen des Schnees endete. Die Färbung, ein zärtliches Zerflimmern und Verdämmern von Roſen und Lilien. In ihrem leiſen Ineinanderfließen nahmen ſich die Berge aus wie ſelige, von Genien bewohnte Wolken, oder leuchtende Schatten von Götterburgen, Walhallen, phantaſtiſch hoch über allem Irdiſchen, hinreißend in ihrer traum⸗ haften Schönheit. Wir waren eins in Entzücken. Wir ſtanden Hand in Hand. Ich weiß nicht, wie das kam, aber es kam ſo. „Auf der Höhe!“ ſagte er, und innig und feſt preßte er meine Hand. Wir ſtanden da, erlöſt vom Damen⸗ und Herrentum, zwei Menſchen, die ſich gefunden, ſobald ſie ſich begegnet — Geſchwiſter⸗Seelen. Der Himmel erblaßte allmählich. „Wie heißt das Gretel?“ fragte er, als wir uns langſam zum Gehen wandten. „Sibilla! Und der Hanſel; „Albert Kunz! 228 Wirſt Du es begreifen, Mutti, der Name ernüch⸗ terte mich etwas. Ich habe von jeher den Namen Albert nicht gemocht. Vom nahe gelegenen Wirtshaus kamen Guitarre⸗ töne. Hand in Hand gingen wir zur Kapelle. Warum ſind alte Kirchen und Kapellen ſo ein⸗ drucksvoll, ſelbſt auf das Gemüt abſoluter Atheiſten? Hanſel meinte, es ſei nur der maleriſche Effekt. Ich glaube, es iſt mehr. Die Pforten der Welt ſchließen ſich hinter uns, wenn die Thüren der Kirchen ſich öffnen. Wir ſind in der Vorhalle eines Jenſeits. Die Tiaren, die weißen Lilien, die blutigen Thränen und goldenen Kronen, Blumen und Dornen, Miſerere und Jauchzen, Halleluja und Requiem, Verzückung und Martyrium, das alles zuſammen erzeugt eine von heiligen Geheimniſſen umzitterte Atmoſphäre, die einer idealen Sehnſucht unſeres Gemütslebens ent⸗ ſpricht. Albert Kunz nannte es Rauſch. Er fand die bunte Glasmalerei der Kirchenfenſter, die das Verblichene, Rohe und Verfallene in eine myſtiſche Beleuchtung rücken, fein und klug erſonnen. Offne man dieſe großen Fenſter und laſſe Sonne und Licht hinein, ſo erſcheine an Stelle der weihräucherlichen Myſtik, Gerümpel, Staub, Spinnweben — Plunder. Es ſcheint, unſere Geſchwiſter⸗Seelen ſind doch nicht ganz auf denſelben Accord geſtimmt. Den Rückweg legten wir ſchweigend zurück. Da es allmählich ziemlich dunkel wurde, nahm er meinen Arm und gab acht, daß ich nicht fehltrat. 229 Ich war ſo herzreich in dieſer Stunde, daß ich allen Dingen um mich her davon abgeben konnte, den Wieſenblumen, den Gräſern, den zirpenden Heimchen, den rinnenden Waſſern. So ſeelenfriedlich, ſo milch⸗ ſtraßenfreundlich, fern ab von der Welt, als hätte ich alles beiſammen, was mir not thut. Das war wirklich T'heure bleue. Wie anders, anders als die geſtrige heure rouge. Nichts fehlte mir, als Du, liebe Mutter, und un⸗ willkürlich mußte ich an die Abende denken, wo ich vor Deinem Bett knieend, Dir mein ganzes Herze ſagte. Als wir kaum noch hundert Schritte von meiner Villa entfernt waren, ſah ich eine Lampe auf meiner Veranda und meine Jungfer, die ängſtlich hinausſpähte. Ich zog meinen Arm aus dem meines Begleiters und zeigte auf die Villa. „Da wohne ich; Gott zum Gruß, lieber Hanſel. Er wußte, daß er nicht weiter mitgehen durfte. „Gretel!“ Plötzlich hatte er mich umſchlungen und geküßt, herzhaft auf die Wange geküßt. Na — morgen iſt er ja über allen Bergen. Und überhaupt, ich finde es nicht ſo entſetzlich, wenn ein Mann aus herzliebem Gefühl, ohne den Beigeſchmack der Sinnlichkeit, eine Seelenſchweſter küßt. Hebe dieſen Brief auf, Mutti, wie ein Blatt aus Arkadien, das ich vielleicht ſpäter einmal, in Stunden öder Weltlichkeit mit Rührung leſen werde. 4. Juli. Liebe Mutti, es kommt doch immer ganz anders, als man denkt. Geſtern war ich von 230 der rieſigen Bergtour an allen Gliedern wie zer⸗ ſchlagen. Ich blieb den ganzen Tag zu Hauſe. Am Nachmittag lag ich auf der Chaiſelongue. Ich hatte das weiße Kleid von dem zarten indiſchen, mit ſeidenen Blumen durchwebten Stoff an, an dem Dir die Silberborte an dem kleinen, viereckigen Ausſchnitt immer ſo gut gefallen hat. Das Haar leicht aufgeſteckt. Als ich in den Spiegel blickte, mußte ich lächeln über den Kontraſt, den meine heutige Erſcheinung zu der geſtrigen bot. Ich wollte leſen, aber meine Gedanken ſchweiften von dem Buch ab, hin zu Albert Kunz. Daß er ſich ſo leicht und ſo gleich wieder von mir frei gemacht hatte, verdroß mich beinahe. In den Nebenzimmern wurden Thüren auf und zu gemacht. Das Geräuſch irritierte mich. Ich erhob mich, um meiner Jungfer zu klingeln. Ehe ich aber zur Klingel kam, öffnete ſich die Thür meines Salons und vor mir ſtand — Albert Kunz, und vor ihm ſtand ich, in der Pracht meiner funkelnden Ringe und meines ganzen Toilettenzaubers. Denke Dir, Mutti, denke Dir, er erkannte mich im erſten Augenblick nicht. Er prallte zurück. Blen⸗ dete ich ihn? Er ſtammelte ein paar Worte der Ent⸗ ſchuldigung, wußte augenſcheinlich nicht, was er ſagte, und ſeine Blicke ſaugten ſich förmlich an meinem Geſicht feſt, leidenſchaftlich ſuchende, angſtvoll lauernde Blicke. „So ſind Sie nicht über allen Bergen?“ Da erkannte er mich an der Stimme. 231 Eine dunkle Röte übergoß ſein Geſicht. Verwirrung und Abwehr drückte es aus. „Doch Fürſtin? Ein ſo bitterböſer Vorwurf lag in ſeinem Ton, daß ich laut lachen mußte. „Nein, nur Sibilla Raphalo, die Gattin eines ebenſo einfachen wie reichen Mannes.“ Er ſchien nur das Wort Gattin gehört zu haben, denn er wiederholte mehrere Male, halb erſtaunt, halb geringſchätzig: „Gattin! Gattin!“ Gewölk jagte über ſeine Stirn, Blitze zuckten drüber hin. „Hanſel!“ Dieſes Hanſel war mehr als leicht⸗ fertig von mir. Es fixierte, was ein flüchtiges Momentbild hätte ſein ſollen, verwandelte ein heiter belangloſes kleines Abenteuer in ein ernſtes Er⸗ lebnis. Aber ich wollte auf alle Fälle die Situation ihres theatercoupmäßigen Charakters entkleiden. Ich haſſe die Scenen, unter die man „tableau“ zu ſchreiben pflegt. Die Wolken auf ſeiner Stirn verteilten ſich, die Blitze hörten auf zu zucken. „Es wäre beſſer geweſen, ich hätte dem Verlangen, Sie wiederzuſehen, nicht nachgegeben. Ich wollte zum Gretel — 's Gretel iſt fort. Wirklich, ich hätte längſt über allen Bergen ſein ſollen. „Bei den ſieben Zwergen, wo das Schneewittchen wohnt. „Das Königskind.“ — Er ſagte es mit einer eigentümlichen Traurigkeit in der Stimme. 232 „Erlöſen Sie es doch von der Königskindſchaft, Sie Redakteur eines ſozialiſtiſchen Journals. Übrigens ich kenne Ihr Journal, ich leſe es und — ich teile Ihre Weltanſchauung. Die letzte Wolke verzog ſich. Himmelsbläue, eitel Sonnenſchein auf ſeinem Geſicht. Seine Befangenheit löſte ſich nun zwar, doch ſo recht fand er ſich noch nicht in die neue Situation. Er ſah mich immer an, mit einem naiv bewundernden Erſtaunen, und noch ein paarmal ſagte er: „'s Gretel iſt fort.“ „Hat Ihnen denn das Gretel beſſer gefallen als Sibillak „Es ſtimmt mich traurig, daß Sibilla ſo kränklich blaß, ſo lilienweiß iſt. Gretel war ſo friſch rot.“ „Sagen wir, wenn wir aufrichtig ſein wollen, rotblau, welche Färbung Sie ja von neuem genießen können, wenn Sie noch einen Tag in Berchtesgaden bleiben und mich auf den Göll begleiten wollen. Ja, er wollte noch einen Tag bleiben, aber nur einen einzigen, um mich auf den Göll zu begleiten. Natürlich denke ich gar nicht daran, den Göll zu beſteigen, der iſt mir viel zu hoch. Aber die Lange⸗ weile verſcheuche ich gern. Es kam zu keiner rechten Unterhaltung mehr. Er war unruhig und ging bald. Wie deuteſt Du ſeine Unruhe, Mutti? Meine nächſten Briefe werden wohl alle von Albert Kunz handeln. Sei geküßt, Du Liebſte, von Deinem Beichtkind. 233 10. Juli. Liebe Mutti, der Albert Kunz denkt natürlich gar nicht mehr ans Abreiſen. Wir machen täglich längere oder kürzere Spaziergänge, und wenn es nicht zu ſteil bergan geht, ſind wir immer dabei, ſoziale Frageu zu löſen. Auf dieſen Wanderungen ſind wir nach wie vor Hanſel und Gretel und in beſonders animierter Stim⸗ mung, ſogar „Du“, z. B. „Siehſt Hanſel, das Gretel iſt doch nicht fort.“ „Aber verkleidet bleibt's doch, ich ſpüre immer die Märchenprinzeſſin hindurch, trotz Lodenrock und Ruckſack.“ Ich bin zu ihm immer dieſelbe, er zu mir nicht ganz derſelbe. Eine neue Note iſt in ſein Weſen ge⸗ kommen. Bei ihm klingt und ſchwingt eine Saite, die bei mir nicht wiederklingt. Ich ſag's Dir gleich: der Hanſel hat ſich ins Gretel verliebt. Nein, doch nicht ins Gretel, ſondern in Sibilla. So ein Sozialiſt! Ins Gretel hätte er ſich verlieben müſſen. Neulich habe ich ihm erklärt, ich würde ſeine Namen umſtellen. Der Vorname Albert mißfiele mir. Er würde von jetzt an Kunz Albert heißen. Kunz, das klänge ans Romantiſche an: Kunz von der Roſen. — — Oder Kunz von der Lilien, ſagte er, da er doch der Ritter einer weißen Lilie ſei. Er machte aber doch ein bedenkliches Geſicht zu meiner Kaprice. Iſt er nicht willig, ſo brauche ich zwar nicht Gewalt, aber ich ſage: „Hanſel!“ Da wird er zahm und frißt mir aus der Hand. Hanſel, 234 Hanſel, ich fürchte, mit der Nachgiebigkeit in Betreff Deines Namens fängt Dein Unglück an. Für mich fürchte nichts, Mutti. Ich verliebe mich nie in ihn. Warum nicht? Ja, ſiehſt Du, meine Nerven korreſpondieren nicht mit den ſeinen. Kunz ſagt alles, was er denkt, ſo brüsk heraus. Wie ſeiner Stimme, ſo fehlt auch ſeinem ganzen Weſen das Piano, der Mondſchein. Sein Schritt iſt ſo feſt und beſtimmt, ich höre ihn ſchon immer von weitem. Er reizt keine Neit⸗ gierde. Er iſt immer ganz da. Mittagshelle. Und man ruht doch gern zuweilen in weichdämmerndem Abendſchatten aus. Er iſt der Sohn eines bayeriſchen Gaſtwirts. Und ich bin Deine Tochter, Du Feine, Du Zarte, Du in dämmerndem Zwielicht ſo melodiſch Verſchwimmende, Deine Sibilld. Verklingende. 15. Juli. Benno war einige Tage hier. Kunz der mit ihm wie mit allen Menſchen ſich einfach, natür⸗ lich und teilnehmend zeigte, hat ihm ſehr gefallen, und keine Spur von Eiferſucht bei ihm erregt. Es war mir lieb, daß Kunz ihn kennen lernte. So hat er ſich nun ſelbſt ein Urteil über ihn und unſere Ehe bilden können, ohne daß ich ein Wort darüber zu äußern brauchte. Die Art und Weiſe, wie ich mit Benno verkehrte, that ihm augenſcheinlich wohl. Die Partien, die wir zu dreien machten, faſt immer zu Wagen, erlitten durch Benno keinen Abbruch an Gemütlichkeit. Nur traten in der Unterhaltung an Stélle der ſozialen Fragen Bennos Anekdoten, 235 über die Kunz herzlich lachte; war er doch in dieſen Tagen ganz übermütig froh geſtimmt. Ob darüber, daß Benno gerade ſo iſt, wie er iſt? Wir fuhren auch über den Königſee, den ich zum erſten Mal ſah. Benno war lebhaft wie Queckſilber und anekdotenreicher als je. Meine und Kunzes Blicke flogen über das Waſſer, es war nur wie ein Überſchlag der Genüſſe, die wir haben würden, wenn wir einmal zu zweien hier im Kahn ſäßen. Unſere Blicke begegneten ſich in der Vor⸗ freude einer ſolchen Fahrt. Benno und Kunz ſind als gute Freunde von ein⸗ ander geſchieden, und mein lieber Mann hat Kunz ans Herz gelegt, mich ja gut zu chaperonnieren. Und wie vorher, ſo wurde nachher Bennos zwiſchen mir und Kunz nie gedacht. 16. Juli. Hier wurde ich geſtern durch Beſuche unterbrochen. Sie ſind da, meine Intimen, Borns, Riedlings, Eva Broddin mit Tante und verſchiedene andere, die Dich nicht intereſſieren. Einer von dieſen verſchiedenen andern, eine in München ſehr beliebte Perſönlichkeit, gehörte zu den Beſuchern. Ein fader Geſelle. Nicht einmal einen neuen Klatſch brachte er mit, nur den alten, aufgewärmten. So lange man mitten in der Geſellſchaft lebt, ſieht und hört man die Menſchen mit den Augen und Ohren der andern, gleichſam mit geliehenen Augen und Ohren. 236 Hier ſehe ich ſie, wie ſie ſind. Man ſteigt nicht ungeſtraft aus der kleinen Welt der Salons in die große Welt ſtolzer Bergnatur. Das iſt eine Ent⸗ larvung der ſeeliſchen und leiblichen Engbrüſtigkeit der faden Geſellen. Wer weiß, ob ich nicht in meinem Münchner Salon Kunz Albert ignoriert, und an dem geiſtreichen Jargon des Barönchens Gefallen gefunden hätte. Siehſt Du, Mutti, das iſt der immenſe Vorzug der Einſamkeit in der Natur: die Emanzipation von den andern. Ich habe aber doch ſchon verſchiedentliche Beſuche mit den andern ausgetauſcht und ihnen ſehr harmlos, aber ſehr ſchlau von Kunz Albert, dem Sozialiſten, den ich als Bergführer acquiriert, erzählt. Es kann ſein, daß ich dem Ton, mit dem ich von ihm ſprach, eine kleine, feine ſcherzhafte Nüance beimiſchte, nur da⸗ mit ihnen keine Hintergedanken kommen ſollten. Per⸗ fide, nicht? So iſt man. Kaum hat man wieder Fühlung mit der „Geſellſchaft“, ſo heult man mit den Wölfen, oder wenn die Wölfe zu protzig klingen ſollten, man wird zum Schaf, das dem Leithammel folgt. Sie haben ſich allmählich gegenſeitig kennen gelernt, Kunz und meine Münchner, und ſie beurteilen ihn, jeder von einem andern, das heißt, jeder von ſeinem Standpunkt aus. Riedling ſchätzt ihn eminent vom Standpunkt des Malers — als Modell. Die Damen finden ihn als Acquiſition für ihren Salon ganz acceptabel, da in einem Salon auch die heftigſten 237 Ultras und Antis chic ſind, wäre es auch nur, wie Timäa ſich ausdrückte, um Leben in die Bude zu bringen. Timäa, die auf einige Tage bei Eva Broddin zu Gaſt iſt, ſieht in Kunz nur den Mann, und findet ihn als ſolchen erſten Ranges. Wer ſich nicht ſchnur⸗ ſtraks in dieſen jungen Herkules verliebe, ſei keine un⸗ verfälſchte Weibnatur. Sie zeigt ihm ihr Wohlwollen unverhohlen, während die feine Eva ſich mit heimlicher Neugierde und dem ſchmachtenden Blinzeln ihrer geſchlitzten japaniſchen Augen an ihn ſchlängelt. Schade, er iſt nicht mehr ſo harmlos froh, ſeit⸗ dem ich meine Münchener Welt wieder um mich habe. Ein herberer, zuweilen mentorhafter Ton iſt in ſeine Geſpräche gekommen. Mit der vergnügten Kindſchaft ſcheint es aus. Und ich auch, ach Gott, ich bin wieder über dreißig Jahr alt. Glücklicherweiſe beſuchen mich meine Münchener in den Abendſtunden faſt nie. Der Berg, auf dem ich wohne, iſt ihnen zu hoch. Dieſe Stunden gehören Kunz Albert und Dir, meine Mutter. 20. Juli. In dem Hof einer eleganten Villa hat ein kleiner Bazar ſtattgefunden. Eine hochariſto⸗ kratiſche Klique, Villenbeſitzer aus dem Ort, hatten ihn, um den Bau einer evangeliſchen Kapelle auf die Beine zu bringen, inſceniert. Ich und Traute, wir beſchloſſen hinzugehen, und Kunz, der nicht wollte, mußte mit. 238 Ich hatte mir eine feine Nüance für dieſen Wett⸗ kampf mit der Ariſtokratie ausgedacht, einen Anzug, ſo armſelig wie ihn nur irgend meine Jungfer in der Eile hatte herſtellen können. Tyroler Werkeltags⸗Koſtüm von derbſtem, billigſtem Kattun, meine wallende Mähne aber ließ ich königsmantelgleich unter meinem vergilbten Tyroler niederfließen. Ich kann mir nicht verhehlen, ich wirkte ſenſationell, überall hatte ich „das G'ſchau“, wie der Bayer ſagt und ſelbſt die Erlauchten, denen doch Neugierde nicht anſteht, ſpähten verſtohlen nach mir. Allerliebſt war der Hofraum hergerichtet mit wehenden Fahnen, ſtilvollen Decken, die Buden mit Blumen, Tannen und Eichenlaub geſchmückt, auf einigen Tiſchen dampfende ſilberne Theekeſſel, und alles mit Muſik. Die Verkäuferinnen aus der créme der créme. Bemerkenswert eine Gräfin Olandri. So ungeniert häßlich zu ſein, erlaubt ſich nur eine Ariſtokratin. Mit der hängenden blauen Unterlippe, den kleinen, triefenden, ſchlauen Auglein, der klobigen Naſe, den unzähligen graugeſprenkelten Ringellöckchen unter dem mit ſchwarzen Beeren aufgeputzten Tyrolerhut, würde ſie den Eindruck eines groben, pfiffigen alten Bauern gemacht haben, wenn man ihr nicht an ihrer abſoluten, unbeirrbaren Sicherheit auf hundert Schritt die Ariſtokratin an⸗ geſehen hätte. Klein und dicklich in der Geſellſchaft war nur eine ältliche, geſchmacklos und ſpießbürgerlich gekleidete Fürſtin. Wie eine Landrätin in Wichs ſah ſie aus, kraft ihres Ranges aber fühlte ſie ſich zu einer graziöſen 239 Lebhaftigkeit verpflichtet, und bildete, bald ſitzend, bald ſtehend, Cercle. Zwei kleine Komteſſen in Berchtesgadener Tracht — natürlich ins Ideale, in Seide und Spitzen über⸗ ſetzt, küßten der Dicklichen devoteſt die Hände. Ihre ſteifleinene Haltung und ihre kleinen, hochmütigen Mienen hatten ſie wohl nur aus Angſt, man könnte ſie für wirkliche Bauernmädel halten, aufgeſteckt. Eine junge niedliche Prinzeſſin erregte Entzücken, weil ſie nett und freundlich und gar nicht kronen⸗ und ſcepter⸗ haft ſich benahm; eine andere aber, häßlich, mit ſpitzem böſem Geſicht, war gar nicht freundlich, erregte aber natürlich auch hohes Intereſſe. Ich betrachtete ſie eine Weile und dachte: Wärſt Du, Prinzeſſin, ein häßliches, ältliches Fräulein Schulz oder Müller und noch dazu hochnaſig, alles andere würdeſt Du eher erregen als Intereſſe. Ich gönne ihr aber das Glück, Fürſtin zu ſein, das einzige, das ihr je geblüht hat und je blühen wird. Ich machte mir den Spaß, die unfreundliche Fürſtin nach dem Preis eines einzelnen Bisquits zu fragen. Unbeſchreiblich, Mutti, die Betonung, mit der ſie, in die Luft ſehend, ſagte: „Zehn Pfennig“, als ob ſie noch nie ſo gemeine zehn Pfennige in den Mund genommen hätte. Iſt mir zu teuer, ſagte ich, ging an den Tiſch der freundlichen Fürſtin, kaufte ſehr viel teuren Thee und Kuchen, und an einem reizend gedeckten Tiſchchen trank ich mit Kunz und Traute meinen Thee, ſtarken, guten Thee. 240 Leider hatte der Ruf der exkluſiven Vornehmheit dieſes Bazars ſeine Schatten ins Thal geworfen, und nur wenige Fremdlinge hatten ſich hinaufgewagt, und nachdem ſie aus hohen Händen für 2—3 Mark eine Taſſe Thee in Empfang genommen, drückten ſie ſich ſtill vor den Hundertmark⸗Vaſen, Aquarellen und ſon⸗ ſtigen ebenſo koſtſpieligen, als unbrauchbaren Herrlich⸗ keiten. Ich machte in halber Neckerei Kunz auf die ſchönen Geſtalten der Ariſtokraten aufmerkſam, wie dieſe Blau⸗ blütigen, ſelbſt in hohem Alter, ihre Schlankheit und Elaſticität bewahrten, was doch nur in ſeltenen Fällen dem Bourgeois gelänge. Kunz reckte ſeine Hünengeſtalt, damit man merken ſollte, er ſpräche nicht pro domo. Ein Vorzug, meinte er, deſſen ſie ſich nicht zu rühmen hätten. Wem verdankten ſie dieſe kraftvolle, körperliche Entwickelung? Dem Volk, das Jahrhunderte lang für ſie frohndete, damit ſie im Schoß des Wohl⸗ lebens, auf Burgen und Schlöſſern ſich in Freiheit und Ritterlichkeiten tummeln konnten. Habe ihre Intelligenz Schritt gehalten mit ihrer Körperlänge? Durchaus nicht. Ein behaglich ein⸗ gerichtetes Kämmerlein ſei ihm lieber als leere Pracht⸗ ſäle mit Spinnweben in allen Winkeln und Ecken. Übrigens ſtehe es noch dahin, ob Größe ein Vorzug ſei, ob nicht möglicherweiſe das Rieſenmaß der Glieder bei fortſchreitender Kultur zu Gunſten des Gehirns oder einer Seelenſubſtanz abnehmen werde. Die kleinen Japaner feien intelligenter als die längeren Chineſen. 16 241 Nur der Phyſiologe habe — ſo weit die Wiſſenſchaft ihm eine Handhabe böte — eine Berechtigung über den Wert des Blutes zu entſcheiden. Hier mußte Kunz nieſen, und damit nicht genug, ſchnaubte er ſich auch — hörbar — ſehr hörbar. Traute, die als geborene Baroneſſe ſich durch Kunzes Außerungen verletzt fühlte, rühmte mit einer gewiſſen Abſichtlichkeit die den Ariſtokraten angeborenen ſicher feinen Formen, die im Verkehr mit ihnen ſo be⸗ haglich anmuteten. Kunz machte uns auf einen Menſchen in Livree aufmerkſam, den, für einen Lakaien zu halten ich mich lange nicht entſchließen konnte; vielmehr war ich der Anſicht geweſen, daß ſeine Livree eine ausländiſche Uniform bedeute, ſo hochherrſchaftlich, ſo seigneurale war ſeine Haltung. Die Art, wie er, von Tiſch zu Tiſch gehend, ſeine Einkäufe machte, die eingekauften Sachen mit noncha⸗ lanter Grazie umherzeigte, wie er am Büffet ſeiner Gebieterin, der freundlichen Prinzeſſin, eine Taſſe Thee trank, ohne Spur von Gene oder Unterwürfigkeit, das war geradezu feudal. „Sie ſehen,“ ſagte Kunz lächelnd, „wie dieſe For⸗ men erworben werden.“ Traute antwortete nicht. Sie zeigte ſich ſchon ſeit einiger Zeit unruhig. Ab und zu ſah ſie nach der Uhr. Ob ſie jemand erwarte, fragte ich. Ja, ſie erwarte jemand, der heut morgen erſt an⸗ gekommen ſei, und der verſprochen habe, ſie von hier zu Eva Broddin zu begleiten, wo man muſizieren wolle. 242 Wer es ſei, verrate ſie nicht. Ich ſollte auch überraſcht werden. Ihre Unruhe ſteckte mich an. Mit einem Mal rief ſie: „Da iſt er!“ und ich ſah Hely Helmſtröm auf uns zukommen. Ein Gefühl, zwiſchen peinlichem Mißbehagen und beklemmender Er⸗ regung überkam mich. Ich ſchämte mich meines Koſtüms und verlor alle Faſſung, als er mich mit einem Aus⸗ druck kühlen Befremdens grüßte. Ich ſtellte die Herren einander vor, und einen Augenblick ſchämte ich mich auch meines lieben Kameraden, der nicht recht gentlemanlike ausſah, beinahe etwas bäuriſch. Jetzt erſt bemerkte ich, daß er auf der Sohle des einen Stiefels einen Rieſter hatte. Ich ängſtigte mich förmlich, Herr von Helm⸗ ſtröm würde dieſen Rieſter bemerken. Mein grober Kattun war nur Maske, Kunzes verſohlter Stiefel — echt. Zum erſten Mal hatte ich in meinem Herzen den Hanſel verleugnet. Ich war mir deſſen ſofort bewußt und litt unter meiner Niedrigkeit. Man wechſelte einige nichtsſagende Worte. Herr von Helmſtröm brachte mir eine Einladung von Eva Broddin für den Muſikabend. Ich lehnte kurz ab. Er begrüßte dann einige der anweſenden ariſto⸗ kratiſchen Familien, und nach einer kleinen Viertel⸗ ſtunde brach er mit Traute auf. Einen Moment hatte ſein Auge forſchend und nicht gerade wohlwollend auf Kunz geruht. Ich kam nach Hauſe, unzufrieden mit aller Welt, beſonders mit dem Wetter. Es regnete. Nichts kann 16* 243 man dauernd genießen, die Natur nun ſchon gar nicht, und die Menſchen auch nicht. Ach Gott ja, Kunz iſt ein reiner edler Charakter, aber warum ſchnaubt er ſich überhaupt in meiner Gegenwart? Und auf einem feinen Bazar braucht er nicht verſohlte Stiefel zu tragen. — Ich weiß, ich weiß, Mutti, ich bin von krankhafter Senſitivität, in einfaches Deutſch überſetzt: ich bin klein⸗ lich, erbärmlich, dämlich. Am andern Tag beſuchte mich Hely. Wir plau⸗ derten wie immer, recht gut, recht geiſtreich, nur einen Ton froſtiger als ſonſt. Mir ganz recht. Was ſoll mir dieſer Hely, der Traute liebt, von Timäa begehrt wird und vielleicht an der feinen, feinen Eva hängen bleibt. Nur wäre es mir nicht recht, wenn er dächte, daß Kunz — — ach, wäre mir auch gleichgültig. Alles iſt mir gleichgültig. Wärſt Du doch bei mir geblieben, Du Allerliebſte! Hely reiſt übrigens in den nächſten Tagen wieder ab. Möglicherweiſe werde ich ihn erſt in München wiederſehen oder gar nicht. Nicht nur Traute hat er vor mir beſucht, cela va sans dire, aber auch Eva Broddin. Sonntag. Kunz iſt heut allein in den Bergen. Ich blieb zu Hauſe auf der Chaiſelongue mit ein wenig Migräne, und las Nietzſche und konnte zu leſen gar nicht aufhören. Vieles, was er ſagt, weiß ich ja längſt, längſt. Kommt da einer mit einem feurigen Schwert in der Rechten und redet mit Engelzungen aus purpurnen Wolken, und redet dasſelbe, was Du 244 gedacht. O Mutti, das iſt eine Feſtfreude, eine lautere Wonne, eine Rührung, daß man es ſo herrlich weit gebracht hat. Größenwahn? kann ſein. Ach, wer ſich an Nietzſches Flügel hängt, der gelangt ſicher nicht nach Arkadien oder nach einem ſonſtigen frommen Eiland, o nein, vielleicht auf einen hohen, hohen Berg, weißer, weißer Schnee auf ſeinen Gipfeln, oder auf ein weites, weites Meer, oder in eine feurige, feurige Hölle. — Habe ich denn wirklich Migräne? Dachte ich etwa, Hely würde kommen? Ich — ein ſolches Backfiſch⸗ manöver? Mir iſt alles zuzutrauen. Er iſt auch gar nicht gekommen. 23. Juli. Kunz Albert ſuggeriert mir ein leb⸗ haftes Intereſſe für das bayriſche Volk. Am letzten Sonntag ließ ich mich bereden, mit ihm eine Wald⸗ ſchenke zu beſuchen, wo das Volk ſeinem Nationaltanz, dem Schuhplattler, obliegt. An langen Holztiſchen ſaßen die Bauern und tranken. Die ganze Gegend roch nach Käſe, Bier und ledernen Hoſen. Kunz redete frei und kamerad⸗ ſchaftlich mit den Bauern in ihrem Dialekt, den ich nicht verſtand. Als ſie mit dem Bier fertig waren, wiſchten ſie ſich mit dem Handrücken den Mund, und es ging los. Ein Harmonikaſpieler, dem das naſſe Haar an den Schläfen klebte, beſorgte die Muſik. Er hatte den grünen Hut zurückgeſchoben, und mit halbgeſchloſſenen Augen und einem bierbacchantiſchen Zug in ſeinem Geſicht wiegte er ſich hin und her. 245 Und der Tanz ſelbſt! Ein wahrer Wildentanz. Wie Feuerländer hupften und ſprangen ſie mit den nackten Knieen juchzend und klapſend umher, Rieſen⸗ heuſchrecken, nur ſchrecken ſie nicht das Heu, ſondern feinnervige Menſchen. Und alle trieften. Wer am tollſten ſpringt, iſt König. Dieſes Sonntagsvergnügen des bayriſchen Volkes koſtet ſicher mehr Schweißtropfen als ihre Wochentagsarbeit. Die Tänzerinnen, meiſt häßlich und nicht jung, hatten ein beſcheidenes, paſſives Weſen, eine Korallen⸗ kette um den Hals, und von Temperament und Grazie keine Spur. Mit ihren waſſerſträhnigen, fadblonden Haaren, ihren verſchoſſenen Röcken, ſchwarzwollenen Jacken und unkleidſamen grünen Hüten tragen ſie nicht zur Verſchönerung von Oberbayern bei. Auf dem Rückweg gingen wir, ich und Kunz, etwas verſtimmt nebeneinander her. Um ihn nicht zu verletzen, ſagte ich gar nichts, was immer verſtimmender wirkt, als wenn man zu viel ſagt. Schließlich brach er das Schweigen. „Der Schuhplattler hat nicht Gretels Beifall ge⸗ funden? „Nein.“ „Als echte Ariſtokratin (die ich doch gar nicht bin), perhorreſciert ſie die ſonntägliche Menge, die ſtaubt und ſchwitzt — Ich gab es zu. „Aber Kunz, man kann doch die Liebe zum Volk nicht ſo en détail, ſo handgreiflich materiell nehmen, als müſſe man nun jedes einzelne Exemplar dieſer Gattung mit einer ganz perſönlichen 246 Zärtlichkeit umfaſſen. Ich möchte unter Menſchenliebe nur eine beſtimmte Geiſtesrichtung, eine zarte und tiefe Grundſtimmung verſtanden wiſſen, die all unſeren Hand⸗ lungen Ton und Farbe giebt. Man liebt die Menſchen vielleicht am meiſten, wenn man fern von ihnen in Einſamkeit lebt, wo dieſe zarte Grundſtimmung nicht durch Zuwideres, das uns im Verkehr mit den Prole⸗ tariern abſtößt, getrübt wird. Die Veredlung der Menſchen iſt doch eben der Zweck Eurer ſozialen Be⸗ ſtrebungen. Aber vor der Veredlung, nicht eine Liebe — in suspenso? „'s Gretel bleibt halt immer an der Oberfläche tleben.“ „Sie haben mich alſo gewogen und zu leicht be⸗ funden? Er ſchwieg. Das reizte mich, und ich pries die Oberflächlichkeit als eine ſchöne Gottesgabe, wobei wenigſtens für uns belangloſe Frauen allerhand emotionelle Luſtbarkeiten abfielen. Ich hätte auch ein⸗ mal ernſt und tief ſein wollen, als ich 17 Lenze zählte. Da wäre ich in einen jungen Dozenten verliebt ge⸗ weſen, und trotz meiner Talentloſigkeit für das Haus⸗ frauenfach hätte ich kochen, ſchneidern, ſparen, Lampen putzen und ähnliches lernen wollen, gerade wie es meine Freundin Camilla that, die deshalb von aller Welt gelobt wurde, ihr ſittlicher Ernſt, und daß ſie ſo gar nicht oberflächlich ſei. Daß ich dieſen ſittlichen Ernſt bald wieder aufgegeben, hätte an dem jungen Dozenten gelegen, der — abſchnappte. 247 Kunz maß mich mit einem ſeiner unausſtehlichen Mentorblicke. „wenigſtens eine Taſſe Thee trinken. „Ich muß mich erheitern,“ ſagte ich verdrießlich, Eva Broddins Villa lag faſt auf unſerm Weg. Sie hatte Kunz verſchiedentlich aufgefordert, ſie zu beſuchen. Ich ſchlug vor, bei ihr vorzuſprechen. Er zögerte. „Aber Hanſel! Natürlich kam er mit. Eine Art verzaubertes Bauernhäuschen, dieſe Villa, romantiſch, von blühender Anmut. Kleine viereckige Fenſterchen mit einem zier⸗ lichen Drahtgitter, die in der Mitte ein goldenes Herz haben, und zwiſchen Glas und Gitterwerk eine Fülle von Blumen, Nelken, Roſen, Oleander, die ihre Blüten und Düfte durch die Gitter hinausdrängen. Über dem Eingang eine Niſche mit einem Heiligen, darüber die Inſchrift: — nun habe ich ſie doch vergeſſen — zur Seite ein Becken mit rinnendem Waſſer. Und die Zimmerchen, auch wie verzaubert, wie für ein Schneewittchen oder Dornröschen, jedenfalls für ein „chen“. Alles en miniature. Ein unbeſchreiblicher Wirrwarr von reizenden Dingen, orientaliſchen, japa⸗ niſchen, exotiſchen. Timäa nennt die Wohnung einen bizarren Käfig für einen Kolibri. Eva hat ja etwas vom Kolibri, aber mehr noch von einer Schlange; nicht eine üppige Sündenſchlange, wie auf dem Stuckſchen Bilde, nein, eine feingliedrige, zartſchillernde, mit ſchmalem roten Giftzüngelein, das Züngelein ein flammender Pfeil. 248 Wir trafen Eva mit der Tante und einigen Gäſten in dem parkartigen Garten. Unter den Gäſten Timäa, die ſich von einem jungen Mann in himmel⸗ blauer Krawatte und ſüßduftenden Juchtenſtiefeln den Hof machen ließ. Was für ein Gegenſatz die Scenerie hier zu dem Schuhplattler. Alles im herrſchaftlichſten Stil. Thee, ſtark, mit Samowar, ſilberne Kanne, graziöſe Taſſen; unter einem baldachinartigen Zelt eine gepolſterte Ruhebank, und lauter ſchöne, ſtattliche Menſchen. Einige junge Mädchen in altbayriſchem National⸗ koſtüm, etwas zu ſeidig, zu watteauhaft⸗ſchäferlich. Eine junge Dame ritt auf einem Ponny durch den Park. Eva empfing uns mit bezaubernder Liebenswürdig⸗ keit, konnte es aber nicht unterlaſſen, alsbald auf Timäa herumzuhacken. Es giebt Menſchen von furchtbarer Subjektivi⸗ tät. Weil ein Jude ſie gekränkt, werden ſie Antiſe⸗ miten und möchten die ganze Raſſe zermalmen. Weil ein Weib ihnen übel mitgeſpielt, verachten und be⸗ ſchimpfen ſie das ganze Geſchlecht. So haßt Eva Broddin alle Berlinerinnen, weil Timäa ihr vor Jahren den Gregori abſpenſtig gemacht hat. Sie war nahe daran geweſen, die ſchüchterne Werbung des Malers zu acceptieren, ſpielte aber in ihrer Art noch ein wenig Katze und Maus mit ihm, als Timäa einen Moment, wo der Tiefverletzte ſich verſchmäht glaubte, benutzte, ihm Troſt zu ſpenden, woraus ſich dann naturgemäß alles Weitere entwickelte. 249 Mich kann ſie auch verſtohlenerweiſe nicht leiden. Ich habe immer das Gefühl, als hielte ſie ein Netz bereit, um es mir bei der erſten beſten Gelegenheit — von hinten — über den Kopf zu werfen. Man ſieht ſie faſt nie ohne Fächer. Auf dem, den ſie jetzt in der Hand hielt, waren blonde Engels⸗ köpfchen gemalt, über denen ſich ihr dunkles, ſchmachtend pikantes Köpfchen bezaubernd ausnahm. Die Grazie ihrer Gebärden mildert ihre gelegentlichen Bosheiten. Als kichernder Puck ſtreut ſie ſie aus. Als ich nach Traute fragte, antwortete ſie un⸗ gewöhnlich laut, ſo daß Timäa es hören mußte: „Traute, ja, die wollte auch kommen, ich vermute aber, Hely Helmſtröm occupiert ſie. Timäa ließ ſofort von dem mit der himmelblauen Kravatte ab, und trat zu uns heran. „Hely Helmſtröm, ſagen Sie? Ich denke, der iſt geſtern Abend ſchon abgereiſt? „Nein, er reiſt erſt morgen Abend.“ „Da reiſen wir ja zuſammen!“ rief ſie mit einer plötzlichen Eingebung. Sie ſtürzte ein paar Taſſen Thee hinunter, wollte ſchnell noch von Traute Abſchied nehmen und — fort war ſie. Eva ſah ihr mit ihrem kichernden Pucklachen nach: „Vergebene Liebesmühe, ſie iſt nicht ſein Genre.“ „Aber Traute?“ Statt der Antwort ſeufzte ſie: „Arme Traute, ſie iſt Morphiniſtin, ſie ſchwindet dahin. Borns erſchienen auf der Bildfläche. Sie kamen aus Nizza. Die ſeligſte Iſolde ſchwebte heran, in 250 einem ſehr allerliebſten, ſehr feſchen Kleide, das für eine Sechzehnjährige gerade recht geweſen wäre: rot⸗ und blaugeſtreift, mit Matroſenkrägelchen und Schleife, und ganz kurz, dazu ein rieſiger Hut auf dem lichten Gelock, alles ſehr reizend und ſehr praktiſch, nur für ihr Alter und ihre Erſcheinung eben ein wenig — zu reizend. Ich weiß, daß ſie ſich hier mordsmäßig lang⸗ weilt. Aber nein, i Gott bewahre, ſie amüſiert ſich himmliſch. So viel Beſuche empfängt ſie, und alle muß ſie erwiedern. In Nizza freilich, da wär's ſchrecklich geweſen. Nein, dieſe Franzoſen! Sechs Wochen lang habe ſie immer das Gefühl gehabt, als tanze ſie auf einem Vulkan. Den Hut habe ſie ſich, ſo unkleidſam das ſei, immer tief in die Stirn gedrückt, um ſich durch ihre Blondheit nicht als Deutſche zu verraten. Und wenn die Franzoſen erſt dahinter gekommen wären, daß ihr Ewald jetzt ganz im Deutſchtum, um nicht zu ſagen, Teutonentum, aufginge! Und Ewald nickte zu den Worten ſeiner Gattin. Und er deklamierte von deutſchem Sinn und deutſcher Größe, und ſang von Manfred und Konradin und Albrecht dem Bären und Otto von Wittelsbach. Nur ſei er noch nicht einig mit ſich, ob er die Hohen⸗ zollern, die Hohenſtaufen oder die Wittelsbacher auf den Schild erheben ſolle. Iſoldchen war für die Wittelsbacher, da ſie nun doch einmal in Bayern lebten. 251 Eva verdächtigte Frau Iſolde, auf den perſönlichen Adel zu fahnden, den für bajuvariſche Thaten zu ſpenden, üblich ſei. Der Baron mit den ſüßduftenden Juchtenſtiefeln fand, daß der perſönliche Adel nichts wert ſei. Nur der erbliche ſei wirklicher Adel. „Da wir ja aber keine Kinder haben — —“ „Aber Ewald!“ unterbrach ihn Iſoldchen. Sie war ſehr rot geworden und machte eine abwehrende ſchämige Gebärde. Mit ihren 45 Jahren wartet ſie noch immer auf das Wunderbare: das Kind. Sie hat die Schwäche, wenn ſie eine Wohnung mietet, immer zuerſt nach der Kinderſtube zu fragen, und nie eine Wohnung zu nehmen, die nicht Raum für einen oder mehrere Stamm⸗ halter böte. Es ſollte wieder ſo recht kindlich naiv ſein, als ſie plötzlich, ganz aus dem Stegreif, ſich mit der Frage an Kunz wandte: „Iſt es wahr, daß Sie So⸗ zialiſt ſind: „Was ſollte ich ſonſt ſein?“ antwortete er ernſt. Mit einem niedlichen kleinen Schauder zog Iſold⸗ chen das Köpfchen zwiſchen die Schultern und ſagte neckiſch: „Wir fürchten uns nicht vor dem ſchwarzen Mann, beſonders wenn er ſo hübſch germaniſch blond iſt. Na, und bis an den Rand der Petroleumkanne werden Sie hoffentlich unſere teure Frau Sibilla nicht locken.“ Und dabei paffte ſie ihr Cigarrettchen, trank den ſtarken Thee mit dicker Sahne, und wiegte ſich in einem Schaukelſtuhl. 252 Kunzes Replik fiel etwas zu rhetoriſch aus. Er konnte ſich dabei einiger Seitenhiebe auf die Beſitzenden. ſo da im Schoße des Glücks ſäßen, nicht erwehren. Eva beſtritt lebhaft den Cauſalnexus zwiſchen Beſitz und dem Schoß des Glücks. Sie erinnerte an die Seelennöte all jener Schriftſteller und Künſtler, die ihre Federn und Pinſel in Morgen⸗ und Abend⸗ röten, in Blut oder in Äther tauchen möchten, und weil ihnen das nicht gelänge, litten ſie Qualen, und je feiner ihre Nerven, je intenſiver ihre Intelligenz, je größer ihre Seelenpein. Kunz, der, möglicherweiſe aus Gleichgültigkeit gegen Frauenraiſonnements das Geſpräch nicht fortſetzen wollte, murmelte etwas von den anweſenden ſchönen Frauen, die doch ſicher alle mit dem Monopol des Glücks auf die Welt gekommen wären. „Aber Kunz,“ fuhr ich ihn an, „ſeit wann reden Sie denn Banalitäten! Wir Frauen, das heißt die Begabten unter uns, kommen au contraire als Pech⸗ vögel auf die Welt, und unſer Geſchick iſt einfach tragiſch.“ „Tragiſch? Wieſok „Entweder wir wollen und wir können nicht, oder wir könnten, aber wir dürfen nicht. Folgen wir dem Zug unſeres Herzens oder den Inſtinkten unſerer Natur — merkwürdigerweiſe tragen die meiſt einen ketzeriſchen Charakter — ſo ſperrt uns die Geſellſchaft als Schwefelbande aus, und folgen wir ihnen aus an⸗ gelernter Bravheit nicht, ſo äſchert heimliches Feuer unſere Seelen ein. 253 Und ich citierte meinen Brahmanenſpruch: „Und ſo ſoll ich die Brahmane, Mit dem Haupt im Himmel weilend, Fühlen, Paria dieſer Erde, Niederziehende Gewalt.“ Wenn ich vor Ihnen ſterben ſollte, Kunz, was ich vorläufig nicht beabſichtige, ſo laſſen Sie dieſe Inſchrift auf meinen Grabſtein ſetzen.“ „Aber in Diamantſchrift,“ ſagte der böſe Kunz mit einem Blick auf meine Ringe, die gerade ſo ſchön in der Sonne funkelten. Eva tippte ihn mit dem Fächer an. „Was wollen Sie denn eigentlich von uns? Sollen wir etwa in ſozialiſtiſche Vereine gehen und agitatoriſche Reden halten, mit der Polizei auf den Ferſen, und am andern Tag unſere Namen in der Zeitung?“ „Und wohl gar ins Gefängnis kommen,“ ſtimmte ich Eva bei. „Das hielte ich nicht 24 Stunden aus. Gott ſei Dank, daß ich eine Frau bin. Als coura⸗ gierter Mann käme ich aus dem Gefängnis gar nicht heraus, ja ich würde am Ende ſogar noch hingerichtet und könnte dann nie mehr den herrlichen Sonnenunter⸗ gang genießen, der uns jetzt auf dem Calvarienberg winkt. Wer kommt mit?k Niemand kam mit, außer Kunz. Auf dem Weg nach dem Calvarienberg kamen wir an dem Gärtchen vorbei, das zu der von Traute bewohnten Villa gehört. Ein merkwürdiges Gärtchen: kein Baum, kein Strauch, nur Blumen, nichts als Blumen, eine Überfülle von Blumen, ganze Gebüſche von Blumen. Inmitten eines rieſigen Roſengebüſches ein Kruzifix. Und zwiſchen dieſen Blumen wandelte 254 Traute, ſo bleich, ſo ſchattenhaft, mit Hely. In dem ſchwarzen Florkleid, an dem die Armel wie Schmetter⸗ lingsflügel ſaßen, glich ſie dem Engel des Todes. Ja, ſie ſchwindet dahin. Kaum ſchwanzig Schritt von dem Gärtchen, hinter einem großen Baum verſteckt, bemerkte ich Timäa, die brennenden Augen auf das Paar gerichtet. Unſer Weg führte uns eigentlich an dem Baum vorbei. Ich wählte einen Umweg, um ihr eine Be⸗ ſchämung zu erſparen. 1. Auguſt. Ich und Kunz, wir ſitzen abends oft zuſammen auf der Bank vor dem Tempelchen, mit dem der Calvarienberg endet. In dem Tempelchen iſt Chriſtus am Kreuze mit den beiden Schächern zur Seite und den leidtragenden Frauen dargeſtellt. Unterhalb des Gekreuzigten, in einem kellerartigen, vergitterten Raum, die Hölle. Auf rot angemalten Kohlen ſechs nackte Ge⸗ ſtalten. Statt des Feigenblatts, den Anſtand wahrende, lodernde Flammen. Mich rühren immer ſolche naiven Schildereien mit ihrer ramponierten Plaſtik, wo hier ein Finger, da ein Stück Strahlenglorie oder Himmelsbläue abgebröckelt, ein paar goldene Sterne heruntergefallen ſind, und welke Kränze und Blumen ſo wehmütig mit dem Verfall harmonieren. Selbſt in der blutenden Bruſtwunde des Heilands ſteckte ein welkes Sträußchen. „Alle Kunſt des Bildners“, ſagte ich zu Kunz. „könnte vielleicht nicht die Wirkung dieſer tölpelhaften Schildereien in all ihrer Hilfloſigkeit und Häßlichkeit hervorbringen. Iſt es nicht damit, wie mit dem 255 Gebet. Ob es geſtammelt wird, oder ſchwungvoll ge⸗ ſprochen, wenn es nur aus dem Herzen kommt.“ Kunz war nicht meiner Meinung. Für das Volk ſei, wie für die Kinder, gerade das Beſte gut genug. Darum keine Proletarier⸗Religion mit Blutdunſt und frömmelndem Gruſeln. Die Leute, die anbetend vor dieſen plump angetünchten Holz⸗ oder Pappfiguren in die Kniee ſänken, würden kalt und verſtändnislos vor den Chriſtusdarſtellungen der größten Meiſter ſtehen. „Sehen Sie nur dieſe ſcheußlichen Fratzen der Schächer und die Köpfe der Heiligen, als entſtammten ſie der Puppenfabrikation einer archaiſtiſchen Zeit. Und das ekelhafte Blutgerinſel, die fingerdicken roten Thränen. Wahrhaftig, eine Hintertreppen⸗Religion, die mit brutalen Hammerſchlägen die Nerven not⸗ züchtigt.“ Widerwärtig oft ſeine Ausdrucksweiſe. „Und nun,“ fuhr er fort, „blicken Sie in die Berge, über die blumigen Hügel, in all die Pracht der Natur — wo iſt Gott? „Ja wo? Wenn nun ſelbſt Ihr Gott nirgends wäre, Kunz?“ „Bei Ihren Münchner Freunden ſicher nicht.“ „Und es war doch da alles ſo ſchön und an⸗ mutig, der Garten, die weißen Kleider, das reizende Mädchen auf dem Pony. Sage mir, Hanſel, wird in Eurem ſozialen Staat jedermann reiten und fahren können, oder keiner? Wird jeder eine ſo entzückende Villa haben, wie Eva Broddin, mit rieſelnden 256 Brünnlein und Marſchal Niel⸗ und Dijonroſen in ſolcher Fülle? Und weil es nicht alle haben können, ſoll es keiner haben? Sollen ſie vom Erdboden ver⸗ ſchwinden, die poetiſchen Schlöſſer, die Parks mit Götterſtatuen, mit zierlichen Kähnen an blinkenden Seen, poetiſchen Fontainen u. ſ. w., und jeder hat nur ein winzig Häuslein und ein Gärtchen mit blauen Kohlköpfchen, Radieschen, Spinat und einem Apfel⸗ bäumchen? Ich blinzelte ihn, wie ich meinte, ſchmelmiſch an und erwartete ein Eingehen auf meine ſcherzhafte, wenigſtens halbſcherzhafte Rede. Ach, er verſteht keinen halben und keinen ganzen Scherz. Immer nur unverbrüchlicher Ernſt, zuweilen ein blitzeſchleudernder Zeus. Er wollte wieder etwas Zeushaftes ſagen, ich ließ ihn nicht zu Worte kommen. „Ich weiß, was Du ſagen willſt: kindiſch, geradezu kindiſch. Nicht wahr, es wird in Zukunft noch viel poetiſchere Paläſte geben, mit viel herrlicheren Statuen, viel grünerem Raſen und noch viel ſchöneren Roſen⸗ ſorten, Roſen à la Bebel, Liebknecht, Auer oder Singer, nur wird das allen gehören. Siehſt Du, Kunz, ich würde aber an der Verſämtlichung dieſer Beſitztümer keine Freude haben, ich brauche Einſamkeit, tiefe, purpurne Einſamkeit, um meines Ichs habhaft und froh zu werden.“ Er wollte wieder ſprechen. Ich legte meine Finger auf ſeinen Mund: „Nicht unterbrechen, Kunz.“ 17 257 Nicht nur, daß er unnötigerweiſe meine Finger küßte, er ſagte auch: „Keine Gefahr, ſo lange ich Ihre ſüße Stimme höre.“ Siehſt Du, Mutti, ſo antworten ſelbſt diejenigen, die die Gleichheit der Geſchlechter wollen. „Du willſt einwenden,“ ſetzte ich trotzdem meine Rede fort, „eine ganz neue Erziehung wird auch ganz neue Menſchen aus uns machen, mit einem neuen Ge⸗ ſchmack, einer neuen Einſamkeit, einer neuen Schönheit, und wir werden vielleicht die Kunſt lernen, unter Tauſenden einſam zu ſein, ſei es durch Drillung unſerer Nerven, ſei es durch Verſchlußerfindungen für unſere Ohren und durch eine Art Scheuklappen für unſere Augen, ſo daß wir nicht zu hören und zu ſehen brauchen, was wir nicht hören und nicht ſehen wollen, oder — ach es giebt ſo viele Oder's — —“ Den Augenblick, wo ich Atem ſchöpfte, benutzte Kunz nun doch, um mich aus dem Sattel meiner ſchönen Rede zu heben. „Und das eine Oder iſt immer thörichter als das andere. Und wenn wirklich die Gärten — das heißt die Zäune — verſchwänden, ewig bliebe die Urſchönheit der Natur, die über alle Kunſt iſt, und die, romantiſch oder erhaben, idylliſch oder ergreifend, jedem Schönheits⸗ drang Rechnung trägt. „Sehr richtig,“ ſagte ich, nur liegen die ro⸗ mantiſchen Höhen und die idylliſchen Thäler, die Prairien und das Meer nicht immer in unmittelbarer Nähe der großen und kleinen Städte, und um z. B. von München auf den Rigi zu kommen — —“ 258 — „Dürfte in Zukunft keine Schwierigkeit haben, ganz abgeſehen davon, daß es in Zukunft vielleicht gar keine großen und kleinen Städte mehr geben wird. Wie lange wird's dauern, und ein Jeder hat vor ſeiner Thür ein Luftſchiffchen ſtehen, oder im Schranke ſein Flügelpaar hängen, und — huſch, im Fluge durch die Welt, mit einem paar Büchschen irgend eines Speiſeextrakts in der Taſche, der für Monate ausreicht.“ „Ich zweifle ja gar nicht daran,“ ſagte ich etwas verdrießlich. „Aber alles immer in fünfzig oder in hundert oder in tauſend Jahren. Ja, wenn wir die Zeit an der Ewigkeit, den Raum an der Unendlichkeit meſſen, dann können wir roſig in die Zukunft ſehen. Mir gehören aber kaum noch ein paar Jahrzehnte. Warum ſoll ich denn gerade Märtyrerin für eine Ge⸗ ſellſchaft der Zukunft ſein? Vorläufig werden wir noch alle in den zähen Maſſenteig mit hinein ver⸗ arbeitet und unſere etwaigen Flügel kleben darin feſt wie die der Fliegen am Leimſtock. Und wie viele zappeln ſich zu Tode. Soll ich's auch? Garantiere mir Unſterblichkeit von Religions oder Spiritismus wegen, und ich ſchwöre bedingungslos zu Deiner Fahne. Da wir aber in fünfzig Jahren alle tot ſind, ſogar mauſetot, ſo will ich meine paar Jahre leben, heute morgen, übermorgen will ich Roſen pflücken. Ich kann nicht warten — —“ Hier wurde ich durch den Anblick eines Krüppels unterbrochen, der ſich mühſam auf die Anhöhe hinauf⸗ ſchleppte. Er bettelte nicht, ich gab ihm aber doch 17* 259 Geld. Er ſank in die Kniee, betete vor dem Kreuz und humpelte weiter. „Was empfinden Sie, Sibilla, wenn Sie Almoſen geben? „Dasſelbe wohl, was der Empfänger fühlt: Be⸗ friedigung, aber ich gebe zu, ſie hat einen bitteren Nach⸗ geſchmack, daß es nur ein Sekundenbild der Freude iſt, nachher iſt alles wieder dasſelbe.“ „So iſt's. Und darum ſind wir da, die Meſſias⸗ idee, daß wir alle Brüder ſind, zu realiſieren. „Und Schweſtern. „Und Schweſtern. Unſer Werk hat auch ein künſtleriſches Moment, Sibilla, die Freude des Künſt⸗ lers, aus rohem Stoff ein herrliches Bildwerk empor⸗ wachſen zu laſſen, den idealen Menſchen in ſeiner Schön⸗ heit und Güte.“ Liebe Mutter, er ſprach nun ſo furchtbar ernſt mit ſo glühender Beredſamkeit von den Zielen des Sozialismus, und zuletzt war ein faſt feierlicher Accent in ſeiner Stimme: „— Bekennen Sie ſich offen zu uns, Sibilla, da Sie ja in Ihrem Denken längſt zu uns gehören.“ „Weiß ich denn das letztere ſo genau, lieber Freund? Ich bin eine Banauſin an Unwiſſenheit und jetzt ſo müde „Nein, das Gretel iſt nicht müde. Es iſt nur faul und will nicht Rede und Antwort ſtehen.“ Er hatte ſich zu mir niedergebeugt, ich fühlte ſeine Augen wie Sterne über mir. Ich lehnte meinen 260 Kopf an ſeinen Arm. Mir war ſo wohl, ſo ſicher, ſo warm. So ſaßen war eine Weile verſunken in der Schön⸗ heit des Sonnenunterganges. Dann fing er wieder mit etwas ſchwankender Stimme ſehr ſanft an: „Sibilla, könnten Sie nicht den Reichtum von ſich werfen?“ „Ich habe ja daran gedacht, Hanſel, er iſt auch oft ſo läſtig, Du glaubſt es gar nicht. Ich weiß ja, es iſt Unrecht, daß ich zwölf Kinder (es können auch mehr ſein) beſitze, während es Menſchen giebt, die ihre Blöße nicht decken können. Ich weiß, es iſt Un⸗ recht, wenn ich ein einziges überflüſſiges Zimmer beſitze, während es Menſchen giebt, die im Aſyl für Obdach⸗ loſe oder im Freien nächtigen. Ich kann doch aber dem erſten beſten Obdachloſen nicht meine Chaiſelongue mit den ſilbernen Lilien auf himmelblauem Sammet als Schlafſtelle anbieten! So Knall und Fall alles Über⸗ flüſſige über Bord werfen, nein — wirklich, es geht nicht. Es iſt ſoviel unäſthetiſches und unhygieniſches dabei, wenn man kein Geld hat. Was man da alles eſſen muß! Ich würde ja krank werden von Linſen und Speck oder Schwarzbrot mit Blutwurſt. Ich kann nicht einmal Gaslicht oder eine Petroleumlampe vertragen. Gleich Kopfſchmerzen.“ „Man braucht doch nicht gleich Speck und Blut⸗ wurſt zu eſſen, wenn man nicht reich iſt. Sibilla, wirft Ihnen wirklich Ihr Luxus ſo exquiſite Genüſſe ab? 261 „Weißt, Hanſel, es ſind halt tauſend kleine Fäden, die mich in dieſem Leben des Luxus feſthalten, die täglichen Gewohnheiten: mein Bad morgens neben dem Schlafzimmer ſamt ſeiner Marmoreinfaſſung, das Riechfläſchchen im Salon (koſtet freilich fünfzig Mark), die orientaliſchen Teppiche und Felle unter meinen Füßen. Ich muß reiten, ſoll ich nicht geiſtig und körperlich erſchlaffen. Ich brauche elektriſches Licht, ſchwere, ſammetne Vorhänge, Gobelins, Paravents, Blumen, gemalte Glasfenſter, Bilder und Statuetten, mit einem Wort: Poeſie, Romantik, Farben, Träume, das alles brauche ich wie das liebe Brot. Und ſoll ich etwa Bücher aus der Leihbibliothek leſen? Sagt nicht Schiller ſchon: „Gegen die Gewohnheit kämpfen Götter ſelbſt vergebens. „Er ſagt nur, daß wir die Gewohnheit unſere Amme nennen. Der Amme entwächſt man. „Höre, ich bin — unter unſeren vier Augen — vierunddreißig Jahre alt — für die Welt im allge⸗ meinen neunundzwanzig. (Du allein, Mutti, weißt, daß ich — Gott ſteh mir bei — ſchon ſechsunddreißig Lenze zähle.) Ich bin von ſchwächlicher Konſtitution, bin in der eleganten Welt aufgewachſen, man hat mich verwöhnt wie eine Prinzeſſin — und nun gar ſeit meiner Verheiratung „Entwöhne Dich, Gretel.“ „Ein paar Fragen, Hanſel: Wie alt biſt Du? „Zweiunddreißig Jahr. „Wo und wie biſt Du aufgewachſen? „Du weißt es ja. In einer Dorfſchenke. 262 „Und wovon haſt Du Dich genährt?“ „Hauptſächlich von Kartoffeln, Hülſenfrüchten, Milch, Brot, Obſt.“ „Und Sonntags Speckeierkuchen. „Ja wohl. „Und das hat Dir alles gut geſchmeckt? „Ausgezeichnet. „Na — alſo. Das Tabakrauchen ſich nicht an⸗ gewöhnen iſt ſehr leicht, es ſich abgewöhnen, ſehr ſchwer. Jedes einzelne der kleinen Fädchen, von denen ich ſprach, mag leicht zu zerreißen ſein. Aber ein Tau beſteht auch nur aus einzelnen Fäden und iſt ſo ſtark, faſt unzerreißbar. „Und können Sie es nicht zerreißen, ſo — —“ „Nun kommt der Alexander mit dem gordiſchen Knoten. Laſſen wir den vorläufig. Sage, Hanſel, kann jemand hingebender, begeiſterter für die ſozialiſtiſchen Ideen kämpfen, als es Laſſalle gethan hat? Und er lebte wie ein Seigneur. Hätte er trotz entgegengeſetzter Erziehung und Gewöhnung wie ein Proletarier gelebt, die Arbeit der Anpaſſung würde vielleicht ſeine beſten Kräfte abſorbiert haben. (Vielleicht auch nicht, dachte ich bei mir.) Bei uns Menſchen einer Übergangsepoche muß man ein Auge zudrücken, wenn unſer Denken mit unſerer Lebensweiſe nicht immer übereinſtimmt. Läuft nicht bei dieſem gewaltſamen Niederzwingen unſerer Gewohnheiten ein bißchen Renommage, Prinzipienreiterei, um nicht zu ſagen unfruchtbares Märtyerertum mit⸗ unter? — Siehſt Du ein, Hanſel, daß ich keine ſub⸗ jektive Schuld habe? Gewohnheit und Erziehung 263 laſſen ſich doch nicht rückgängig machen. Sie kon⸗ ſtruieren uns Seele und Körper, und ſchaffen uns eine zweite Natur, die ſtärker iſt als die erſte, an⸗ geborene.“ „Es giebt auch eine zweite Erziehung, Sibilla, — die Selbſterziehung — —“ „Ach ja, es giebt, — es giebt — es giebt auch Engel, ſogar Erzengel, es giebt auch Heilige, ſogar Säulenheilige, es giebt Catos, Sokrateſſe, — ich aber bin ein ſimpler Menſch“ — — Ich ſtolperte über eine Baumwurzel in der tiefen Dämmerung — wir waren ſchon auf dem Rückwege. Er umfing mich mit ſeinen Armen. Seine Augen flammten durch die Dunkelheit. Ein Zittern ging durch ſeinen Körper. Er preßte mich einen Augenblick an ſich. — „Warum liebe ich Sie ſo über alles Maß hin⸗ aus, Sibilla? Warum ſagte er mir, was ich wußte. Er verſteht mich nicht. Er iſt zu robuſt in allem, zu ſehr Natur, zu wenig künſtleriſch nüanciert. Es war mir aufgefallen, daß er mich in beſonders zärtlichen Momenten immer Sibilla, niemals Gretel nannte. Ich wollte dem Geſpräch wieder eine nüchterne Wendung geben. „Hanſel, iſt es eigentlich vom ſozialiſtiſchen Standpunkt aus in der Ordnung, daß Du Dich in die ſehr elegante, ſehr weltliche und ziemlich degenerierte Sibilla verliebt haſt, anſtatt ins Gretel, in die unhübſche, kupferrote, mit grobem Zeug angethane Lehrerin?“ 264 „Nicht vielleicht um der Degenerierten zu einer Wiedergeburt zu verhelfen? Ich glaube an eine Wiedergeburt, Sibilla. „Ich auch, teilweis wenigſtens, wenn nur der Körper nicht dazu gehörte. Ja, könnte ich aus meinem allzu feſten Fleiſch (das war etwas renommiert, Mutter) den Aſtraleib extrahieren; ich bin aber keine Senſitive, überhaupt bin ich jetzt todmüde, ohne jeden Drang zur Wiedergeburt. Eher im Gegenteil zum Schlaf, dem Bruder des Todes. Vielleicht fühle ich mich morgen früh, nach einer guten Nacht, wie neugeboren.“ Er ſchwieg zu dieſem faden Scherz und ſah in den Sternenhimmel. Als wir uns trennten, ſagte er: „Ich werde Sie morgen früh um ſechs Uhr auf der Anhöhe hinter Ihrem Hauſe erwarten. Es wird eine herrlicher Morgen werden. Wir ſteigen zum Lockſtein empor.“ „Und frühſtücken dort oben in der Wirtſchaft. Morgen, meine Mutti, ſchreibe ich Dir, ob der Thee dort oben trinkbar war. 2. Auguſt. Reſpekt vor mir, Mutti, wahr und wahrhaftig bin ich geſtern um fünf Uhr aufgeſtanden. Um halb ſechs war ich fertig, zehn Minuten ſpäter auf der Anhöhe, dem Ort unſeres Rendezvous. Ich wollte ihn überraſchen, vor ihm da ſein. Ein ſtarker Nebel ruhte auf der Landſchaft. Als ich auf die Höhe kam, war er dicht und undurch⸗ dringlich geworden. Ich konnte gerade nur den Weg vor mir und ein kleines Stückchen Raſen, wie mit feinem Reif bedeckt, ſehen. Ich hatte das Gefühl 265 halber Erblindung, als wäre der Nebel in meinen Augen. Die Bäume und die grünen Hügel, die Felsmaſſen mit dem Schnee in ihrem Schoß, alles, alles fort, in weichem Flaum gebettet, in tiefem Morgentraum ruhend. Die ſchlafbefangene Landſchaft blinzelte ab und zu, aber gleich fielen ihr wieder die Augen zu. Der Nebel fängt an zu leuchten, immer leuchtender wird er, die Konturen einer weißen Rieſenſonne werden ſichtbar; aber gleich verdichten ſich wieder die Schleier und alles iſt eine einzige, weiche, weiße Monotonie. Wo Bäume ſtehen, erſcheinen die Nebel um eine Nüance dunkler. Die Sonne ein blaſſer Mond. Er verſchwindet. Er kommt wieder. Und nun beginnt der Kampf des Nebels mit der Sonne. Hingeriſſen von dem Schauſpiel vor mir, bemerkte ich Kunz erſt, als er dicht neben mir ſtand. „Schön, nicht? Er nickte. Die vorher lautloſen Sträucher und Bäume fingen an, ſich zu rühren, ganz, ganz leiſe, dann lebhafter. Immer blendender wurde der Nebel, noch blendender die weißen Strahlen der blaſſen Sonne, ich konnte nicht mehr hineinſehen in das ſchwimmende Lichtmeer. Halb öffnet die Landſchaft die Augen. Da blitzt es auf. Ein Baum, den ein Strahl getroffen, beginnt zu funkeln, ſich herauszu⸗ ringen aus dem weißen Mantel. Keine Mittagsſonne am klarſten Himmel kommt der blendenden Leuchtkraft dieſes Dunſtes gleich, ein Dunſt, wie ſchwimmender, lebendiger Schnee. 266 Und nun kommt Leben in den Dunſt, er wallt, er hebt ſich, er fliegt, ein Genius ſcheint die Schleier von den Bäumen zu ziehen. Hui, wie die Nebel fliegen! Anfangs verſchwimmt alles noch in mattem Glanz weich ineinander. Die Berge noch unſichtbar. Ein Stückchen Himmel zeigt ſich in zarter Bläue. Die vorderen Baumreihen treten klarer und klarer hervor, zart verhängt ſind noch die fernerſtehenden. Dieſes zarte Licht, das hier eine Baumgruppe trifft und eine andere noch im Dämmer läßt, wirkt wie Mondſchein bei Tage. Wie ſie dampfen, aufdampfen, die Nebel — ich atme ſie wie Weihrauch — immer ſchneller, ſchneller, der Sonnengott iſt ihnen auf den Ferſen mit ſeinen glühenden Rädern. Es iſt eine Flucht, eine wilde, atemloſe. Die Sonne ſiegt! Die Sonne! Ich und Kunz, wir ſahen uns hell in die Augen, zwei Menſchen, die in einem gemeinſamen, reinen Genuß fröhlich geworden waren. Das Schauſpiel war zu Ende. Wir ſchritten kräftig bergan. Nach einer Weile begann er: „Auch in Ihnen, Sibilla, iſt die zitternde Unruhe des Sichherausarbeitenwollens aus Nebelſchleiern, und mmer wieder verſinken Sie in Dunſt und Nebel.“ „Und Sie möchten der Morgenwind ſein, der die Nebel verjagt, wie Sie geſtern Alexander waren oder ſein wollten? „Am liebſten wäre ich gleich die Sonne ſelber.“ „Ach Kunz,“ rief ich halb ärgerlich, halb lachend, „müſſen Sie denn aus allem eine Moral ziehen? noch 267 dazu, wenn es ſo mühſam bergauf geht, und ich einen ſolchen Theedurſt habe. Ein weißes Häuschen mit grünen Jalouſien grüßte uns gaſtlich auf der Höhe. Ebereſchenbäume hoben ſich hier und da heiter von dem Mauerwerk ab. Auf der Altane Blumentöpfe. Zwiſchen Georginen und Sonnen⸗ blumen ließen wir uns in dem kleinen Gärtchen nieder, dicht neben einem Chriſtus von Holz auf blauem Grunde; um das Kreuz rankte ſich wilder Wein, der anfing rot zu werden. Das melodiſche Schellengeläut der Kühe heimelte uns an. So geſund, in goldener Friſche, in kühler Anmut lag die Landſchaft vor uns, die weiten, weiten, ſonnengetränkten Wieſen. So recht alles, um aus voller Bruſt zu atmen, Nerven und Lungen zu er⸗ quicken. So urmenſchlich froh und gut und ſo ganz unpolitiſch war uns zu Sinn. Wir dachten beide nicht daran, das Geſpräch vom vorigen Tage wieder aufzunehmen. Thee gab es natürlich nicht, dagegen Schwarzbrot mit Butter und friſche Milch. Und denke Dir, Mutti, es ſchmeckte mir ſo gut, daß ich Angſt hatte, Kunz wünde an meinen Appetit für das Schwarzbrot Bemerkungen über den geſtrigen Speck und die Linſen knüpfen, und Sprichwörter, wie etwa: „Appetit iſt der beſte Koch“ u. ſ. w. Dieſer Kelch ging zwar glücklich an mir vorüber, die Wiedergeburt aber vom Tage vorher hatte er leider im Gedächtnis behalten. Er wollte mir durchaus dazu verhelfen 268 — auf einem Umwege, nämlich: ich ſollte mich um ſeinetwillen von meinem Scheingatten trennen. „Und wir würden uns dann heiraten, Hanſel?“ Er zögerte einen Augenblick. „Wäre das nötig?“ ſagte er leiſe. „Aha, freie Liebe!“ Ich betonte die „Freie Liebe“ etwas verächtlich. Mein Ton hatte ihn verletzt. „Sibilla! Immer Kulturpapagei.“ Ich wurde zornig, warf — warum, weiß ich nicht — das Schwarzbrot weithin über die Wieſe, und blickte hochmütig über ihn weg in die Schnee⸗ berge. Er glitt von der Bank zu Boden, legte meine Hand auf ſeinen blonden Krauskopf und blickte mir in die Augen — taufriſch, ſonnig, mit einem bittenden Lächeln. Ich zauſte ihn ein wenig. „Sie Umſtürzler wollen doch nicht etwa die Ehe mit Stumpf und Stiel ausrotten? Die einzige wahre, echte Ehe, meinte er, wäre da, wo es gar keiner niet⸗ und nagelfeſten Formen bedürfe. Die Ehegemeinſchaft zweier, innerlich zuſammengehöriger Menſchen würde faſt immer bis ans Ende dauern, ob mit, ob ohne die Spielerei des Ringewechſelns, ob mit oder ohne den Standesbeamten in Frack und weißer Binde. Wer die Symbolik der Kirchenglocken und des Prieſterornats wolle, möge ſie haben. Selbſt bei der jetzigen Form der Ehe würde es eine große ſittliche Veredelung bedeuten, wenn 269 diejenigen, die nicht in der Ehe bleiben wollen und können, den Weg zum Standesamt zum zweiten Mal gehen dürften, und dem Beamten ſagen: Nimm den Ring zurück, wir gehören nicht zu einander. Wir haben uns geſchieden. Damit wäre ziemlich dasſelbe erreicht, was die „Freie Liebe“ will: „Abſchaffung der Zwangsehe.“ „Und die Kinder?“ Darauf antwortete er einfach: Der freie und ſittlich veredelte Menſch würde auch ſeine Kinder beſſer lieben und beſſer als jetzt für ihr geiſtiges und leib⸗ liches Wohl ſorgen. Nicht die getrennte Ehe — die unglückliche Ehe ſchaffe unglückliche Kinder. Wer be⸗ kümmere ſich denn heutigen Tages um die unzähligen Proletarierkinder, die zu Grunde gingen? Ich bemerkte, daß die Scheidung bei unſeren ſozialen Zuſtänden doch nicht nur das Loslöſen aus einer unglücklichen Ehe, ſondern auch aus unſerer geſell⸗ ſchaftlichen Stellung bedeute. Der Mann giebt uns unſeren Lebensunterhalt, er giebt uns die Lebens⸗ atmoſphäre, in die wir uns allmählich eingewöhnen und in vielen Fällen Wurzel ſchlagen, ſo daß — Ich ſchwieg. Er ſah mich ſo bitter ernſt an. „Haben Sie Wurzel geſchlagen, Sibilla?“ „Weiß ich's!“ „Denken Sie darüber nach.“ Wir hatten uns auf den Heimweg gemacht. Ich klagte über die Hitze. Er nahm meinen Arm und führte mich langſam und ſorglich. Nun war er wieder ganz Liebender und gar nicht mehr Sozialiſt. 270 Aks wir uns vor der Thür meines Hauſes trennten, ſagte er — es klang wehmütig und traurig —: „Gretel weiß alles. Sibilla will nichts wiſſen. Weiß ich wirklich alles, Mutti? Ja. Aber Wiſſen und Wiſſenanwenden iſt zweierlei. Das erſtere, wenn man die Verſtandesmittel dazu hat, iſt leicht, das letztere, ach ſo ſchwer — für Willenskranke. Über ſo viele Dinge ſind ſo viele Menſchen und Kreiſe einig, wie z. B. gerade über die Unſittlichkeit unſerer Zwangs⸗ ehe. Aber ſie muckſen nicht. Warum für andere die Kaſtanien aus dem Feuer holen? Uns genieren ja die üblichen Eheformen nicht ſonderlich. Wir kennen die Hinterthüren, die ins Freie führen, die Notausgänge der Natur bei Feuersgefahr. Ein bißchen Jeſuitismus und — all right. Ein von ſeiner Partei hochgeſchätzter Profeſſor und Publiziſt ſagt in einer ſeiner. Schriften kurz und bündig: „Was über die volle und unauflösliche Lebens⸗ gemeinſchaft von Mann und Weib hinausſtrebt, verfällt einfach dem ſittlichen Schmutz, ſo die bekannte „Freie Liebe“ der Sozialiſten. Ich kehre kurz und bündig den Satz um und ſage: jede Ehe, in der das Weib ſich ohne Liebe und Willen zur Umarmung dem Manne hingeben muß, verfällt dem ſittlichen Schmutz. Das Wort Schmutz paßt nicht ganz, ich übernehme es nur von dem Herrn Profeſſor. Und dauern dieſe unſittlichen ehe⸗ lichen Beziehungen das ganze Leben hindurch, um ſo abſcheulicher. Über das, was Frauen in dieſer Si⸗ tuation, empfinden, kann der Mann abſolut nicht 271 urteilen, er kann es nun und nimmer. Wir verbieten es ihm, wir verlachen ihn. Kein Mann umarmt ein Weib, wenn er es nicht wenigſtens in der Stunde der Umarmung liebt. Das Weib aber — ob ihre Vergewaltigung legitim iſt oder nicht, ſie bleibt vergewaltigt; ob ſie in das Opfer ein⸗ willigt oder nicht, es bleibt ein Opfer. Weißt Du, Mutti, worüber ich oft erſtaunt bin? Daß Morde im Ehebette nur aus Eiferſucht begangen werden. Selten erfährt ein Mann Wahres über die ge⸗ ſchlechtlichen Empfindungen der Frau. Nie ſpricht eine Schweſter mit dem Bruder, nie eine Mutter mit dem Sohne über dieſe Empfindungen, faſt nie die Gattin mit ihrem Gatten. Nur die Geliebte ſpricht mit ihm darüber, und die lügt gewöhnlich. Ich brauche über die Ehe⸗ und Liebefrage nicht nachzudenken. Meine Nerven geben der Vernunft die Schlüſſel zur Löſung der Frage. Ich habe die Gabe, durch Bretter zu ſehen, unter Brettern ſämt⸗ liche Anerzogenheiten und Denk⸗Angewohnheiten ver⸗ ſtanden. Die Wahrhaftigkeit meiner Natur iſt unver⸗ brüchlich. Nur viel Staub iſt darauf gefallen. Ich weiß, ohne viel nachzudenken, daß auf dem Gebiete der geſchlechtlichen Beziehungen faſt uneingeſchränkt die Phraſe herrſcht. Bin ich ganz ſicher, daß die Meinung der Beſt⸗ geſinnten: daß die Liebe das Geſchlechtsleben ethiſiere, nicht auch Phraſe iſt? 272 Liebe — ja — was iſt das? Nicht in den meiſten Fällen nur ein Begehren des Blutes, ein Drängen von Nervenkräften, die ſich bethätigen wollen? Und die Vereinigung von Mann und Weib am Ende nichts als ein natürlicher und rechtmäßiger Vorgang, der mit der Ethik nichts zu thun hat? Wird die Aufnahme von Speiſe und Trank durch den Hunger ethiſiert? Geht nicht die allgemeine Meinung dahin, daß der Zweck der Geſchlechtsliebe die Erhaltung der Art ſei? Die Richtigkeit dieſer Meinung angenommen, wäre dann nicht offenbar diejenige Vereinigung von Mann und Weib die zweckentſprechendſte, die die beſte und reinſte Erhaltung der Art verbürgte? Und würde von dieſem Geſichtspunkt aus unſere jetzige Ehe nicht durchaus unzweckmäßig ſein? Und ſelbſt die Liebe, käme ſie nicht dabei ins Hintertreffen? Müßten nicht bei dieſer Anſchauung einzig und allein die geiſtigen und körperlichen Beſchaffenheiten der Gatten maßgebend ſein? denn von dieſen Beſchaffenheiten würde ja die Weſensart des Kindes, das erzeugt werden ſoll, ab⸗ hängen. Liebe Mutter, wäre es dann nicht am ſittlich reinſten, das Kind zu empfangen, ob mit, ob ohne Liebe, nur um des Kindes willen? nur ein Gefäß ſein wollen für einen köſtlichen Inhalt? Wie, wenn zwei der beſten und intelligenteſten Menſchen verſchiedenen Geſchlechts ſich zu einer — verzeihe das Wort — Idealzüchtung vereinigten, zur Schöpfung eines neuen Menſchen? 18 273 „Ehe, ſo heiße ich den Willen zu Zweien, das Eine zu ſchaffen, das mehr iſt, als die es ſchufen. Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe als vor den Wollenden eines ſolchen Willens.“ (Nietzſche ſagt es.) Wäre das nicht höchſte Selbſtverleugnung von Seiten des Weibes? ſchwärmeriſcher Altruismusk Bliebe ihre Keuſchheit dabei nicht intakt? ja, ich möchte ſagen ihre Jungfräulichkeit? Geſchah nicht etwas ähnliches in Sparta, oder hätte es bloß geſchehen können? Meine Geſchichtskenntnis iſt nicht weit her. Ob es Frauen gäbe, die ſolcher Selbſtverleugnung fähig wären? Mütterlein fein, Mütterlein fein, nur Dir ſage ich ſo meine geheimſten Gedanken, nur Dir allein. Ob es meine wirklichen Gedanken ſind? Alles, was ich denke, hat ja gewöhnlich einen lendemain, an dem ich es widerrufe. Übermorgen reiſt Kunz nach München zurück. Mit einer Fahrt über den Königsſee wollen wir in den Wermutsbecher des Abſchieds etwas Honig träufeln. 6. Auguſt. O Mutti, war das ſchön auf dem Königsſee. Beinahe wäre die Fahrt eine Schickſals⸗ fahrt geworden, und wir wären auf einem Eiland gelandet, das — — Eine Klippe war da, ich kam nicht vorüber. Als wir vom Lande abſtießen, ſtand die in leichten Dunſt gehüllte Sonne ſchon ziemlich tief. Der Ton des Sees war von feinem Blaugrau, ſüß und mild, und die Bewegung des Waſſers ſo leicht, wie wenn 274 eine Hand liebkoſend über Atlas ſtreicht. Die Berge in ihren ſanften, wellenartigen Bildungen ſtimmten zu dem wiegenden, ſingenden Glockenläuten, das aus einer Kapelle über den See hinklang. In träumeriſcher Verſunkenheit hoben ſich Berg und See von dem kräftigen, klaren, dunkeln Grün des Ufers ab. In träumeriſcher Ver⸗ ſunkenheit ſaßen auch wir im Kahn, Trennungswehmut im Herzen. Lange ſchwiegen wir. Seine Blicke ruhten intenſiv auf mir. „ Sibilla! „Was, Kunz?“ „Haben Sie nachgedacht über das, wovon wir geſtern ſprachen? „Es war nicht nötig, Kunz. Mein kleiner Finger hat mir alles verraten. „Auch, daß Herr Benno Raphalo Sie abſolut nichts angeht, dieſer Herr, den Sie aus konventionellem Schlendrian geheiratet haben, und aus demſelben Grunde und noch einigen Gründen mehr beibehalten.“! „Das ſtimmt.“ „Ein Mann, von dem Sie kein Kind haben — das Kind gehört zur Ehe, Sibilla. Ein Kind muß ſein. „Ein Kind! Thäte es nicht ein fremdes?“ Die Erinnerung an jenes Proletarierkind mit dem ſeltſamen Ausdruck in den langbewimperten Augen tauchte in mir auf, und zugleich Gewiſſensbiſſe darüber, daß ich mich nicht mehr um die Kleine gekümmert. Ich erzählte Kunz von dem Kinde. Ob er mir raten würde, es zu adoptieren. 18* 275 „Wenn Sie kein eigenes haben könnten — ja Im eigenen Kinde fänden Sie den Grund und Boden ſchon vorbereitet für die Auferziehung eines erleſenen Geſchöpfes. Ob Sie das genial⸗pädagogiſche Talent haben würden, auf einem, Ihrer Kultur wahrſcheinlich widerſtrebenden Boden edle Frucht zu ernten, be⸗ zweifle ich.“ Eine Pauſe. „Sibilla! WWas? „Dein eigenes Kind, Sibilla.“ Schauderhaft ſeine Deutlichkeit. Und nun hatte er mich zum erſten Mal Sibilla und Du genannt. Bisher ſtand er nur mit Gretel auf Du und Du. Er hielt in ſeiner bebenden Hand die meine. In ſeinem Blick flammendes Begehren. Ich wandte mich mit innerem Widerſtreben ab. Mutti, ich will nicht, daß man mich begehrt mit ro⸗ buſtem Mannestrieb, ich will nicht Material ſein für ein Feuer, das brennen würde, gleichviel von welchem Stoff es ſich nährt. Sein Verlangen beleidigte mich. Das heißt, es be⸗ leidigte meine Nerven, meinen Geſchmack. Meine Ver⸗ nunft? nein. Die findet das ganz in der Ordnung. Sie ſchilt ſogar die prüden Nerven. Pſyche und Sphynx ſind Nahverwandte. Er ließ meine Hand los und ſah hochatmend ins Waſſer. 276 Die Sonne ſank tiefer. Vor ihrer Glorie wich die Dunſthülle. Eine berauſchende Farbe breitete ſich über das Waſſer, zu zart, um ſie mit Feuer, zu feurig, um ſie mit Roſenkelchen zu vergleichen, ein lebendiges, ſtilles, mildes Glühen, wie ein Traum von Feuer, Roſen, Liebe. In dieſer holden Pracht fanden wir die Stimmung wieder. Unſere Hände ſchlangen ſich ineinander. Wieder eine Verwandlung der Farbe. Die roſig helle Glut floß in einem ſchillernden, ſchmelzend verklärten Regen⸗ bogen auseinander, eine einzige, ſchimmernde, ſelige Lieblichkeit. Und allmählich löſte ſich auch der Regen⸗ bogen auf, und ein dunkel ſchwärzlicher Purpur breitete ſich im Weſten über die Waſſerfläche, während im Oſten der See in ſtahlblauer Klarheit, wie in feierlicher Un⸗ berührtheit dalag. Und über uns die Pracht des grünbläulichen Himmels. Da fühlt' ich es im tiefſten Innern, Mutti, Schönheit, Güte und Liebe ſind eins. Mein Kopf ſank auf ſeine Schulter. Er küßte mir die Augen. Die Zuſammengehörigkeit von Mann und Weib fühlte ich in reiner Inbrunſt. Wir ſprachen nicht mehr. Gott im Herzen, die Welt weit ab. Unſer ganzes Weſen Muſik; himmliſche? Oder doch vielleicht eine Note Wagner darin? Als wir landeten, ſchwebte über der hinſtrömenden Zartheit des dunkel⸗roſigen Dämmers, der weiße Mond. War das Sibillas Brautfahrt, Mutti? Bin ich ſein? Verlaſſe ich den guten Benno? Vielleicht — vielleicht auch nicht. 277 20. Auguſt. Seit meinem letzten Briefe ſind vier⸗ zehn Tage vergangen. Noch habe ich mich ganz bei⸗ ſammen. Ich bin froh und wohl. Ich gehe allein in die Berge. Klar und friſch ſind ſeine Briefe. Sie er⸗ halten mich in braven, mutigen Entſchlüſſen. Ich will auch geſund und ſtark werden. Darum trinke ich viel Milch, leſe Kneip und planſche viel mit kaltem Waſſer, ſchwimmend und auch ſonſt. Teils ſind meine Münchener ſchon ſüdwärts gezogen, teils ziehe ich mich von ihnen zurück. In wenigen Wochen breche ich auch mein Zelt hier ab. Vielleicht erhältſt Du den nächſten Brief ſchon aus München. Was wird nur werden, Mutti? Hätte ich nur nicht ſolche Abneigung, etwas zu thun, was irréparable iſt, und wüßte ich nicht immer voraus, wie es hinterher kommen wird. Ja, wenn ich ſo zu ihm hinübergleiten könnte, wie von ſelbſt, ohne Staub aufzuwirbeln, ohne den Saum meines Kleides zu beſchmutzen. Nein, lieber die geltenden kleinen Unſittlichkeiten mitmachen, als an großer Originalſittlichkeit zu Grunde gehen. Geteilte, mit der ganzen Geſellſchaft geteilte Un⸗ ſittlichkeit, iſt nicht halbe, nicht viertels Unſittlichkeit; ſie iſt gar keine Unſittlichkeit, viel eher eine Tugend, wenigſtens eine lokale, eine Zeittugend, wie z. B. das Verbleiben in der Zwangsehe. Du weißt gar nicht, Mutti, wie erbärmlich klein⸗ licher Vorſtellungen Deine Tochter fähig iſt. Ich dachte auch an den Haushalt mit Kunz. Und der 278 Mittagstiſch mit dem billigen Porzellan (wenn nicht etwa gar Steingut) tauchte in meinem Geiſt auf, und es würde gewiß manchmal Bouletten oder falſchen Haſen geben, wo mir doch ſchon der echte Haſe nicht ſchmeckt. Ach, Mutti, zur Liebe, ſcheint es, habe ich kein Talent, wie Goethe keins zum Zeichnen hatte. Und doch zeichnete er ſo leidenſchaftlicb gern, und ich möchte ſo raſend gern lieben, da ich doch ſonſt nichts Rechtes gelernt habe. Es kommt aber immer nur eine Stüm⸗ perei heraus. Die Asras ſterben, wenn ſie lieben. Viele Frauen ſterben, wenn und weil ſie nicht lieben. Gehöre ich dazu? Ich, von der Timäa ſagt, daß ſie kalt iſt wie eine Hundeſchnauze! Abwarten und Thee trinken. Da bringt ihn mir gerade die Jungfer. Adieu, ſüße Mutter. Deine Sibilla. 28. September. Meine Karten, liebſte Mutter, haben Dich von meiner Reiſe, meinem Wohlbefinden ic. au courant gehalten. Heut der erſte Brief aus München. Schon vierzehn Tage hier. Es könnte ja nun alles im alten Geleiſe fortgehen. Es ſoll aber nicht. Noch habe ich niemandem meine Rückkehr ange⸗ zeigt, noch keinen einzigen Beſuch gemacht. Nur Lektüre und weite, weite Spaziergänge mit Kunz. Wir haben 279 uns gleich wieder ineinander gefunden, wenn auch nicht ganz ſo, wie er es nach unſerer letzten Fahrt auf dem Königsſee erwartete. Keine Bräutlichkeit auf meiner Seite. Ich habe ihm vorgeſtellt, daß man Schickſals⸗ fragen nicht übers Knie brechen dürfe, daß es bergan (zu ihm hinauf) immer langſamer gehe als bergab. Ich wollte doch nicht erſchöpft zu ihm kommen, wie auf einer Flucht. Wenn ich nicht ganz ehrlich bin, nehme ich gern Bilder zu Hilfe. Ihn näher kennen lernen, heißt ihn mehr ſchätzen. Alles, was an Intrigue ſtreift, politiſche Schleichwege Geheimniskrämereien ſind ihm zuwider. Feſtgefügt iſt er an Leib und Seele, von ſtarkem Willen, naiv an Gemüt und völlig frei von Egoismus. Nur giebt er ſich zu wuchtig. Seine Denk⸗ und Gefühlsweiſe hat — ich möchte ſagen — einen religiöſen Fond. Es iſt in ſeiner Geſinnung ſo viel Glauben. Selbſt die Art, wie er die Schönheit der Natur genießt, iſt gebetartig. Iſt er beſonders davon ergriffen, ſo faltet er unwillkürlich die Hände. Er brüskiert die herkömmlichen Formen oft abſichtlich. Wenn ich ihm einmal eine Taktloſigkeit vorwerfe, ſo antwortet er: Takt? was iſt Takt? Das, was die oberen Zehntauſend ſo nennen, z. B. daß man in Gegen⸗ wart von Wucherern nicht von der Abſcheulichkeit des Wuchers ſprechen darf. Ach! und ſein grauer Filz und die ſchon er⸗ wähnten Riſter auf den Stiefeln! Auf eine zarte Riſteranſpielung meinerſeits beruhigte er mich damit, 280 daß der Flicken von ebenſo gutem, ſolidem Leder ſei, wie der übrige Stiefel. Ich kann ſchon das Wort Stiefel nicht leiden. Alles in allem iſt er mir viel. Ein friſcher Luft⸗ ſtrom geht von ihm aus. Es iſt auch ſo wohlthuend, daß jemand an meine angeborene Güte glaubt. Pro⸗ feſſor Vogel hat zwar ſchon in der Schule mein Gemüt entdeckt, aber ſeitdem ſind Nord⸗ und Südſtürme darüber gebrauſt. Ich leſe viel hiſtoriſche, ſozialiſtiſche, philoſophiſche Bücher. Ich will wachſen, wachſen. Daß ich nicht gleich in den Himmel wachſen werde, dafür ſorgt meine Zwieſpältigkeit. Ich möchte ſchon, etwa wie Nietzſche, in der wild⸗ ſchönen Einſamkeit von Sils⸗Maria philoſophieren und denken, aber mit Pauſen, um mich nebenher ein bißchen weltlich zu amüſieren, wie die Götter ja auch zuweilen, wenn es ihnen im Olymp zu himmliſch wurde, zu den Irdiſchen niederſtiegen. Überhaupt das Heidentum! Das wäre etwas für meinen Gaumen geweſen. Faſt komiſch war der Eindruck, den Kunz von unſerem Hauſe empfing. Befremden, faſt Schreck drückte ſeine Mienen aus. Er hatte eine Weile um ſich geſchaut und dann ein mißbilligendes „Hm! Hm! hören laſſen. „Iſt mein Haus nicht reizend, Kunz! „Hm! ja — ſo recht etwas für ein ſozialiſtiſches Gemüt. Ich ſchätze dieſe beſcheidene Kemenate auf 281 100,000 Mark.“ Und er ſank in das weiche Polſter eines prachtvollen Fauteuil Henri quatre. „Ungefähr ſo. Die Häuſer können doch nicht bloß aus Manſarden beſtehen. Wer ſollte denn in den Bel⸗ Etagen wohnen? Ein Wort gab das andere, und da waren wir denn richtig wieder beim Tanz um das goldene Kalb und beim Stichwort vom Moloch des Kapitalismus. Du liebe, anſpruchsvolle Mutter, immer noch bin ich Dir nicht ausführlich genug in meinen Briefen. Für die Genauigkeit jedes Worts kann ich freilich nicht einſtehen, aber den Kern von allem, und wenn er auch wurmſtichig iſt, erfährſt Du immer. Soll ich Dir unſere Geſpräche dramatiſch, ſo als förmliche Dialoge vorführen? Alſo: Ich: Sage Kunz, giebt es einen Menſchen, den Beſitz nicht freut? Ich kenne keinen. Der Un⸗ bemittelte, der ein klein winzig Häuschen mit einem klein winzigen Gärtchen hat, ihn freut jedes Pflänzchen darin; wäre es auch nur eine Mohrrübe oder ein Radieschen, weil es ſeine Mohrrübe, ſein Radieschen iſt. Und ſein Stübchen, ſein Bildchen, ſein Tiſchchen, ſein Stühlchen, er liebt das alles, weil es ſein iſt. Den Apfel von ſeinem Baume ißt er in weihevoller Stim⸗ mung, weil es ſein ſaurer Apfel iſt. Wer noch ſo wenig hat, hat doch etwas, und wäre es auch nur eine Kaffeekanne oder ein Stückchen Teppich, und er hängt daran mit zäherer Zärtlichkeit, als der Reiche an ſeinem Prunk und ſeinen Wertpapieren. Die Anſchaffung einer Lampe oder einer Schüſſel iſt in der Hütte ein 282 freudigeres Ereignis, als im Palaſt etwa die Erwerbung einer antiken Originalſtatue. Er: Weil der Arme ſich über das Nötigſte freut, glaubſt Du ein Recht an dem Überflüſſigen zu haben? Sibilla, Du ſtehſt auf einer Grenzſcheide. Entweder lüge und ſchwelge weiter, oder — Ich (ihn unterbrechend): Sei mein Weib. Er: Du wirſt es ſein, weil ich es will. Noch ſinnſt Du darüber: Wie kann ich mich recht weit hin⸗ auswagen in das Reich, wo Freiheit und reines Menſchentum, wo Liebe und Güte herrſchen, und doch immer auf meinen Platz zurückkehren, das heißt, in meinen Palaſt mit den vergoldeten Plafonds, den von Kunſtmalern ausgemalten Veranden, den geiſtreichelnden Freunden und allem übrigen. Ich: Der Menſch lebt doch nicht allein von jeg⸗ lichem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt (wo⸗ mit ich Dir nicht etwa ſchmeicheln will, Hanſel), ſondern auch von Brot — — Er: Oder Kuchen. Ich: Ja, meinetwegen Kuchen. Wenn man nichts ſein kann, ſo iſt es zuweilen vergnüglich, wenigſtens etwas vorzuſtellen. Und ſiehſt Du, Kunz, wenn ich ſo abends in Geſellſchaften, in Perlen⸗ und Diamanten⸗ pracht ſtrahle und den Weihrauch atme, den meine Vaſallen mir ſtreuen, ſo trage ich gewiſſermaßen Scepter und Krone. Ich ſage Dir, es iſt ein könig⸗ liches Gefühl, wenn ich in meiner weißen Atlasſchleppe oder in roſenrotem Sammet durch den Saal rauſche und teils Bewunderung, teils Neid errege. Auch Er⸗ 283 wachſene mögen Märchen gern, und das ſind meine Märchen, meine Feenträume. dem ich ihn auf die Finger ſchlug, die er zu feſt auf „Freilich“ — ſetzte ich beſchwichtigend hinzu, in⸗ meinen Arm preßte, „wenn ich dann gegen Sonnen⸗ untergang am Opheliabach mein beſſeres Ich ſpazieren führe oder abends ein gutes Buch leſe, dann ſchäme ich mich der Vergeudung meiner Nachtruhe in Geſell⸗ ſchaften — Er: Und vergeude ſie jede Nacht aufs neue. Ich: Ach Kunz, ich habe nun einmal kein Talent zu einer Hütte und einem Herzen. Er haßt es, wenn ich unſeren Geſprächen durch ſcherzhafte Wendungen eine Würze zu geben ſuche, und faßt dann immer gleich den Entſchluß einer ewigen Trennung. Die Ewigkeit dauert aber ſelten länger als einen halben Tag. So nahm er auch jetzt ſeinen Hut. Ein bißchen halte ich ihn — obgleich ich noch weniger von der Julia habe, als er von Romeo hat „wie das Vögelchen am ſeidenen Faden“. „Ich bin ja eine Kranke, Kunz, eine Blut⸗ und Knochenloſe, eine Entartete. Hilf mir doch! Sofort gab er die für Ewigkeiten geplante Tren⸗ nung auf und legte ſeinen Hut fort. „Das will ich ja, das will ich von ganzem Herzen. Aber ſieh, Sibilla, es iſt doch nicht genug, daß Du das Richtige erkennſt, würdigſt. Dein Blut muß in Aufruhr geraten, Dein Wille wie ein ſprudelnd heißer Quell hervorbrechen und Thaten zeugen. Du 284 haſt ja nicht einmal den Mut, eine unſerer Verſamm⸗ lungen zu beſuchen, weil die Baronin E. oder 2). Gloſſen darüber machen könnte. Ich: Nicht deshalb, Kunz. Dieſe Ixen und Dpſilons, was gehen ſie mich an? Sie ſind alle, alle de trop. Aber Eure Redekämpfe, ſie ſind ſo voll Lärm und Ge⸗ töſe, und Lärm iſt für mich wie ſchlechtes Wetter, bei dem ich nicht ausgehe! Eine geſchrieene Ge⸗ ſinnung, mag ſie vortrefflich ſein, iſt mir unſympa⸗ thiſcher — — Er (mich unterbrechend): — als eine melodiſch ge⸗ flötete Niedrigkeit. Ich: Übertreibe nicht. Warum ſoll ich anderen Leuten wehe thun, ohne Nutzen zu ſtiften? Mein guter Benno würde aus der Haut fahren, wenn ich urbi et orbi kund thun wollte, daß ich eine ſeiner Thätigkeit conträre Geſinnung hege! In meinem Salon nehme ich ja kein Blatt vor den Mund — — Er (ſpöttiſch): Jawohl, weil Du weißt, daß man Deine Anſichten nicht ernſthaft nimmt, daß man ſich darüber amüſiert. Du bringſt, wenn Du radikale Ideen verteidigſt, nur eine pikante Nüance in die „Cauſerien au coin du feu,“ — ſo ſagt Ihr ja wohl — und ſelbſt ein Edelſter von Helmſtröm würde um dieſes kleidſamen Rots willen, das Du auflegſt, nicht einen Deiner five o'clock teas (ſehr ſpöttiſch) — ſo ſagt Ihr ja wohl — verſäumen, um Dich in Deinem neueſten bezaubernden tea gown — ſo ſagt Ihr ja wohl — zu bewundern. 285 Ich: Aber Kunz, ich glaube beſtimmt, hätte Luther oder Cromwell, oder Muhamed oder ein anderer großer Zeitumwandler ſo vibrierende Nerven gehabt wie ich, und ſo oft Migräne, ihre Ideen hätten auch nicht Thaten gezeugt — — Er: Vielleicht doch. Im Kern ihres Weſens war ein ewiges Licht, ein Feuer, das ſie trieb und das Dir fehlt: Glaube und Geſinnung. Eine hohe Leidenſchaft, die einen großen Zweck hat, thut Wunder. Ich: Ja, wenn man an den großen Zweck glaubt. Er: Man kann auch glauben wollen. Möchteſt Du Dir doch, geliebteſte aller Frauen, anſtatt dieſes raſtloſen, vornehmen Vagabondierens eine Lebensaufgabe ſtellen — — Ich: Eine Lebenslüge, willſt Du ſagen. Was ſollte ich Degenerierte wohl thun? Er: Du kokettierſt mit Degeneriertheit, etwa, weil Max Nordau alle großen Geiſter zu den Degenerierten zählt und Du gern dabei ſein möchteſt? Ich: Das glaubſt Du ja ſelber nicht. Kann ich dafür, daß es mir nicht beſchieden worden iſt, als Profeſſor der Philoſophie ein Auditorium von Jüng⸗ lingen durch meine Weisheit und Schönheit — wozu ich Talent gehabt hätte — zu verblüffen und zu fördern? Die notleidende Landwirtſchaft kann ich doch nicht retten. Im übrigen ſchiebe ich meine Impotenz der Geſellſchaft gerade ebenſo in die Schuhe, wie die Miſſethäter es mit ihren Verbrechen zu thun pflegen. Warum, Ihr greulichen Männer, ſperrt Ihr uns von 286 den Krippen der Wiſſenſchaft ab? Ja, wäre ich mit allem Wiſſen des Jahrhunderts ausgerüſtet, und hätte ich ſchönes, rotes Blut, und Nerven von Stahl und Muskeln von Eiſen! Und weil mir das alles fehlt, darum bin ich nichts! nichts! nichts! Er: Dieſer Gedanke iſt der Judas unter Deinen Gedanken, der Deine Seele verrät. Ich: Wenigſtens thut er es gratis, ohne den Lohn der Silberlinge. Soll ich etwa, wie man es von einer amerikaniſchen Miß erzählt, die Affenſprache ſtudieren? Vor dem Käfig der Marquiſe Hautbois hätte ich die ſchönſte Gelegenheit dazu. Siehſt Du, Kunz, ich greife ja nach allem, was wie ein Heilmittel meiner Krank⸗ heit ausſieht. Er: Und Deine Krankheit? Ich: Seelenmüdigkeit. „Müde Seelen“. Roman von Arne Garbarg. Wovon bin ich nur immer ſo müde? Ich träume zuweilen, wir gingen mit einander in Herzkas Eenialand. Schade, daß ich das Volkswirt⸗ ſchaftliche in dem Buch nicht verſtehe. Er: Du verſtehſt alles, was Du verſtehen willſt. Erwache doch, Sibilla! Es iſt ja Frühling in der Welt. Ich: Für uns Frauen kaum Vorfrühling. O Mutti, er hat eine ſo himmliſche Geduld mit mir. Er kniete vor der Chaiſelongue, auf der ich lag, und was er ſagte, brach wirklich wie ein ſprudelnd heißer Quell hervor. Seltſam, wenn er ſo aus tiefſtem Gemüt heraus ſpricht, weiß ich immer nachher nicht, 287 was er geſagt hat (ob es ihm vielleicht an Ticfe fehlt?), im Augenblick aber durchglüht es mich und bewirkt bei mir die farbigſten, hochſchwingendſten Ent⸗ ſchlüſſe, bis zum hohen A hinauf, oder zum ſatteſten, friſcheſten Grün. Darum verſprach ich ihm, mich ſeeliſch zu embellieren, das heißt, nicht weniger zu ſein, als ich ſein könnte, und mit der praktiſchen Bethätigung ſozialiſtiſcher Ideen nächſtens Ernſt zu machen. So trennten wir uns in aller Herzlichkeit. Gott, er hat ja recht. Ein ſchöner Sozialiſt bin ich. Benno ſuchte heute bei Tiſche, als die Pute zum zweiten Male herumgereicht wurde, ein Bruſtſtück, fand keines und erklärte entrüſtet, Beine gehörten überhaupt nicht auf den Tiſch, worüber unſer Otto lachte. Ich warf ihm einen Herren⸗Blick zu, weil es ſich doch für einen Diener nicht ſchickt, über die Witze ſeiner Herr⸗ ſchaft zu lachen. Da haſt Du Deine radikale Tochter. Schon vor einem hergebrachten Dienerreglement verſagt ihr Sozialismus. Ich nehme immer ab und zu ganz kleine Miniatur⸗Selbſterziehungs⸗Experimente mit mir vor, fahre z. B. mit der Tramway oder dritter Klaſſe mit der Eiſenbahn, wie neulich, als ich Jolante in Tegernſee beſuchte, oder ich nehme ein Parkettbillett im Theater. Strapazen — Mutti! Strapazen! Und wollte ich auch mit Thaten größeren Stils an meiner Sozialiſierung arbeiten, lohnen ſich denn ſolche Kämpfe mit ſich ſelbſt? Nicht eine Vergeudung von Kraft? Warum ſich die Beine ausreißen für den Sieg einer Idee? Iſt es an der Zeit, wird die 288 Idee ja doch Wirklichkeit, bald langſamer, bald ſchneller, meiſtens allerdings langſamer. Aber der Sieg kommt, unabänderlich, unaufhaltſam. Erſt ſind einige wenige dafür, dann viele, dann ſehr viele, ſchließlich die Majori⸗ tät, und die Sache iſt abgemacht. So lange man zu den einzelnen gehört, iſt man Ketzer und wird verbrannt. Dann wird man Majorität, die Ketzereien werden Geſetz, und die inzwiſchen neu⸗ erſtandenen einzelnen werden wiederum von den früheren Ketzern verbrannt. Naturgeſetz. Demſelben Naturgeſetz unterliegen die Moral⸗ ideen. Kein Menſch weiß im Grunde, was moraliſch und was unmoraliſch iſt. Und die Moral von heut? Denken wir uns Europa einige Jahrhunderte fort⸗ geſchritten — aller Wahrſcheinlichkeit nach würden Geſetze, Inſtitutionen, Bräuche, die heut kategoriſche Pflichtgebote ſind, als Rückſchläge in eine finſtere Barbarei, Gelächter und Staunen erregen. Als Barbarei würde es erſcheinen, daß nicht die Weſens⸗ art des Menſchen über ſein Schickſal entſcheidet, über ſeinen Beruf, ſeine Stellung in der Welt u. ſ. w., ſondern der Zufall, ſeine Geburt. Als Barbarei, daß ein Untermenſch auf dem Thron ſitzen, ein Übermenſch am Wege Steine klopfen kann. Barbarei, daß mög⸗ licherweiſe ein Gemeindenkender als Richter über einen Edelſten von Geſinnung aburteilen kann. Bar⸗ barei, die heutige Zwangsehe, Barbarei, der Krieg u. ſ. w. 19 289 Nicht komiſch, daß ſich die Menſchen immer auf das berufen, was war? Eben weil es war, wird und ſoll es nicht mehr ſein. Mein heutiges Wiſſen und Erkennen wird der Aberglaube des 20. oder 21. Jahr⸗ hunderts ſein. Die Götter vergangener Zeiten ſind heut Götzen, und unſere neuen Götter werden wieder Götzen werden. Ewige Götter giebt es nicht. Sie participieren an der univerſellen Sterblichkeit. 30. September. Jolante iſt aus Tegernſee zurück. Gleich am erſten Tag, als ſie mich beſuchte — natür⸗ lich mit Zeitungsabſchnitten in ihrem Rehledertäſchchen — traf ſie mit Kunz zuſammen. Ein Univerſitätsprofeſſor war abgeſetzt worden, weil er Ideen im Sozialismus gefunden. Und dieſer Hochverräter habe Weib und Kind, von letzterer Sorte ſogar ſechs Stück. „Du wirſt nächſtens noch mit Deinem revolutio⸗ nären Seelenzuſtand ſtaatsanwaltreif ſein,“ warnte ich. „ — Was bin ich?“ ſchrie ſie grimmig, „nichts bin ich als ein Menſch, der zu der, wie es ſcheint, un⸗ erlaubten Erkenntnis gekommen iſt, daß die andern auch Menſchen ſind. So lange es Märtyrer der Ehrlichkeit giebt, giebt's auch Tyrannen, giebt's Scheiterhaufen, Foltern! Eine Pfeife, ein Bücherregal, Fachſimpeln, das gehört ſich für den gelehrten Stubenhocker, aber ein menſchlicher Menſch ſein! Ideen im Sozialismus finden! der Schnüffler! Blind iſt man da oben, voll⸗ kommen blind. Menſchen, die berufen ſind, Ol in die 290 Wogen der Revolution zu gießen, maßregelt man, an⸗ ſtatt ſie in Watte zu wickeln. Wurſchtelt nur ſo weiter und zerbrecht die Sicherheitsſchleuſen, werdet ſchon in der Flut —“ ja, ſie ſagte „erſaufen“, worauf ſie ſich verſchnaufte, jetzt erſt Herrn Albert Kunz herzlich die Schweſterhand reichte und ſich für Seinesgleichen erklärte. „Was ſie für Temperament hat,“ ſagte Kunz, als ſie gegangen war, „und ein ſo liebes Geſicht. Ihre Augen ſind ſo klar, man könnte Forellen darin fangen. Schade — „Was ſchade? Er ſchwieg. 3. Oktober. Ferlani und Timäa — ſie hatten erfahren, daß ich in München bin — waren bei mir. Ferlani kannte ſchon — via Timäa — meine Be⸗ ziehungen zu Kunz und behandelte „meinen Freund: im voraus, ohne ihn zu kennen, mit ironiſchem Wohl⸗ wollen. Er geruhte meine Kameradſchaft mit ihm zu billigen, nur dürfe ich, um dieſes heiligen Georgs willen, der dem Drachen des Mammonismus hoffentlich nicht ſofort den Garaus machen würde, meine alten Freunde nicht vernachläſſigen, man könne ſonſt meinen harm⸗ loſen Verkehr mit dem Schwaben mißdeuten. Timäa pflichtete ihm bei. Von ihr erfuhr ich auch, daß Rietlings mit Helmſtröm aus Venedig zurück ſeien, das heißt eigentlich nur Helmſtröm und Traute. Traute ſei krank. Rietling bleibe einen Teil des Win⸗ ters in Rom. 19* 291 Da ich nun vor Ferlani und Timäa meine Thür nicht verſchließen konnte, öffnete ich ſie auch allen anderen. Nur vor Hely Helmſtröm ließ ich mich bei ſeinem erſten Beſuch verleugnen, ich weiß ſelbſt nicht recht warum. Am anderen Tag erhielt ich ein Billet von ihm, er müſſe mich ſprechen und würde ſich morgen Nach⸗ mittag um die und die Stunde die Ehre geben. Daraufhin mußte ich ihn wohl oder übel empfangen. Er kam mit einem Auftrag von Traute: ich möchte ſie in ihrem Elend nicht verlaſſen, auf alle anderen ver⸗ zichte ſie gern. Hely hält Trautes Zuſtand für hoffnungslos. Vor ſeiner echten Trauer hielt der Vorſatz meiner Kälte nicht ſtand. Er, ſonſt ſo diskret und verſchloſſen, öffnete mir ſein Herz. Nicht eigentlich liebe er Traute. Sie habe ihn angezogen wie ein ſüßes Rätſel, und er habe ſich dieſem Zauber willig hingegeben, um einen anderen zu löſen, der ihm verhängnisvoll zu werden drohte. Während er die letzten Worte faſt gleichgültig hinſprach, ſah er zu Boden. Warum fing mein dummes Herz an zu klopfen? Als ob er an mich ge⸗ dacht hätte! Er wiederholte, was er früher ſchon einmal aus⸗ geſprochen hatte: er hüte ſich gleichmäßig vor Leiden⸗ ſchaften des Kopfes und des Herzens; nur in der Harmonie der Kräfte beſtände geiſtige Geſundheit. Klopfe ſein Herz zu ſtark, ſo greife er nach ſeinem Manuſkript (er ſchreibt an einer Geſchichte der Oſtſee⸗ 292 provinzen, deren erſter Band fertig iſt), oder ſeinem Talisman. Er zog eine Kapſel aus ſeiner Bruſttaſche. Ein wenig Erde lag darin — Heimatserde. Wenn er je die Geſchichte ſeines Landes vergeſſen, jemals ſein Geſchick von ſeinem Vaterlande trennen könne, ſo würde er entwurzelt, dem Antäus gleich, all ſeine Kraft verlieren. Sein Land brauche Männer von unerſchütterlichen Grundſätzen. Darum würde er auch nie eine jener leichtfertigen Liäſons anknüpfen, wie ſie in der Geſellſchaft üblich ſeien. Wenn ein Weib ſich ihm zu eigen gäbe, ſo wäre es von dieſem Augenblick an ſein Weib. Da er einmal im Zug des Vertrauens war, erfuhr ich auch — er berührte die Sache nur andeutungs⸗ weiſe — daß man aus patriotiſchen und Vernunft⸗ gründen eine Heirat zwiſchen ihm und ſeiner Couſine Eva Broddin wünſche (wahrſcheinlich wie die Souveräne zum Beſten ihres Landes heiraten), Eva aber ſei eine unvornehme, auf Effekt und Eroberungen ausgehende Natur, und ihm unſympathiſch. Er würde ſich nicht leicht dazu entſchließen. Ach Mutti, die Charaktere, die wetterfeſte Prin⸗ zipien haben, die wanken und weichen nicht von dem Platz, auf dem ſie ſtehen, bis die ſteigende Flut, die ſie nicht kommen ſehen, ſie fortſpült. Mit Charakter panzern ſie ihr Herz, mit Charakter verſchließen ſie ihre Gehirnzellen. Gehört die Heiligkeit der Ehe zu ihren Prinzipien, ſo keuchen ſie lieber lebenslang unter dem Joch einer elenden, entwürdigenden Ehe, als daß 293 ſie trennen, was nicht zuſammen gehört. Sie halten mit felſenfeſter Treue zur Fahne ihrer Partei, auch in Fragen, die ihrer Überzeugung widerſtreiten. Hely iſt ſo ein Charakter. Aus Prinzip wird er die ungeliebte Couſine heiraten, aus Prinzip wird er Söhne erzeugen, damit ſein Geſchlecht nicht ausſterbe. Sind nicht die Charakterſtarken oft die Vernunft⸗ ſchwachen? 4. Oktober. Ich war bei Traute. Ich fand ſie nichts weniger als elend; im Gegenteil toll, übermütig, wunderſchön. Wie in Berchtesgaden war ſie in ſchwarzen Flor gekleidet, die zarten Arme und der Anſatz des Halſes entblößt, das Zimmer aber ſtrahlte in den ſatteſten, brillanteſten Farben, Wandſchirme, Blumen, Kiſſen, alles von kreiſchendem Bunt. Sie lag auf einer Chaiſelongue von leuchtendem Seidenplüſch. Ein Papagei hockte über ihr auf einer Stange. Sie war wie ein Kobold, wechſelte fortwährend ihren Platz. Bald ſprang ſie von der Chaiſelongue auf und kauerte ſich auf einem großen Fauteuil von gelbem Atlas zuſammen, oder ſie ſetzte ſich verquer darauf, ſtützte ihr Kinn auf die Lehne und umloderte Hely mit ihren Blicken. Die helle Sonne ſtand noch am Himmel, im Zimmer herrſchte halbe Dämmerung. — „Soll ich nicht die Vorhänge zurückziehen, Traute? Nein, Tageshelle perhorresciere ſie gerade wie nüch⸗ terne Verſtändigkeit. Und ſie fing an, myſtiſch zu ſchwärmen, ſo ins Blaue hinein. Lieber ſeien ihr Geſpenſter, die ſchweigen, 294 als Alltagsmenſchen, die ſchwätzen. Dämmerungen liebe ſie und tiefpurpurne Nächte, phantaſtiſche Wolkenzüge, durch die der Mond ſchiffe, große verzückte Traurig⸗ keiten, überhaupt Tranſcendentales, Jenſeitiges — den Tod. Ich erklärte es für Ziererei, mit dem Tode zu liebäugeln, während man im Schoß lebendigen Glückes ſäße. Sie ſchüttelte betrübt den Kopf. „Hely, geh einmal ans Fenſter. Und dann flüſternd zu mir: „Er liebt mich ja nicht. Er behandelt mich wie ein krankes Kind, und ich möchte als Weib in ſeinen Armen vergehen. Nachher wird er mich lieben, wenn ich tot bin. Ich werde auch nicht wirklich tot ſein, ich materialiſiere mich ja.“ „Aber Traute, er liebt Dich doch auch jetzt in all Deiner liebreizenden Leibhaftigkeit. Sie legt ihren Mund dicht an mein Ohr: „Nein, nein, nein! Er liebt mich nicht. Der Mann. der wirklich liebt, der — beweiſt es — der —“ Sie ließ ſich von dem Fauteuil auf das weiße Fell gleiten, lachte krankhaft, ein ſchluchzendes Lachen, und ſtreckte die mageren, zarten Arme nach ihm aus: „Hely! Hely!“ Er beugte ſich zu ihr nieder, nahm ſie in ſeine Arme und legte ſie behutſam auf die Chaiſelongue zurück. Sie drückte den Mund an ſeine Bruſt: „Ich möchte ein Vampyr ſein und Dein Blut — nein — Dein Blut iſt kalt, mich fröſtelt —“ 295 Sie ſchüttelte ſich, wie eine Taube ihr naßgewor⸗ denes Gefieder ſchüttelt. Allmählich wurde ſie ruhiger. Sie hätte einen Wunſch, den müßte ich ihr erfüllen. Noch einmal möchte ſie ein ſchönes, großes, rauſchendes Feſt mitmachen: „Den Polterabend meiner Hochzeit mit dem Tode. Sie ſagte es mit einem herzzerreißenden Lächeln. Ich ſollte ihr dazu verhelfen. Ich machte den Einwand, daß im Oktober ſich ſchwer ein großes Feſt arrangieren ließe. Doch fiel mir ein, daß Timäa beabſichtigte, eine neu bezogene Wohnung durch eine kleine Feſtlichkeit einzuweihen. Vielleicht würde ſie ſich herbeilaſſen, um Trautes willen, aus der kleinen Feſtlichkeit ein größeres Feſt zu machen. Das Wetter in Südtyrol und Oberitalien war ſo ſchlecht geworden, daß faſt tout Munich wieder da⸗ heim war. Sie hörte meine letzten Worte nicht mehr. Sie war totenblaß geworden. Sie erhob ſich mühſam ſchwebte langſam, einer Aſtarte gleich, immer die Augen auf Hely gerichtet, durch den Salon und verſchwand im Nebenzimmer. Ich wollte ihr nach. Hely hielt mich zurück. Sie wolle nicht, daß man ihr folge. In dem Augenblick, wo ſie fühle, daß ihre Kräfte erſchöpft ſeien, verſchwände ſie immer in dieſer Weiſe. Hely führte mich zum Wagen, der vor der Thür auf mich wartete. Dieſes reizende Geſchöpf, dachte ich, als ich im Wagen ſaß, iſt ganz Poeſie und Gefühl. Sie hätte gewiß eine hervorragende Malerin werden können. 296 Sie ſieht alles maleriſch: ihre Liebe, ihre Toilette, ihre Ethik, ihr ganzes Leben, und maleriſch wird ſie auch ſterben. Sie wird noch mit dem Tode kokettieren und in einer entzückenden Poſe und Toilette traumengel⸗ haft ins Jenſeits hinüberſchmachten. Ob ſie ſtirbt, weil ſie liebt — oder ob ſie in den Tod verliebt iſt? Ich weiß es nicht recht. 15. Oktober. Sobald ich Timäa ſprach, legte ich ihr Trautes Wunſch ans Herz. Nach einigem Überlegen und Zögern entſchloß ſie ſich zu dem Feſt. Vorher war ich noch einige Male bei der Kranken, natürlich immer mit Hely zuſammen. Zu eigentlichen Unterhaltungen kam es kaum. All ihre Außerungen, ihre Bewegungen, ihr Mienenſpiel waren wie abgeriſſene Töne einer Geige, wie das zitternde Verklingen von Äolsharfen, zuweilen auch wie ein Blitz aus ſchwefligen Wolken. Eines Tages fanden wir ſie auf ihrer Chaiſe⸗ longue liegend, ganz mit Aſtern bedeckt, Aſtern in allen Farben. Sie trug ein Gewand von zarteſtem, weißem Muſſelin über einem weißſeidenen Unterkleid. In den Aſtern lag ſie ganz vergraben; über dem Geſicht einen dünnen Schleier, ganz einer Toten gleich. Auf ihrer Bruſt glühte ein kleines, rotes, elektriſches Licht, deſſen Verbindungsſchnur geſchickt irgendwo verborgen war. (Imitation von Hanneles Himmelfahrt.) Sie ſpielte Leichenbegängnis. Und während ſie ſo dalag, ohne ſich zu rühren, bewegte ſie kaum wahrnehmbar die Lippenzu einer Frage: 297 „Was meint Ihr zu den Aſtern und dem Glühlicht nach berühmten Muſtern? Oder würden Euch weiße Roſen und ein Kruzifix auf der Bruſt beſſer gefallen? Hely iſt ja leider Proteſtant, da iſt er gewiß nicht für das Kruzifix. Und mit einem Mal ſprang ſie aus den Aſtern heraus und bombardierte uns mit den Blumen, daß ſie im Zimmer umherflogen. Dann ſank ſie auf den Teppich nieder und ſchlug die Beine übereinander: „Nun bin ich Scheherazade und erzähle immerzu Märchen, um den Todesengel zu betrügen.“ Und ſo tollte ſie weiter. Immer aber ſteht der Tod im Mittel⸗ punkt ihrer Vorſtellungen, bald als Geſpenſt, bald als ein ernſter Erzengel, bald als ein koſend neckiſcher Spirit. Zuweilen verſucht Hely ſie von ihren Todesge⸗ danken abzulenken und ſie für irgend eine Tagesfrage zu intereſſieren. Sie wehrt dann ab: das wäre nichts für ſie, Sibilla würde es allenfalls intereſſieren, be⸗ ſonders, ſeitdem die ſich mit dem Blutroten aus Berchtes⸗ gaden eingelaſſen habe. „Was ſagſt Du denn dazu, Helyk Er antwortete: Da Sibilla ihn in ihre Intimität aufgenommen habe, müſſe er eine Ausnahme unter ſeinen Genoſſen ſein. Im allgemeinen freilich ſeien ihm dieſe Leute, ohne Vaterland, ohne Glauben, ohne Tradition, in ihrer vorurteils⸗ und pietätloſen Art ein Greuel. Beſonders die Glaubensloſigkeit betonte er. Dabei kam es zur Sprache, daß er fromm iſt. In der 298 Kirchlichkeit ſieht er Vornehmheit. Er bedauert, daß es keine Kreuzzüge nach Jeruſalem mehr giebt. Frei und frank that er ſeinen Glauben an einen perſönlichen Gott kund. „Das hat Ihnen nur noch gefehlt,“ rief ich ganz entſetzt. O Mutti, das Bild iſt fertig. Wir ſind die reinſten Gegenſätze. Fragen, über die ich ſeit einem Jahrzehnt zur Tagesordnung übergegangen bin, ſind für ihn nur deshalb keine Fragen, weil in ſeiner Ge⸗ dankenwelt bombenfeſt ſteht, was die Marke einiger Jahrhunderte trägt. Als ich ihm ſeine Junkerhaftigkeit vorwarf, ver⸗ teidigte er ſich mit großem Ernſt. Er könne gar nicht anders denken und fühlen. Es läge ihm im Blut, ſei abſolutes Geſetz für ihn. Denn, man möge ſagen, was man wolle, das Blut ſei der wichtigſte Faktor im Daſein der Menſchheit, das einzige, wovon man ſich nicht frei machen könne, nie und nimmer, ohne ſich ſelbſt zu verlieren. Ich antwortete mit hochfahrendem Spott, daß das blaue Blut der Ariſtokraten mit der Zeit ſehr hell ge⸗ worden ſei, faſt ſchon bleu mourant. „Glaube ihm nur nicht alles,“ rief Traute von ihrem Fauteuil aus, „er iſt gar nicht wie Du denkſt, nur raſend eitel auf ſeinen makelloſen Ruf; unter vier Augen aber vergißt er manchmal, daß, „wo er iſt, Livland iſt,“ und neulich — (ſie duckte ſich auf dem Fauteuil zuſammen und blinzelte ihn von der Seite an) ſieh' mich nur an, ich ſag's doch — neulich hat 299 — er — mir — (ſie zerrte die Worte auseinander einen — Kuß — gegeben. Und dabei ſpitzte ſie das Mündchen ſo koſend ſchelmiſch, als erwarte ſie, daß er nun auch unter ſechs Augen desgleichen thue. Dazu ſchien er nun keineswegs aufgelegt. Im Gegenteil, Trautes Worte hatten ihn augenſcheinlich unangenehm berührt. Er wurde ſteif, ablehnend, öffnete einige Bücher, die auf einem Tiſch lagen, und Traute gar nicht mehr beachtend, ſprach er, zu mir gewendet, über dieſe Bücher — wegwerfend. Sie gehörten der jüngſten naturaliſtiſchen Schule an. Traute hielt Helys Böſeſein nicht lange aus, und unterbrach unſer Geſpräch mit einem klagenden: „Aber Hely — aber Hely!“ Als Hely nicht darauf reagierte, ſtieß ſie den Papagei an. „Aber Hely — aber Hely! kreiſchte er. Hely blieb taub. Eine ſchwere Thräne hing in Trautes Wimper. Sie zupfte ihn am Ärmel, und mit einem Mal ſang ſie das alte Couplet: „Ach, er hat mich ja nur auf die Schulter geküßt“ — — und ſo drollig und lieblich rührend ſang ſie es, daß er lachen mußte, und ſie lachte auch und ſchmiegte ſich an ihn, und es fehlte, glaube ich, wirklich nicht viel, und ſie hätten ſich unter ſechs Augen geküßt, wenigſtens ſie ihn. Mit ſchmeichelnder Anmut fragte ſie ihn ganz ernſthaft um Rat, in welcher Geſtalt und Tracht ſie ihm nach dem Tode als entleibte, wenigſtens teilweis entleibte Seele erſcheinen ſollte? Ob im griechiſchen Purpurgewand, roſenumgürtet, oder in durchſichtigem 300 indiſchen Muſſelin mit Silbergürtel und einem Ver⸗ gißmeinnichtkranz auf dem wallenden Haar, ganz deutſche Sehnſucht? „Komm nur mit dem Papagei auf der Schulter,“ ſagte er lachend, „da erkenne ich Dich gleich. Oder ſo wie jetzt.“ Sie ſaß in dem dämmernden Gemach am Fenſter, unter Hyazinthen und weißen Blumen, in ihrem ſchim⸗ mernden Gewand, und die weißen Blüten ſchienen zarte Geſichter, und ihr Antlitz war wie eine Blume. Ich war eiferſüchtig auf ihre magiſche Schönheit. Als wir aus dem Hauſe traten, war mein Wagen noch nicht da. Hely ſchlug mir einen Spaziergang durch den engliſchen Garten vor. Ich war ein⸗ verſtanden. Ein herrlicher Oktobertag gegen Sonnen⸗ untergang. „Mir ſcheint,“ ſagte ich — nachdem wir eine Weile ſchweigend nebeneinander hergeſchritten waren, „Sie unterſchätzen das Glück, von dieſer ſüßen kleinen Fee geliebt zu werden.“ „Wo wir ſind, iſt Livland.“ Sie kennen den Spruch meines Wappens. Ich will es rein erhalten. „Und jener Kuß?“ Er errötete wie ein junges Mädchen. Einen Kuß könne man in ſeiner ganzen Süße empfinden, und doch die Kraft haben, ſich vor dem Bodenſatz zu hüten, vor Reue und dem böſen Ge⸗ wiſſen. Das alte griechiſche Maßhalten ſei die Wurzel aller Weisheit. 301 Ach, Sie lieber Ruſſe, dachte ich, Sie ſind ja bei⸗ nahe wie das Kind, das Sonntags, wenn es ein weißes Kleid anhat, nicht zu ſpielen und zu tollen wagt, aus Furcht, das Kleid zu beſchmutzen. Sie halten immer tugendhaft Maß, damit Sie ſchön zu ihrem Wappen paſſen. Ähnliches ſagte ich zu ihm. Nein, ſelbſt wenn es keine Schranken, kein Livland für ihn gäbe, er könnte Traute nie mehr ſein, als ein zärtlich ſorgender Beſchützer. „Wenn Sie wüßten, Sibilla“ — — Pauſe. „Wenn Sie wüßten“ — — noch längere Pauſe. Ich pflückte gelbe und rote Blätter von einem Baum, ich machte einen Strauß daraus. Wir ſtanden am Rande des Baches. Das Spiegel⸗ bild der roten Bäume zeichnete ſich tief und klar im Waſſer ab. Aus dem Dämmer erglänzte die Häuſer⸗ reihe der Königinſtraße mit ihren erleuchteten Fenſtern. Der Hauch einer geheimnisvollen Trunkenheit war in der Farbe dieſer Dämmerung: ein ſanftes Feuer, wie hingeſungen, eine honigſüße, weiche Glut. Ich ſtand wie gebannt von dem Zauber des Bildes vor uns. Meine Augen ſuchten einen Reflex meines Entzückens in den ſeinen. „Alſo doch auch Sie etwas blaue Blume?“ lächelte er. Da hatte richtig wieder einer mein Gemüt auf Koſten meines Verſtandes unterſchätzt. Ich warf die Blätter in den Strom — im Nu trug ſie der Strom fort, weit fort. 302 „Mit den roten Blättern iſt die blaue Blume fort⸗ geſchwommen, Herr v. Helmſtröm, und wenn ſie wüßten, wie kalt es geworden iſt, würden Sie mir ſchleunigſt einen Wagen holen.“ Er fühlte, daß er mich verletzt hatte. Ich kam nervös aufgeregt nach Hauſe. Ich ärgerte mich über alles, und dann ärgerte ich mich darüber, daß ich mich ärgerte. Ich verſtimmte durch meine Übel⸗ launigkeit das ganze Haus und litt dann unter der mauſſaden Stimmung um mich her. Zu dumm. „Alſo doch auch Sie etwas blaue Blume. Zu dumm. Der Diener meldete Kunz. Er kam auch in Er⸗ regung. Er hatte eben die Journale geleſen, die voll waren von dem Aufſtand in Sicilien. Mit ſchmerzlicher Erbitterung ſprach er (leider ſchwäbelnd) von der grauſamen Verurteilung jenes edlen Führers. Ich hörte läſſig zu, machte ſogar einen Verſuch, die Regierungsmaßregeln zu verteidigen, nur aus Bos⸗ heit, aus Freude an der Oppoſition. Er wurde zornig, beinahe grob. Ich herb, trotzig. Nie wird er die feinen Gefühlsnüancen in einer Frauenſeele, die komplizierten Vibrationen ſubtiler Nervendrähte verſtehen, die ſchon vom Klang einer Stimme, von der ſchwäbelnden Ausſprache eines Wortes irritiert werden. Er hätte ſie zärtlich be⸗ ruhigen müſſen, meine Nerven, anſtatt ſie noch mehr zu reizen. 303 Die Pſyche iſt bei ihm immer geſtiefelt und ge⸗ ſpornt. Hely verſteht ſo fein zu ſchweigen, ſo beredt zu blicken. Er folgt den leiſeſten Schwankungen in mir. Natürlich langte Kunz wieder nach ſeinem grauen Filz, und während er ihn ſchier auseinanderriß, nannte er meine Seele ein Labyrinth. „Leider ohne Ariadnefaden, Kunz. „Hier eine dunkle Höhle mit Schlangen und Abgründen, dort eine Märchengrotte mit glitzerndem Edelgeſtein, weiterhin ein blühender Garten mit holdem Vogelgezwitſcher — ein Kerker — ein Geiſter⸗ reich — wüſte — weite — öde Strecken, über die der Samum fege — — Tc. Ach ja, das letzte hauptſächlich, Mutti, wüſte, weite, öde Strecken, über die der Samum fegt. Bei dem Wort Samum hatte er ſich den Filz aufgeſtülpt. Ich ſah ihn an, möglich, daß der Blick etwas kokett ausfiel. Nun wurde er erſt recht böſe, vielleicht, weil er malgré lui den Filz wieder fortlegte. Wenn man ſchon die Klinke in der Hand hätte, um der Zuwideren den Rücken zu kehren, ſpiele ſie ihre Rattenfängerweiſen und locke die dummen, großen Kinder zurück — ins Netz. Ich nahm das Netz übel und winkte ihm zu gehen. Er war ſchon draußen. Ich ſteckte ſchnell meine Ringe in die Taſche. „Hanſel!“ rief ich, „Hanſel! 304 Es klang ſo weich, ſchmelzend weich, daß ich un⸗ willkürlich ſelbſt auf den Klang meiner Stimme horchte. Natürlich kam er zurück. Ich ſtreckte ihm beide Hände entgegen. Er blickte eine Weile auf die Hand, die er in die ſeinige nahm, und fand dieſe nackten Finger — Lilienfinger — ſo rührend. Er war wieder ganz gut und ganz mein. Jetzt gab ich ihm zu, daß ich ja ſeine Anſichten über den ſicilianiſchen Aufſtand teile, ich hätte nur ſo gar keine Phantaſie, könne mir nicht vorſtellen, was ſo weit — weit von uns geſchähe, und mit unſeren feurigen Reden und zerriſſenen nordiſchen Seelen könnten wir doch denen da unten im Süden nicht helfen. Und dann — meine Gedanken, die ſchweiften immer gleich abſeits, vom Beſonderen hin⸗ über ins Große, Allgemeine, allwo die Philoſophen ſitzen oder Pythia auf dem Dreifuß, und wo unter myſtiſchen Dünſten — — aber dafür hätte er doch keinen Sinn. Und ließen ſich auch aus den ſozialpolitiſchen Zuſtänden Grauſamkeit und Ungerechtigkeit entfernen, wo anders tauchten ſie wieder auf, da, wo ſie unbe⸗ zwinglich, unzerſtörbar ſeien. Natur! Schickſal! „Denk an Jolante. Sie liebt Dich. Du biſt präde⸗ ſtiniert, ſie zu lieben. „Zwei Seelen und ein Ge⸗ danke.“ Da kommt das Schickſal in Geſtalt eines leicht verbogenen Knöchelchens, und Du, Allzumenſch⸗ licher, liebſt eine andere, die viel verbogener iſt — aber inwendig. 20 305 Mit Geſchick benutzte meine Jolante den Augen⸗ blick, um unverhofft einzutreten. Er ſah ſie anders an als ſonſt, mit einem zärtlichen Mitleiden. 1. November. Ich war einige Male im Theater. Im Reſidenztheater ſah ich eins jener braven, alt⸗ modiſchen Stücke, wie ſie dem großen Publikum gefallen. Dem Helmſtröm gefiel es auch. Ich fand's franche⸗ ment langweilig, ſogar ſchauderös. Im Gärtnertheater genoß ich eine zuſammengekratzte Luſtſpielpoſſe. Darf ich „Pfui Deibel!“ ſagen, Mutti? Flach und ſchal und öde und unerſprießlich. Eine Poſſe, in der man nicht lachen kann. Giebt's Schlimmeres? Ekelhaft, die Rührſzene, dito das Publikum, das ſich teils freundlich, teils ſogar enthuſiaſtiſch verhielt, während es z. B. im „Biberpelz“ ziſchte. Dagegen wirkte die kindliche Freude Ewald de Borns über ein durchgefallenes, naturaliſtiſches Stück recht er⸗ friſchend. Wir gingen nach der Vorſtellung ein Stück Weges zuſammen, und da ſprach er ſich begeiſtert über alle Mängel des Dramas aus, über die ſchlechte Technik, jeden inkorrekten Satz hatte er ſich gemerkt. Ich habe ihn lange nicht ſo glücklich geſehen. Er meint es nicht böſe. Seine Freude hatte wirk⸗ lich mehr den Charakter künſtleriſcher Entrüſtung als den des Neides oder der Schadenfreude. Sein ehrlicher Haß iſt mir immer noch lieber als das Protzentum, das z. B. neulich die Gehrt, gelegentlich einer Aufführung der „Schmetterlingsſchlacht“, dokumentierte. Ich traf ſie im Foyer. „Amüſieren Sie ſich?“ fragte ſie mich. 306 „Id. „Begreife ich nicht. Doch entſchieden ein Rück⸗ ſchritt gegen die Heimat. „Wieſo? „Nun, das ganze milieu, die Geſellſchaft, in der es ſpielt, leider künſtleriſch ein großer Rückſchritt. Auch ein Standpunkt. Den Standpunkt dieſer Herrſchaften, wenn von der Frauenfrage die Rede iſt, kannſt Du Dir vor⸗ ſtellen. Neulich, als Jolante für die Gymnaſial⸗ bildung der Frau eintrat, meinte ein junges Bürſchchen, natürlich Barönchen: „Gott, wenn erſt einige junge Damen etwas gelernt hätten, ſo würden alle meinen, es wäre nicht „feſch“, wenn ſie nicht auch Griechiſch und Lateiniſch lernten, und dann würden alle Mädel Griechiſch und Lateiniſch lernen und das wäre doch fad. „Nicht wahrſcheinlich,“ antwortete ich ihm, „daß diejenigen, deren Lebensziel „Feſchheit“ iſt, ſich dieſer immerhin bedeutenden Anſtrengung unterziehen würden. Iſolde ſtimmte dem Bürſchchen lebhaft bei. Die Frau müſſe vor allem Frau ſein, d. h. weiblich. Und ſie brach den Stab über alle velocipedfahrenden, reitenden, lateiniſchlernenden, wurzelausziehenden, lyceen⸗ beſuchenden Damen, ſchien aber Puder, Cigaretten und Dichtersgattin zu ſein, für den Inbegriff der Weiblichkeit zu halten. Soll ich Dir's geſtehen, Mutti, ich kann mich nicht einmal ſo recht lebhaft für die Frauenfrage intereſſieren. Von zehn Menſchen ſagen neun immer 20* 307 die unglaublichſten Niaiſerien darüber. Und widerlegſt Du ſie mit ſchlagenden Gründen, ſo ſagen ſie noch einmal und noch hundertmal genau dasſelbe und immer dasſelbe, Jahr ein, Jahr aus, bis es einen davor ekelt. Man ſollte nur mit ſeinesgleichen reden, ſagt Kunz. Ja, das ſollte man wirklich. Ich leſe in den Zeitungen ab und zu Verhand⸗ lungen im Reichstag über Vereinsgeſetze. Immer wieder die Zuſammenſtellung von Minderjährigen und Frauen. Keine Frau darf einer Verſammlung beiwohnen, wo politiſche Intereſſen beraten werden, und nicht bloß politiſche. Auf dem Katholikentag hier, von dem man die Politik ausſchloß, wurde durch beſonderen Anſchlag (ich glaube, er war von grüner Farbe) den Frauen der Zutritt verboten. Und dann ergehen ſich dieſelben Männer in Sarkasmen darüber, daß die „Weiblein“ in Tand und Liebeleien aufgehen. Förmlich idiotiſch! Mit welcher Süffiſance, mit welchem gering⸗ ſchätzigen Lächeln habe ich die Gedanken hochintelli⸗ genter Frauen von Männern aburteilen hören, die zeitlebens armſelige Schächer im Reiche des Denkens waren. Nein, Mutti, dieſem Zeitalter bin ich entwachſen. Dieſe Leute ſind nicht meinesgleichen. Mit ſouveräner Geringſchätzung blicke ich auf dieſe Tröpfe herab, ja Tröpfe! Tröpfe! Ich bin ihnen ja hundert Jahr voraus. Größenwahn von mir? Nein. Es giebt viele, viele, vor denen ich mich beuge, aber dieſen, dieſen — bei 308 denen, wo das Hirn fehlt, ſich der Männerſtolz zur rechten Zeit einſtellt, gerade wie der dummſte Arier, dem klügſten Semiten gegenüber doch wenigſtens ſtolz darauf iſt, daß er Arier iſt, und ſich durch ſeine Stulp⸗ oder Kartoffelnaſe als Nichtſemit ausweiſen kann. (Das ſage ich nur aus Bosheit, ich kenne ſchöne griechiſche und römiſche Naſen unter den Ariern.) Ich leſe auf Deinen Lippen eine malitiöſe Frage, Mutti: „Und Nietzſche? Etwa auch ein Tropf? Taxiert er die Frauen nicht noch niedriger als die bornierteſten Profeſſoren es thun: Ja der, der iſt kein Tropf, trotz alledem. Ich leſe noch immer ab und zu in ſeinen Werken, und bin jedesmal ergriffen von der Tiefe ſeiner Ideen, von der machtvollen Poeſie ſeiner Sprache. Er hat uns von der Seelenfeigheit erlöſt. Er iſt der Pförtner all der Gedanken, die wir im verſchwiegenen Buſen zu bewahren pflegten. Er hat ihnen Thor und Thür geöffnet, und nun ſtürzen ſie hinaus, jubelnd, toll voll Zerſchmetterungsluſt, voll Werdeluſt, in Urkraft. Und doch — leſe ich aufmerkſam Seite für Seite in ſeinen Werken, ſo frappieren mich hier und da Banalitäten, Einſeitigkeiten, paradoxe Ausſprüche, wie eben die über die Frauen. Es macht mich auch ſtutzig, daß er ſo ſehr Mode iſt. Seine Ideen werden auf die Gaſſe geſchleppt und verwertet oder verunwertet. Man kann kaum ein modernes Buch in die Hand nehmen, das nicht von ſeinem Geiſt getränkt iſt. Iſt er ſo banal oder ſo meſſiasartig groß, daß er ſolche 309 Erfolge erzielt? Iſt er einer der Johanneſſe, die dem Meſſias vorausgehen? Nicht, Mutti, zahllos die „Vielleichts“ in meinen Briefen? Aber iſt nicht eigentlich alles nur „viel⸗ leicht“? Heute ſchwärme ich noch für Nietzſche. Ich habe aber eine Ahnung, daß ich nächſtens — weniger für ihn ſchwärmen werde. 7. November. Nun wäre das ſchöne Feſt bei Timäa auch vorüber. Traute, für die es Timäa haupt⸗ ſächlich in Szene geſetzt hatte, war in einem feuer⸗ roten Zaubergewand erſchienen; Jobanniskäferchen — ob wirkliche, ob kunſtreich imitierte, war nicht zu er⸗ kennen — im Haar und am Kleid. Sie war in der That der Mittelpunkt der Geſellſchaft und eclipſierte alle anderen Sterne, auch mich, Mutti. Und Hely, der kein Auge von ihr verwandte! Liebt er ſie doch? Vergebens ſuchte Timäa ihn zu kaptivieren. Sie war ſo gewaltſam, von ſo ſprudelnder Lebhaftigkeit, ſie riß die Augen allzu weit auf, lachte allzu ſilbern, und ihre Toilette war allzu geſucht: ſchwarzer Sammet die weiten Armel mit roſa Atlas gefüttert, an einer langen Kette von blitzenden Steinen Fächer von roſa Straußenfedern, und um den tief entblößten Hals eine dunkle Pelzrüſche. Kunz, der erſt nicht kommen wollte, hatte ſchließlich meinem Drängen nachgegeben, und erſchien auf eine Stunde. 310 Es iſt mir behaglich, wenn von den Häuptern meiner Lieben kein teures Haupt fehlt, beſonders, wenn es das Haupt eines Anbeters iſt. Borns waren auch da. Ihn habe ich eigentlich vergeſſen, ſie amüſiert mich. Er ſpitzt ſich immer mehr auf den Teutonen zu. Kraftmeieriſch ſtreckt er die Bruſt und die Augen heraus, und ein beginnendes Embonpoint verſpricht ſich der Wucht ſeiner Seele an⸗ zupaſſen. Zu komiſch, daß ich den einmal, weil Not am Mann war, beinahe geheiratet hätte. Timäa hatte ſich vorgenommen, daß es ungeheuer flott bei ihr zugehen ſollte. Es kam aber zu keiner rechten Orgie. Mit verdrießlicher Einförmigkeit trug die Geſellſchaft genau den Charakter, wie alle Geſell⸗ ſchaften, die Timäa giebt. Und wieder bekam ich den Ferlani zum Tiſchnachbar, eine bei Timäa durch Jahre geheiligte Inſtitution. Warum? Damit man glauben ſolle, es beſtehe ein Verhältnis zwiſchen mir und ihm, und damit nicht etwa Herr von Helmſtröm oder ein anderer ihrer Protégés auf mich reinfalle. Neuerdings iſt ſie beſonders ſüßgiftig mit mir wegen Hely, den ſie auch liebt. Die Gehrt vertraute mir, neulich wäre Timäa ganz aufgeregt zu ihr ge⸗ kommen, ſie begriffe es nicht, ſie könne aufſtellen was ſie wolle, der Helmſtröm verliebe ſich nicht in ſie. Er könne doch von ihr nicht verlangen, daß ſie, wie Traute, Morphium nähme. Ob ſie mich — Sibilla Raphalo — nicht als Nebenbuhlerin fürchte, hatte die Gehrt ſie gefragt. 311 Ach, die habe ja an ihrem Triumphwagen ſchon doppelt angeſpannt, den Ferlani und den Kunz. Der Ferlani übrigens fängt wieder an, mir fürchterlich zu werden. Bei Timäa wich er nicht von meiner Seite. Es ſcheint, daß Kunzes Anbetung die Aſche ſeiner Gefühle wieder angefacht hat. „Schauder⸗ haft, Sibilla,“ ſagte er bei Tiſch zu mir, „wie Sie ſich konſervieren. In jedem neuen Jahr denk' ich, nun wird es doch mit der Schönheit bei Ihnen bergab gehen Gott bewahre. Der reine Phönix! Immer von neuem jung und ſchön, immer von neuem einem die ganze Seele fortreißend.“ Ich nahm die Gelegenheit wahr, ihm zu ſagen, daß er anfinge, mich ernſtlich zu kompromittieren, da er ja doch nun einmal den Ruf eines Don Juans genöſſe, und ich bäte ihn um ein wenig mehr Zurückhaltung und etwas ſeltenere Beſuche. Er fühlte ſich geſchmeichelt und ſah ein, daß ich recht hatte. Merkwürdig, wie ſich die Männer immer ge⸗ ſchmeichelt fühlen, wenn man ſie für ſittenlos hält. Natürlich gilt er gar nicht für einen Don Juan und iſt es auch nicht. Mich aber dem Gerede ausſetzen und nichts davon haben, ſo dumm ſind wir nicht. Nach dem Diner, beim Kaffee, ſaß ich in einer Gruppe von Damen, zu denen auch Timäa gehörte. Es ging über Traute her, die im Nebenzimmer, wo der Tanz beginnen ſollte, ſich von Hely den Kaffee zuckern ließ. Man wollte bei ihrem blühenden Aus⸗ ſehen nicht an ihr Krankſein glauben. 312 „Sie hält ſich vielleicht ſchon als materialiſierter Geiſt unter uns auf,“ ſcherzte Ferlani, auf ihren Spiritismus anſpielend. Kunz trat zu unſerer Gruppe heran, um ſich zu verabſchieden. „Wollen wir nicht desinfizieren?“ ſagte Iſolde, als er gegangen war, mit einem geſchmackloſen Scherz. Man proteſtierte. Ein ſo bildhübſcher blonder Krauskopf, ein junger Herkules! Schade freilich, daß er ſich ſo encanailliere — — Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf ſtieg, und hätte wahrſcheinlich etwas Heftiges geantwortet, wenn ſich nicht im nächſten Augenblick die Aufmerkſam⸗ keit aller auf ein tanzendes Paar koncentriert hätte: Hely und Traute. Sie ſchienen ein dithyrambiſches Liebesduett zu tanzen. Sie, den Kopf weit hintenüber, das luftige Kleid von ihr fort in den Saal hineinwehend, als wolle ſie vor ihm fliehen, er, zu ihr drängend, un⸗ widerſtehlich. Und die Johanniskäferchen in ihrem ſchwarzen Haar glühten, ihre Augen auch. Und der Flimmer des roten Gewandes! alles Licht ſchien es aufzuſaugen; es war, als flöſſen Ströme davon an ihr nieder, als praſſelte Feuer hinter ihr her. Ich dachte: wenn ſie nur aufhören möchten, er erreicht ſie ſonſt, er ergreift ſie, er — — Und immer ſchneller ſpielte der am Flügel, immer ſchneller wirbelten ſie durch den Raum. Plötzlich geſchah etwas unſagbar Trauriges. Mitten im Tanze neigte Traute das Köpfchen zur 313 Seite, ihre Füße ſchleiften noch einen Augenblick am Boden, dann ſank ſie zuſammen, nicht gerade ohn⸗ mächtig, aber wie von einem Zauberſtab berührt. Die Unglückliche hatte den Schlag der zwölften Stunde überhört. Glanz und Pracht, die ihr der Zauberer Morphium nur auf Stunden verliehen, er⸗ loſchen. Die Prinzeſſin wurde zum Aſchenputtel. Alt, krank, ganz verfallen, mit verzerrten Zügen, die Augen voll blöden Starrens, hing ſie in Helys Armen. Schmerz, Schreck, faſt Entſetzen, Widerwillen drückte ſein Geſicht aus, als er ſie mit Timäas Beihilfe hin⸗ ausführte. 12. November. Traute iſt tot, liebe Mutter. Das arme, ſchöne Weib mußte ſo jung ins Grab, weil auch ſie ein Zwitter⸗, ein Übergangsgeſchöpf am Ausgang des 19. Jahrhunderts war. Und ſie hat nicht einmal wie ich das Rauſchen des Windes gehört, der der Morgenröte vorangeht. All ihr Seelenreichtum ſchoß ins Geſchlechtsleben und zer⸗ ſtörte ſie. Am Tage nach dem Feſt bei Timäa erhielt ich ein Billet von Hely: Traute würde die Nacht nicht über⸗ leben, ich möchte kommen. Ich fand ſie im Bett. Das Zimmer raffiniert arrangiert. Betten, Toilette, die Decke, ſie ſelbſt, alles in blendend weißer Seide, ihre nackten, mageren Arme kaum bis zum Ellenbogen leicht von weißen Spitzen verhüllt. Alles weiß, nur ſie nicht. Gelblich 314 war ihr Geſicht und faltig, trocken, verfallen. Unheim⸗ lich groß und leuchtend die Augen. Aus einer blitzenden Metallſchale neben dem Bett ſtiegen leichte Dämpfe. Räucherwerk verbrannte darin. Ob es Weihrauch vorſtellen ſollte? „Traute iſt tot!“ kreiſchte mir der Papagei ent⸗ gegen. Sie machte eine Gebärde, ich ſollte den Vogel bedecken. Ich that ſo. „Ich mag den Papagei nicht mehr,“ ſagte ſie mit einem gebrochenen, zitternden Stimmchen, „verſchaffe mir doch einen Raben, Sibilla, einen ſchwarzen, melan⸗ choliſchen Raben. Nevermore ſoll er krächzen, immer⸗ fort nevermore, wie in den Poe'ſchen Gedicht. Ja, nevermore, Sibilla, nevermore! Kein Morphium hilft mehr. Es wird Ernſt! Sie ſchwieg vor Erſchöpfung. Ich nahm ihre kalten Hände in die meinen und ſprach Tröſtliches zu ihr. Sie hörte mir offenbar nicht zu. „Ich habe ihn fortgeſchickt,“ hob ſie von neuem an⸗ „Er war den ganzen Tag bei mir. Er ſoll mir Orangen⸗ blüten holen. Ich liebe ſie ſo.“ Ihre Stimme ſank zu einem geheimnisvollen Wispern herab: „Ich laſſe ihn nicht — nie, ich komme wieder.“ Und mit einem irren, zuckenden Lächeln fügte ſie hinzu: „Ich lade ihn zum apres ein, zum apres — nach dem Diesſeits. Hely trat ein. Er hielt die Orangenblüten in der Hand. Das ganze Zimmer durchdufteten ſie 315 hochzeitlich, mit berauſchender Süße. Trautes Naſen⸗ flügel zitterten, blähten ſich, die Lippen öffneten ſich. Sie ſog den Duft in ſich, tief, langſam. Plötzlich richtete ſie ſich im Bett hoch auf, ſtreckte die Arme empor, und aufflammend, mit ſtarker Stimme, rief ſie: „Richtet mir Scheite — —“ Sie ſank gleich wieder in die Kiſſen zurück, den Kopf hintenüber. Sie ſtreckte die Hand nach den Blumen aus, einen Augen⸗ blick noch zitterte die Hand in der Luft. Dann war es aus. Ohne einen Seufzer war ſie erloſchen. Hely legte die Orangenblüten auf ihre Bruſt. Dann faltete er die Hände. Er betete. Im Tode war ſie wieder ſchön und jung; weiß wie ein Marmorbild lag ſie da in dem weißen Zimmer unter den Orangenblüten, von leiſen Dämpfen um⸗ wallt. Mir war, als hörte ich den ſäuſelnden Flügelſchlag des Todesengels. Ich mußte an die Böcklinſche Toten⸗ inſel denken, an die erhabene, helleniſierte Romantik dieſes Bildes. „Traute iſt tot!“ kreiſchte der Papagei. Entſetzen⸗ erregend klangen die wilden und doch gedämpften Laute unter dem Tuch hervor. Ja, die ſüße Traute, ſie hatte die Flügel eines Engels und den Schnabel eines Papageien. Ich hätte nicht wie Hely beten können in dieſer Atmoſphäre von Myſtik, Rauſch und Orangenblüten, dieſem Tode gegenüber, der ſich wie eine Vorbereitung der Hochzeit ausnahm. 316 Wir legten unſere Hände auf Trautes erkaltende Hände. Wir blickten uns lange ernſt nnd traurig in die Augen. 15. November. Eben kommt Dein Brief Mutti. Mutti, Geliebte, warum betrübſt Du mich ſo mit dieſem neuen Ischiasanfall. Ich muß ſelbſt nachſehen. Späteſtens übermorgen bin ich bei Dir! Und nicht nur um Deinetwillen, auch um meinetwillen komme ich. Trautes Tod hat alles Widerſpruchsvolle in mir aufgewühlt. Zwiſchen Leidenſchaft und kühler Re⸗ flektion werde ich hin⸗ und hergezerrt. Heut möchte ich unter Cypreſſen Grabſchriften enträtſeln, morgen roſenbekränzt feſtlich ſchwelgen, übermorgen mit Göttern anbinden. Mutti, ich kann das Leben nicht ernſthaft nehmen, ich kann's nicht, und ich begreife oft nicht, wie andere es können. Von tiefem, ſchickſalsvollem Ernſt erſcheint mir nichts als allein der Tod. Ob ich zum Stamme der Nietzſche gehöre, welche wahnſinnig werden, wenn ſie denken? Ich wundere mich zuweilen, daß nicht alle, alle die denken dazu ge⸗ hören, denn am Ende alles Denkens ſteht ein unge⸗ heures Fragezeichen. Und die Antwort? Eiſiges Schweigen oder das traurige Lächeln der Reſignation. So werden ja wohl meine Gefühle für Hely auch nicht ſeriös ſein. O Hely! O Kunz! O Vernunft! O Anti⸗ vernunft, die man gewöhnlich Herz nennt. Ob ich 317 einen oder keinen von beiden liebe, bei Dir, Mutti, wird es in mir tagen. Auf Wiederſehen übermorgen, geliebteſte aller Mütter. Deine Sibilla. 3. Januar. Liebe Mutter, es hat nicht in mir getagt. Ein ſchwankes Rohr kam ich zu Dir, ein ſchwankendes Rohr bin ich zurückgekommen. Kunz ſah ich zuerſt. Er holte mich von der Bahn ab, denke Dir, ohne Wagen. Wie ich dann aber Arm in Arm mit ihm durch die dunkeln Straßen dahinſchritt, fühlte ich mich ſo warm, ſo ſicher geborgen, und ſeine Herzinnig⸗ keit erleichterte mir den Übergang von der Heimat, die immer und einzig nur bei Dir ſein wird, zurück in die fremde Stadt, zurück nach München. Am anderen Tage trafen ſie beide bei mir zu⸗ ſammen. Peinliche Situation. Meiſtens laſſe ich mich jetzt, wenn Kunz bei mir iſt, vor Hely, und wenn Hely bei mir iſt, vor Kunz verleugnen. Immer läßt es ſich nicht thun. Hely ſpricht nie über Kunz, Kunz aber über Hely: er mißbilligt ihn vom Scheitel bis zur Sohle. Ich werfe ihm ſeine Ungerechtigkeit vor. Man müſſe ſich den Menſchen immer erſt auf das Milieu hin an⸗ ſehen, dem er entſtammt iſt. Und wenn einer in Liv⸗ land aufgewachſen iſt, wo die paar Tauſend Deutſche zugleich Kultur und Bildung repräſentieren, ſo iſt ſein Ariſtokratismus zu verſtehen. 318 Vorgeſtern in meinem Salon lebhafte ſozialpolitiſche Diskuſſion. Unter anderm war vom Recht au Arbeit die Rede. Hely ſtellte die Frage: „Iſt Arbeit für alle zu beſchaffen? nein.“ Und Kunz: „Iſt es möglich zu leben, ohne zu arbeiten? nein! mit Ausnahme der meiſten der hier anweſenden Damen natürlich. Man lachte über — den guten Witz. „Verneint man alſo dieſe beiden Fragen, ſo bleibt nichts übrig, als klipp und klar zu erklären: Es iſt ein Naturgeſetz, daß, wie im kalten Winter die Sperlinge von den Dächern fallen, alljährlich ſo und ſo viel Menſchen verhungern und erfrieren, oder ſtehlen und morden, um dieſer unangenehmen Eventualität zu entgehen. Wären die Menſchen aufrichtig, ſo würden die meiſten dieſes Naturgeſetz bejahen. Wer aber dieſes Naturgeſetz nicht anerkennt, muß mit abſoluter Notwendigkeit eine neue Welt⸗ und Geſellſchaftsordnung anſtreben.“ „Aber ſagen Sie, meine Herrſchaften,“ unterbrach hier Benno den Ernſt der Diskuſſion, „was geht uns denn eigentlich die Zukunft an, da ſind wir doch nicht mehr.“ Man lachte und war im Begriff, zu einem andern Thema überzugehen, als Ferlani, um Kunz noch eins zu verſetzen, ſich erlaubte, zwiſchen den Heiligenſcheinen der ſozialiſtiſchen Drachentöter, die anſtatt einem Drachen doch nur einem wehrloſen, wenn auch goldenen 319 Kalbe zu Leibe gingen, und einer Narrenkappe einige Ähnlichkeit zu finden. that einige ziemlich unverblümte Äußerungen über Darob nun ergrimmte mein heiliger Georg und Narren, die überall nur Närriſches ſähen. Ferlani replizierte, er wiſſe, daß der ſehr geehrte Herr nur allgemeine Weisheit verzapfe und nähme an, daß er dieſelbe nicht auf einen einzelnen angewendet wiſſen wolle. Es wurde noch einiges hin⸗ und hergemurmelt, was wir andern nicht verſtanden, und wobei das halb verbindliche Lächeln Ferlanis dem einigermaßen blut⸗ dürſtigen Ausdruck widerſprach, den ſein verquerblickendes Auge auf den neben Kunz ſtehenden unſchuldigen Stuhl ſchleuderte. Plötzlich ſagte Kunz laut: „Aha, ein Duell! Ich denke, niemand wird wagen, mir die Roheit eines Duells zuzumuten.“ „O weh, Herr Kunz,“ rief Iſoldchen entſetzt, „wenn Sie ein Duell ausſchlügen, könnten wir Sie ja niemals mehr empfangen.“ Herr Gott, Mutti, ich ſah, daß eine vernichtende Antwort auf ſeinen Lippen ſchwebte. Schnell ſprang ich in die Breſche und ſchlug mit anmutiger Heiterkeit vor, die Duellfrage doch einmal objektiv in aller Ruhe zu erörtern. Ich hatte nicht mit Hely gerechnet. Eine Duellfrage gäbe es nicht, ſagte er hoch⸗ fahrend, ſie könne alſo auch nicht erörtert werden. Die durch Jahrhunderte geheiligte Inſtitution des 320 Duells im Dienſt der Ehre ſei ebenſo ſelbſtverſtändlich wie unantaſtbar. Und Kunz: „Für mich ſind Ehre und Totſchlag, ob erlaubter oder unerlaubter, unverſöhnliche Gegenſätze. Viele teilen ja ihre Anſicht, Herr v. Helmſtröm. Mögen dieſe vielen ſich doch untereinander totſchlagen.“ Er ging und überließ der abfälligſten Kritik über ihn das weiteſte Feld, und — und — Mutti, bete für das Heil meiner Seele, vielmehr Unſeele, ich ſtimmte ein ganz, ganz klein wenig mit ein. Ich ſehe es ſo gern, wenn Helys ruhigblickende Augen aufleuchten. Und ſie leuchteten auf. Miſerabel von mir. Schäme Dich Deiner Tochter, aber laß Dich von ihr zärtlich umarmen. 20. Januar. Was ich geſtern ſchrieb, der Verrat an Kunz hat an mir genagt. Heut, während ich am Opheliabach einſam wandelte, habe ich Zwieſprache mit mir gehalten. Schön war um mich her die Winter⸗ landſchaft. Weißer Schnee und rote Sonne. Glut und Reinheit gepaart. Eine nordiſche Rhapſodie. Auf einem Hintergrund mit Goldgrund malt man mit Vorliebe Engel und Heilige. Aus dieſem Gold⸗ und Feuergrund der Natur blühten mir reinſte Triebe und Vorſtellungen. Ja, in der Schönheit der Natur ſteckt die tiefſte, erweckungsvollſte Moral. Sie iſt ein Spiegel, in dem man ſeine eigene Häßlichkeit ſieht. Und das Reſultat meiner ſeeliſchen Aufrappelung: Ja, ich wollte meine Unehe mit Benno löſen. 21 321 Ich wollte Kunzes Weib werden. Ich wollte gut ſein. vernünftig ſein, Adelsmenſch werden, mich vom ſittlichen Pöbel losſagen, abthun die Sklaverei üppiger Gewohn⸗ heiten. Und ich wollte ihn auch lieben! ihn! Kunz, nicht Hely. Ich will's! ich will's! weil ich's will. Ich liebe ſeine Gedanken, ſeine Geſinnung, ſeine Seele liebe ich. Er iſt der Mann, dem ich die Hände küſſen möchte; und die Lippen nicht? Himmliſche und irdiſche Liebe, gehören ſie nicht untrennbar zuſammen? Steht nicht feſt. Ich trug die ſchöne Erregung von meinem Spaziergang mit heim. Der golden rote Schimmer der untergegangenen Sonne hauchte eine ſanfte Glorie über meinen Salon. Eine ſeltſame, nie geſehene, vielfach gefüllte rieſige Sonnenblume, ſchön wie ein Reflex der Sonne, ſtand auf meinem Schreibtiſch im bronzenen Kübel. Nur von ihm, von Kunz konnte ſie kommen, dieſe goldenklare, duftloſe, herrliche Blume. Und goldenklar wurde es auch in mir, ſonnig, rein. Ja, ich wollte mein Leben mit dem ſeinen ver⸗ knüpfen, ich wollte mich ihm hinſchenken wie eine Chriſt⸗ beſcherung. Wie das Chriſtkind die arme Hütte, in die es tritt, mit Glanz erfüllt, ſo wollte ich ſein Leben ver⸗ klären. Im voraus genoß ich ſein Entzücken über das, was, wie ein wenig malgré moi, mein zweites und doch wohl beſſeres Ich für ihn thun wollte. Es war zur Vesperzeit. Die Abendglocken läuteten. Er kam. Ich legte meine beiden Hände um ſeinen Arm. 322 Ich ſchmiegte mich an ihn und ſagte: „Kunz, lieber Kunz.“ Er verſtand gleich. Er preßte ſeine eine Hand feſt auf die Bruſt, wie um das Herz darin feſt⸗ zuhalten. „Ich wußte ja, Sibilla, daß Du mich lieben würdeſt (ſo ganz genau konnte er es nun eigentlich nicht wiſſen), ich wußte ja, daß Du Er ſprach wie im Rauſch, abgebrochen, ſtammelnd, ein bißchen ſchwäbelnd, wie immer. Mittagsglut war in ſeinen Worten. Ach ach, Mutti, er ſprach zu laut, zu laut! Es klang wie ein Jauchzer. Er war zu groß. zu groß, er war zu ſtark, zu ſtark. Und er atmete ſo laut. Und meine Gedanken ſchweiften hin zu einem anderen, zu ſeiner ernſten, leiſen Anmut. Wehe, Mutter, wehe! Wir können, können nicht aus unſerer Haut heraus. Es war vorüber, die Glocken verklungen, der letzte Sonnenſchimmer verſunken. Nur eine Thräne in meiner Wimper zeugte von verſchwun⸗ dener Herzenspracht. „Wie ſchön iſt Deine Sonnenblume,“ ſagte ich, mich zu ihm zurückzwingend. Mutti, ſie war gar nicht von ihm. Er zog mich feſt an ſeine Bruſt. Es rann etwas durch meine Glieder, was keine Ähnlichkeit mit hin⸗ gebendem Entzücken hatte. Mit einem unwillkürlichen Impuls der Abwehr machte ich mich haſtig von ihm los und entzündete ſämtliche elektriſche Flammen. Die Sonnenblume kam von Hely. 21* 323 Kunz ſtarrte mich an, faſt entſetzt. Er hatte ver⸗ ſtanden. Ehe wir noch ein weiteres Wort wechſeln konnten, trat Jolante ein. Sie ſah, daß etwas geſchehen, daß Kunz faſſungslos war. Mit ſicherem Takt ſprach ſie ſofort von einem ſeiner Aufſätze in der letzten Journal⸗ nummer, indem ſie fein und verſtändnisvoll auf ſeine Ideen einging. Daß ſie ihm ſo wohlthat, wohlthun wollte, irritierte mich. Es fiel mir ein, daß Jolante ſich ſchon ſeit einiger Zeit anders kleidete als früher. Sie trug jetzt immer ein Kleid von ſchwarzem Halb⸗ ſammet, mit einem breiten, pelzbeſetzten Kragen, der ihre Mißbildung faſt völlig verſteckte. Ihr blondes, reiches Haar, das ſie ſonſt einfach von den Schläfen zurückſtrich, umrahmte neuerdings in zwei tiefen Scheiteln das durchſichtig klare Geſicht. So ſah ſie beinahe ſchön aus. „Das ſchwarze Kleid ſteht Dir ja wundervoll. Für wen haſt Du Dich denn ſo ſchön geſchmückt?“ Ich ſagte das mit einem ſchalkhaften Seitenblick auf Kunz. Hätte ich die Wirkung meiner Worte ahnen können, ich würde ſie nie geſprochen haben. Ich bin überzeugt, daß Jolante ſich erſt von dieſem Augenblicke an ihrer Liebe für Kunz bewußt wurde. Bis in den Nacken wurde ſie mit dunkler Röte übergoſſen. Ihre Verwirrung war grenzenlos. Haſtig ſtrich ſie ſich das Haar aus der Stirn und warf den Kragen von ſich. Es wäre ſo heiß im Zimmer, und 324 ſie wendete ihren Rücken nach der Seite hin, wo Kunz ſtand, durch ein abſichtliches Einziehen des Kopfes zwiſchen die Schultern den Eindruck des Verwachſenſeins verſtärkend. Dann ſagte ſie mit harter Stimme: „Eine Gans bin ich.“ Ich umarmte ſie zärtlich, bat ſie wegen meiner blöden Neckerei um Verzeihung. Kunz hatte alles verſtanden, auch warum ſie den Kragen fallen ließ. Er beweiſt ihr von dieſem Tage an eine faſt zärt⸗ liche Sympathie. Auch ſie iſt anders geworden, zurück⸗ haltender, ſtiller; ich fühle aber, wie ſie, ohne ihn an⸗ zuſehen, jedes ſeiner Worte in ſich ſaugt. Nie mehr kommt ein derber Ausdruck über ihre Lippen. Sie trägt ſeitdem weder Shawl noch Kragen. Sie ſelbſt will keinen Augenblick vergeſſen, daß ſie verwachſen iſt, und auch kein anderer ſoll es. Die Sonnenblume kam von Hely. 1. Februar. Heute hatte ich Kopfſchmerzen, Herz⸗ klopfen, ich weiß nicht, was ſonſt noch alles. Ver⸗ drießlich war ich, grundverdrießlich. Bennos beſte Anekdote beim Frühſtück entlockte mir nicht das leiſeſte Lächeln. Ein greuliches Matſchwetter noch dazu, und die Jungfer war beim Ankleiden in einer Weiſe un⸗ geſchickt — überhaupt ich haſſe dieſe Jungfer, natür⸗ lich nur, wenn ich ſie ſehe, ſonſt denke ich gar nicht an ſie — ein nervöſer Haß. Und ſchelten kann ich ſie nicht, ſonſt kündigt ſie gleich, und ich kann ſie nicht entbehren. Unſere anderen Leute mag ich auch nicht, bis auf die Anna, das zweite Hausmädchen, gegen 325 die fühle ich ein förmliches Wohlwollen, weil ich mich getraue, ſie zu ſchelten. So komiſch iſt man. Und da ſie mir gerade in den Weg kam, ſchalt ich ſie wirklich. Es wäre nicht gerade nötig geweſen, daß Kunz dazu kam. „Siehſt Du, Kunz, ſo bin ich.“ „So biſt Du, wenn Du nicht Du biſt. Er ſah mich dabei gräßlich ernſthaft an, ſo über⸗ hebend, tugendſtolz. Das reizte mich. Er ſolle ſich nur nicht wieder in eine Toga hüllen, er käme mir darin weniger griechiſch als ſpaniſch var, und ich fände, er habe gar kein Recht zu dieſer Toga, aber gar keins. Z. B. liebe er ohne jeden ethiſchen Beigeſchmack eine Frau einfach, weil ſie hübſch ſei. Heuchleriſch aber puffe er dieſe Frau, die mit ihren Dienſtboten zanke, zu einem Ideal, einer Heiligen auf, um ſeine Anbetung vor ſich ſelber zu recht⸗ fertigen. Sie wäre keine gewöhnliche hübſche Frau. Alle Elemente zu einem Ideal wären vorhanden, nur ein böſer Zauber hielte das Dornröschen in einen lethar⸗ giſchen Schlaf verſenkt. Er wolle es wecken. „Aha? wohl mit einem Kuß, mein Prinz: „Erſt die Erlöſung und dann der Kuß,“ antwortete er ernſthaft. „Ich denke gar nicht daran, in Dir nur das ſchöne Weib zu lieben. Zuerſt und vor allem liebe ich im Weibe den Menſchen. „So liebe doch Jolante. 326 Gleich griff er wieder nach dem grauen Filz. Und der Regen klatſchte in der beginnenden Dämmerung gegen die Fenſter, und das Feuer im Kamin war ausgegangen, und bei dreizehn Grad Wärme im Salon wird man ungütig. Eine grauſame Neugierde überkam mich, ſeine Liebe auf die Probe zu ſtellen. „Bleib, Kunz, ich habe Dir etwas zu ſagen. Stelle Dir vor, ich ließe mich einmal von einem großen Zorn fortreißen und thäte etwas Abſcheuliches, etwas es fiel mir nicht gleich etwas Abſcheuliches ein, und ehe ich mich beſinnen konnte, ſagte er: „Ich würde Dich trotzdem lieben.“ „Sage, Kunz, biſt Du wirklich ein völlig freier Geiſt, frei von der Meinung der anderen, frei von eigener Selbſtſucht, ein Menſch, der es verſteht, Gemüts⸗ und Geiſtesprozeſſe bis in ihre Wurzel zu ver⸗ folgen?“ „Ich glaube es.“ „Und Du liebſt mich?“ „Das weißt Du. „Trotzdem ich verheiratet bin: „Du biſt es nicht in meinem Sinn. „Trotzdem ich Kinder von ihm hatte? „Trotzdem. Es ſchmerzt mich, daß Du eines un⸗ geliebten Mannes Weib warſt. Aber Du warſt keine Schuldige, ein Zeitopfer warſt Du. Was Du thateſt, Du thateſt es den andern nach. (Eine Pauſe. Ich ſah ihm feſt in die Augen. 327 „Kunz, ich habe Hely Helmſtröm geliebt, leiden⸗ ſchaftlich geliebt. Sein Auge umflorte ſich. „Sagſt Du wieder: trotzdem: „Trotzdem.“ Es klang gepreßt. „Kunz, er wollte mich nicht zum Weibe. Ich war ſeine Geliebte.“ Er wurde blaß wie der Tod. Er wandte ſich fort von mir. Er trat ans Fenſter. Er öffnete es ſchnell, als fürchte er zu erſticken. Mit geſpannter Neugierde verfolgte ich jede ſeiner Bewegungen. Ein krampfhaftes Zucken ging durch ſeinen Körper. Sein Geſicht ſah ich nicht. Plötzlich bedeckte er es mit der Hand. Sein Kopf ſank auf die Bruſt. Er weinte. „Hanſel! Mein lieber Hanſel.“ Er wandte ſich nach mir um. So ſtark und wild ſah er aus mit den feuchtfunkelnden Augen, daß ich mich einen Augenblick vor ihm fürchtete. Er wollte etwas ſagen. Es überwältigte ihn, er ſtammelte nur. „Wie konnteſt Du — konnteſt Du! — Eine Welt trennt Euch ja — meine — meine Sibilla! — Es zerreißt mein Herz — Dein Wahn — — mir gehörſt Du von Natur und Rechtswegen, nur mir, mir allein. Und mit einer jähen Bewegung riß er mich an ſich, als wollte er mich erſticken und bedeckte mich mit wilden Küſſen. Ich ſtieß ihn zurück. Daß er gleich den Lohn für ſeinen Pardon wollte, erkältete mich bis ins Mark. „Es iſt nicht wahr, was ich Dir geſagt habe, nie 328 bin ich Helmſtröm's Geliebte geweſen. Es war eine Prüfung, Du haſt ſie nur halb beſtanden. Er zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit meiner Worte. „Eine große, verhängnisvolle Inkonſequenz, daß ich Dich liebe, Du Wilde, Unfruchtbare, Unberechenbare. Er ſtieß die Worte hart und zornig heraus. „Kannſt Du den Fehler der Inkonſequenz nicht wieder gut machen? „Ja. Von dem Augenblick an, wo ich Dich nicht mehr lieben will, werde ich Dich nicht mehr lieben.“ Willſt Du wiſſen, Mutti, was für ein Ungeheuer Du geboren? Daß ich nervös, capriciös, bezaubernd, abſtoßend, Vampyr, Sphinx u. ſ. w. bin, verſteht ſich eigentlich bei einer Weltdame von ſelbſt. Ich bin von einer feinen, heimlich lauernden, grauſamen Neugierde, kapabel, das Herz eines Menſchen zu martern, aus Neugierde, was dabei heraus kommen wird. Ein unberechenbares Weib bin ich, von abſoluter Nüchternheit und zugleich mit dem Wunderbaren, und über allem Unaus⸗ geglichenen der Stern meiner vernunftraubenden Schönheit. Das ſagte Kunz, und — fort war er. Ach, Mutti, er kommt ja doch wieder. Sie kommen immer wieder, die Männchen zu den Weibchen. Pfui! Hat er ſich nicht recht gewöhnlich benommen, meiner Neugierde ganz unwert? Entweder mußte er 329 klar und ruhig bleiben und ſagen: Über Dein Liebes⸗ leben haſt nur Du zu richten, nur Du allein, nicht ich. Ich liebe Dich, weil Du Sibilla biſt. Oder er mußte mit einer großen Gebärde den Staub von ſeinen Füßen ſchütteln und von mir gehen — düſter krächzend: Nevermore. Aber der beſten einer iſt er doch. Und ich möchte ihn ja auch ſo gern lieben. Ich kann's nicht, wenigſtens in einem Sinn kann ich's nicht. Iſt denn das nötig? Sollen und müſſen denn die ſinnlichen Beziehungen die Quinteſſenz der Ehe ſein? Wäre eine Ehe nicht denkbar mit Ausſchluß der Sinnlichkeit? Es würde doch nur ein Element der Liebe fehlen und zwar ein untergeordnetes. Alle anderen wären da. In ſo vielen Ehen iſt's umgekehrt, nur das eine, niedere Element iſt vorhanden, und alle anderen fehlen. Aber das Kind! ja das Kind! 5. Februar. Bei Haut-bois eine außerordentlich diſtinguierte Geſellſchaft. Alles, was nur ein bißchen was iſt, war vorhanden, vom Klown an bis zur Prinzeſſin von Geblüt. Die vom Hof drückten auf die Produktionen der Klowns, indem ihre Gegenwart ſie auf ein zu hohes Niveau ſchraubte. Feine Klowns — ein Unding. Auch Publikum und hoher Adel wagten nicht ſo herauszupruſten und zu applaudieren, wie es die Gelegenheit erforderte. Erſt als mit den Klowns die Prinzeſſinnen abtraten, wurde es animiert, ſo animiert, daß Eva Broddin auf allgemeines Ver⸗ langen zum Schluß einen japaniſchen Tanz aufführte, was keine Schwierigkeit bot, da die Marquiſe ein 330 japaniſches Koſtüm beſaß. Eva ſingt wie eine Diva. Warum ſang ſie nicht lieber? Etwa, weil Hely den Tanz über alles liebt? ein Geſchmack, der mir bei ihm immer unerklärlich geweſen iſt. Und ſie tanzte, tanzte verführeriſch, hinreißend. Ihr blinkender, blitzender Fächer tanzte mit, die goldene Schlange um ihren Arm tanzte, ihr Gewand ringelte ſich ſchmeichelnd, ſchmiegend um ihre biegſam ſchlanken Glieder, die kleinen funkelnden Dolche im Haar warfen tanzend Funken auf ihr ſchwarzes Gelock. Sie war die Inkarnation der Grazie, mit einem Stich ins Bajaderenhafte. Und daß ſie ſo vor Hely tanzte! Er ſtand in einer Fenſterniſche. Ich konnte ſeine Züge nicht ſehen, ich fühlte aber, daß ſeine Blicke an ihr hingen. Hatte er Traute ſchon vergeſſen? Mußte ihn dieſer Tanz nicht an Traute's letzten Tanz bei Timäa erinnern? Kaum vier Monat war ſie tot. Eine ſonderbare Melancholie überkam mich. Ich glaube nicht an Ahnungen, ſonſt würde ich glauben, daß dieſer Tanz mit meinem Schickſal zuſammen⸗ hängen wird. Eine Zeit lang ſaß ich grübelnd und faſt ver⸗ einſamt auf einem Fauteuil. Jemand ſtellte ſich hinter mich. Ferlani war's, nur Ferlani. Er flüſterte mir ſeine alte und immer neue An⸗ betung ins Ohr. „ Vieux jeu, vieux jeu, lieber Ferlani,“ ſagte ich, ihm abwinkend, mit einem Blick auf die ſo reizend tanzende Eva. 331 Ich wäre ein Unikum, antwortete er, bald Lotos⸗ blume, ſüßen Geheimniſſes voll, bald Chryſantheme, duft⸗ los, wild zerfahren, aber perfid lockend. — Überhaupt ſei er endlich dahinter gekommen, daß ich ein durch⸗ triebener Racker ſei, wie aus einem Gyp'ſchen Roman entſprungen, wurmſtichig ic. „Ja ja,“ nickte ich müde. Ach Mutti, ich habe Stunden, wo ich keiner Blume gleiche, wo mir der Spiegel ein herbes, unzufriedenes verblühtes Geſicht zeigt, mit ſcharfen Linien und ſchmalen blaſſen Lippen. Das kommt davon, wenn man die teuerſten Spiegel kauft. Das ſind die ſchärfſten und gröbſten. Kunz iſt für mich auch ein ſolcher Spiegel. Ach überhaupt — — gute Nacht, Einzige. Ich habe noch etwas vergeſſen: Am Tage nach dem japaniſchen Tanz iſt Eva mit ihrer Tante, die ſich von einer nur halb überſtandenen Influenza nicht erholen kann, nach Baden⸗Baden abgereiſt. 10. Februar. War nicht in meinem letzten Brief etwas von verhaltener wüſter Eiferſucht? Mutti, ich wollte nicht daran glauben, durchaus nicht. Es iſt doch! doch! Mein Herz iſt krank. Ich liebe ihn. Ich liebe Hely. Heißt das, wir ſind eins im Denken und Fühlen? Gott bewahre. Es heißt, wenn er in meine Nähe kommt, wenn er mein Kleid ſtreift, erbebe ich vom Scheitel bis zur Sohle in ſchmerzlicher Wonne. Alles, was philoſophiſch in mir iſt, rufe ich zum Beiſtand in mir auf in meiner Herzensnot, und ich 332 monologiſiere: Sibilla, beſinne Dich, es iſt ja reiner Zufall, daß Du gerade dieſen liebſt. Es hätte ebenſo gut ein anderer ſein können, wenn Dir einmal das Liebenmüſſen im Blut liegt. Wäre er in Rußland geblieben, und Du hätteſt ihn nie geſehen, Du wärſt in Dir nicht reicher, nicht ärmer, nicht froher, nicht trauriger geworden. So wäre jede Neigung Zufall? Nein, die Liebe nicht, die zwei Gleichgeſinnte zu gemeinſamem, idealem Thun vereint. Liebteſt Du Kunz, das wäre kein Zufall, das wäre göttliche Be⸗ ſtimmung. Und warum erfüllſt Du ſie nicht? Frage die Götter. Das Geheimnis der Liebe! ein pſychologiſches oder phyſiologiſches? es wird wohl ein pſycho⸗phyſio⸗ logiſches ſein, das zu enträtſeln unſere Zeit nicht reif iſt. Etwa ein auf die Veredelung der menſchlichen Race abzielendes Geheimnis? Kaum. Denn dann müßte ich erſt recht Kunz lieben, den jungen Herkules mit den leuchtenden blauen Augen und dem ſchönen blonden Krauskopf. Man ſollte nur mit Seinesgleichen reden, ſagte Kunz. Aber auch nur Seinesgleichen lieben? „Liebe iſt, wenn man nicht weiß warum,“ eine Außerung Ferlani's. Hat er recht? Meine Vernunft, meine Intelligenz leben in den radikalen Anſchauungen, die der Zukunft gehören, mein Geſchmack und meine Gewohnheiten wurzeln im „Zeit⸗ alter des Kapitalismus,“ um mit Kunz zu reden. 333 Wie? und etwas ſo Inferiores wie Geſchmack ent⸗ ſcheidet über mein Herzens⸗ und Liebesleben? Warum habe ich zuweilen den vagen Eindruck, als ſtände Hely und auch andere über Kunz Albert? weil ſie beſſer ſitzende Röcke und das Parfüm des Salons an ſich tragen, und weil ſie keinen ſchwäbiſchen Dialekt ſprechen, und die Herrenhaltung derer haben, die in morſchen Sarkophagen längſt vermoderte Ahnen beſitzen? Sehe ich, höre ich, urteile ich wie der übrige Salonpöbel? Nein, ich urteile nicht ſo, ich denke nicht ſo, aber in faulen Stunden, und ich habe viele ſolcher Stunden, denke und urteile ich überhaupt nicht, und neige dann zu dem Glauben, daß ein Menſch, der zu enge oder zu weite Beinkleider trägt, kein edles Gemüt haben kann. Mein feiner, feiner Geruchsſinn wird ſchon durch die Seife affiziert, mit der Kunz ſich wäſcht, meine Augen durch ſeinen ewigen grauen Filz, mein Gehör dadurch, daß er zu laut ſpricht. Hely iſt nicht Geiſt von meinem Geiſt, nicht Herz von meinem Herzen. Wir haben nicht einen gemein⸗ ſamen Gedanken. Was er denkt, iſt für mich anti⸗ quiert, beinahe lächerlich. Und doch — ich liebe ihn, weil er es iſt. All meine Reflexionen entfernen mich von ihm. Und doch — ehe ich mich's verſehe, reißen meine Gedanken, die ich im Zügel zu haben glaubte, aus, und laufen ihm nach, wie Hündchen ihrem Herrn. Ich kann rufen, locken, drohen, ſie kommen nicht zu⸗ rück. Er erfüllt mich, ich ſehe ihn, ich höre ihn, ich 334 warte den ganzen Tag auf ihn, ich haſſe alle, die ein⸗ treten und die nicht er ſind. Wenn er im Gruß leicht meine Hand berührt, vibrieren meine Nerven, und ich leide, leide, daß ich ihm nicht um den Hals fallen darf. Ich verſchmachte nach ihm. Sie iſt da, Mutti, die große, einzige, leidenſchaftliche Liebe. Phänomenal dieſe Seelenſtimmung? unerklärlich? Ich verſuche ja ihr auf den Grund zu kommen. Ob der Grund ſchlammig iſt? ein unlauteres, auf Sinn⸗ lichkeit geſtelltes Gefühl? Nein, nein! Ich will arm mit ihm ſein, mit ſchwarzen Meſſern und Gabeln will ich eſſen, alle meine Toiletten hingeben, ſogar das pfirſichfarbene, goldgeſtickte Sammetgewand. Wäre er krank, ich wiche nicht von ſeinem Lager. Stürbe er — eiſige Schauer ſchütteln mich bei der Vorſtellung. Ich fühle die zarteſte, herzinnigſte Wonne, wenn er nur neben mir hergeht oder in Geſellſchaft mir gegenüber⸗ ſitzt. Äußert ſich ſo Sinnlichkeit? Nein, es iſt eine romantiſch ſublime Erotik mit zartem Geflimmer, myſtiſchem Meeresleuchten, „himmelhochjauchzend, zum Tode betrübt“, mit einem Worte: Liebe. 20. Februar. Oft ſchon, meine Mutter, haſt Du meine Seele, vielleicht mit innerem Erbeben, nackt geſchaut. Auch heut — ich ſchreibe dieſen Brief (wenn ich ihn auch hinterher mit Pech und Schwefel vernichten ſollte) als eine Beichte. Katholiſche Frauen vertrauen fremden Männern, den Prieſtern, ihr ge⸗ heimſtes Denken und Fühlen an, und man findet es in der Ordnung. Du biſt mein Prieſter, geliebte Mutter! Und denke nur nicht, daß die Bußen, die 335 Du mir auferlegſt, zu milde ſind. Durch die milden Worte hindurch ſehe ich Deine Thränen, die fallen auf mein Herz. Habe nur Geduld, ich beſſere mich auch gewiß noch, wenn Gott mich lange genug am Leben erhält. Ein düſterer, nebliger Tag war's, noch düſterer und nebliger der Abend. Wir waren in die Meiſter⸗ ſänger gefahren. Als wir aus dem Opernhaus traten, hatte ſich der Nebel unheimlich verdichtet. Die wenigen Wagen, die auf dem Platz hielten, weigerten ſich zu fahren, etwas noch nicht Dageweſenes. In der That war dieſer Nebel für München phänomenal. Anfangs ſahen wir noch den Weg vor unſeren Füßen, je weiter wir aber kamen, je undurchdringlicher wurde der Nebel. Allmählich erloſch der Schein der Laternen. Eine dichte, graue Mauer umſchloß uns. Das Licht verlor die Kraft, ſie zu durchdringen. Wir wußten nicht mehr, wo wir waren. Benno wurde ängſtlich. Er meinte, wir könnten kaum fünf Minuten von unſerem Hauſe entfernt ſein. Er wollte das Feld rekognoscieren. Ich ſollte auf der Stelle, wo ich mich befand, ſtehen bleiben. Er verſchwand. Einen Augenblick noch hörte ich ſeine Stimme: „Hierher, hierher!“ Ich wollte zu ihm, muß aber wohl die entgegengeſetzte Richtung genommen haben. Seine Stimme war verhallt. Ich rief, rief! Keine Antwort. Eine raſende Angſt packte mich, ich würde nicht nach Hauſe finden. Und dann eine andere Vorſtellung, eine noch ſchrecklichere: Wenn jetzt plötzlich ein Strolch 336 oder auch nur ein Betrunkener mit mir zuſammen⸗ ſtieße. Eiſeskälte rann durch meine Glieder, mein Haar ſträubte ſich. Und da — von fern Schritte, ſie kamen näher, immer näher. Mein Herz ſtand ſtill. Ich mollte irgendwohin laufen, ſelbſt auf die Gefahr hin, mir den Kopf an einer Mauer zu zerſchellen. Ich konnte nicht. Die Angſt hatte mich gelähmt. So muß einem zu Mute ſein, der gefeſſelt ſich einer wilden Beſtie preisgegeben ſieht. Die wilde Beſtie aber trällerte, und noch dazu die Melodie aus der Walküre: „Winterſtürme wichen“ u. ſ. w., und noch dazu kannte ich die Stimme. Ein Jubelruf meiner⸗ ſeits: „Hely! Hely!“ Einen Augenblick ſpäter lag ich an ſeiner Bruſt. Meine Nerven waren bis zum Zer⸗ ſpringen geſpannt. Ein zitterndes Schluchzen ſtieg mir in die Kehle. Er beruhigte mich mit den zärtlichſten Worten, er preßte meinen Kopf an ſeine Bruſt, und dann — — Es ward Licht! Es ward Licht! Seine Küſſe, ich trank ſie wie eine Verſchmachtende. Wir zwei allein in dieſer grauen Wüſte. Die Welt verſank. Er war eben auf dem Wege zu unſerm Hauſe ge⸗ weſen. Vor dem Opernhaus hatte er uns geſucht, und da er uns dort nicht mehr angetroffen, ſich verſichern wollen, ob wir bei dem phänomenalen Nebel heim⸗ gefunden. Wir befänden uns ſeiner Wohnung gegen⸗ über. Er beſitze eine kunſtvoll konſtruierte Laterne. Ohne dieſe Laterne getraue er ſich nicht, mich nach Hauſe zu führen. Allein könne er mich nicht laſſen. Ich müßte mit zu ihm hinauf. 22 337 Er wartete meine Antwort nicht ab. Feſt ſchlang er ſeinen Arm um mich und zog mich fort. Ich ſah, daß die Nebel anfingen ſich ein wenig zu löſen. Ob er es auch ſah? Ich ſchloß die Augen. Ich ſtand in ſeinem Zimmer. Er drückte mich ſanft in einen Fau⸗ teuil, ſteckte ein Licht an und ſuchte die Laterne. Die Thür zu einem halbdunkeln Nebenzimmer ſtand offen. Von daher kam ab und zu ein Luftzug. Die Vorhänge bewegten ſich, als ſtände jemand dahinter, die Wachskerze flackerte. Ich ſah, daß ſeine Hände zitterten, mein Herz zitterte auch. Im Zimmer konnte ich die Gegenſtände nicht deut⸗ lich unterſcheiden. Aber alles ſchien in lichten Farben. Eine weiße Büſte und die Einbände der Bücher ſchim⸗ merten im Licht der Kerze. Er kam zu mir zurück, glitt zu Boden und barg ſeinen Kopf in meinen Schoß. „Wie ſoll ich etwas finden, ich ſuche, ſuche und ſehe nur Dich, Dich allein. Er. ſtreifte meinen Pelzmantel ab. O Mutti, wie zart und leiſe er mich in ſeine Zärt⸗ lichkeit einſpann, bis ich willenlos an ſeinem Herzen lag, und nichts wollte, und nichts dachte, als ihn. Und wie die Leidenſchaft ſein feines, edles Geſicht verſchönte. Linde Thränen ſtürzten mir aus den Augen und rannen auf ſein Geſicht. Liebe Mutti, ein Glück, das weint, iſt kein gemeines Glück. Da ſind Götter. Da iſt ein Heiligtum. Ein Hauch vom Paradies ſtreift ſolches Glück. Ja, in jenem Augenblick habe ich es gewußt, daß die Liebe die Urquelle aller Schönheit, aller Güte, 338 aller Wahrheit iſt. Ich werde es aber wohl wieder vergeſſen. Er hob mich empor in ſeinen Armen. Er trug mich ins Nebenzimmer. Ein Fenſter ſtand da offen. Huſchend, unheimlich kroch der Nebel ins Zimmer. In einer grünen Ampel brannte ein ſchwaches, feines Licht, wie ſchüchterner Mondſchein. In dieſem Licht ſah ich auf ſeinem Nachttiſch eine aufgeſchlagene Bibel liegen. Wie an der Seele eines Menſchen, der etwa von einem Felſen ſtürzt, im Moment des Fallens Jahre ſeines Lebens vorüberziehen, ſo brauſte plötzlich eine wilde Jagd abgeriſſener Gedanken durch mein Hirn, wirbelwindartig, entblätternd, erkältend. Thu's nicht! Er iſt ja fromm; morgen wird er die Ehebrecherin verachten. Thu's nicht! Er wird die geſchiedene Frau des Banquiers nicht heiraten. Sein Vaterland erlaubt's nicht. Thu's nicht! Nie wird er der Geliebte einer verheirateten Frau ſein wollen, er verläßt Dich. Oder kam mir das nur alles, weil mich fror, oder war es das keuſche Weib in mir, das widerſtrebte — — ach, ich weiß es nicht, Mutti, ich weiß es nicht. Und das alles, während ſeine Lippen auf den meinen brannten und ich das laute Schlagen ſeines Herzens hörte. Ich löſte meine Lippen von den ſeinigen. „Hely, mein Geliebter, laß mich, um Deinet⸗ willen.“ Der Zauber war gebrochen. Der Augenblick des 22* 339 Selbſtvergeſſens vorüber. Wir waren nicht mehr eins, wieder er und ich. Er ließ mich frei, ſofort. „Aber Du frierſt ja, Geliebte, Du zitterſt.“ Er führte mich zurück in den Salon, er wickelte mich ſorglich in den Pelzmantel. Wir ſuchten nach Worten, um die plötzliche Ernüchterung vor uns ſelbſt zu verbergen. „Morgen, Hely, morgen,“ ſtammelte ich, „ich ſchreibe Dir, gewiß, ich ſchreibe Dir.“ „Ja, ſchreibe mir, in Deine Hand lege ich unſere Zukunft.“ „Noch einmal ſank ſein Kopf in meinen Schoß, und er flüſterte: „Oder komm' ſelbſt und bleibe bei mir für immer.“ Dann erhob er ſich ſchnell. „Ich muß jetzt gehen, Hely. Benno wird raſen. „Benno — ja.“ Er zuckte zuſammen. „Du mußt jetzt gehen.“ Er blickte wirr um ſich. Ich ſah, er konnte ſich noch nicht zurückfinden. Wir brauchten die Laterne nicht mehr, der Nebel war leichter geworden. Dicht aneinander geſchmiegt, Hand in Hand, legten wir die paar Hundert Schritt bis zu unſerem Hauſe zurück — wortlos. Nur beim Abſchied ſagte ich: „Auf morgen, Hely.“ „Ja morgen, Sibilla.“ Und er preßte ſeine brennenden Lippen wieder und 340 wieder auf meine Hände. Heftiges, faſt Zorniges war in dieſer wilden Liebkoſung. Faſt wäre ich auf der Schwelle wieder umgekehrt Es war mir, als lege ſich ein ſchweres Gewicht auf meine Bruſt, faſt ein Entſetzen überkam mich, ein maß⸗ loſes Trennungsweh, ein Gefühl ewigen Losgeriſſen⸗ ſeins. Glücklicherweiſe brauchte ich Benno nicht mehr Rede zu ſtehen. Er war mit Diener, Hausmeiſter und Laterne noch draußen, um mich zu ſuchen. Ich ſchlief die ganze Nacht nicht. Nicht wie da⸗ mals —, im engliſchen Garten, nach dem verfehlten Rendezvous mit Raphael, empfand ich eine ſeeliſche Befreiung. Nein, diesmal war es eine zerwühlende, marternde Unzufriedenheit mit mir ſelber, ein inbrün⸗ ſtiges Sehnen, hin zu ihm, und im Hintergrund immer die qualvolle Vorſtellung: Du haſt in verloren! Hatte er nicht geſagt: Das Weib, das ſich mir einmal hingegeben, iſt mein Weib für immer. Mit einem Ruck richtete ich mich im Bett auf, ich ſchlug mit der Hand gegen meine Stirn: Aber, Du haſt ja eine Dummheit gemacht! eine Dummheit. Ein feiner Gedanke, Mutti, gelt? Und ſo fein ausgedrückt! Hätteſt Du Deine Tochter ſo niedrig taxiert? Aber war es denn zu ſpät? Hatten wir uns nicht mit dem Wort getrennt: morgen! Wer weiß! wer weiß! Wenn ihm nun über Nacht ſeine Grundſätze wieder über den Kopf oder vielmehr über das Herz gewachſen ſind: 341 Gegen Morgen erſt kam der Schlaf. Es war faſt Mittag, als ich erwachte. Natürlich Kopfſchmerzen. Und mit Kopfſchmerzen über ſeine Zukunft entſcheiden zu müſſen! So lange mich die laue Wärme des Bettes umfing, empfand ich nichts als die Wohlthat des Aus⸗ ruhens. Nach dem Bade und dem Frühſtück aber erwachte meine ganze Lebensintenſität, das heißt, das Fieber brennender Sehnſucht war wieder da. In fliegender Haſt ſchrieb ich nur wenige Zeilen, leiden⸗ ſchaftliche, unſinnige. Daß ich ihn liebe, daß ich zu ihm wolle für immer. Er ſolle mich holen, um ſechs Uhr würde ich an der Glyptothek auf ihn warten. Als ich bereit war auszugehen, um den Brief ſelbſt in den Kaſten zu werfen, war es ſchon zu ſpät. Man rief mich zu Tiſche. Benno war bei Tiſch wie immer, beweglich, ſchnurren⸗ erzählend, galant mir gegenüber. Ich beobachtete ihn, ſeine etwas lange Naſe, die roten Ohren, das dünne, helle Schnurrbärtchen, den etwas ſchiefen Mund, wenn er lachte. Er kam mir wie ein ganz fremder Menſch vor, und ich konnte mir abſolut nicht vorſtellen, daß er einmal mein Gatte war. Ich mußte darüber lächeln, daß ich ihn vielleicht gerade jetzt zum letzten Mal ſähe. Ich nickte ihm freundlich zu. Er hat mir nie Böſes gethan. Ich teilte ihm beiläufig mit, ich würde gegen Abend Jolante, die nicht wohl war, beſuchen, und ſpäter vielleicht mit Timäa ins Reſidenztheater fahren. Nach Tiſch war ich ſo müde. Nur einen Augen⸗ blick wollte ich auf der Chaiſelongue ruhen. Im Halb⸗ 342 ſchlaf ſah ich, wie die Sonnenſtrahlen durch die gemalten Fenſter drangen und das Zimmer in einen dämmernd⸗ goldenen Duft tauchten. Ich ſchlief ein, und ich ſchlief bis das Schlagen einer Uhr mich weckte. Ich zählte die Schläge: vier. Tiefe Dämmerung. Ich erſchrak. Jetzt oder nie. Eine Angſt packte mich, der Brief könnte ihn nicht mehr zu Hauſe treffen. In wenigen Minuten befand ich mich auf der Straße. Ich ſah mich nach einem Dienſt⸗ mann um, der den Brief beſorgen ſollte. Keiner da. Auf dem Karlsplatz, das wußte ich, ſtanden immer Dienſtleute. Unwillkürlich machte ich einen Umweg. Ich weiß nicht mehr, wie ich in die Maximilianſtraße geriet, die weit ab vom Karlsplatz liegt. Es war wieder ſehr neblig geworden, wenn auch nicht ſo be⸗ unruhigend, wie am Abend vorher. Das Licht der Laternen brannte gedämpft wie durch Trauerflöre mit rötlich glimmendem Schein. Schwere Wagen fuhren langſam durch die Straße über die breite Brücke, als wär's ein Leichenkondukt. Die Bäume am Wege, in Nebel verhüllt, wirkten wie dunkel gefärbte Rauch⸗ wolken oder wie Weihrauch, der in der Luft erſtarrt iſt. Die rieſige Bildſäule des Königs Max, von der man nur die Konturen ſah, ragte geſpenſtiſch hoch in den Dunſt empor; weiterhin die Standbilder von Schelling, Hegel ſchienen, losgelöſt vom ſchweren Material, blaſſe Schemen in den grauen Lüften, einer Leichenfeier aus dem Geiſterreich voranzuſchweben. Alles nahm, in düſter geheimnisvolle Schleier gehüllt, phan⸗ taſtiſche, märchenhafte Dimenſionen an. Ich kam von 343 der Vorſtellung nicht los, daß etwas zu Grabe ge⸗ tragen wurde. Träumend ging ich noch eine Weile durch dieſe Nebel, Ort und Zeit waren wie ausgelöſcht; ich wußte kaum, wo ich war, und ebenſo mechaniſch ging ich zurück bis zum Karlsplatz. Eine Kirchturmuhr ſchlug fünf. Es war ganz dunkel geworden. Ich winkte einem Dienſt⸗ mann und gab ihm den Brief. Alles verſchwamm im Nebel zu einer grauen, ſchattenhaften Maſſe. Schatten⸗ haft die Straße, der Brief, ſchattenhaft der Dienſt⸗ mann, ſchattenhaft alles, was ich that, und ich ſelbſt ein Nebelbild. Kaum war der Dienſtmann fort, fiel mir ein, daß am Ende Hely gar nicht mehr zu Hauſe ſein würde, und ich ſtände dann an der Glyptothek und wartete vergebens auf ihn. So ſchnell ich konnte, lief ich Helys Hauſe zu. Ich ſah den Boten hinein⸗ gehen. Während ich auf ſeine Rückkehr wartete, löſten ſich die Nebel in einen feinen, rieſelnden Regen. Einc Gepäckdroſchke ſtand vor ſeiner Thür. Ich blickte zu den Fenſtern empor. Sein Zimmer war erleuchtet. Mit einem Mal ſah ich ihn ſelbſt. Seine Silhouette am Fenſter zeichnete ſich ſcharf von der Dunkelheit draußen ab. Er wollte augenſcheinlich die Jalouſie herunterziehen. Den Arm hielt er ausgeſtreckt, ſein Kopf war nach oben gerichtet. Wie deutlich ſah ich ſeine feine Form. Plötzlich wendete er ſich ins Zimmer zurück, als ſpräche er mit jemand. Im nächſten Moment fiel die Jalouſie nieder, mit einem ſchnarrenden, unangenehmen 344 Geräuſch, daß es mir wehe that. Mich fing an zu frieren. Der Dienſtmann kam aus dem Hauſe. Im nächſten Augenblick ſtand ich neben ihm. Ob er vielleicht eine Antwort bringe? Ja. Der Herr ſei vor einer Stunde von wegen einer Depeſche abgereiſt. Den Brief würde ihm der Diener gleich nachſchicken. „Gut, gut,“ nickte ich und hatte keine andere Vor⸗ ſtellung, als dem Dienſtmann möglichſt ſchnell aus dem Geſichtskreis zu kommen. Ich lief beinahe, und als der Mann längſt außerhalb meines Geſichtskreiſes war, lief ich noch immer, jetzt, um das Gefühl des Frierens los zu werden. Die greuliche Realität kam mir noch nicht recht zum Bewußtſein, nur unter dem allgemeinen Eindruck litt ich, daß der rieſelnde Regen, die dunkle Straße und meine eiskalten Füße, daß das alles entſetzlich ſei. Unzuſammenhängende Vorſtellungen ſchwirrten durch mein Hirn, weitentlegene, faſt gleichgültige. Das Kind in der Schule fiel mir ein, dem die Lehrerin das Käſebrot fortgeriſſen, und Ella Ried, wie ſie ſich ſo über das alte, abgelegte Ballkleid freute. Ich dachte an den Papagei, der kreiſchte: „Traute iſt tot“, und an die kleine Marie dachte ich, wie ſie an der Treppe ſtand mit den flehend drohenden Augen. Und dann nahmen meine Gedanken den Weg zu Dir, liebe, liebe Mutter. Was Du wohl ſagen wür⸗ deſt, wenn Du Deine Tochter, Deine ſchöne, kluge, vielbegehrte Sibilla jetzt ſäheſt, in Nacht und Regen, 345 frierend, (ich glaube auch hungernd) allein auf der Straße, einem Liebhaber nachlaufend, der von ihr nichts wiſſen will. Ich lachte laut auf, vielleicht ſogar gellend. Wie mich fror. Ich blickte um mich. Überall erleuchtete Fenſter. Ich fühlte faſt einen Haß auf all die Leute, die hinter dieſen hellen Fenſtern behaglich und friedlich in ihrem warmen Neſt ſaßen. Wie unerhört albern man ſein kann. Als ob helle Petroleumlampen die Schlangen, die einem am Herzen freſſen, verſcheuchen könnten. Fraß mir denn eine am Herzen? Eigentlich war es nur ein dumpfes, kaltes Er⸗ ſtaunen, das ich fühlte. Plötzlich aber doch ein Schlangenbiß, oder ein Peitſchenhieb, daß ich mich aufbäumte unter dem Un⸗ erhörten, das mir geſchehen. Und gleich darauf ein Hoffnungsſtrahl. Wie? wenn der Bote mir nur die Antwort des Dieners gebracht hätte, bevor Hely noch den Brief geleſen, und Hely ſtände nun an der Glyptothek und wartete auf mich? Das war ja mög⸗ lich. Erſt vor wenigen Minuten hatte es ſechs ge⸗ ſchlagen. Noch war es Zeit. Atemlos, nicht mehr frierend, kam ich an die Glyptothek. Ich lief eine Viertelſtunde auf und ab, auf und ab — Niemand. Nichts. Und nun fraß mir doch eine Schlange am Herzen: Hohn! Hohn gegen mich ſelbſt. Blutiger, greller Hohn, nichts als Hohn. Es war mir recht, ganz recht, was geſchehen, ſo hätte es kommen müſſen! Wie dieſer Hohn mir am Herzen fraß! 346 So elend kam ich nach Hauſe, daß ich nichts mehr wollte, nichts mehr erſehnte als guten heißen Thee, Pelzſchuh und Kaminfeuer, helles, loderndes. Und als ich das alles hatte, wäre es mir auch recht geweſen, wenn Benno gekommen und mir etwas Luſtiges erzählt hätte. Er war nicht da. Es fiel mir ein, daß er jetzt ſelten zu Hauſe war. Seit einiger Zeit brachte er mir auch keine Blumen mehr. Ich ſammelte meine Ge⸗ danken. Ja, er liebte eine kleine Soubrette vom Gärtner⸗ theater. Ich, und auch andere, wir hatten ihn oft damit geneckt. Die Kleine ſollte ein hübſches, ziemlich ehrbares, luſtiges Geſchöpf ſein. Da kam er doch. Ich hörte ihn trällernd im Neben⸗ zimmer. Er öffnete die Thür meines Salons, und ſchien überraſcht, mich anzutreffen. „Ich dachte, Du wäreſt mit Timäa im Theater? „Mir iſt nicht wohl. Da verlor ich die Luſt. Wohin gehſt Dur „Ins Gärtnertheater. Kommſt Du mit? „Nein. Was wird gegebenk Er nannte das Stück. Seine Flamme ſpielte darin die Hauptrolle. „Trinkſt Du vielleicht nach dem Theater eine Taſſe Thee mit mir? Er zögerte. Und dann: „Eine Verabredung mit einem Freunde . . . „Amüſiere Dich.“ Er ging. Ganz in der Ordnung. Schade, Mutti, ſchade, daß es noch kein Telephon zwiſchen München und Berlin giebt. Ich fragte Dich 347 gleich durchs Telephon: Mutter, liebe Mutter, haſt Du mich lieb? ſehr lieb? Und Du müßteſt mir ant⸗ worten: ungeheuer lieb. Nicht wahr, nicht wahr, un⸗ geheuer lieb? 24. Februar. Liebe einzige Mutti. Seitdem hatte ich niemand ſehen wollen. Ich ließ mich wegen Unwohlſeins verleugnen, auch vor Kunz. Am dritten Tage kam Jolante. Sie ließ ſich nicht abweiſen; ſie müſſe mich notwendig ſprechen. Ich ließ ſie herein. Denke Dir, Mutti, ſie brachte mir einen Brief von ihm, von Hely. An Jolante hatte er geſchrieben, er bäte ſeine gütige und verehrte Freundin, den einliegenden Brief an Frau Sibilla gelangen zu laſſen. Sie habe ihm letzthin von einer beabſichtigten Reiſe nach Berlin geſprochen, und er möchte nicht, daß der Brief in die Irre gehe. Ich ging mit dem Brief ins Nebenzimmer, um meine Aufregung vor Jolante zu verbergen. Faſt mit Zorn riß ich haſtig das Couvert ab. Gleich fiel mir mein eigener, uneröffneter Brief in die Hand. Ein be⸗ freiender Moment, Mutti! Er hatte ihn alſo nicht geleſen. Es war mir, als löſche jemand ein Brandmal von meiner Stirn. Und was in ſeinem Brief ſtand? Am Morgen nach jenem wunderbaren, unvergeß⸗ lichen Abend habe ihn eine Depeſche zu ſeiner ſchwer⸗ erkrankten Tante nach Baden⸗Baden gerufen. Er habe den nächſten, den Blitzzug nicht benutzt, weil er in Ver⸗ zweiflung und Sehnſucht immer auf ein Lebenszeichen von mir gewartet habe. 348 Mit dem Abendzug endlich ſei er abgereiſt, hoff⸗ nungslos, den Tod im Herzen tragend. (Lügner!) Die Sterbende habe ſeine und Evas Hand ineinander⸗ gelegt. In treuer Liebe zu ſeinem Vaterlande würde er das Verlöbnis halten. Eine Stunde ſpäter — die Kranke hatte eben ihren letzten Seufzer ausgehaucht — habe er meinen Brief erhalten. Er hätte nicht mehr das Recht gehabt, ihn zu öffnen. Hätte er dieſes Recht aber gehabt, er würde ihn geleſen haben mit der Todesqual eines Menſchen, der in eine ſchmerzende Wunde ein Meſſer ſtößt. Denn er wiſſe, was in dem Briefe ſtände. Als ich ihn in jenem Augenblick höchſter Seligkeit von mir geſtoßen, habe er gewußt, daß er mich verloren — für alle Zeit. Am Schluß des Briefes noch ein paar ſchwermütig angehauchte, fromme Reſignationsphraſen. Und der ganze Brief eine einzige Lüge. Und wie fein, wie vornehm gelogen, gelogen, um mir jeden Schimmer von Beſchämung zu erſparen. Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Er hat gewußt, was in dem Brief ſtand. Er hat es tauſend Mal gewußt. Aber der Schein iſt gerettet! Der Schein für ihn und für mich. Ich weiß alles, was in ſeiner Seele vorgegangen iſt. Auch daran hat er gedacht, daß ich zu alt für ihn bin. Ja, wäre ich Gräfin geweſen oder wenigſtens Ba⸗ ronin, ſein Vaterland hätte es vielleicht erlaubt. Mutti, ob er ſich nur mit Eva verlobt hat, um von mir los⸗ zukommen, um nicht die geſchiedene Frau eines Börſia⸗ ners⸗heiraten zu müſſen: 349 Iſt es nicht komiſch, daß der Anfang und das Ende meiner Beziehungen zu ihm durch einen uner⸗ öffneten Brief herbeigeführt worden iſt? Beinahe ein Poſſenmotiv. Ich warf ſeinen und meinen Brief ins Kamin⸗ feuer. Ich ging in den Salon zurück. Ich ſagte Jolante: „Er hat mir ſeine Verlobung mit Eva Broddin angezeigt. Und ich habe ihn geliebt, Jolante.“ Ich warf mich an ihre Bruſt, möglich auch, daß ich eine Thräne vergoß. „Ich wußte es, Sibilla, und ich wußte auch, daß dieſer Wahn vorübergehen würde. Nur ein Menſch iſt Deiner würdig, nur einer liebt Dich wahrhaft. Er verzehrt ſich in Sorge um Deinetwillen. Vor Deiner Thür wartet er. Darf ich ihn heraufſchicken? Ich habe noch eine Beſorgung in der Stadt. In einer halben Stunde bin ich wieder da. Sie wollte uns allein laſſen. Wie übel, wie übel war ſie beraten. Eine Frau, die eben von der Liebe Schmerzlichſtes erlitten, verſchließt ihr Herz mit Haß gegen die Liebe, wie man nach der Trunkenheit das Getränk, das ſie veranlaßt hat, lange Zeit ver⸗ abſcheut. In peſſimiſtiſcher, düſterer Stimmung war ich, als er eintrat. Und er, er war auch düſter, tief⸗ gekränkt, weil ich mich tagelang vor ihm hatte ver⸗ leugnen laſſen. Er teilte mir mit — wahrſcheinlich in der freudigen Vorausſicht, mein Herz zu brechen — daß eine ſchwere Anklage wegen Aufreizung zum 350 Klaſſenhaß über ihm ſchwebe. Möglicherweiſe würde man ihn zu einer längeren Freiheitsſtrafe ver⸗ urteilen. Und alles, was er nun ſo leidenſchaftlich vor⸗ brachte, war eine Einforderung der Schuld, die ich am Königsſee mit ihm kontrahiert hatte. In die Nacht ſeines Kerkers wollte er die Gewißheit meiner Liebe mit hinübernehmen. Seine Blicke, ſeine zuckenden Finger, ſeine bebenden Lippen, der ganze Menſch eine einzige Flamme, die nach mir züngelte: Mannesbegehren, das mich ſchon mehr als einmal abgeſtoßen hatte. Mein Blick fiel auf die rote Zunge der Schlange am Halſe des ge⸗ malten Weibes. Immer das Weib die Sünde, dieſe Sünde? Dem Manne halſt die Schlange auf! dem Mann! Kunz, Kunz, einen ſchlechteren Moment für Deine nicht ganz ideale Forderung hätteſt Du nicht wählen können. In einer anderen Stimmung vielleicht hätte das Flammenzeichen anders auf mich eingewirkt, jetzt entfeſſelte es die bekannte Furie in mir. Und ſo kam es, daß meine ganze Bitterkeit gegen den Unſchuldigen losbrach. Ich warf ihm ſeine Thor⸗ heit vor, ſich zweck⸗ und nutzloſen Verfolgungen aus⸗ zuſetzen. Auch für ſeine radikalſten Forderungen würde ein weiſer und gütiger Menſch die vornehme Form finden, die jenſeits vom Staatsanwalt liegt. Ich könne über das dämoniſche Schadenfeuer umſtürzleriſcher Geiſter nur lächeln, lächeln über die Wuchtigkeit, mit der fer und ſo viele andere das Lebensgeſchäft betrieben. 351 Nach Millionen Jahren würden die Menſchen noch immer die Wahrheit und das Glück ſuchen, immer ſuchen, ſuchen, bis der Erdball in ſeine Atome zer⸗ ſtiebt ſei. Ich ſah, wie er kämpfte, ſeinen Zorn nieder⸗ zuhalten, und ſeine Stimme klang heiſer, als er mich bat: „Sei lieb, ſprich nicht weiter. Meine Furie aber ſchüttelte die Schlangenhaare, und ich ſprach doch weiter. Und ſeine Liebe! Und die Liebe überhaupt! Hm! ja, Kinder hielten wohl Tiere, wenn man ihnen einen Heiligenſchein anmalt, für verkappte Engel, und Don Quichotes ſuchten nicht nur, was nicht exiſtiert, ſie fänden es ſogar, eben — weil ſie Don Quichotes wären. „Schweig, ſchweig!“ ſchrie er und umklammerte mein Handgelenk ſo feſt, daß es mir wehe that, ſehr wehe. Ich ſchüttelte zornig ſeine Hand los und maß ihn mit einem böſen, hochfahrenden Blick. Er er⸗ widerte ihn. Die Thür öffnete ſich: Jolante. Er ging auf ſie zu, in ſeinen Augen blitzte es auf ſonnig, oder war's ſchweflig gelb? Er nahm Jolantes Hände feſt und innig in die ſeinen und ſagte, zu mir gewendet: „Du hatteſt neulich recht, Sibilla, als Du meinen blinden Glauben an Dich Götzendienſt nannteſt. Hier die wahre Heilige. Ich habe das ſeltenſte Kleinod gefunden: ein gütiges Herz habe ich gefunden — Jolante, mein Weib. 352 Sie fuhr zitternd zuſammen, als ob ein Sturm⸗ hauch über ſie hinginge. Dann aber — unbeſchreib⸗ lich, liebe Mutter, der Ausdruck in Jolantes Zügen. Ihre Augen irrten von mir zu Kunz, von Kunz zu mir; ſie irrten im Zimmer umher, ſie richteten ſich aufwärts, indem ſie tiefaufatmend die Hände über der Bruſt zuſammenfaltete. Sie öffnete die Lippen und ſchloß ſie wieder. Sie konnte nicht ſprechen. Aber weinen konnte ſie. Und wie holdſelig ſie dann durch Thränen lächelte — eine ganz Verklärte. O, Mutti ſie war in dieſem Augenblicke ſchön, viel ſchöner als ich. Meine Furie empfahl ſich. Ich war ganz Rührung. Ich umarmte Jolante zärtlich. Dann reichte ich Kunz herzlich die Hand: „Euch fügt Gott zuſammen. Und jetzt hole ich Euch die erſten Schnee⸗ glöckchen aus dem Garten. Nebenbei will ich Euch allein laſſen. Bleibt mir gut, Ihr meine einzigen und liebſten Freunde auf Erden. Wie ſeltſam der Blick war, mit dem Kunz mir nachſah. In den Garten ging ich, aber Schneeglöckchen ſuchte ich nicht. Es gab ja noch gar keine. Das wußte ich. Im raſchen Auf⸗ und Abgehen wollte ich mir die neue Situation klar machen. Die Rührung verflog. Die Furie lugte ſchon wieder aus ihrem Verſteck. Und ſie ſchüttelte ein paar Bäume, und wie die Tropfen niederrieſelten, hatte ich das beruhigende Gefühl, als hätte ich ſie weinen gemacht. Ich warf Steine in den kleinen Teich, und es gefiel mir, wie das Waſſer aufſpritzte. Es klang faſt wie ein Schrei. 23 353 Und ich dachte: Dummer Kunz, dummer Kunz! Der Engel iſt doch in mir, er iſt nur von einigen Teufeln beſeſſen; Du haſt nicht verſtanden, ſie aus⸗ zutreiben. Doktrinär Du! Und dann mit einem heimlichen Triumph: Du liebſt mich doch! liebſt mich doch! Die arme, liebe Jolante, Du wirſt ſie leiden machen. Konnteſt Du nicht warten? Mußten ſechs Monate genügen, um Sympathie in Liebe umzuwandeln? Die zarten Sinneswerkzeuge, um die geheimſten Fäden einer Menſchenſeele zu entwirren, fehlten ihm. Es waren doch Trotz und Schmerz, die aus mir ſprachen. Er glaubt immer alles, was ich ſage. Das eigentliche, echte Weſen eines Menſchen kann er nicht unterſcheiden von den Sekundenbildern, die ein krankes Hirn erzeugt. Als ich ins Haus zurückkam, waren ſie eben ge⸗ gangen. Ich ſtieg in mein Schlafzimmer hinauf, um ihnen nachzuſehen. Ich ſah ſie nicht mehr. Ich blickte in einen weißlich⸗bläulichen Himmel hinauf, mit einer fahlen Sonne, die durch leichten Dunſt hin⸗ durch auf den dünnen Schnee der Häuſer und Dächer fiel. Die Steinbilder auf entfernten Gebäuden ragten, zu ätheriſcher Durchſichtigkeit verklärt, in den Sonnen⸗ nebel hinein. In der gleichſam durchgeiſtigten Atmo⸗ ſphäre bildeten die Kirchtürme feine Rieſenſilhouetten. Und dieſe dunkeln, in Nebelduft ſchwimmenden Sil⸗ houetten, der Rauch aus den ſchlanken Schornſteinen, der Schnee und der Himmel und die Steinbilder, die Dächer und die Luft, von der fahlen Sonne durch⸗ 354 lächelt, farblos, von ſilberner, leiſe ſchimmernder Schattenhaftigkeit, floſſen zu einer zartkalten, unſagbar poetiſchen Harmonie zuſammen. Sie that mir wohl, dieſe mildlächelnde Harmonie und wirkte einſchläfernd auf das leidenſchaftliche Ge⸗ flimmer in mir. Ich lächelte allmählich auch, fahl natürlich, über meine Aufgeregtheit. Durch alle Eingeſchläfertheit hindurch aber fühlte ich, daß ich mit Kunz mehr verlor als mit Hely. Hely, an den denke ich wohl noch ab und zu, aber kühl und nüchtern, ohne jede Rancüne. Ich habe ihm ja auch nichts vorzuwerfen. Er hat konſequent und vernünftig gehandelt. So eine kleine pſychiſch⸗phyſiſche Abirrung wie an jenem Nebelabend, iſt verzeihlich. 2. März. Liebe Mutter, ich habe Jolante ge⸗ ſchrieben, daß ſie und Kunz mich in der nächſten Zeit nicht beſuchen möchten, weil ich ungeſtört dem Ge⸗ ſchäft, das Gleichgewicht meiner Seele wieder herzu⸗ ſtellen, obliegen wolle. So, Mutti, da wären wir ja nun ſo ziemlich einſam. Benno im Gärtnertheater. Ferlani iſt richtig zu Timäa abgeſchwenkt. Nie ſoll man doch ſagen: „Aus dieſem Becher trink' ich nicht. Und ein Wetter! Anfang März. Bald Regen bald Schnee. Matſch, Schmutz, keine Sonne. Graues Elend. Ich überlege kühl: Du gute Sibilla, was bleibt Dir denn noch im Leben? Immer wieder über Kunſt und Litteratur reden? Toiletten, Kampf mit dem Alter. Warten bis Herzka ſeine Anſiedelung am Kenia 23* 355 gegründet hat? An den Ufern des Nil ſchon würde ich mich im Sande verlaufen, vulgo umkehren. Und Bellanys Zeitalter? Da bin ich ja ſchon tauſend Jahre tot. Zuweilen kommt mir der Gedanke zu irgend einem Theaterbeſuch oder ſonſt einer Luſtbarkeit. Er wird aber gleich in Unluſtgefühlen erſtickt. Nicht ein⸗ mal eine ordentliche Verzweiflung, die à la Sardanapal einen Scheiterhaufen anzündet, nur ſo eine müde, verſchlafene Verdroſſenheit. Graues Elend! Graues Elend! Mir iſt manchmal, als wäre ich gar kein Geſchöpf von Fleiſch und Blut, ſondern nur ein Begriff mit einem Zettel im Munde, „das iſt ein Stück Geſchichte der Frau.“ 16. März. Liebe Mutter, ſeit vierzehn Tagen keine Feder angerührt. Schlechtes Wetter war in mir und auch draußen. Mit einem Mal, über Nacht, iſt der Frühling gekommen. Die Sonne iſt da und die weichen Lüfte ſind da, und ich bin auch wieder da. Und wo noch eine dünne Eiskruſte iſt, da ſchmilzt ſie dahin, gerade wie meine Welt⸗ und Seelenſchmerzen ſich in fließende Wehmut löſen. Wirſt Du's glauben, Mutti, an den Hely denke ich gar nicht mehr. Ergo: auch dieſe vermeintliche wirkliche Liebe nichts als ein Nervenwahn, ein Stürmen im Blut, eine Paſſion en passant, ein Abſtecher ins Gefilde der Seligen, mit einem Wort: Autoſuggeſtion. Ben trovato dieſes Wort, Autoſuggeſtion klingt viel aparter als Selbſtbetrug, Wahnvorſtellung, Schwindel, 356 Einbildung u. ſ. w., was es doch mehr oder weniger bedeutet. Die Wehmut, die ich erwähnte, iſt eigentlich Sehnſucht, Frühlingsſehnſucht, ein großes, unbe⸗ ſtimmtes Sehnen, das nach Geſtaltung ringt. Ich muß ins Freie. Wohin weiß ich noch nicht. Nachher ſchreibe ich weiter. Nachmittag. Da bin ich wieder. Entſetzlich Trauriges habe ich erlebt. Du wirſt nie erraten, liebe Mutter, wo ich geweſen bin. Ich weiß ſelbſt nicht, was mich auf den Kichhof zog, wo meine Zwillinge begraben liegen. Seit vielen Jahren war ich nicht dort geweſen. Pflichtſchuldigen Emotionen gehe ich immer aus dem Wege. Die Trauerweide auf dem Grabe der Kinder war groß und ſtark geworden. Lange ſaß ich auf der Bank unter dem Baum. Frühling war auch auf dem Kirchhof. Hier und da noch etwas leicht und weich zerrinnender Schnee. Auch die grünen Tannen hatten noch beſchneite Zweige, die ſich wie weiße Hände über die Gräber ſtreckten, und von denen es unaufhörlich niedertropfte, als weinten ſie über die Geſtorbenen. Die goldenen Buchſtaben auf den Marmortafeln und den aufgeſchlagenen Bibeln funkelten im Sonnenlicht. Zu meinen Füßen die erſten Veilchen. Eine Lerche ſchlug. Der erſte Schimmer von Farbe auf den Sträuchern und Bäumen; alles ſo werdeluſtig, ver⸗ heißungsvoll. Und etwas Frühlingsfeierliches blühte auch in mir auf. Ich dachte kaum an die Kinder, die da unten 357 ruhten, ich dachte an das Kind im allgemeinen. So vieles kenne ich, nur das Kind kenne ich nicht. Ich dachte an das, was Kunz über das Kind ge⸗ ſagt hat. Erinnerſt Du Dich, liebe Mutter? Das Kind, ſagte er, iſt das Werk aller Werke. Es ſetzt den Weg, von dem der Tod Dich abruft, fort, vorwärts, hinauf. Es verwirklicht die Idee der Unſterblichkeit. Und er ſagte weiter: Ein Buch, ein Bild, ein Lied, das Du geſchaffen, Du liebſt Dein Werk, aber es liebt Dich nicht wieder. Das Kind aber, Dein Kind, liebt ſeinen Schöpfer. Wer ein Kind am Herzen hält, fühlt die überſchwengliche Wonne des Pygmalion, der von ſeinem eigenen Werk, ſeiner Galathea, umarmt wird. Ich ſprang auf. Ich blickte in die Sonne empor, die mich nicht blendete. Und hier, an der Stätte der Toten, durchdrang mich die treibende, knospende, ſproſſende Werdekraft des Frühlings. Sie durchdrang mich wie eine läuternde Taufe, anfangs in feierlich leiſer Sehnſucht, die allmählich emporwirbelnd wie Lerchenſchlag, in ſonnig ſtrahlender Werdewonne auf⸗ jauchzte. Und inmitten dieſer Trauerweiden und Kreuze, inmitten dieſer. Toten that ich in meinem Herzen das Gelübde, das Werk aller Werke zu thun, einen Menſchen zu ſchaffen. Tiefen Geiſtes und reinen Herzens ſollte er ſein, einem Apoſtel gleich. Ja, ein Kind wollte ich haben. Die kleine Marie ſollte es ſein. Mein Kind, mein Geſchöpf, mein Menſch ſollte ſie werden. 358 Hochklopfenden Herzens, direkt vom Kirchhof fuhr ich in die entlegene Wohnung ihrer Eltern. Leicht flog ich die engen Stiegen empor. In der Kammer faſt dasſelbe Bild wie vor einem Jahr. Nur ſah die Frau noch etwas elender aus, und der Mann auch, und das älteſte Töchterchen auch. Und die Luft war noch ſchlechter, beklemmender, ſonderbar. Und der Kohl wurde auch in dem eiſernen Ofen gekocht, nein, es waren diesmal Rüben. Unter dem Fenſter auf zwei Stühlen lag ein Paket, mit einem ſchmutzigen Laken darüber. Ich wunderte mich über ein paar welke rote Blumen auf dem Fußboden. „Blumen?“ fragte ich lächelnd. „War Mariechens Geburtstag? Wo iſt denn das Kind: „Tot!“ Die Frau ſagte es mit ſtumpfer Gleichgültigkeit und kochte ruhig ihre Rüben weiter. „Wann?“ Unausſprechliches Mitleid ſchnürte mir das Herz zuſammen. „Geſtern Nachmittag. Ich blickte entſetzt auf die zwei Stühle unter dem Fenſter. Die Frau ſah meinen Blick. Nun lamentierte ſie: Sie hätte nicht gewußt, wohin mit der kleinen Leiche. Der Hauswirt hätte keinen Platz dazu her⸗ geben wollen, da hätten ſie die Tote halt in der Kammer behalten müſſen über Nacht. Heut Abend erſt thät man's abholen. Und ſie entſchuldigte ſich wegen der Blumen; ſie hätt' ſie nicht etwa gekauft, eine Dame im Hauſe hätte ſie aus einem alten Ballbouquet 359 hergegeben, weil's Mariechen doch Blumen ſo gern ge⸗ habt. „Ihr iſt nun wohl,“ fügte ſie hinzu, „ſie hat ihre Ruh.“ Und ehe ich's verhindern konnte, zog ſie das Laken von der Leiche. Die kleine Tote, mit den langen, ſchwarzen, finſteren Wimpern auf der weißen Wange, mit dem Zug der Qual um die weißen Lippen und den faden, roten Blumen aus dem Ballbouquet, die man über ſie hingeſtreut, ſah nicht aus, als hätte ſie ihre Ruh. Eine rote Blume lag unter den Augen als ob unter den ſchwarzen Wimpern hervor eine blutige Thräne dränge. Ich hatte eine ſchaudernde Empfindung, als müſſe die Tote im nächſten Augenblick die Augen aufſchlagen und mit dem flehend drohenden Blick mein Herz treffen. Ich gab den Leuten Geld, und eilte aus der Kammer hinaus mit einem Entſetzen, als hätte ich ein Verbrechen auf dem Gewiſſen. Warum bin ich nie den Weg gegangen, auf den ſo oft mich eine innere Stimme rief: hin zu dem ſchönen Kinde. Nun kann ich mein Unrecht nicht wieder gut machen, nie, nie. Zu Hauſe raſte ich durch meine Zimmer ganz verzweifelt. Eben erhalte ich ein Billet von Jolante. Sie muß mich ſprechen. Ich habe ſie auf morgen Nach⸗ mittag beſtellt. Es wird Kunz betreffen. Ob er verur⸗ teilt iſt? Seit zwei Tagen habe ich keine Zeitung geleſen. 18. März. Süße, geliebte Mutter, was ich Dir heut ſchreibe, nur in die Seele möchte ich's Dir flüſtern.. Du mußt aber glauben, glauben mußt Du; jedes Wort, das hier ſteht, iſt wahrhaftig. 360 Von der Stunde an, wo ich bei der toten kleinen Marie war, bis zu dem Augenblick, wo Jolante kam, dachte ich mit irrer, leidenſchaftlicher Sehnſucht nichts als das Kind. Trotz und Groll liefen mitunter gegen das Schickſal, das jenes Kind hinraffte, gerade als ich es wollte. Wenn mein Blick auf das Stuckſche Bild fiel, dachte ich: wenn am Halſe dieſes gleißend ſchönen Weibes anſtatt der Schlange ein Kind hinge, ſie wäre nicht mehr die Sünde. Der menſchlich ſchöne Zweck der Liebe iſt doch eben das Kind. Sie hätte ihn erfüllt. Ich ging in die verſchiedenen Kunſtaus⸗ ſtellungen Münchens, und an den ſchönen Kinderbildern ſaugten ſich meine Augen feſt. Das ſchönſte aller Kinderbilder, ein lebendiges, begegnete mir neulich hinter den Propyläen. Ein Kind mit faſt unbewimperten blauen Augen, blau wie der Himmel, und ſo klar und ſo tief. Lichtblondes, volles, duftigloſes Gelock wie aus Mondſchein ge⸗ ſponnen, die Farbe des ſüßen Geſichts blütenweiß. Ein Kind wie der Traum eines Erzengels oder — einer Mutter. Wie ich die Mutter beneidete. 19. März. Jolante war bei mir. Bleich und tiefernſt kam ſie. Ja, ſie wollte von Kunz ſprechen. Verurteilt war er noch nicht, aber ſie zweifelte nicht daran, daß man ihn verurteilen würde. Sie hätte ihn längſt freigegeben. Kaum vierund⸗ zwanzig Stunden hätte ſie die Lüge ihrer Verlobung aufrecht erhalten. Er liebe mich nach wie vor, mit zehrender Verzweiflung im Herzen. Er ſchlafe nicht 361 mehr. Er arbeite für drei. Er reibe ſich auf. Jolante weinte. „Laß ihn zu Dir kommen,“ bat ſie, „ſprich mit ihm, Du findeſt wohl das rechte Wort, vielleicht mehr. Er wartet zu Hauſe in bitterer Angſt auf meine Antwort. Ich verſank in tiefes Nachdenken. Ein Gedanke kam und ging, und kam wieder und ging nicht mehr. „Spiele das Vorſpiel zum Parſifal, Jolante.“ Der Flügel ſtand im Nebenzimmer. Jolante ging hinein und ſpielte. Wie die Muſik meinen Leib verſeligte! Es klang in meinen Hörſelberg hinein wie der Geſang frommer Pilger, läuternd, heilig, gralhaft, myſtiſch. Hätte ich in dieſem Augenblick die Wahl gehabt zwiſchen Venus und Eliſabeth, ich hätte nicht geſchwankt: Eliſabeth! Aber das Kind! Die blutige Thräne trocknen aus den Wimpern der toten Marie. Sühne! Ich ließ Jolante am Flügel. Ich ging hinaus in die beginnende Dämmerung. Durch das offene Fenſter folgten mir noch eine Weile die Töne. Ein Flaum von Farbe lag auf den Bäumen an der Königinſtraße. Die zarten, frühlingshaften Töne floſſen mild ineinander. Der Himmel mit roſigem Gewölk bedeckt, und in den roſigen Äther hinein ragte wieder das ſchwarze Kreuz der Kirche. Rein und friſch wehte der Wind. An einer Stelle im Weſten verſchoben ſich die Wolken, und die Sonne, die im Untergehen war, öffnete ein großes goldenes Auge, zarte, flimmernde Dunſtſtreifen ſchoſſen empor und umſäumten das Auge wie lange Wimpern, die den Glanz milderten. 362 Mir war's, als ſähe ich das Auge der toten kleinen Marie, nicht mehr drohend — nein winkend —. winkend — weiter, vorwärts, ein Leitſtern. Der Geiſt des Frühlings! Er ſtrahlte aus dem goldenen Auge, aus dem roſigen Äther. Er verklärte das dunkle Kreuz, er quoll geheimnis voll aus dem Schoß der Erde. Ich war ganz umfloſſen von ihm. Er war in mir. Und durch meine Seele rauſchte das Vorſpiel vom Parſifal. Nie im Leben habe ich reiner empfunden, als da ich nun zu ihm hinaufſtieg, im Herzen das herrliche Wort Nietzſches: „Ehe nenne ich den Willen zu zweien, das Eine zu ſchaffen, das mehr iſt, als die es ſchufen. Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe als vor den Wollenden eines ſolchen Willens. 3. April. Nur wenige Worte heut. Ich komme zu Dir, liebſte Mutter, auf Monate. Hier iſt meines Bleibens nicht. Benno läßt mich gern ziehen. Es ſcheint, er hat der kleinen Soubrette nicht nur ſeine Mußeſtunden, ſondern auch ſein Herz geſchenkt. Der arme Kerl, ich gönne ihm ſein Glück. Mit mir, das war das rechte nicht.“ Kunz iſt ſeit geſtern im Gefängnis. Mit unend⸗ lichem Schmerz iſt er von mir gegangen. Der hat die Liebe, er hat ſie. Ich habe vielleicht auch, nur anders als er, unperſönlicher. Eine weltenweite, uni⸗ verſell menſchliche Zärtlichkeit iſt in meiner Empfindung für ihn. Jolante iſt auf einer Reiſe, um ſich über Gefäng⸗ nisweſen zu unterrichten. Seitdem Kunz in Haft iſt, 363 hat ſie nur Sinn dafür. Übermorgen, geliebteſte aller Mütter, bin ich bei Dir. Sibilla. 20. Oktober. Meine liebe, liebe Mutter, geſtern bin ich mit Jolante in Rom angekommen. Wir wohnen in der via sistina. Laß Dir noch einmal, noch tauſendmal danken, daß ich in der ſtillen ländlichen Abgeſchiedenheit Tyrols ſo lange bei Dir ſein durfte. Wie ſchön, in Frieden und Liebe, ſind dieſe ſieben Monate dahingefloſſen, ich ganz erfüllt von einer Liebe, einem Glauben, einer Hoffnung. O, ich begreife jetzt ganz die Selig⸗ keit eines Künſtlers, der, einer außer ihm liegenden Aufgabe hingegeben, ſeine ganze Welt in ſeinem Werke findet, und mit dieſem Werke ſteht und fällt. Ein großer Zweck thut Wunder, hat Kunz geſagt. Ich habe jetzt den Zweck, und er hat Wunder an mir gethan. Ich habe einen Glauben — ich glaube an das Kind. Das Kind — meine Wiedergeburt. Ein Mädchen ſoll es ſein. Johanna wird es heißen wie Du. Ich will, will mit der ganzen Inbrunſt eines excatiſchen Wollens, daß es potenziert die beſten und größten Eigenſchaften ſeiner Eltern erbe, nicht bloß diejenigen, die zu Tage liegen; auch alles was in meiner Individualität ſich nicht entwickelt hat, was — um einen Modeausdruck zu gebrauchen — unter der Schwelle des Bewußtſeins geblieben iſt — das 364 alles ſoll dem Kinde werden. Giebt es dem Embryo gegenüber keine Suggeſtion. Du haſt davon gehört, Mutti, daß bei Senſitiven von inbrünſtiger Gläubigkeit, wenn all ihre Vor⸗ ſtellungen von den Leiden Chriſti, und ſeinen Wunden⸗ malen beherrſcht werden, ſich das Stigma an ihrem Leibe zeigt. So will ich meinem Kinde ein ſeeliſches Stigma einverleiben. Und an einem Sonntag ſoll es geboren werden. Voluntas regia: Das iſt mein königlicher Wille. Gelt, meine geliebte Mutter, Du biſt nicht mehr betrübt, daß ich nicht bis zuletzt bei Dir bleiben wollte! Du biſt ja ſo ſchwach wie ein Windhauch, ich konnte Dir das nicht aufbürden. Jolante, die kraftvolle, mutige, zu allem ſo freudig bereite, die bei mir iſt, liebt mich ja beinahe, wie Du mich liebſt; ſie liebt in mir zugleich Kunz und das Kind. Habe ich Dir nicht alle Falten von der Stirn geküßt, auch die, in denen kleine Weltlichkeiten niſten? Kunz will, was ich will, und ich will — was Dir keinen Kummer macht. Du weißt, was ich meine. Eine myſtiſche Regung nannteſt Du es, daß ich mein Kind in Rom zur Welt bringen wollte? Viel⸗ leicht ja, iſt es myſtiſch empfunden, daß mein Kind die Augen aufſchlagen ſollte inmitten einer Welt, die voll feierlichen Pathos in Stein und Erz die Geſchichte von Jahrtauſenden entrollt. Alle Zeiten, Völker und Religionen überſchauend, ſoll es an dieſen grandioſen Wektbildern, aus dem Verſtändnis der Vergangenheit, 365 einen Maßſtab für alles Werdende finden. Und dazu die Natur hier von klaſſiſcher Schönheit, die in er⸗ habenſten Rythmen das Welt⸗Epos begleitet. Das iſt die Gabe, die ich dem Kinde in die Wiege lege. Keine böſe Fee wird ſie mit ihrem Fluch ihm rauben können. Und wenn das Kind nicht in Rom bleibt? Mein Blut iſt ſein Blut. Und was ich geſchaut, was ich empfunden, wird haften bleiben in ſeinem Blut. Aberglauben? Meinetwegen. Aberglauben der ganze Glauben an das Kind? Willkommener Aber⸗ glauben, der ſolche Wonnen ſchafft. 1. November. Liebe Mutter, ich ſchreibe Dir nicht wie ſonſt lange Briefe. Ich denke hier nur in Aphorismen, ich fühle in Ausrufen, ich ſchaue in Bildern. Ich ſehe Rom nicht wie ein Fremder mit Spannung und Wißbegierde. Ich ſehe es nur wie einen Rahmen für ein herrliches Bild — mein Kind. In Rom nehme ich gewiſſermaßen das Abend⸗ mahl, die Befreiung von Allzuirdiſchem, ehe ich in den Bund der Mütter trete. Mir iſt mitunter, als wäre ich das erſte Weib, das Mutter wird, mein Kind, das erſte Kind, das geboren werden ſoll. Um ſeinetwillen ſuche ich Weihe und Entzückungen Schönheit und Andacht. Alle häßlichen Eindrücke ver⸗ meide ich. Nur die grandioſe Geſamtſtimmung Roms laſſe ich auf mich wirken. Ich bin viel in den Kirchen. Oft höre ich die Nonnen in der Kirche auf dem monte pincio nahe 366 unſerem Hauſe, ſingen. Ein Geſang, ſtill und heilig, voll ſüßer Innigkeit, wie Bilder Fieſoles. Ich höre das Miſerere in St. Peter, und die Töue umſchmeicheln mich wie Duft, der aus Lilienkelchen ſchwebt, wie Wellen, die ſich im Mondſchein brechen, wie Äolsharfen, die der Hauch Gottes bewegt. Ich atme den phantaſtiſchen Zauber aus dieſem Weihrauch und antiken Säulen, aus dieſen blinkenden Gefäßen, uraltem Sammet, düſterprächtigen Farben, aus dieſen blutigen Kreuzen und ſchimmerndem Marmor und ſpinne mich ein in die Welt tiefſinniger Rätſel. Ich fahre durch die Campagna, aus der es mir wie ein Requiem für tote Götter entgegentönt. Ich wandle durch die Ruinenwelt, durch dieſe antik blühende Wildnis, dieſe Vegetation von Trümmern, wo alles wieder eins geworden iſt mit der Natur, immer beſeelt von der einen Vorſtellung: was mein iſt, wird des Kindes werden. Oft ſtehe ich mit Jolante auf einem der Hügel Roms, und der heilig⸗myſtiſche Charakter, der tiefe, feierliche Ernſt dieſes Weltpanoramas durchſchauert mich mit ſeiner unergründlichen geheimnisvollen Poeſie. Und dieſe Farben von überirdiſcher Lauterkeit und Glut, die über Nähen und Fernen fluten, über die blauen Berge Albaniens, über Pinien und Cypreſſen, über düſtere Steinmaſſen, über Kuppeln und Paläſte, vor ihrer überſchwänglichen Schönheit falte ich unwill⸗ kürlich die Hände, wie Kunz es oft thut, und die ge⸗ falteten Hände preſſe ich an die Bruſt meines Kindes: Dux empfange die Schönheit! 367 10. November. Nie hat Jolante blühender aus⸗ geſehen. Sie ſchwelgt in der edelſten aller Seligkeiten: ſich aufzuopfern. Still und klug ſchafft ſie neben mir. Sie begreift nicht mehr, wie ſie ſich früher über jede ungerechte Notiz in der Zeitung ſo maßlos aufregen konnte. In Rom lieſt ſie keine Zeitungen mehr. Alles Kleine und Nichtige hat ſie in dieſen herrlichen Rieſen⸗ ſarkophag Rom gebettet. Wo die Schatten von Jahr⸗ tauſenden umgehen, ſtumpft ſich das Intereſſe für das letzte Jahrzehnt ab, wo alle Völker der Erde reden, ver⸗ hallen die Stimmen einzelner. Die liebe, liebe Jolante, ſie zweifelt keinen Augen⸗ blick daran, daß wir, ich und Kunz, fürs Leben zu⸗ ſammengehören. So wird es wohl werden. Nur zuweilen, Mutter, beſchleicht mich von neuem eine große, univerſelle Melancholie, und leiſe Zweifel beſchleichen mich. Und aus dem gigantiſchen Verfall heraus gellt mir durch Mark und Bein ein Wort wie Poſaunenton: Fatum. Und ich fühle mich wieder verloren in einer weiten, traurigen Einöde, und ich ſchwimme, ſchwimme mit dem großen Strom, der hin⸗ untertreibt zu der Rieſen⸗Mündung, dem alles ver⸗ ſchlingenden Ocean, dem Nichtſein. Ich kämpfe dagegen an. Die Strömung iſt ſo ſtark, und ich komme nicht hinweg überdie vielen, vielen, die vor mir und hinter mir ſchwimmen. Und dann? Eine leiſe zuckende Bewegung des Kindes, und alle Weltverlorenheit und Seelenzerfahren⸗ heit löſt ſich in läuternde Zärtlichkeit für das Un⸗ geborene, daß die Zukunft ſein wird, eine Zärtlichkeit, 368 die leuchtet, die über mir iſt, wie der helle Stern, der über Bethlehem aufging. 1. Dezember. Mutter, liebe Mutter, da bin ich! Freuſt Du Dich? Jolante ſitzt hinter einem Schirm und nickt ein wenig. Viele Nächte hat ſie nicht ge⸗ ſchlafen, immer für mich gewacht; todmüde muß ſie ſein, und ſie weiß gewiß nicht einmal, daß ſie ſchläft. Wie gut, daß ich immer in meinem Nachttiſch Bleiſtift und Papier habe. Da will ich Dir nun ab und zu, wenn ich mich kräftig genug fühle, ein paar Worte hinkritzeln. Jolante darf es nicht wiſſen. Der kleine goldene Bleiſtift iſt von Hely. Wieviel Tote ich ſchon begraben habe. Ich habe ſtarkes Fieber gehabt. Nun iſt es vorbei. Meine Hände ſind kühl. Es dürfe nicht wiederkommen, das Fieber, hat der Arzt geſagt. Ich werde mich ſchon in acht nehmen. Was haſt Du geſagt, daß es nun doch ein Knabe iſt. Ich wollte doch ein Mädchen! Aufgeregt war ich darüber, betrübt. Die paar gekritzelten Worte hatten mich ermüdet. Ich habe wieder eine Stunde geruht. Jolante war inzwiſchen bei mir. Nun ſchläft ſie wieder. Wie ſchön doch die Welt ſein kann, liebe Mutter. Blauer, lachender Himmel. Das Fenſter ſteht offen — die Luft — ich ſpüre Engelsfittiche. Oſterglocken! Auferſtehung! Aber nein, es iſt ja Herbſt, nicht Auf⸗ 24 369 erſtehung, der Winter kommt, der Schlaf. Ich bin müde. Und Oſterglocken ſind's auch nicht. Ein ſchwüler, ſonderbarer Rythmus! Bimbam! Bimbam! Schwere einzelne Schläge, die langſam mit ſchauer⸗ licher Monotonie aufeinander folgen. Bimbam! Sterbeglocken ſind's. Sterben! Sonderbar, liebe Mutter, nicht, wenn ich jetzt ſterben müßte? Was iſt der Tod? Etwa ein Regenbogen über einem Sumpf? Eigentlich wäre es intereſſanter zu wiſſen, was das Leben iſt. Etwa die Geſchichte von dem kleinen Bübchen, das fort⸗ während nach ſeiner Kinderfrau ſchreit, erſt leiſe, dann immer lauter, dann wie in Verzweiflung. Die Kinder⸗ frau kommt: „Was iſt denn los? Was willſt Du, Hänschen? „Nichts.“ Und das Kind legt ſich auf die andere Seite und ſchläft ein. Nichts! Nichts? Das Spiel eines Schattens an der Wand, mein Daſein? Und Du, geliebteſte Mutter, Du hätteſt ein ſo ſchönes, eigenes Leben haben können und haſt Dich an mich geklammert. Zwei, die an einer ſo dürftigen Exiſtenz zehrten. Und nun habe ich Dir nicht einmal eine Enkelin geſchenkt. Nur ein Knabe. Ich wollte doch keinen Knaben! Den hat ſo bald die Welt, und ich werde ihn auch nicht verſtehen, wenn er erwachſen ſein wird. Ich verſtehe nur das Weib. Das kenne ich. Ich weiß, was es will, und was ihm fehlt, beſonders was ihm fehlt. 370 Der Knabe — — es regt mich auf. Ich will ſchlafen. Ich habe gewiß lange geſchlafen. Ich weiß nicht wie lange. Das hat mich geſtärkt. Ich bin ganz wach. Durch meine Adern ſtrömt Leben, übervolles. Ich bin beinahe geſund. Tauſend Gedanken und Bilder kommen und gehen, wie mit dem Blitzzug, ſo ſchnell. Den lieben Vater, ich ſehe ihn vor mir, ſo jung und lebensfreudig, und wie er dann ſo ſacht und betrübt zuſammenklappte. Und meine jungen Mädchenjahre, ſo brauſend, fieberhaft. Der komiſche Ewald de Born und der ſchöne Arthur, und daß ich den Benno heiratete! Ach Gott! Und ich ſuche, ſuche in meiner Erinnerung den Augenblick, zu dem ich hätte ſagen mögen: „Verweile doch, Du biſt ſo ſchön. Ich bin nur immer von denen geliebt worden, die ich nicht wieder lieben konnte. Fatum! Das Wort verfolgt mich, ſeitdem ich in Rom bin. Ach ja, liebe Mutter, ich habe in dem kalten, bläulichen Licht der Morgendämmerung gelebt. Wie gern hätte ich die Sonne aufgehen ſehen! (Wieder Ibſens Geſpenſter.) Ich bin etwas unruhig. Wohl doch ein wenig Fieber, aber lange nicht ſo arg, wie bei der Influenza. Damals verſchwammen hundert Töne, unheimliche, grauſige ineinander. Jetzt höre ich nur einen einzigen Ton — — was denn für einen? Ein großes Rauſchen! Vielleicht das Rauſchen des Windes, das 24* 371 der Morgenröte vorausgeht? Es muß bald Morgen ſein. Noch ein wenig ſchlafen. Habe geſchlafen. Heller Tag. Noch immer Muſik. Kirchenmuſik? Zu dumm! Es iſt ja ein Leierkaſten, gerade einer, wie auf unſerem Hof in Berlin. Horch! Ja — er ſpielt: „Im Grunewald iſt Holzauktion.“ Alſo ein deutſcher Leierkaſten. Mir gehen die Augen über von der Holzauktion! Heimweh! Nach Dir! Die Heimat im Leierkaſten! Ich muß weinen! weinen! Ich habe ſo bitterlich geweint und dann wieder lange im Halbſchlaf gelegen. Ich habe geträumt. Mir war's, als flüſtere der Arzt mit Jolante, und als hörte ich das Wort: hoffnungslos. Und dann ein leiſes Weinen. Aber wirklich nur ein Traum. Sie war ja ganz lächelnde Heiterkeit, die liebe Jolante, als ſie an mein Bett kam. Ich ſterben! Lächerlich! Unmöglich. Stark fühle ich mich, unſterblich ſtark. Ein Strom von Leben brauſt mir durch das Blut. Feuerzauber, Wal⸗ kürenritt! Hojotoho! Hojotoho! Wenn es aber doch der Tod wäre, der ſo wild und ſtürmiſch bei mir anklopft? Ich glaube es nicht! Ich glaube es nicht! Ich weiß aber doch — — nichts weiß ich, nichts. Traute, die ſtarb ſo ſelig, ſo poetiſch mit einer großen Illuſion und einem großen Glauben. Ich ſtürbe ſo gewöhnlich, ſelbſt im Sterben ohne jede Originalität. Am Kindbettfieber, von einem Leier⸗ kaſten accompagniert. Und wäre das ein Troſt, liebe 372 Mutter, daß ich nun doch nicht wie Ella Ried drauf⸗ ginge. Was war das für ein dummes Schreckgeſpenſt. Das ganze Leben iſt voll von ſolchen Geſpenſtern, Phantomen, wachen Träumen. „Und ſelbſt die Träume ſind ein Traum. Calderon, nicht? Und im Traum zerronnen auch mein großer Glaube, der Glaube an das Kind. Ich wollte doch keinen Knaben! Mutter, liebe Mutter, ich habe ja gar nicht wirklich an das Kind geglaubt. Ich habe nur daran glauben wollen. Und müßte ich jetzt ſterben, ich ſtürbe für einen Aberglauben, für das Kind, für den kleinen Gott, den ich mir ſelbſt fabriziert habe. Und nun — nevermore — never- more! Und morgen kommt Kunz. Ich habe ihn lieb. Es hätte keinen Sinn, wenn ich jetzt ſtürbe, keinen Sinn! Hatte es denn einen Sinn, daß ich lebte? Aber ich will leben! Wieder geſchlafen. Das Rauſchen! das große Rauſchen! von fern her, von fern hör' ich's klingen — Memnonsſäulen? Kennſt Du die Inſchriſt über dem Tempel der Iſis? „Ich bin alles, was da iſt, was da war und was da ſein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.“ Iſt das vielleicht jeder Menſch? Ich auch? Und meinen Schleier — — fort damit! Er macht die Augen trübe. In die Sonne will ich ſehen. Feuer⸗ zauber! Walkürenritt! Hojotoho! 373 Ich will leben! leben — — voluntas regia — das iſt mein königlicher — — Jolante an Frau Dalmar. Geliebte Mutter unſerer Sibilla, nur wenige Worte ſchicke ich der Depeſche nach. Faſt mit dieſen Zeilen zugleich bringen wir Ihnen die Aſche der holdeſten und unglückſeligſten aller Frauen. 374 Moderne Romane. In unſerem Verlage erſchienen ſoeben: Aus guter Familie. Leidensgeſchichte eines Mädchens von Gabriele Reuter. Geh. M. 4.—. „In der deutſchen Romanlitteratur, die Jahre hindurch and Verſumpfen war, regt es ſich wieder von friſchen und ſtarken Talenten. Zu den bedeutendſten neueren Erſcheinungen auf dieſem Gebiete gehört ohne Zweifel Gabriele Reuter. Hätten wir nur einige Schöpfungen von dieſer Klaſſe mehr, unſere Romanproduktion brauchte nicht länger vor der franzöſiſchen, italieniſchen und nordiſchen Litteratur im Winkel zu ſtehen. Alles iſt an dieſem Buche bedeutend: Eigenart, Erfindung, Sprache, Gedankenwelt. Gabriele Reuter beſitzt den Mut der Wahrheit in ganz ungewöhnlichem Maße. Ihre kleine Agathe iſt nicht der niedliche Wildfang, der mit kurzem Röckchen und plapperndem Munde durch die Erzählungen für die reifere Jugend tollt, als artiges Kind oder allenfalls als enfant terrible geſchildert, ſondern das werdende Weib mit ſeiner frühreifen Neugier, ſeinem noch kindiſchen, aber, weil unbehütet, gefährlichen Sehnen und Be⸗ gehren. Es fällt Gabriele Reuter nicht ein, im Romane päda⸗ gogiſche Forderungen zu ſtellen, aber durch die kühne An⸗ ſchaulichkeit ihres Gemäldes klingt es wie ein Weheruf über die verkehrte Einſeitigkeit unſerer Erziehung. Eltern, die ihre Kinder anders lieben, als mit der banalen „Elternliebe“, ſollten dieſes Buch leſen, und die vorurteilsfreien Verſtändigen unter ihnen — freilich auch nur dieſe — werden mehr daraus lernen können, als aus den ſchönſten Traktaten über Kindererziehung. — — Es iſt mehr als ein gutes, es iſt ein großes Buch, mit dem Gabriele Reuter die deutſche Leſewelt beſchenkt hat. Möge ſich dieſe der Gabe würdig erweiſen. Aus einer umfangreichen Beſprechung in der Breslauer Morgenzeitung. Ferner Heinrich Emanuel. Die Geſchichte einer Jugend von Mathieu Schwann. Geh. M. 3.50. „ . . . Die letzten litterariſchen Erſcheinungen haben manch Intereſſantes hierzu beigebracht. Das Bedeutendſte davon iſt der große Roman, mit dem ein bis dahin Unbekannter glänzend und hoffnungsvoll auf den Platz tritt, der Roman: „Heinrich Emanuel, die Geſchichte einer Jugend“, von Mathieu Schwann. Das iſt eine Erziehungs⸗ und Entwickelungsgeſchichte, die ſich vor allen in den Partien der Kinderjahre neben den bedeutendſten Vorbildern ſolcher Kunſt, dem Simpliziſſimus, Kellers grünem Heinrich, Raabes Hungerpaſtor, Boz Copperfield ſehen laſſen kann. Wie ſie alle, lehrt es Erfurcht vor dem Kind, ein Hinein⸗ fühlen in ſein Vorſtellen, und es iſt in ſeiner reinen, objektiven Kunſt, die nie pädagogiſch auftritt, nicht nur ein ſtark anteil⸗ weckendes Erzählungswerk, ſondern auch gleichzeitig indirekt, und darum um ſo wirkſamer, ein Erziehungs⸗Lehrbuch mit lebendigem Beiſpiel. ¹ (Illuſtr. Frauen⸗Zeitung.) „, . . . Es iſt ein Buch für Verſtehende, ein Buch für ſolche, die gerne feineren Regungen nachſpüren, die ein Ohr für das Pochen von Kinderherzen, ein Auge für die mählichen Ver⸗ änderungen der Oberfläche der Dinge und einen Sinn für die Quellen des Lebens haben. Jene, die die harmoniſche Schön⸗ heit und geſunde Natürlichkeit des Van Dykſchen Gemäldes ver⸗ ſtehen, werden dieſelben Eigenſchaften an dieſem Buche zu würdigen wiſſen und ihnen allen wird ſeine Lektüre eine hohe Freude bereiten.“ (Frankfurter Zeitung.) „, . . . Ein intereſſanter pädagogiſcher Roman, der in der Form einer Selbſtbiographie eine Reihe von Mißſtänden im Erziehungsweſen aufdeckt und den Eltern nachdrücklich ans Herz legt. Mag die Erzählung auch ſtellenweiſe etwas breit erſcheinen, ſo wirkt das Ganze doch eindringlich und lebenswahr. Der Verfaſſer giebt zweifellos eigene Empfindungen und Erlebniſſe wieder. Nur zu wahr iſt, was er über die beklagenswerte Trennung der Schule vom Leben ſagt, welche dem Schüler „nicht mehr als notwendige Durchgangsſtufe und Vorbereitung zum Leben, ſondern als eine traurige Zwangs⸗ und Dreſſuranſtalt erſcheint, die zum Leben in gar keiner oder in höchſt oberflächlicher Beziehung ſteht. Im ganzen ein tief durchdachtes und be⸗ deutendes Buch. (Bazar Nr. 46.) Druck von Greßner & Schramm in Leipzig. S. FISCHER VERLAG, BERLIN W. Moderne Dramen. Edvard Brandes. Ein Beſuch. Schauſpiel. Geh. M. 1 — Zuliane Dérn, Es fiel ein Neif. Drama. Geh. M. 0.75 Juliane Dérn, Die ſieben mageren Kühe. Komödie. Geh. M. 2.— Mar Ureyer, Drei. Drama. Geh. M. 1 50 Mar Dreyer, Winterſchlaf. Drama. Geh. M. 2 — Edmond und Jules de Gonronrt, Henriette Maréchal. Ueberf von Fritz Mauthner. Schauſpiel in 3 Akten. Geh. M. 1 — Carl Hauptmann, Marianne. Schauſpiel. Geh. M. 2 — Gerlart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang. Soz. Drama. 6. Aufl Gerhart Hanptmann, Das Friedensfeſt. Eine Familienkataſtrophe Bühnendichtung. 3. Auflage. Gerhart Hanptmann, Einſame Menſchen. Drama. 6. Auflage. Gerhart Hanptmann, Die Weber. Schauſpiel aus den vierziger Jahren. 17. — 18. Auflage. Gerhart Hauptmann, De Waber. (Dialekt⸗Ausgabe der „Weber“. 2. Auflage. Gerhart Hauptmann, College Crampton. Komödie. 3.—4. Aufl. Gerhart Hanptmann, Der Biberpelz. Eine Diebskomödie. 3. bis 4. Auflage. Gerhart Hauptmann, Hanneles Himmelfahrt. Eine Traumdichtung 3.—4. Auflage. Jeder Band geh. M. 2.—, geb. M. 3.—. Gerhart Hauptmann, Florian Geyer. 4. Auflage. Geh. M. 4.—. Geb. M. 5 50 Gerhart Hauptmann, Die verſunkene Glocke. Ein deutſches Märchen⸗ drama 9.—12. Auflage. Geh. M 3.—, geb. M. 4.50. Otto Erich Hartleben, Hanna Jagert. Komödie. Geh. M. 2.—. Otto Eria Hartleben, Angele. Komödie. Geh. M. 0.75 Otto Erich Hartleben, Ter Froſch. Geh. M. 1.— Otta Eriaf Hartleben, Die Erziehung zur Ehe. Satire. M. 2.—. Otto Erich Hartleben, Ein Ehrenwort. Schauſpiel. Geh. M. 2 — Otta Eric Hartleben, Die ſittliche Forderung. Geh. M. 1.50. Georg Hirſchfeld, Mütter. Schauſpiel. 2. Auflage. Geh. M. 2. —. 6rora Hirſchfeld, Zu Hauſe. Ein Akt. Geh. M. 1.—. Moritz Heimann, Weiberſchreck. Luſiſpiel. Geh. M. 1 —. Hollaendrr-Iand, Die heilige Ehe. Schauſpiel. Geh. M. 2.—. Manrice Maeterlindr, Prinzeß Maleine. Drama. Geh. M. 2.—. Ernſt Rosmer, Dämmerung. Schauſpiel. Geh. M. 2.—. Ernſt Rasmer, Königskinder. Ein deutſches Märchen. Geh. M 2.—. Ernſt Rosmer, Tedeum. Komödie. Geh. M. 2 —. Johs. Schlaf, Meiſter Oelze. Drama. Geh. M. 2.—. Arthur Schnitzler, Anatol. Geh. M. 2.50 Arthur Schnitzler, Das Märchen. Geh. M. 1.50 Arthur Schnitzler, Liebelei. Schauſpiel. 2. Auflage. Geh. M. 2.—. Eraf Iro Colſtoi, Früchte der Aufklärung. . Geh. M. 1.—. Emile Zola, Naturaliſtiſche Dramen. Inhalt: Thereſe Raquin. — Renée. Geh. M. 1.50. Werhe von John Henrn Mackan. Moderne Stoffe. 2 Berliner Novellen.. Geh. M. 2.—, geb. M. 3.—, Schatten. Novelliſtiſche Studien. Geh. M. 2.—, geb. M. 3.—. Die Menſchen der Ehe. Geh. M. 1.50, geb. M. 2.50. Die letzte Pflicht. Eine Geſchichte ohne Handlung. M. 2.—. Albert Schnells Untergang.. . Geh. M. 2.—. Han Plaing Eimaan. Geh. M. 1.50. S. FISCHER VERLAG, BERLIN W. Moderne Romane, ovellen 2c. leopold Andrian, Garten der Erkenntniß. Geh. M. 1.— Peter Altenberg, Wie ich es ſehe. Geh. M. 3.—, geb. M. 4.— Herm. Bahr, Dora. Wiener Geſchichten. .. Geh. M. 2.— Herm. Bahr, Neben der Liebe. Sittenroman. Geh. M. 3.— Herur. Bahr, Caph. Novellen. Geh. M. 2.— Carrn Bracvogel, Alltagsmenſchen. Roman. Geh. M. 3.50 Fedor Voſtojewski, Der Idiot. Roman in 3 Bdn. Geh. M. 6.— Fedor Voſtojewshi, Ein Noman in neun Briefen. Geh. M. 1.50 Guſt. Falke, Aus dem Durchſchnitt. Roman. Geh. M. 2.— Gabr. Finnr, Die Kinder des Doktor Wang. Roman. Geh. M. 3.— Arne Garborg, Frieden. Roman. Geh. M. 4.—, geb. M. 5.— Adine Gembera, Morphium. Novellen. Geh. M. 3.— ädine Gemberg, Aufzeichnung. einer Diakoniſſin. Roman. Geh. M. 3.— Fannie Gröger, Adhimulcti. Geh. M. 1.50 Fannie Gröger, Himmelsgeſchichten. Geh. M. 2.— Gerlart Hanptmann. Der Apoſtel. Novelliſtiſche Studien. 3.—4. Auflage. Geh. M. 1,50, geb. M. 2.50 Iul. Hart, Sehnſucht. Eine Liebesgeſchichte. M. 2.—, geb. M. 3.—. Otto Erich Hartleben, Die Serenyi. Zwei verſchiedene Geſchichten. Geh. M. 1.—. Otta Ericz Hartleben, Die Geſchichte vom abgeriſſenen Knopfe 4. Auflage. Geh. M. 2.—. Gtto Eric Hartleben, Vom gaſtfreien Paſtor. Geh. M. 2.—. Otto Eria Hartleben, Meine Verſe. Mit einem Portrait des Dichters. Geh. M. 3.50, geb. M. 5.—. Georg Hirſchfeld, Dämon Kleiſt. Nov. Geh. M. 2.—, geb. M. 3.—. Felir Hollaender, Jeſus und Judas. Ein moderner Roman. 4. Auflage. Geh. M. 4. —, geb. M. 5.—. Felir Hollaender, Magdalene Dornis. Ein moderner Roman. 4. Aufloge. Geh. M. 4.—, geb. M. 5.—. Felir Hollaender, Frau Ellin Röte. Aus dem Leben einer jungen Frau. 4. Auflage. Geh M. 4.—, geb. M. 5.—. Felir Hollaender, Sturmwind im Weſten. Berliner Roman. 7. Auflage. Geh. M. 4.—, geb. M. 5.—. Hans and, Mutterrecht. Eine Novelle. Geh. M. 1.—. Hans Iand, Die Nichterin. Roman. Geh. M. 3.50, geb. M. 4.50. Hans Land, Die Tugendhafte. Humor. Novellen. Geh. M. 2.—. Elsbeth Mener, Das Drama eines Kindes. Geh. M. 1.—. Peter Aanſen, Eine glückliche Ehe. 2. Auflage. Geh. M. 2.—. Peter Hanſen, Maria. 2. Auflage. Geh. M. 2.—. Peter Hanſen, Julies Tagebuch. Roman. Geh. M. 3.50. Peter Hanſen, Gottesfriede. Roman. gy j712 Geh. M. 3.—. Etanislam Przybyszewshi, Vigilien.“¹¹— Geh. M. 1.50. Gabriele Reuter, Aus guter Familie. Leidensgeſchichte eines jungen Mädchens. Roman. . Geh. M. 4.—. Ernſt Rosmer, Madonna. Novellen. Geh. M. 2.—, geb. M. 3.—. Rudolph Famidt, Novellen. Geh. M. 3.—, geb. M. 4.—. Arthur Schnitzler, Sterben. Novelle. Geh. M. 2.—, geb. M. 3.—. Johs. Schlaf, In Dingsda. Geh. M. 2.—, geb. M. 3.—. Mathien Schwann, Heinrich Emanuel. Roman. Geh. M. 3.50. Druck von A. Seydel & Cie., Berlin C., Neue Friedrichſtr. 18.