Yx 37 146 Schwanenlieder Novellen von Hedwig Dohm S. Fiſcher, Verlag, Berlin P1906.921 Schwanenlieder Novellen von Hedwig Dohm Berlin 1906 S. Fiſcher, Verlag Alle Rechte, insbeſondere das der Überſetzung, vorbehalten. Ex Biblioth.Regia Berolinenſi. Yx 37 146 312070 Inhalt Seite Ein Schwanenlied . . . . . . . . . . . . . . 7 Agonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Benjamin Heiling . . . . . . . . . . . . . . 221 Ein Schwanenlied Im Jahre 1903, an einem Herbſtmorgen, wurde in dem Gartenhaus einer abgelegenen Straße der Großſtadt ein Ehepaar tot aufgefunden: der Bildhauer Andreas Hubertus und ſeine Gattin. Der Anblick der Dahingeſchiedenen war von pla⸗ ſtiſcher Schönheit. In antiken Sarkophagen (der Bildhauer hatte ſie einſtmals von Italien heimge⸗ bracht) ruhten ſie. Die Köpfe auf feines, weißes Linnen gebettet. Ein faltenreiches Gewand von demſelben Stoff hüllte die tote Frau ein. Ein weiter, langer Schleier floß an ihr nieder. Durch den feinen Schleier hin⸗ durch ſah man, daß der Mund ein Lächeln feſtgehalten, daß die langen, goldblonden Wimpern einen leichten Schatten auf die marmorweißen Wangen warfen. Wer ſie ſah, hatte den Eindruck, daß dieſe Frau unbeſchreib⸗ lich lieblich geweſen ſein mußte. Der Bildhauer hatte wohl den Tod der Gattin ab⸗ gewartet, um ſie ſo liebevoll zu betten und ihr die Augen zuzudrücken. Dann erſt hatte er — dem An⸗ ſchein nach ſchon im Sarkophag liegend — das ſchnell⸗ wirkende Gift getrunken. Am Boden neben ihm lag das leere Fläſchchen. Er hatte einen herrlichen Kopf, der jetzt in ſeiner Farbloſigkeit, in der ſcharfen Zeichnung der Formen wie gemeißelt erſchien. Der Stoff, den er um ſich geſchlungen, ließ den Oberkörper frei. In ihrer weißen, reinen Schönheit glichen die Toten in der Tat griechiſchen Marmorbildern. Das Atelier des Künſtlers hatte in der letzten Zeit verwahrloſt ausgeſehen. Der abgegrenzte Raum, in dem die Toten aufgebahrt waren, machte jetzt den Eindruck einer Kapelle. Weiße Lilien und Palmen. Im Hintergrunde Marmorbilder. In einer alten, metallenen Schale, die vom Plafond niederhing, brannte eine rötliche Flamme. Dunkle Vorhänge ſchloſſen das Tageslicht ab. Offenbar hatte der Künſtler mit dieſer fürſtlichen Aufbahrung ein letztes Kunſtwerk ſchaffen wollen. Unbegreiflich erſchien dieſer Doppelſelbſtmord. Die beiden hatten in einer vollkommen glücklichen Ehe gelebt. Nahrungsſorgen ſchienen ausgeſchloſſen. Zwar waren dem Bildhauer in den letzten Jahren wohl kaum noch größere Aufträge zugegangen, er mußte aber ein Kapital zurückgelegt haben. Seinerzeit war er mit Aufträgen überhäuft worden. Und das Paar hatte nicht verſchwenderiſch gelebt. Außerdem befand ſich ihr Sohn, ein junger Mann von einwandfreiem Charak⸗ ter, in einer Vermögenslage, die ihm erlaubt hätte, ausreichend für ſeine Eltern zu ſorgen. Die Frau kränkelte ſeit einigen Jahren, und dieſer 10 Kränklichkeit und der vornehmen Reſerviertheit des Künſtlers mochte es zuzuſchreiben ſein, daß das Ehe⸗ paar allmählich etwas vereinſamte. Ein Kollege, der den Bildhauer wenige Tage vor ſeinem Tode im Atelier aufgeſucht, traf ihn mit dem Meißel in der Hand, dem Anſchein nach im Vollbeſitz ſeiner geiſtigen und körperlichen Kräfte. So blieb der Tod ein Rätſel. Nur einer wußte des Rätſels Löſung. Man hatte auf dem Tiſch der Werkſtatt ein verſiegeltes Büchelchen gefunden. Es war an einen Schüler des Bildhauers adreſſiert, der ſeit einem Jahrzehnt in Rom lebte. Ein paar Briefzeilen lagen in dem Buch. Sie lauteten: „Dich, mein junger Freund, grüßt ein dem Tode Geweihter. Das kleine Buch — mein letzter Gruß. Als ich die Blätter beſchrieb, dachte ich nicht daran, daß ein Menſch ſie leſen ſollte. Du ſiehſt, ich habe meinen Entſchluß geändert. Ich habe Dich lieb gehabt, und ich möchte, daß Du verſtändeſt, warum ich es tat. Immer haſt Du mich Meiſter genannt. Damit die Schüler Meiſter werden, gehen die Meiſter. Um anderswo wieder Schüler zu werden? Vielleicht! Und dies der Inhalt des Buches: „Ich ſchreibe. Warum? Weil ich nicht arbeiten kunn, weil ich einer quälenden Unruhe Herr werden will. Unwillkürlich ſehe ich mich um, ob auch niemand ſieht, was ich hier tue. — Ein Künſtler, der den Meißel 11 mit der Feder vertauſcht! „Bilde, Künſtler, rede nicht!“ Und nun ſchreibt der arme Tropf gar. Ich ſchreibe auch, um mir Rechenſchaft über meinen krankhaften, anormalen Zuſtand zu geben, dahinter zu kommen, ob mein Unvermögen ein akutes, heilbares oder ein chroniſches, unheilbares iſt. Der Arzt hat mich unterſucht. Mir fehlt eigentlich nichts, faſt nichts. Eine Enervation des Herzens, Folge geiſtiger und körperlicher Überarbeitung. Nerven! Wird ſchon wieder werden! Er riet mir eine auffriſchende Reiſe, ans Meer oder in die Berge. Ich kann ja nicht. Monikas Mit⸗ reiſen iſt ausgeſchloſſen. Ich laſſe ſie nicht allein. Seit wann datiert dieſe Nervendepreſſion? Vor zwei — es können auch drei oder vier Jahre her ſein — begann es, langſam, ſprunghaft. Hier und da noch eine inſpirierte Stunde, aber immer mit der Empfin⸗ dung: es gelingt dir nicht. Dann Wochen abſoluten Nichtkönnens, und nun ſind's Monate — Monate! Und ich habe Eile — Eile! Noch ſo viel muß ich fertig bringen. Ideen — ſie jagen ſich in meinem Hirn — ſie rufen, ſie drohen, ſie klagen. Ihren Leib for⸗ dern ſie von mir. Ich gehe jeden Morgen, wie ich es gewöhnt bin, in meine Werkſtatt und bleibe darin — ſtundenlang. Monika denkt, ich arbeite. Und ich nehme auch ge⸗ wohnheitsmäßig die Hülle von der Tonmaſſe, und ich knete, knete an dem Ton herum, mit zuckenden Fingern. Umſonſt! 12 Ich werfe alles wieder in einen Klumpen zuſam⸗ men, und hier auf meinem Pantherfell, auf der Ruhe⸗ bank, ſitze ich, und ich grüble. Mein Wille, mein Wollen iſt ſtark, wie nur je. Der Weg zur Tat, wer — was verſperrt ihn? Ob es Monika iſt? Das Leid um ſie, das an mir zehrt? Ich denke jetzt oft über ſie nach, mit Gewiſſens⸗ unruhe, als hätte ich ſie früher in ihrer Eigenheit nicht begriffen, die Brücke zu ihr nicht gefunden, wohl auch gar nicht geſucht. Sie iſt wie ein Stück ſchöner Natur, das auf dem Wege zur Menſchwerdung allzu lange in einer Blume ſtecken geblieben iſt. Da hat ſie ihren Duft bewahrt, aber auch ihre vegetative Art des Seins. Ein ſo ſüßes, weiches, herzgewinnendes Geſchöpf, faſt ohne Selbſtbewußtſein, undiszipliniert, ungeord⸗ net, verſchwimmend in all ihren Vorſtellungen, die ſich faſt niemals mit der Wirklichkeit decken. Wenn Dramatiker Träume, Viſionen auf der Bühne veranſchaulichen wollen, pflegen ſie die Schau⸗ ſpieler hinter einem Gazeſchleier agieren zu laſſen. Daran erinnert Monika, als bliebe ſie immer hinter einem Gazeſchleier, auch für mich. In früheren Jahren fühlte ich zuweilen eine fcindliche Ungeduld, die ſich gegen ihr verſchleiertes Weſen richtete. Ihr Hinwegträumen von aller Wirk⸗ lichkeit ſchien mir Dumpfheit, ihre Senſitivität patho⸗ logiſch. Ich hätte ſie rütteln mögen: „Du — ſpring doch auf! Sei einmal übermütig. Tanze! Schmiege 13 dich leidenſchaftlich in meine Arme! Sei eiferſüchtig! Du biſt ja langweilig — Nachtwandlerin du!" — Und nun ſehe ich, wie heldenhaft ſie ihr Leiden trägt. Über ihre Geſichtszüge hat ſie eine ſolche Ge⸗ walt, daß ſie ſelbſt bei den heftigſten Schmerzen ſich nicht verzerren. Und ſie weiß nicht, daß ſie todkrank iſt. Ich liebe ſie und habe ſie immer geliebt. Eine Ergänzung oder Gefährtin aber war ſie mir niemals. Mein Weib — kaum. In ihrer rührenden Hilfloſigkeit eher mein Kind. Ich ſah ſie zum erſten Male in einem wehenden blauen Schleier. Sie trug ein ſonderbares Kleid, das ſehr faltenreich war und zwiſchen zartem Roſa und Grau ſchillerte. Das dunkelblonde Haar rollte in wei⸗ chem Gelock ihr frei über die Schultern. Ihre grauen Augen haben goldige Wimpern. Immer ſah ſie aus, als ob ein Licht von innen ſie überhauchte. Und ſo iſt ſie geblieben, auch mit der Vorliebe für wehende blaue Schleier und für zartſchillernde, faltenreiche Kleider. Das, was von draußen an ſie herantritt, ſucht ſie abzuwehren. Unter den Anforderungen des täglichen Lebens leidet ſie. Unpraktiſch iſt ſie, wie ein Menſch es nur ſein kann. Immer hat ſie Not mit den Dienſt⸗ boten. Ihre unfreundlichen oder unzufriedenen Mie⸗ nen, ihre gelegentlichen derben Ausdrücke empfindet ſie als Kränkungen, ſie nimmt ſie ſich zu Herzen. Drollig genug iſt ihre Art, die Leute zu behandeln. Neulich, am Vormittag, klingle ich nach dem Stu⸗ benmädchen. Es kommt nicht. Ich gehe hinaus und 14 finde die Anna in der Küche an ihren Winterſtrümpfen ſtrickend und dabei „Jörn Uhl“ leſend. „Monika, haſt du ihr das erlaubt? Sie ſieht ſchüchtern bittend zu mir auf. „Aber, Andreas, der „Jörn Uhl“ iſt doch ein ſehr gutes Buch. überhaupt iſt die Anna nie da, wenn man ſie braucht. Monika entſchuldigt ſie: die arme Anna litte ſo an Kopfſchmerzen und fühlte ſich nur im Freien wohl, da wäre es doch hartherzig, ſie nicht ins Freie gehen zu loſſen. „Wo ſie nicht ſelten bis 11 Uhr nachts bleibt.“ „Das darf ſie, Andreas. Als ich ſie mietete, da hat ſie gleich geſagt: „Ich bin ſozial, gnädige Frau, ich komme nicht um 10 Uhr nach Hauſe."" „Aber ganz unſozial ſcheint es mir, daß ſie geſtern total angebrannten Reis auf den Tiſch brachte.“ Monika ſenkt beſchämt den Kopf. Sie hätte die Anna auch tüchtig geſcholten. „Anna,“ habe ſie zu ihr geſagt, „Sie wiſſen doch, daß mein Mann Angebrann⸗ tes nicht gern ißt.“ Die Anna hat aber gemeint: „An⸗ gebranntes wäre noch lange kein Beinbruch. „Und was haſt du ihr geantwortet? „Ja, da haben Sie wohl recht, Annd. Zuweilen hat Monika aber auch Launen, plötz⸗ liche Energien. Ich habe ſie oft ſo dringend gebeten, eine erſte ärztliche Autorität zu konſultieren. Nein, ſie will nicht, das Geſicht des in Frage ſtehenden Arztes iſt ihr antipathiſch. 15 Mit einer ihrer Freundinnen hat ſie vor Jahren den Umgang abgebrochen, weil ſie Zeuge war, wie ſie ihr Kind ſchlug. Als unſer Söhnchen ſich zum erſten Male in der Schule mit einem Mitſchüler raufte, weinte ſie bitter⸗ lich, daß ihr Kind ſo roh ſein konnte! Und ſie verzog das Söhnchen ſo grüindlich, daß — ach ja — nichts davon. Von Geld hat ſie keinen Begriff. Immer iſt ſie verſchwenderiſch geweſen. Sie kaufte immer dasjenige Koſtüm, das ſie am ſchönſten fand, gleichviel, ob es 50 oder 500 Mark koſtete. Dem Söhnchen ſchenkte ſie einmal ein enorm teures Spielzeug. Ich machte ihr ſanfte Vorwürfe; gleich wurden ihre Augen feucht. Ob ich es denn nicht ent⸗ zückend fände? Ob ſie etwa etwas Häßliches hätte kaufen ſollen? Ich bin eigentlich nicht krank, der Arzt ſagt es. Warum ſchlafe ich ſo ſchlecht? Iſt das der Grund meiner Kraftloſigkeit? Nein! — In der letzten Nacht ſchlief ich feſt und gut. Friſch, faſt freudig ging ich in die Werkſtatt: du wirſt arbeiten! Und ich packe die Tonmaſſe an mit einer Kraft, einer überflüſſigen, als gälte es den Widerſtand zu brechen, den ſie mir etwa leiſten würde. Nach einiger Zeit merke ich, ich bin nicht bei der Sache. Bei welcher anderen denn? Weiß ich's? Ein Verlieren in etwas Weites, Leeres, Unbeſtimmbares. 16 Ich werfe mich auf die Pantherpritſche und grüble wieder. Höre ich, daß jemand ſich dem Atelier nähert, ſo ſpringe ich auf und nehme den Meißel zur Hand. Ich ſchäme mich meines Unvermögens, ſelbſt vor dem Stubenmädchen. Das Grübeln macht mich noch dumpfer. Ich ver⸗ biete es mir. Meine Blicke ſchweifen im Atelier um⸗ her. Ich wundere mich. Hat es denn hier immer ſo ausgeſehen? So verfallen, ſo lieblos, als wäre, wer darin gehauſt, lange ſchon auf Reiſen oder verſtorben? Staub, Zerbrochenes, Verſtümmeltes! Der Löwenkopf da mit dem wütend aufgeſperrten Rachen — ſein Leib liegt am Boden, zerborſten. Ich komme mir wie eine Scherbe unter Scherben vor. Häßlich, häßlich dieſe Werkſtatt mit all den Ge⸗ rüſten und Geſtellen aus Holz und Stein, den Dreh⸗ ſtühlen, Leitern, den Säcken mit Gips. Und die lan⸗ gen, hölzernen Tiſche, die zerknifften, großkrempigen Hüte auf roſtigen Nägeln. Und am Boden die perſi⸗ ſchen Teppiche, einſt ſo farbenleuchtend, nun zertreten, beſchmutzt mit Gips und Ton, voll kahler Stellen, löche⸗ rig. Und der Fries in dem rieſigen Holzrahmen! Herrlich hob ſich von ſeinem feurigen Rotbraun der weiße Marmor ab. Mißfarbig und befleckt iſt er nun. Und dort im Winkel das Skelett und die Glieder⸗ puppe. Sie ſtarren ſich an, als hätten ſie ſich etwas zu ſagen. Iſt es hier erſt ſo häßlich geworden, ſeitdem ich Dohm, Schwanenlieder. 17 2 ſtumpf über alles wegſehe, als ginge es mich nichts mehr an? Wenn ich ein paar Schritte durch den Raum mache, höre ich förmlich den Staub rieſeln. — So rieſelt's und kniſtert's in uralten Ruinen, als wollte die Vergangenheit Geheimnisvolles mit uns flüſtern. Ich bin vor der Büſte unſerer kleinen Ruth ſtehen geblieben. In der zerbrochenen Vaſe das Roſenbukett — vertrocknet. Sonſt ſorgte ich dafür, daß immer friſche Roſe da waren. Nun ſchon lange nicht mehr. Nicht nur die Roſen ſind vergeſſen, auch das Kind ſelbſt. Die kleine Ruth iſt ganz tot. Verfluchte Depreſſion! Suche ihrer Herr zu werden. Das verſtaubte Gerümpel um mich her — doch nur Handwerkszeug. Siehe dorthin: die Abgüſſe deiner Werke! — Ich habe ſie lange betrachtet, intenſiv, mit geſpannter Neu⸗ gierde. „So redet doch! Redet! Warum bleibt ihr ſtumm?“ Warum ſeht ihr mich fremd an, als wäret ihr entfernte Bekannte, mit denen ich kaum noch auf dem Grüßfuß ſtehe? Etwa nicht wahr, daß ich euch mit Begeiſterung in der Seele empfing? Ein Gottesrauſch, als ich euch ſchuf? Oder nur ein Liebesrauſch? Staunen wir nicht oft, daß wir gerade für dieſes oder jenes Weib in Leidenſchaft entbrennen konnten? Iſt die Leidenſchaft gewichen, ſo erkennen wir, daß es ein unbeträchtliches Geſchöpf war, keiner tieferen Emp⸗ 18 findung wert. Ein Brennen des Bluts, das dem Gegenſtand, den es umflammte, erſt ſeinen roten Zau⸗ ber lieh. Oder war meine Kunſtbegeiſterung noch weniger? Eine Jagd vielleicht, voll heißer Luſt und Gier nach Beute, mag die Beute Ruhm, Geld oder wie ſonſt heißen? Oder noch Niedrigeres? — Nichts als die wohlig wärmende Glut, wie ſie auch den Proletarier durch⸗ ſtrömt, der mit Energie arbeitet, hackte er auch nur Holz? — Arbeitsfieber? Entladung exploſiver Blut⸗ körperchen? Iſt Gott in uns, wie der Buddhismus und andere Religionen lehren, war er der Meiſter, und ich der Geſelle, der nur ſeine Gebote ausführte — ſo hat er mich nun verlaſſen — mein Gott. Und ich ver⸗ folge den Fliehenden? Ob ich ihn einhole? Ich war bei Monika. Zuweilen kommt naive Weisheit von ihren Lippen, wie Funken aus einer Aſtralwelt; das iſt die Welt, an die ſie glaubt. Ihr Denken iſt wie ein Blühen aus der Seele. Ich traf ſie, den Kopf vorgebeugt, in der Haltung eines, der geſpannt lauſcht. „Hörſt du nichts, Andreas? „Nein, was ſoll ich hören? „Ein Klingen wie von ganz, ganz feinen Glocken oder Harfen. Ich höre es oft. Zuweilen iſt mir's, als ſtiegen die Töne aus meinem eigenen tiefſten Innern empor und wollten mir etwas ſagen, das mit Worten 2* 19 nicht zu ſagen iſt. Und dann wieder iſt's, als käme das Klingen aus weiter, weiter Ferne, und ich muß an die Legende von der verſunkenen Stadt denken, aus der in Mondſcheinnächten, um Mitternacht, die Glocken tönen.“ Und nach einer Pauſe füigte ſie nachdenklich hinzu: „Ich glaube, wir haben alle ſo viel Verſunkenes in uns, das in ſtillen Stunden heraufklingt.“ „Verſunkenes, Monika, ja, das habe ich auch. Meine Arbeitskraft iſt verſunken. Ich kann meine Werke nur noch denken, nicht mehr machen.“ Sie lächelte überlegen: „Es kommt wieder, Andreas. Weißt du es nicht — Erdreich, das lange allzu reiche Früchte getragen, muß zeitweiſe brach liegen. So iſt es auch mit dir. Die Felder werden wieder blühen und deine Schaffenskraft auch. Die Menſchen aber wollen immer alles beſſer machen als die Natur. Die ſchuf die Nacht zur Ruhe. Sie konnte nicht wiſſen, daß der Menſch ſie überliſten würde, indem er die Lampe erfand, die die Nacht ver⸗ treibt.“ „Aber Monika, tuſt du nicht Ähnliches? Du ſperrſt ja auch die Sonne aus.“ „O nein, ich tu' ihr nur ſchöne Gewänder um. Ich mag das Nackte nicht. Sieh' dich einmal um. Kommt ſie nicht in dieſem gedämpften bräunlichen Goldton zu mir wie eine Dichtung, etwa wie tiefe, dunkle Verſe von Nietzſche oder Stephan George? Sie zog die Vorhänge zurück. Dicht vor den Fen⸗ 20 ſterſcheiben waren kleine, faſt durchſichtige Gardinen von gelblichem Roſa angebracht. „Und nun iſt's ganz anders, nicht? Jetzt grüßt ſie mich — die Sonne — wie eine roſige Braut, zart, verſchämt, und doch freudig, hold und hell. Ich ſpüre beinah' Orängenblütenduft. Bin ich aber in übermütiger, genußſüchtiger Stim⸗ mung, ſo ſetze ich meine Butzenſcheiben, weißt du, die mit den verſchiedenfarbigen Glasquadraten, vor das Fenſter, und dann flimmert's und ſchillert's durchs Zimmer, zärtlich, feſtlich, üppig. Lauter Perlmutter⸗ glanz. Die Farben tanzen. Sie haben einen kleinen Rauſch. Sie ſind wie Blumen: Hyazinthen, Narziſſen, Reſeden, alles blüht durcheinander. Siehſt du, ſo mache ich mir immer Erlebniſſe mit der Sonne im Zimmer. Da ich doch nicht draußen ſein kann.“ Sie hätte Dichterin werden ſollen, meine Monika. Sie hat nie daran gedacht. Da dichtet ſie nun alles in ſich hinein. „Monika, und wenn mein ſchöpferiſches Vermögen für immer verſiegt wäre, niemals wiederkehrte? Sie ſah mich erſchrocken an. „Ja — dann . . müßte da nicht der König oder der Staat zu dir ſagen: Meiſter Andreas, mach' Feierabend. Auf Lorbeeren ausruhen — ein ſchönes Wort.“ — Und mit einem Anflug von Schelmerei ſetzte ſie hinzu: „Die Lorbeeren aber müßten aus purem Gold ſein, denn weißt du, dein Feierabend müßte eine wirkliche Feier ſein. 21 „Wie denkſt du dir eine ſolche Feier? „Hauptſächlich als Freiheit, frei von allen Tages⸗ und Arbeitspflichten. Du brauchſt nicht mehr wie zwviſchen Mauern zu einem beſtimmten Ziel zu gehen. Du kannſt abbiegen vom Weg, dahin, wo dich ein Ausblick, ein Ruheſitz, eine Blume lockt. Oder auch — es iſt, als hätteſt du nach langen Märſchen ein Schiff beſtiegen, mit dem du nun ſanft dahingleiteſt über ein blaues Meer, über dir der roſige Himmel. Und während du, weichgebettet, in träumender Ruhe liegſt, ziehen Ufer und Menſchen an dir vorüber; wunderſchöne Bilder, nichts zum Gebrauch, nur zum Genuß.“ „Möchteſt du mit auf dem Schiffe ſein, Monika? „Ach ja, aber ich bin ja krank.“ „Tröſte dich, Monika. Auch ich werde nie ein ſolches Luſtſchiff für invalide Künſtler beſteigen. Wir müſſen ja von der Kunſt leben.“ Monika ſchüttelte erzürnt den Kopf und wollte ſoſort die Geſellſchaftsordnung dahin ändern, daß der Staat jeden echten Künſtler — ſtandesgemäß natür⸗ lich — zu erhalten hätte, da ja doch die Kunſt zur Veredelung der Menſchen diene, und darum dürfen die Kunſtwerke auch nicht Einzelnen gehören, ſondern Allen, und damit ſie Allen gehören können, müßte der Staat ſie erwerben. „Und wovon ſie bezahlen, Monika? „Muß der Staatsbürger nicht für alles mögliche Abgaben entrichten? Warum nicht auch für die An⸗ 22 ſchaffung von Kunſtwerken? Iſt die Veredelung der Menſchen nicht ebenſo wichtig, wie etwa Wegebauten und Straßenbeleuchtung und vieles andere? Ich lachte meine kleine, kindiſche Monika aus. Sie wurde traurig, und nach einer Pauſe ſagte ſie leiſe, zögernd: „Ich werde an Erwin ſchreiben.“ Ich ſah, wie tief ſie errötete. Sie wußte ſo gut wie ich, daß für ſeinen eleganten Haushalt ſeine Ein⸗ nahmen kaum ausreichten. Und die Hauptſache: das Geld gehört Melanie, ſeiner Frau. Und die Schwie⸗ gertochter iſt ihr antipathiſch, in ſo hohem Grade, daß ſie ſich jedesmal überwinden muß, ehe ſie im Geſpräch mit ihr das „Du“ über die Lippen bringt. Sie wäre ſo phyſiſch, ſo ſehr, ſehr Weib. Und ihre Art, zu gehen, rauſchend und raſchelnd mit ihren Schleppklei⸗ dern, vertrüge ſie nicht. Und wenn ſie da wäre, fülle ſie immer das ganze Zimmer aus. Sie ſchrieb nicht an Erwin. 23 Als ich unſere Wohnung mietete, hatte ich nicht bemerkt, daß die Fenſter von Monikas Zimmer auf einen Friedhof gingen. Ich wollte gleich wieder kün⸗ digen. Sie litt es nicht. Friedhöfe hätte ſie ſehr gern. Sie behauptet, oft kleine Flammen über den Gräbern zu ſehen. Sie wiſſe ja, daß dieſe Flämmchen nicht etwa die Seelen der Verſtorbenen wären, aber die Vorſtellung, daß ſie es ſein könnten, ſei doch ſchön. Wenn ſie ſich nicht vor mir, vor meinem Skepti⸗ zismus fürchtete, würde ſie gern an die Geiſter der Verſtorbenen glauben. Hat ſie Grund zu dieſer Furcht? Mein Skepti⸗ zismus fängt an, in die Briiche zu gehen. Warum, fragte ich mich, haſt du oft über Monikas Geiſtviſionen gelächelt oder geſpottet? Sind die Ideen, die ich da in letzter Zeit in Goethe, in Nietzſche und vielen anderen Geiſtesgrößen geleſen habe, nicht viel wunderbarere Geiſterſcheinungen? Dieſe Gedanken, die losgelöſt von ihrer Geburtsſtätte, den Gehirnen längſt Vermoderter, eine Sprache mit mir reden, die mich erſchüttert, entzüickt. Leben wir denn nicht haupt⸗ ſächlich von und mit Geiſtern? Was wäre ich ohne Michel Angelo, ja ohne Rodin? Monika ſtellt ſich dieſe Vorgänge nur ſubſtanzieller vor. Meine arme Monika! Ihre Tage ſind gezählt. Niemand kennt ſie, und niemand nennt ſie. Ich will ihr einen Nekrolog in Marmor dichten, der durch Jahrhunderte von ihr reden ſoll. Ich grolle oft mit Marmor und Bronze, weil ſie gegen die Darſtellung des Seelenhaften ſich ſträuben. Und gerade das wollte ich! Gerade das! Mehr Seele, mehr Innerlichkeit in der Plaſtik. Gebt mir ein Ma⸗ terial, ſo geſchmeidig, durchſchimmernd, daß ich Ge⸗ bilde daraus ſchaffen kann, deren Herzen man pochen füihlt, denen man die leuchtenden Gedanken von der Stirn lieſt. Meunier iſt es gelungen, den Arbeiter bei der 24 Arbeit zu charakteriſieren. Und Rodin — ja — der hat ſeinen Skulpturen eine neue Beredſamkeit ver⸗ liehen, ſie fühlen, ſie glühen. Unter ſeiner Hand ge⸗ winnt der Marmor geiſtige Tranſparenz. Er iſt der Dramatiker der Plaſtik. Er hat die Pſyche in ſein Reich gezwungen. — Er — ein neuer Pygmalion, macht ſeine Galatheen lebendig. Und ich, Größenwahniger, ich wollte über ihn hinaus wachſen, noch feinere Nuancen der Seele dem Marmor abringen. Und nun, da ich an der Schwelle eines neuen Kunſttempels zu ſtehen glaube, lähmt mich — eine Nervendepreſſion. Und das Grabmal — es wartet. Und das iſt meine Idee dazu: „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag.“ (Von wem der Vers herrührt, weiß ich im Augenblick nicht.) Ein weiblicher Genius, Pſyche ſelber, mit einem Zypreſſenkranz auf dem Haupt; ſie trägt Monikas Züge. Die eine Hand ruht auf dem Sarg, wie mit ſanfter Beruhigung, eine ſchmeichelnde, lächelnde Hand. Mit der anderen hebt Pſyche den Schleier vom Haupt. Eine leiſe, ſeitliche Neigung des emporgerichteten Hauptes deutet an, daß ſie in die Tiefe horcht, während ihre Augen in weite Fernen ſich verlieren, hin zu den „Neuen Ufern“, im Blick ſeliges Weinen. In einem Blick von Marmor? Augen von Marmor ſchimmern nicht in Tränen, können den Rauſch transſzendentalen Entzückens nicht ausdrüicken. Könnte ich der Plaſtik neue Augen ausdenken! Unmöglich? Warum? 25 Die Geſtalt lebt in mir. Ich ſehe in ihr Monika vergeiſtigt, leiderlöſt, ſieghaft, im Licht des „Neuen Tages“. Einmal überraſchte ich Monika, als ſie weinte. Sie weint ſo leiſe, es iſt wie Tau, der aus einer Blume fließt. „Weinſt du, Monika, weil es ſo einſam um dich her iſt, weil du nicht ins Freie kannſt? Sie ſchüttelte den Kopf. — „Nein, ich liebe die Einſamkeit. Gerade, wenn Leute von früher bei mir ſind, dann komme ich mir verlaſſen vor, ſo abſeits, weil ich nicht mehr zu ihnen gehöre. Und ſie reden ſo laut und von ganz fremden Dingen. Es iſt immer, als brächten ſie mir ſchlechtes Wetter herein.“ „Aber ſo vieles andere mußt du entbehren, armes Kind.“ „Nicht vieles. Ich ginge wohl gern manchmal zur Kirche. Aber ich höre doch die Glocken läuten bis in mein Zimmer hinein. Die predigen und ſingen mir Frommheit ins Herz, und ich bin wie in der Kirche.“ Im Frühling brachte ich ihr den erſten friſchen Blü⸗ tenzweig nach Hauſe: „Damit du weißt, daß Früh⸗ ling iſt.“ „Siehſt du, das iſt wie mit dem Kirchgang. Kann ich zu dem Frühling nicht heraus, du bringſt ihn mir herein. Der Blütenzweig iſt mir ſo viel wie der ganze Park. Draußen, da ſind Duft und Farbe, Licht und Luft ſo verſchmolzen, das war immer nur ſo ein allge⸗ 26 meines, ſinnliches Frühlingsfreuen. In dieſem Zweig, da gehört mir alles viel intimer. Ich genieße jedes Staubfädchen und Blättchen, ja, jedes kleine Zäckchen am Blatt freut mich. Und ich entdecke immer eine neue Schönheit daran.“ An einem Frühlingsabend fand ich ſie am Fenſter, im Dunkeln, hinüberſtarrend zum Friedhof. Ich wollte Licht anzünden. „Nein, laß, ich bin ſo gern im Dunkeln. Wenn die Lampe brennt, ſpüre ich den Blumenduft nicht, der vom Kirchhof herkommt. Ich meine, die Toten haben teil an der Frühlingsfeier. Weißt du, die Toten und die Menſchen, die lange krank liegen, wie ich, ſind ver⸗ wandt, wahlverwandt, meine ich.“ Sie legte ihre durchſichtigen Hände auf meinen Arm: „Aber natürlich, das ſind nur Phantaſien — du mußt nicht lachen — ſie ſind gar nicht ſchwermütig, eher heiter und ſchön. Du weißt ja, ich freue mich auf den Tod.“ Es iſt, als gehörte das Krankſein zu ihr, ſo ſtill und ergeben trägt ſie es. Sie verzehrt ſich wie ein Licht, langſam, langſam, aber bis zuletzt wird noch ein zartes Leuchten von ihr ausgehen. Nur von der Pflegeſchweſter weiß ich's, daß ſie zuweilen ſchwer leidet. So oft ich aber ins Zimmer trete, wendet ſie mir ein helles Geſicht zu. — „Wie kommt das?“ fragte ich die Pflegerin. Sie wollte erſt mit der Sprache nicht heraus. Dann erfuhr ich's: in einem gegebenen Moment richtet ſich Monika plötz⸗ 27 lich mitten aus ihren Schmerzen auf und erſchmeichelt ſich eine Morphiumeinſpritzung. Täte ſie ihr nicht den Willen, ſo gebärde ſich die Kranke ganz verzweifelt. „Warum es auch verhindern,“ fügte ſie leiſer hinzu, indem ſie mich traurig und verſtändnisvoll anſah. Aber ſie wiſſe doch nicht, wann ich in ihr Zim⸗ mer kommen würde, wendete ich ein. Doch, ſie wiſſe es. Minutenlang vorher fühle ſie mein Nahen. Ja, Monika iſt eine Senſitive. Sie hat die Idio⸗ ſynkraſien und die ſtarken Sympathien und Anti⸗ pathien der Senſitiven. Unter anderem iſt ihr das Lampenlicht unangenehm, ſie findet es vulgär. Es ſcheuche auch die Dunkelheit nur in die Winkel, aus denen es dann unheimlich herauskröche. Ganz finſter darf es aber in ihrem Zimmer auch nicht ſein. Sie ſchließt nachts die Vorhänge nicht, ſo daß der Later⸗ nenſchein von draußen her an den Wänden oder an der Decke zitternde Lichter malt. Mit intenſiver Aufmerk⸗ ſamkeit verfolgt ſie das Spiel der Schattenzweige an der weißen Decke ihres Zimmers, wie ſich die Schatten — je nach dem Winde draußen — in ſanftem Rhyth⸗ mus auf und ab wiegen oder aber in wilden Ver⸗ ſchlingungen durcheinander ſauſen. „Nicht merkwüirdig,“ ſagt ſie, „ich fühle den Wind nicht und höre keinen Laut, und doch iſt es ganz wie wirklich. Ich höre Muſik, die nicht da zu ſein ſcheint, ich ſehe Farben⸗ und Lichtgeſtalten, die auch nicht da zu ſein ſcheinen. Könnten ſie aber nicht da ſein, iſt das nicht ſogar wahrſcheinlich? 28 Und als ich lächelnd den Kopf ſchüttelte, fuhr ſie immer eifriger fort: „Unter welchem Rieſendonner muß der Erdball ſich um die Sonne drehen, und wir hören es nicht. Unſer Blut rauſcht durch den Körper, und wir hören es nicht. Und ſiehſt du bei den Nebelſtreifen über dem Friedhof — da muß ich an die Milchſtraße am Himmel denken. Für gewöhnliche Augen auch nur ein Nebel⸗ ſtreif. Der Aſtronom aber, der durch Rieſenfernrohre guckt, weiß, daß es unzählige kleine Sterne ſind. Könnte es nicht Menſchen geben, die in der Seele ſo ein verborgenes Fernrohr haben, und die im wallenden Äther und in den Nebelſtreifen dort drüben . . . Sie brach ab, erſt nach einer Pauſe fuhr ſie fort. überhaupt wären oft Menſchen und Dinge in ihrer Vorſtellung nicht ſehr verſchieden. Z. B. ſchwarze Stiefmütterchen mit hellen Kelchäuglein erſchienen ihr immer wie Waiſenkinderchen in Trauerkleidern. Sie erinnere ſich einer Spazierfahrt im Spätherbſt. An einem ſchnellſtrömenden Bach kam ſie vorbei. An ſeinem Rand ſtanden verkrüppelte Weidenbäume, eigentlich nur rötliche Stümpfe, die dürren Zweige mit ſpärlichen, fahlen Blättern emporgeſträubt. Sie duckte ſich im Wagen. In den Weidenſtümpfen ſah ſie Furien mit rötlich geſträubtem Haarſchopf. Und die Melanie, die ſähe ſie immer wie ein flottes Schiff mit geblähten Segeln. „Siehſt du mich auch als ein Ding, Monika? „Zuweilen ja. Du biſt dann eine ſchöne, monu⸗ 29 mentale Architektur, etwa wie der Palazzo Strozzi in Florenz; ein ſo ſtolzer und fein gegliederter Rhyth⸗ mus iſt in deiner Art. Nur (und dabei blinzelte ſie mich betrübt an) ſind ſeit einiger Zeit die großen, lichteinſaugenden Fenſter verhängt, und es iſt inwen⸗ dig nicht ſo hell, wie es ſein ſollte — im Palazzo Stroszi.“ Solange die Depreſſion anhält, wollte ich wenig⸗ ſtens leſen, viel leſen, das Beſte, Tiefſte wollte ich leſen, Bücher, die Erlebniſſe ſind. Ich habe bisher ſo wenig Zeit dazu gehabt. Und wer weiß — vielleicht rufen — ſo meinte ich — die ſtarken, ſchwingenden Stimmen Anderer meine eingeſchlafenen Kräfte wieder wach. Ich dachte falſch. Auch hier ein Riegel, eine Schranke. Die Depreſſion erſtreckt ſich, wie es ſcheint, auf alle Sinne, auch auf die Augen. Leſen kann ich — ja wohl — aber viel — nein. Die Lampen ver⸗ breiten einen Dunſt, den mein Kopf nicht verträgt Alle Viertelſtunden muß ich die Fenſter aufreißen. Fliegende Hitze. Und die Augen ſchmerzen. Und eine andere Hemmung noch. Ich darf abends nichts An⸗ oder Aufregendes leſen, ich ſchlafe ſonſt nicht. Wie ſagte der Arzt? Abwechſelung in der Be⸗ ſchäftigung, Spaziergänge in freier Luft, Muſik, heitere Eindrücke u. ſ. w. Sicher, er hat recht. Mein In⸗ ſtinkt kommt ſeinen Vorſchriften entgegen. Eine ver⸗ droſſene Unruhe treibt mich ganz von ſelbſt, bald hier⸗ 30 hin, bald dorthin. Sie treibt mich immer von da fort, wo ich gerade bin — weiter — weiter, als wäre irgend⸗ wo etwas, das ich ſuche — ſuche. Ich ſetze mich oft in die Stadtbahn und fahre irgend wohin — oder auch nur hin und zurück. Ich weiß, was ich ſuche. Ich will der Kreatur entrinnen, die ſich anmaßt, Ich zu ſein, der berühmte Bildhauer Andreas Hubertus. Ja, laufe nur, laufe, bis du an eine Grube kommſt. — Hinab! Widerwärtig, dieſer Hoſpitaljammer! Wie in meinem Atelier liegt auf mir Staub — Staub! Ich ſitze oft ſtundenlang an Monikas Lager und ſpiele Schach mit ihr oder, wenn ſie ſich gar zu matt füihlt, Domino. Gewiß, ich tue es gern, aus Liebe zu ihr, und doch raſe ich innerlich über den Zeitverluſt. In dieſer Stunde könnteſt du vielleicht arbeiten. Ge⸗ meiner Charakterzug. Heitere Eindrücke! Ich ging nach langer Zeit wieder einmal in mei⸗ nen Klub. Brillante Erzähler, Witzbolde treiben da ihr Weſen, und an dem Tage erzählten ſie beſonders brillant, Anekdoten — nur für Herren. Man wälzte ſich vor Lachen. Ich ſehe jetzt alles, wie ein Beſchauer ein Bild ſieht. Er iſt nicht mit auf dem Bilde. Häßlich, häß⸗ lich iſt der lachende Menſch. 31 knarrend. Ich mußte an ein Bild denken, das ich in Und wie ſie alle lachten, wiehernd, quietſchend, der Sezeſſion geſehen; im Katalog ſtand: „Das Lachen“. Eine Reihe tanzender Weiber, alle in zer⸗ flatterndes Rot gekleidet, alles rot, rot! Auch die Ge⸗ ſichter, und aus dem Rot blitzten die Reihen weißer, gieriger, ſpitzer Zähne — animaliſch, dumm, dieſe Grinſenden! In einer phantaſtiſchen Erzählung las ich, daß die Marsbewohner im Beiſein anderer nicht eſſen. Sie ſollten auch nur lachen, wenn ſie allein ſind. Traurige Wahrnehmung: Meine Nervendepreſ⸗ ſion iſt nicht bloß eine Skepſis des Körpers, ſie ver⸗ dirbt auch den Charakter. Sie macht mich übelwollend, gehäſſig bis an den Rand der Bosheit. Beſonders unter Menſchen fühle ich bösartig. Im allgemeinen ſehe ich die Dinge anders als früher, gleichgültiger, unaufmerkſamer. Sie rücken mir ferner, oder vielmehr ſie riicken von mir ab, als wollten ſie nichts mehr von mir wiſſen; oder habe ich angefangen, von ihnen nichts mehr wiſſen zu wollen? Meine Sinne faſſen, z. B. auf den Straßen, die Einzelheiten nicht auf oder halten ſie nicht feſt. Schemenhaft faſt ziehen ungegliederte Maſſen an mir vorüber. Und drängt ſich meiner Aufmerkſamkeit etwas auf, ſo iſt es Häßliches, das mich ärgert, irritiert. Ein Herr geht vor mir her. Aus ſeinem ſteifen Kragen rollt ſich im Nacken eine rote Fleiſchwulſt. Wie 32 ich ihn verachte, ihn haſſe, dieſen äſthetiſch Verwahr⸗ loſten. Und da — das Weib, das ſich die Kleider ſo ſtraff um die üppigen Hüften ſpannt — dirnenhaft. Und ich kenne ſie, ſie iſt eine ehrenwerte Dame, die nur eine Mode mitmacht. Hat ſie nötig, die Mode mitzu⸗ machen? Jemand — im ſchnellen Gehen — ſtößt mich — abſichtslos. Ich empfinde es wie eine Injurie, und ich reibe den Arm, den er geſtoßen, mit dem Taſchentuch ab, als hätte er ihn beſchmutzt. In der elektriſchen Bahn, wenn ein leſender Menſch mich wieder und wieder mit dem Ellbogen be⸗ rührt, ſo ertrage ich dieſe zudringliche Berührung nicht. Ich ſteige aus. Das Geräuſch der Straße, die Luft und das Men⸗ ſchengewirr im Klub oder im Theater, verſchlimmert mein Leiden. Alſo Spaziergänge im Freien. Frühlingsanfang. Mit der elektriſchen Bahn fuhr ich hinaus. Fürbaß ſchritt ich in den Tannenwald hinein. „O, du ſchöner, grüner, grüner Wald,“ wie oft hatte ich als Jüngling mit anderen Jünglingen auf Gebirgswanderungen das Lied mehr gejauchzt als geſungen. Und da war er ja, der dunkle Tannenwald, das knoſpende Grün, da waren die Lerchen, die jubilierten, da waren die Veilchen, die dufteten. Und die grünen, grünen Wieſen, und der blaue, blaue Himmel darüber, und da war ich, der kranke, kranke Menſch. „So fühle Dohm, Schwanenlieder. 3 33 doch etwas, du öder Menſch!“ ſchrie ich in mich hinein „fühle doch etwas!“ Und ich ſah, ich ſah, ich begriff daß alles ſchön war und gut, aber die Brücke von den Augen zur Seele war morſch, meine Freude kam nicht herüber. Nein, ſo kann es nicht weitergehen. Dieſe De⸗ preſſion nimmt mir den Glauben an die Freude Gleich morgen konſultiere ich unſeren erſten Nerven⸗ arzt. Seine Diagnoſe ſoll unfehlbar ſein. Ich ahne ſie: Neuraſthenie. So! ſchön! Die Autorität wäre konſultiert. Gründlichſte Unterſuchung. Danach fixierte der un⸗ fehlbare Diagnoſtiker mich ſcharf, etwas ironiſch ſo kam es mir vor. „Wie alt ſind Sie?“ — „Sechs undſechzig.“ Ich ſagte es zögernd. Er nickte unmerk⸗ lich. Und das war ſein Verdikt: „Keines Ihrer Or⸗ gane iſt im eigentlichen Sinne krank, nur eine Herab⸗ minderung ihrer Funktionen iſt zu konſtatieren. Sie ſind im Alter der Rückbildungen.“ Wenn ich meine Kräfte ſchonte, könnte ich es auf achtzig bringen. Von ferneren Arbeitsverſuchen riet er mir ab. Die indifferente, gleichgültige Art, mit der er ſprach, reizte mich. Ich ſagte kein Wort mehr. Ick tat keine Frage. Ich verabſchiedete mich kurz. Zu Hauſe ſchritt ich lange in meiner Werkſtatt auf und ab. 34 Warum zögerte ich, ehe ich mein Alter angab? Mein Gott, ich ſchwankte ja einen Augenblick, ob ich nicht lügen, mich nicht jünger machen ſollte. Warum das? Warum? Ich blieb ſtehen. Es durchrieſelte mich vom Schei⸗ tel bis zur Sohle. Wußte ich es nicht ſchon, ganz im geheimen? Ich ließ es nur nicht über die Schwelle des Bewußtſeins. Mit aller Macht hielt ich den Gedan⸗ ken zurück, den furchtbaren: Altersſchwäche! Maras⸗ mus! Rückbildung! Der Anfang vom Ende. Alle dieſe Hemmungen, dieſe Weltverärgertheiten und Kraftloſigkeiten der letzten Jahre — Altersſchwäche! Ich habe gegrübelt und gebrütet, bis es mich wieder aufriß. Ich ſah mich um, hilflos, als wäre ich einem Feinde preisgegeben. Wo kam das Alter her? Mir iſt, als wäre es von außen gekommen. Ich erinnerte mich — wie lange war es her? Vier, höchſtens fünf Jahre, da ging ich an einem kalten Winterabend, über knirſchenden Schnee, den weiten Weg vom Klub bis zu meiner Wohnung, und wie ich vor meiner Tür ſtand, wäre ich gern noch weiter gegangen, ſo voll Kraft und Friſche war ich ... Und nun nach einem ſo kurzen Zeitraum ... Wo kam das Alter her? Möglich, daß viele, nicht älter als ich, der Ab⸗ bröckelung verfallen. Alle? Nein, das Gegenteil iſt bewieſen. Der letzte Papſt hat mit 93 Jahren noch eine Welt beherrſcht. Goethe, Moltke, Bismarck, Leo⸗ nardo, Michel Angelo bewahrten über 80 Jahre hinaus 3* 35 ihre Schaffenskraft, und unzählige andere auch, die man nicht nennt und nicht kennt. — Wahrſcheinlich, natürlich iſt dieſer Marasmus nur bei denen, die ſich ſelbſt penſionierten, die nicht in der übung des Lebens blieben. Muß es wahr ſein? Braucht es wahr zu ſein, weil der Arzt es ſagt? Die Todesurteile der Ärzte werden nicht immer vollſtreckt, ſogar ſehr oft nicht. Ich will mein eigener Arzt ſein. Nebenbei bemerkt: Jeder ſein eigener Arzt, das dürfte der Arzt der Zukunft ſein. Ehe ich die Flinte ins Korn werfe, will ich ſcharf, argusäugig die Symptome meines Zuſtandes prüfen, ſammeln, mich gewiſſermaßen analyſieren, womit ich ja in der modernſten Geiſtesrichtung bleibe. Gemüts⸗ affekte ſchalte ich aus. Scheint mir die Sammlung ausreichend, ſo werde ich das Fazit ziehen. — Ob es mir dabei ergehen wird wie den Leuten, die abends im Bett ſich vornehmen, die Vorgänge beim Einſchlafen zu beobachten, mit einen Male aber ſchnappt's, und das Bewußtſein iſt fort? Hier wurde ich durch den Briefträger unter⸗ brochen. Der verhalf mir gleich zu einem Symptom. Ganz im Gegenſatz zu früheren Zeiten nehme ich jetzt jeden Brief mit Unluſt in Empfang. Plage, Plage, daß ich ihn beantworten muß. Und Erfreuliches ſteht ja doch nicht darin. Altersſchwäche — dieſe Unfrohheit? Vielleicht ſchätze ich die Dinge nur anders als früher. In dieſem Brief da ſpricht mir ein beliebiger 36 Herr K. ſeine Bewunderung über eines meiner Werke aus. Erfahrung hat mich belehrt, dasſelbe ſagen und ſchreiben dieſe Eſe auch von Leiſtungen, die ich für nichtig halte. Verſtändnisloſes Lob beleidigt. Erfreuliche Briefe! Woher? Von wem? Staats⸗ aufträge? Dem Staat bin ich, nun ſchon ſo ein Alter, immer noch zu neu. Privataufträge? Die modernen Einrichtungen mit orientaliſcher Farbenpracht ſchließen die Skulptur beinahe aus. Weißer Marmor wirkt da wie ein Fleck. Die Skulptur hat etwas Einſanes, läßt ſich nicht hineinquetſchen in das Gedränge von Stoffen, Polſtern, tauſenderlei Sächelchen. Dekorationszwecken zu dienen, iſt ſie zu vornehm. Das Publikum glaubt auch nicht mehr an alte Künſtler. Hin zu den Neuen! „La jeunesse triomphante“ nennt Rodin eines ſeiner Werke. Das iſt nicht meine Altersſchwäche, eher die Neu⸗ heitsſchwäche der anderen. Briefe mag ich nicht und Beſuche auch nicht. Blei⸗ ben aber viele Tage die einen oder die anderen aus, ſo bin ich auch enttäuſcht. Man wirft dich zum alten Eiſen. Bald wird einer den anderen fragen, wenn mein Name genannt wird: Was, der lebt noch? Der Andreas Hubertus? Aber ſie kommen ja noch ab und zu, die Beſuche. Erſt vorhin der Kunſthändler. Mit ſo lautem Wohlwollen begrüßte er mich: „Schau — ſchau! Man wird ja alle Tage jünger und friſcher. Wo ſprudelt denn Ihr Jungbrunnen" — 37 Und im Zwinkern ſeiner Augen las ich: „Na, alſo end⸗ lich doch zuſammengeklappt.“ Wofür halten mich dieſe Leute? Für einen Narren! Ein junger, genial veranlagter Bildhauer brachte mir Entwürfe zur Beurteilung. Er trug einen un⸗ ſauberen, vernachläſſigten Anzug, der mich degoutierte. Seine Arbeiten mußten mein Mißvergnügen ent⸗ gelten. Er verließ mich zweifellos in der über⸗ zeugung, daß ich ein Neidhammel wäre. Heute zwei Kollegen auf einmal. In den erſten Minuten ſolcher Beſuche bin ich ſteif, einſilbig, un⸗ liebenswürdig. Sie genieren mich wie die Zumutung an einen Lahmen, daß er tanze. Allmählich löſt ſich dann die Steifheit, und ich biege in das Geleiſe kon⸗ ventioneller Höflichkeit ein. Ich höre aufmerkſam auf ihre Geſpräche. Plötzlich merke ich, daß ich nicht weiß, wovon ſie reden. Ich habe eine ſonderbare Art von Schwerhörigkeit. Die Worte klappern laut genug, oft nur zu laut, an mein Trommelfell. Aber — wie die Brücke von den Augen zum Hirn, ſo ſcheint auch die von den Ohren zu den betreffenden Gehirnnerven zu wackeln. Die Worte kamen gar nicht oder unzuſam⸗ menhängend herüber. Immer häufiger kommt es von meinen Lippen: „Wie?“ Und ich ſchäme mich dieſes „Wie“. — Nur wenn von ſchrecklichen oder gewaltigen Dingen die Rede iſt, dann ſtrömt das Blut ſtark durch mein Gehirn, die ſchlaffen Nerven ſpannen ſich. Ich höre! 38 Ich ertappe mich auf einer ſehr drolligen Nei⸗ gung: ich teile die Menſchen in ſolche, die laut und deutlich ſprechen — denen bin ich gut — und in ſolche, die leiſe und undeutlich ſprechen, denen bin ich gram. Freilich, freilich habe ich auch ganz unverhoffte Freuden und Genüſſe in meinem Depreſſionselend. Vornehm ſind ſie gerade nicht, man könnte ſie beinahe negativ nennen. Z. B. wenn ich morgens aufwache — ohne Kopfſchmerzen. Oder: wenn ich 6 bis 7 Stunden hintereinander geſchlafen habe (meiſtens bringe ich es nur auf 3 bis 4), dann freue ich mich ſo kindlich. Oder: ich bin geſchlagene anderthalb Stunden ſpazieren ge⸗ gangen, während mein übliches Kraftmaß ſich auf drei⸗ viertel Stunden beläuft. O, man wird beſcheiden, man wird beſcheiden. Ich war auch wieder im Klub — um Symptome zu ſammeln. Mittun wollte ich, auch hüibſche Anekdoten erzählen, auch üiber Kunſt und Lite⸗ ratur plaudern. Und ich verſuchte es einmal, und noch einmal, und ein drittes Mal. Und immer verlor ich den Faden der Erzählung. Gedankenflucht. Ich werde verwirrt, mache verzweifelte Anſtrengungen, den Gedankengang feſtzuhalten. Umſonſt. Oder — ich rede mit einem einzelnen über Dinge, die mir geläufig ſind. Hier keine Gedankenflucht. Wortflucht. Die einfachſten Worte fallen mir nicht ein. Ich bin auf der Jagd nach dem Wort, wie das Kind, das einem davon⸗ hüpfenden Vögelchen nachläuft. Es verſteckt ſich vor mir, das Wort, wie hinter einer Mauer. Mein Gehirn 39 ſucht. Da lugt es durch ein Löchelchen in der Mauer. Habe ich dich endlich! Noch lange nicht, nur den An⸗ fangsbuchſtaben „W“. Fort iſt's! — Ein paar Stun⸗ den ſpäter — ich kleide mich gerade an — meldet es ſich: „Eccomi: Warenhaus.“ Und ohne jede für mich erkennbare Gedankenaſſociation. Heute bin ich beinahe luſtig aufgelegt; nur etwas Galgenhumor iſt hineingemiſcht. Ich bin dahinter⸗ gekommen, daß Kobolde ihr Spiel mit mir treiben. Wie wären ſonſt all die kleinen neckiſchen Abenteuer zu erklären, die ſich hübſch für Knüttelverſe eigneten, mit dem Refrain: „Auf dem Dache ſitzt ein Greis, der ſich nicht zu helfen weiß.“ Ein Kobold ſpielt in mei⸗ nem Gehirn Kaleidoſkop mit den Worten. Bald ver⸗ dreht er ſie mir im Munde, bald vertauſcht er ſie, oder er bläſt aus einem Wort ein paar Buchſtaben heraus, und da wird aus Aſſociation: Aſſocion, oder aus Ini⸗ tiative: Iniative. Sagte ich nicht neulich anſtatt Kon⸗ ſtantinopel: Konſtinopel? Neulich, im Geſpräch mit jemand, ſpreche ich von einer Sache, die ich mit Stumpf und Stiel ausgerottet wünſchte. Der Jemand lacht laut auf. „Warum lachen Sie denn?“ — „Weil Sie mit Strumpf und Stiel geſagt haben.“ — Der Kobold kichert. Ich lache auch. „Ha, welche Luſt, ein Greis zu ſein.“ Ganz unangenehm iſt mir's, daß, wenn ich zu⸗ fällig meinen Schneider erwähne, der Tramp heißt, ich ihn immer Koppe nenne. Koppe hieß mein früherer 40 Schneider. Der iſt ſeit 5 Jahren tot. Das erſtemal war's nur ſo ein zufälliges Verſprechen. Seitdem aber — als hätte ſich der tote Koppe in mein Gehirn eingeklemmt — nenne ich den Tramp beinahe regel⸗ mäßig Koppe, und merke es immer erſt, wenn Monika lacht. Ich vermeide ſchon, über Röcke zu ſprechen, ſo fürchte ich den toten Koppe. Koboldchen macht ſich auch über meine Ortho⸗ graphie her. Ich bin imſtande, „endlich“ mit einem „t“ zu ſchreiben, und „herrlich“ mit einem „g“ hinten. Zuweilen ſchlage ich in irgend einem Lexikon nach, wie ein ganz gebräuchliches Wort geſchrieben wird. Oder — ich beſinne mich minutenlang, wie ein lateiniſches R ausſieht, und ich male es mir erſt auf einem Stück Papier vor, ehe ich wage, es in dem betreffenden Wort anzuwenden. Und wie ich die Worte verwechſle — zu amüſant für die anderen. Ich will „elektriſieren“ ſagen. Der Kobold ſchüttelt mich, und „photographieren“ kommt heraus. Ich lege ein Kleidungsſtück ab und werfe es auf den Stuhl. Es fällt von der anderen Seite wieder herunter, zweimal hintereinander, und iſt der Kobold bei Laune, auch dreimal. Ich bücke mich, die Sache aufzuheben, ſtoße mir dabei den Kopf an dem Fenſter⸗ brett, reibe die ſchmerzende Stelle, ohne daran zu den⸗ ken, daß ich die Zahnbürſte in der Hand halte. Ich will etwas aus einem Schrank holen, ſtehe vor dem Schrank und beſinne mich vergebens darauf, was 41 ich aus dem Schrank nehmen wollte, und erſt, als ich zehn Minuten ſpäter mich ankleide, weiß ich, daß es ein Hemd war. Oder, ich habe mich auf den Schrank zu bewegt. Auf halbem Wege bleibe ich ſtehen, ich mache einen Schritt nach rechts, dann nach links — wohin wollte ich denn? Neulich ſchrieb ich an zwei verſchiedenen Tagen zwei Kondolenzkarten an dieſelbe Perſon Der Emp⸗ fänger war ſo höflich, einen Kondolenzbrief ſeinerſeits an mich zu unterdrücken. Ich will eine Abhandlung über Innendekoration leſen. Verſehentlich greife ich nach einem Katalog, der daneben liegt, und leſe mechaniſch in dem Katalog, bis der Kobold mich anranzt: „Aber Menſch, warum lieſt du denn den Katalog? So und ſo oft, während ich ſchreibe, fällt mir die Feder aus der Hand. Eine Statiſtik ließe ſich daran knüpfen. Ich bin wütend, und voll Rachſucht gegen die tückiſche Feder ſchreibe ich mit der wieder aufge⸗ hobenen die nächſten Buchſtaben groß, hart, in das Papier einreißend. Habe ich doch all mein Lebtag nicht bemerkt, wie⸗ viel Schlüſſel in meinen Möbeln ſtecken; nun bemerke ich es. Ich ſtoße mich ja alle Augenblicke daran. Und wieviel Kanten und Ecken haben die Möbel, bloß damit ich dagegen anlaufe, wie es ſcheint. Der braune Fleck iſt wohl auch ein Altersſymptom? Ich ſtehe im Kampf mit den Dingen. Sie wider⸗ 42 ſetzen ſich mir. Sie überwältigen mich, früher über⸗ wältigte ich ſie. Oft genug habe ich bemerkt — und ich fand es ſtets überaus komiſch — daß alte Leute ſo vor ſich hin, zu ſich ſelber reden. Nun ertappe ich mich ſelbſt darauf. Und ich weiß auch den Grund. Wir Greiſe (ja ja Greis! Du biſt's, ich kann dir nicht helfen) ſind wie Redner, die reden wollen, aber es iſt niemand da, der uns hören will, und da wird allmählich unſere Stimme leiſer und leiſer; und ſchließlich fangen wir an, mit uns ſelbſt zu reden. — Der Schluß der Lebenskomödie iſt ein Monolog. Nach langer Pauſe war ich wieder einmal im Theater. Mitten im Parkett. Eine Premiere. Das Haus war ausverkauft. Ich hielt es nur zwei Akte aus, dieſes furchtbare Zuſammengepferchtſein mit vie⸗ len Hunderten, wo man den Beſonderheiten jedes Nachbarn preisgegeben iſt. Hinter mir ein Menſch mit einem Katarrh. Das ſchnüffelte, ſchnaubte und huſtete. Der Patient gehört ins Bett, nicht ins Theater. Vor mir ein Herr mit einem mehrgliedrigen Ge⸗ wächs auf der Glatze, das hin und her zappelt. Und gerade vor mir. Gehörte doch in die Klinik. Auf ſtark parfümierte Sirenen in der Nähe iſt immer zu rechnen. Mein Gott, gehen wir denn ins Theater, um uns äſthetiſch abzuhärten? Und die Luft in dem heißen Raum. Daß es Men⸗ 43 ſchen darin drei Stunden aushalten, ohne den Notſchrei auszuſtoßen: Hebt die Dächer ab! Wie, die Technik ſoll auf einer märchenhaften Höhe ſein? Und den notwendigſten Ventilationen gegenüber verſagt ſie? Altersſchwäche — dieſe Repulſion gegen den Atem von Menſchenmaſſen? Nicht eher eine Verfeinerung der Nerven und des äſthetiſchen Sinnes? Ich ſaß heute im Park auf einer Bank. Ein Auto⸗ mobil raſte vorüber. Eine wahnſinnige Luſt kam üiber mich, in einem ſolchen Gefährt den Erdkreis zu durch⸗ ſauſen. Ganz allein. Beinah Herr über Raum und Zeit. Ein Menſch ſchreitet ſchnell und rüſtig an mir vorüber; ſo breit und wuchtig tritt er auf, als nähme er Beſitz vom Erdboden. Seine Jugendkraft kommt mir, meiner Ohnmacht gegenüber, wie unlauterer Wettbewerb vor. Finſter, grollend ſehe ich ihm nach. Ich war ausgegangen. Märzkälte. Rauher Wind. Die Augen tränen mir. Ich fröſtle. „Geh' ſchneller, du ſchleichſt ja.“ Ich gehe ſchneller. Mein Atem wird kurz. „Alter Kerl, ſcheinſt aſthmatiſch zu werden. Die Stiefel drücken. Der große Zeh tut weh. Aha — auch gichtiſch? Und ich ſchleiche wieder, und ich fröſtle wieder, und ich ſehne mich nach dem warmen Ofen zu Hauſe und den weichen, gefütterten Schuhen und dem heißen Tee. — — Hm! Altersſchwäche? Ja oder nein? Es gibt kränkliche, nervöſe junge Men⸗ ſchen, die dasſelbe empfinden. 44 Heute blieb ich lange an einem Vorgärtchen ſtehen, in dem viele kleine, hübſche Blumen blühen, bis ich merkte, daß ich nur mechaniſch auf die Blumen ſtarrte. Dasſelbe geſchieht mir vor Schaufenſtern, wenn irgend ein Gegenſtand darin die Netzhaut meines Auges affiziert. Warum bleibe ich vor dem Gärtchen, vor den Schaufenſtern ſtehen? Reminiszenzen von Gewohnheiten aus einer Zeit, wo Blumen, glänzende Stoffe oder Arrangements mich feſſelten? Wo mein Auge mehr war als ein gleichgültiger Spiegel, in dem die Dinge ſich mechaniſch reflektierten? Altersſchwäche? Könnte es einem zerſtreuten Gelehrten nicht ähnlich ergehen? O ja, aber der bleibt wohl deshalb mechantſch ſtehen, weil er an einem ſo tiefen Punkt ſeines Denkens angelangt iſt, daß jede körperliche Bewegung ſeine innere Konzentration ſtört. Ich aber — bei mir iſt es einfach Gedankenloſig⸗ keit, die Eindrücke verlieren ſich in dem leeren Raum meines Gehirns. Was iſt dieſe Leere? Eine Locke⸗ rung der Gehirnfaſern und Nerven, ſo daß wie durch ein großmaſchiges Netz alles hindurchfällt — ins Bodenloſe? Oder eine Gehirnverengung, ſo daß, was hinein will, keinen Einlaß findet? Das Alter frißt ſo viel Zeit. Müdigkeit zwingt uns ſo viel leere Stunden auf. Wann hätte ich die ſonſt gekannt! Früher liebte ich Stille, Einſamkeit. Jetzt umfängt ſie mich oft unheimlich, wie Windſtille den 45 Schiffer, als provoziere ſie irgend etwas unerwartet Schreckliches. Darum Leben von außen! Das ſtrahlende, elek⸗ triſche Licht auf den Straßen iſt mir nicht ſtrahlend, das Gewühl nicht toll genug. Ein Auflauf. Ich gehe ſchneller. Es geſchieht etwas. Leben! Ich werde die Empfindung nicht los, als geſchähe gar nichts mehr in der Welt. Und ich müßte es herauslocken, etwas auf⸗ ſtöbern, ein bißchen an der trägen Erdachſe drehen. Wenn ich durch die Straßen gehe, ödet mich ihr Einerlei an. Immer dieſelben Läden, an denen ich vorbei muß, dieſelben Firmenſchilder, dieſelben Rekla⸗ men. Na ja, na ja, das wiſſen wir ja ſchon aus⸗ wendig. Könnt ihr Ladenbeſitzer denn nicht ausziehen, und anderen Läden und anderen Firmenſchildern Platz machen. Den Mann mit dem Bierkrug an den Lip⸗ pen, der ſo widrig ſchmunzelt, muß ich Tag für Tag aushalten, und den geiſtreichen Firmaeinfall: „Hier kauft man billig bei Franz Drillich.“ Dieſen Franz Drillich könnte ich würgen. Die ſcheußlichen Wachsfigurengruppen vor dem Panoptikum reizen mich zum Zorn. Ich mache oft einen Umweg, um ihnen zu entgehen. Das Stereo⸗ type in einem Städtebild, und daß wir täglich durch dieſelben Straßen gehen müſſen, iſt abſtumpfend. Der Hang und Drang nach Veränderung, nach Neuem oder Ungeformtem iſt ein Inſtinkt geiſtiger Selbſt⸗ erhaltung. In meinem Atelier habe ich die Ruhebank aus der 46 Ecke unter das Fenſter gerückt, das Skelett habe ich hinter die Gliederpuppe geſchoben, nur um nicht immer dasſelbe an demſelben Platz zu ſehen. Kleinlaut bin ich geworden. Verſickern wirklich meine Kräfte? Ja? Unwiederbringlich? Sinken ins Bodenloſe? Verſinken? Ich höre Taucherglocken läuten. Fort mit den Symptomen. Unfruchtbares Spionieren! Andreas Hubertus! Raffe dich auf! Höre, was ich dir ſage: In der Kälte erſtarrt fließendes Waſſer. Wärme, Sonne taut es auf. Suche deine Sonne, daß deine Kälte auftaue! Mag ſein, daß der Altgewor⸗ dene nicht mehr von ſelbſt, gewiſſermaßen aus heiler Haut leben kann. Er muß hinter ſich her ſein, Ein⸗ nahme und Ausgabe klug abmeſſen, um dem Bankerott vorzubeugen. Sich vor Windſtille hüten. Selbſtzucht, mein Freund! Deine geiſtige Müdig⸗ keit, deine körperliche Hinfälligkeit — ſie ſind Blut⸗ ſtockungen. Wenn mir der Fuß einſchläft, ſpringe ich auf: eine ſtarke Bewegung, Veränderung der Lage bringt das ſtockende Blut wieder in Fluß. So mit dem gan⸗ zen Menſchen. Starke innere und äußere Bewegung, Wechſel, Maſſage des Gehirns. O, ich lege meine Hände nicht in den Schoß. Mit Energie ſtütze und flicke ich an meinem Organismus. Ich ſtähle mich, ich härte mich ab. 47 Vorhin hatte ich mich in ein Plaid gehüllt. Mir war kalt. Ich warf es wieder von mir. Du bildeſt dir ein, daß du frierſt, es behindert dich nur. — Ich eſſe wenig, um nicht mehr Kräfte, als unumgänglich nötig ſind, für die Verdauung aufzubrauchen. — Ich ſchlafe nur fünf Stunden. Allzu viel Schlaf lähmt die Gehirnnerven. Ja, ſchaudere nur, Weichling! Mit kaltem Waſſer wirſt du begoſſen. Gymnaſtik, das Fahrrad, Luft⸗ bäder, Lungenübungen! Nicht ſo gebückt gehen, altes Männchen! Und ich ziehe meinen Stock auf dem Rüicken zwiſchen den Armen hindurch, um mir eine aufrechte Haltung anzuzwingen. Den ſchlaffgewordenen Bogen will ich von neuem ſpannen. Heraus, mein Wollen und mein Wille, aus deiner verkrochenen Höhle. Blinzle nicht! Und alle Augenblicke rufe ich mich an: „Sieh'! Höre! Halte feſt! Laß die Unterlippe nicht hängen! Kopf hoch! Auf der Straße und in der elektriſchen Bahn nehme ich jeden einzelnen Menſchen aufs Korn. Ich höre auf das, was ſie reden. Nicht einen Moment der Dumpfheit geſtatte ich mir. Immer mit dem Ruf im Ohr, in der Seele: Wache! Und ich dachte an jenen Kranken, der, von den Arzten aufgegeben, ſich plötzlich vom Lager erhebt, wochenlang reitet, und — geſundet. Freilich, es war in Amerika, und er ritt durch die Prairien. Heute hatte ich ein paar junge Bildhauer im 48 Atelier. Meiſter hier und Meiſter da, ſie lobten, lob⸗ ten, was da ſtand und lag. Und ſie lobten ſo glatt, ſo unbedingt, ein Loben wie eine maskierte, ſchmun⸗ zelnde Schadenfreude. Und ich las von ihren Stirnen: „Senil, ſenil! Der alte Herr ſollte nicht mehr mittun, wir ſind ja da: die Jungen.“ Größenwahnige, die meinen, daß ſie die Zukunft in der Taſche, im Hirn, in der Seele haben. Die Elen⸗ den, ich werde ihnen zeigen, daß es mit mir nicht zu Ende iſt. Es wogt ja in mir von Ideen. Ich ſchwimme in einem flutenden, ſchimmernden, gebärenden Meer. Tiefer, kla⸗ rer als je erfaſſe ich meine Entwürfe. Ich empfinde es mit einem Schauder der Wolluſt: erſt jetzt werde ich meine Meiſterwerke ſchaffen. Früher dachte ich immer, du haſt noch Zeit, viel Zeit, arbeite nur vorläufig, wie die Aufträge einlaufen, ſpäter .. . Ja, jetzt erſt habe ich allen geiſtigen Ballaſt, alles Konventionelle, an dem der Schweiß der Arbeit klebt, über Bord geworfen; und mein Schiff — ein Luftſchiff — es iſt mit herr⸗ lichen Geſtalten befrachtet. Ich war angeſeilt, an die Andern, nun iſt das Seil zerriſſen. Gefährlicher wohl iſt der Weg, da Andere ihn nicht mehr ſtützen; aber freier, ſtolzer fühle ich mich. Die Stimmen der Anderen übertäuben mich nicht mehr. Mir allein gehöre ich, gehört meine Kraft. Meine Kraft?! Ich habe vor meiner Skizze geſtanden: Simſon, Dohm, Schwanenlieder. 49 4 oder der blinde Titan, oder mein Dämon, oder wie man ſie nennen will. Ich ſehe die fertige Skulptur vor mir: Er zerreißt die Stricke. Ein ausgemergelter Leib, ganz Sehne. Von der Mähne, der wieder wild gewachſenen, das ſchöne Jünglingsantlitz löwenhaft umwallt. In den blinden Augen die Flamme eines ungeheuren Wollens. Er weiß, er vollbringt's. Rache an der Menſchheit, an Gott, und die Wolluſt des trium⸗ phierenden Todes. Davon rede du, mein Titan! Die ungeheure Kraft des Wollens? Und ich ſollte nicht leben wollen? Mich von einer Jahreszahl verge⸗ waltigen laſſen! An Marasmus glauben! Nein! Nein! Nein! Nein! So ſchrieb ich zuletzt. Ich bin eine Woche krank geweſen. Erkrankt wahrſcheinlich an dem „un⸗ geheuren Wollen“. Ein Anfall von Herzſehwäche. Aus iſt's. Ich ſpanne den Bogen nicht mehr. Ich habe ſie wieder aufgegeben, dieſe Gewaltſam⸗ keiten. Ich ſpiele den Kraftmeier nicht mehr. Das Alter iſt ein anderer, ein neuer Zuſtand der Perſönlichkeit. Kein herabgeſetzter. Das neue Sein muß nur in ſeiner Art gepflegt werden. Wird im Körper ein Gewebe zerſtört, ſo pflegt ein anderer Organteil die Funktionen des zerſtörten zu übernehmen. Ob eine ſolche ausgleichende Hilfe nicht auch auf geiſtigem Gebiet, im Alter ſtattfindet? Sind die Jahre wirklich wie eine Gefängnis⸗ mauer, die allmählich ſich höher und höher aufbaut, ſo 50 daß Luft und Licht immer ſpärlicher in den Garten unſeres Daſeins fallen? Ich habe Augenblicke, wo mir das Umgekehrte richtiger ſcheint, nämlich: daß die Jahre mehr zu tun haben mit dem Niederreißen als mit dem Auftürmen von Mauern. Iſt es Marasmus, daß man mit dem Alter anſpruchsvoller, exkluſiver, ariſtokratiſcher, ich möchte ſagen vornehmer wird? Wir Greiſe (läuft dir ſchon wieder ein Schauer über den Rücken?), wir möchten alles feingeſiebt, deſtilliert haben. Von Büchern und Menſchen die erleſenſten. Den Extrakt der Dinge. Statt der Quantitäten, die wir nicht mehr bewältigen können, die feinſte Qualität. Unleugbar, die Aufnahmefähigkeit meiner äuße⸗ ren Sinne iſt herabgeſetzt. Aber — ſchließen ſich all⸗ mählich Augen und Ohren für die Außenwelt, ob ſie nicht feinhöriger, hellblickender werden für die Innen⸗ welt? Monika hatte anfangs verwundert, dann verſtänd⸗ nisvoll meinem Treiben zugeſchaut. Allmählich aber, als ſie ſah, daß ich läſſiger, matter meine Übungen betrieb, wurde ſie traurig. An einem Tag fand ich ſie erregt, freudig erregt. Sie hätte einen herrlichen Plan. Widerſpruch ertrüge ſie nicht. Ich müßte nach Rom. Wieder nach Rom. Seit Jahren verzehre mich ja die Sehnſucht nach Rom. „Ich habe das niemals geſagt, Monika.“ Sie hatte wieder ihr überlegenes Lächeln. „Du haſt es gedacht. 51 4* Sie hatte recht, meine Hellſeherin! Von meiner erſten Römerfahrt wäre ich damals als großer Künſtler zurückgekehrt, dieſe zweite würde ein Jungbrunnen, ein Geſundbrunnen. für mich ſein. „Aber, Monika, wir haben ja kein Geld.“ Sie hätte Geld. Sie nahm ein Käſtchen aus dem Schreibtiſch und öffnete es. Eine Perlenſchnur lag darin. Ein Erbſtück war's, ich wußte, daß ſie daran hing. „Ich konnte dir keine Freude in unſerer Ehe geben, gönne mir in der zwölften Stunde das große Glück, etwas für dich tun zu können.“ Sie nahm die Schnur in die Hand und berührte beinahe zärtlich jede einzelne Perle. „Siehſt du, dieſe Perle hier, die gibt dir den Glanz deiner Augen wieder; und aus dieſer anderen wachſen deiner Phan⸗ taſie neue Flügel — neue? Nein, die alten wachſen wieder.“ — Und ſo gab ſie jeder einzelnen Perle eine beſtimmte Miſſion. Ich lehnte die Perlenſchnur ab. Tränen traten ihr in die Augen: „Dann bedeuten dieſe Perlen Trä⸗ nen, Tränen, die nicht eher verſiegen werden, bis du mir den Willen getan.“ „Ich kann dich nicht allein laſſen, Monika!“ „Aber ich bleibe nicht allein, die Pflegeſchweſter zieht zu mir. Die hat mich ſehr lieb. Und dann — ich werde ja deine Briefe haben. Der eine wird mir immer ſo lange Geſellſchaft leiſten, bis der andere kommt. Und meine allerſchönſte Geſellſchaft, das iſt 52 die Freude, die große Freude darüber, daß du in Rom biſt. Sei nicht böſe, das iſt noch ſchöner, als wenn du bei mir wärſt, das wird mein Geſundbrunnen ſein.“ Ich gab nach. Vielleicht hat ſie recht, meine Mo⸗ nika, und im Wunderquell Rom bade ich mich geſund. Morgen reiſe ich ab. Morgen reiſe ich ab. Nicht nach Rom, ſondern von Rom. Drei Monate ſollte ich hier bleiben. Es ſind nur 14 Tage geworden. Länger hier zu bleiben ertrüge ich nicht. Das war die erſte Enttäuſchung: mein junger Freund, auf den ich gerechnet, iſt auf einer Studienreiſe im Gebirge. Was war? Rom und ich, wir kamen nicht mehr zueinander, Rom blieb jenſeits, ich diesſeits, ich konnte nicht herüber. Eine eiſerne Mauer zwiſchen uns — ein Menſchenalter. Zweimal in Rom! Das erſtemal: der Rauſch der Entdeckung einer neuen Welt, einer Welt von apollini⸗ ſcher Schönheit; und zugleich die Erweckung eines Gottes, der uns im Norden abhanden gekommen, der Gott des Südens: Dionys. Das zweitemal in Rom: „Unbefugten iſt der Ein⸗ gang nicht geſtattet.“ — Ich bin ein Unbefugter. Anfangs ſuchte ich mir einzureden, nicht ich, Rom habe meine bittere Enttäuſchung verſchuldet. Hatte man die ewige Stadt nicht ihres Ewigkeitscharakters beraubt? 53 Ein moderniſiertes Rom! Ein Götterbild im Smoking. Die Ruinen von all dem wildſchönen Unkraut ſorgfältig geſäubert, das mit umſchlingender Liebe ſich in die Quadern geſchmiegt. Man hat damit das Herz aus dieſen monumentalen Leibern geriſſen. Einſame Klagemauern nun. In die grandioſe Schönheit der Campagna lange Straßenzüge mit Mietskaſernen hineingeſchoben. Und die Straßen ſind ſchmutzig, und die Mietskaſernen gehen ſchon wieder dem Verfall entgegen. Die Cam⸗ pagna iſt entgeiſtert. Und dieſe Villengärten noch vor wenigen Jahrzehnten, wie durchklungen von heid⸗ niſchen Evoerufen, ſie ſind bis auf einen kleinen Reſt der Bauſpekulation zum Opfer gefallen. Und ſo viele, liebe, kleine Kirchlein, die einmal ſo kinderfromm zu mir geredet mit ihren rötlichen Lämpchen, den welken Blumenſträußen, den unzähligen blechernen und ſilbernen Herzen, den Puppenmadon⸗ nen in Kattun oder brüchiger, kniſternder Seide, vor denen alte Weiblein, ihre Roſenkränze murmelnd, ge⸗ kniet — wie legendäre Reſte dunkler Zeitalter er⸗ ſchienen ſie mir jetzt, ein armſeliger Fetiſchdienſt. In St. Peter war ich. Eine große, geiſtliche Funktion. Qualmende Rieſenkerzen erhellten den immenſen Raum. Ein Jahrmarktstreiben, halb Zigeunerlager, halb Promenadenkonzert. Man lachte, plauderte, trieb allerhand Kurzweil. Man hockte auf den Altarſtufen, ſchwang ſich auf die Baluſtraden, 54 die Menge füllte die Beichtſtühle oder ſaß platt auf den Marmorflieſen. Statt der Gebetbücher — Bädeker. Und über das Menſchengewühl hin klang Orgel und Geſang. Die Töne wurden von der Menge ein⸗ geſogen, oder ſie ſtiegen empor über die Kuppel hinaus in den Äther. Was da unten kribbelte und krabbelte, das blieb eben unten, tief unten, blieb unter ſich. — Gott war oben. Und mein Zimmer! — Es macht mich wahnſinnig. Ich kann häusliche Unannehmlichkeiten nicht mehr ertragen. Mäuſe ſind darin, und ſonnenlos iſt's. Und ich friere, ich friere. Ich gehe aus, um mich zu er⸗ wärmen, aber ſo bald bin ich erſchöpft. Und dann ſitze ich immer wieder in der ſonnenloſen, kalten Stube mit meinen Mäuſen, und ich friere. Sie tun mir nichts, die Mäuſe, aber ſie laſſen mich nicht ſchlafen. Das Haus liegt in einer ſchmalen Straße. Alle fünf Minuten donnert die elektriſche Bahn vorbei. An der Ecke iſt ein Kaſperletheater, und Stunde um Stunde höre ich Kaſperles Kreiſchen, und das brüllende Ausrufen der Verkäufer, dazwiſchen den tremulieren⸗ den Geſang der Drehorgelſpieler. Ich ſah vom Fenſter aus, wie zwei Weiber aus dem Volk ſich blutig rauften. Die Zuſchauer ſchrien vor Entzücken. Monika, Monika, du warſt nicht hellſehend, als du mich nach Rom ſchickteſt. Rom kam mir ſo jung primitiv vor, unerwachſen, 55 kindlich unartig, bilderbuchartig bunt, und dann wieder ſo geſpenſtiſch alt, hiſtoriſch vergraut, ſo, als hätte man in einen ausgegrabenen Tempel Kinderſpielzeug aus einer Schachtel hineingeſtellt. Ein Ort für Kinder und Geſpenſter. Gegen Sonnenuntergang bin ich geſtern noch ein⸗ mal durch die Stadt gewandert bis zum Palatin hin⸗ auf. Und weit über die Gefilde ließ ich meinen Blick ſchweifen. Und ich erkannte, daß ich unrecht hatte, tauſendmal unrecht. Das war dasſelbe Rom, das mich damals berauſchte. Was ſich daran verändert, trifft nicht den Kern. Es iſt nicht Roms Herz, nicht ſeine Poeſie und Myſterien, die entwichen ſind. Armer, armer Andreas! Es iſt dein abbröckeln⸗ der Geiſt, dein erkaltetes Herz, deine müde Seele, die Rom umgeſtaltet haben. Die Augen ſind nicht mehr da, die ſchönheits⸗ durſtigen Vampyre, die das Blut aus dem Herzen Roms ſaugten. Die Ohren ſind nicht mehr da, die ſelbſt aus dem Gebrüll der Ausrufer, aus Kaſperles Kreiſchen, aus der ganzen lärmvollen Tollheit die brauſende Lebensluſt einer leidenſchaftlichen Volks⸗ ſeele heraushörten. Das Herz iſt nicht mehr da, mein junges, blühendes Herz, das auf Abenteuer der Schön⸗ heit auszog und ſie mit Entzücken beſtand. Monika, warum haſt du mich nach Rom geſchickt? Ich war in den Muſeen und Galerien. Ich ſtellte im Geiſt meine Werke neben dieſe hier. Ein Plebejer bin ich neben dieſen Ariſtokraten. Im königlichen 56 Stolz ihrer ungebrochenen Perſönlichkeit fühlten ſich jene Vornehmen den Göttern ebenbürtig, die ihnen Modell ſtanden. Da gab's noch keine verſchiedenen Richtungen, und es gab noch keine Nerven. Sie ſprachen dieſelbe Sprache wie ihre Götter. Und wenn ſie ſchaf⸗ fend nur ſich hörten, hörten ſie zugleich die Olympier. Wir Modernen, wir ſind auch in der bildenden Kunſt — um ein Modewort zu gebrauchen — ſuchende Seelen, denkend, leidend, ſchwankend, und ach — ſo kompliziert und ſo nervös. Wir möchten ſo viel, viel zu viel. Wir möchten die ganze Kunſt revolutionie⸗ ren und wiſſen doch nicht, wen oder was wir auf die umzuſtürzenden Throne ſetzen werden. Die Krankheit der Zeit — der Größenwahn ⸗ hat uns erfaßt. Auch ich wollte „über meine Kraft“. Will ich es nicht noch immer? Eine grenzenloſe, ſchwer⸗ mütige Bitterkeit zernagt mich. Fort muß ich. Mein Kopf ſchmerzt, und meine Seele atmet Fiebermiasmen. „Si chiude,““ rufen gellend die Wächter, wenn beim Eintritt der Dämme⸗ rung die Tore der Gärten und Paläſte Roms für das Publikum geſchloſſen werden. Er tönt in meinem Ohr, der gellende Ruf. Er gilt mir, mir allein. Er verſchließt mir ganz Rom. „Si chiude, si chiude! Am Nachmittag habe ich lange, lange in den Gär⸗ ten der Villa Pamphili zugebracht. Ich blickte nicht um mich, nicht auf die mit Veilchen und Anemonen 57 bedeckten Wieſengründe, nicht auf die Pracht des Son⸗ nenuntergangs. Ich ſah in mich. Ein hilfloſes Kind des Weltalls ſuchte ich nach Troſt. Reden ſollte meine Intelligenz, ſie allein; ſchweigen mein banges Gemüt. Eine Frage an dich, du alter Mann: warum eigentlich klammerſt du dich noch ſo brünſtig, zudring⸗ lich an ein Leben, das dir den Rücken kehrt? Nur der blinde Wille zum Leben? Ein Lebensfieber? Nein! Wüßte ich, ich könnte noch 50 Jahre als ein unheilbar ſchwachſinnig Gewordener, gut genährt, qut gepflegt, in körperlicher Geſundheit exiſtieren, ich würde das Daſein, wenn ich darüber zu entſcheiden hätte, ſchaudernd ablehnen. Ja, ich liebe das Leben, ich liebe es heiß. Nicht um ſeiner Genüſſe willen. Nicht verliebt bin ich in das Leben, wie Nietzſche verächtlich von den Menſchen ſagt, die nicht zur rechten Zeit zu ſterben wiſſen. Ich liebe das Leben mit dem tiefen, leidenſchaftlichen Ernſt des Künſtlers, der ſeine Aufgabe noch nicht erfüllt, ſeine Idcale nicht verwirklicht hat. Ich liebe es wie die Mutter, die nicht ſterben will, weil ihre Kinder ſie noch brauchen. Der Prieſter iſt Verkünder von Gottes Wort, der Künſtlex der Interpret der Schönheit. Meine Liebe zum Leben iſt Liebe zur Kunſt, iſt Schaffensbegeiſte⸗ rung, iſt die Seelenluſt, weiter zu ſchwimmen im Strom der Schönheit, aus dem ich ſchöpfe . . . Perlen meine Werke? Ach nein. — — Nun iſt doch eben deine Schaffenskraft verſiegt? 58 Es ſcheint ſo. Und mir iſt, als ſchluckte ich den Rauch von meinem eigenen erloſchenen Feuer, und ich müßte daran erſticken. Na alſo. Mach' der Welt ein ſchönes Kompli⸗ ment und empfiehl dich mit Grazie. Noch nicht! Noch nicht! Die ſchönſten Perlen noch leuchten mir aus der Tiefe des Stroms entgegen. Und ſchenkten mir die Götter die paar Jahre, um die ich ſie anbettle, ich kann ja das Leben nicht mehr leben, da ich nicht mehr Künſtler bin. Was hat denn überhaupt von meinem Ich gelebt? Die moderne Technik erreicht nur durch die de⸗ taillierteſte Arbeitsteilung ein Maximum von Kultur⸗ werten. Verfahren die Mächte der Kultur nicht eben⸗ ſo, auf geiſtigem Gebiet, mit uns? Sie preſſen aus jedem Menſchen nur eine Kraft heraus, gleichgültig, ob bei dieſer einſeitigen Kraftabgabe andere Kräfte und Fähigkeiten zugrunde gehen. Damit, daß ich nur meine bildneriſche Fähigkeit entwickelte und ausübte, habe ich der Kunſtwelt am beſten gedient? Gewiß! Aber mir? Unermeßliche Felder meiner Seele blieben unbeſtellt. Ein Wuchergeiſt lebt in der Kulturent⸗ wickelung. Wie oft habe ich Wehen, ſtarke, machtvoll drängende, geſpürt, die anderes noch als meine bild⸗ neriſche Kraft gebären wollten. Hätte ich nicht auch Maler werden können, oder ſollen? Hat man mir nicht immer vorgeworfen, ich ſehe die Skulptur zu maleriſch? Wo blieb der Maler? Ich habe ihn vor der Geburt erſtickt. Nur den Maler? 59 Nicht auch den Dichter, den Denker? Stand ich nicht einmal auf dem Scheidewege zwiſchen dem Studium der Philoſophie und der Kunſt? Und der Redner und der Archäologe? Ich verſchloß alle Gemächer meines Gehirns, bis auf ein einziges. Und das war viel⸗ leicht nicht einmal das für mich wohnlichſte. „Gebt mir zehntauſend Augen“ — läßt Shake⸗ ſpeare ſeine Seherin ſagen — „daß ich ſie fülle mit prophetiſchen Tränen . . . Gebt mir zehntauſend Leben, daß ich jedes mit einem anderen Inhalt fülle. Sich ausleben! In einigen Jahrzehnten! Lächer⸗ liches Modewort. Fürchterlich dieſe Einſeitigkeit, dieſe Unfreiheit, daß wir uns ſelbſt anbinden müſſen, weil wir einmal in einer Stunde, in der vielleicht der blinde Zufall uns einen Poſſen ſpielte, unwiderruflich über unſer Schick⸗ ſal entſchieden. Habe ich nicht ebenſoviel Urſache, über das, was in mir geſtorben iſt, ehe es lebte, zu trauern? In mir war immer der Tod. Der Tod! Man kann Kindern eine betrü⸗ bende Sache ſo darſtellen, daß ſie ihnen luſtig und heiter vorkommt. Den erwachſenen Kindern der Welt auch. — Warum wählt man die Symbole des Todes ſo, daß ſie Schrecken und Grauen in die Seele des Men⸗ ſchen tragen, Symbole, grauſam, als wäre der Ster⸗ bende ein Delinquent, den man zum Richtplatz 60 ſchleppt. Das Skelett, der Totenſchädel, der ſchwarze Sarg, das Betten tief unter die Erde, ſchwarze Flore, alles ſchwarz, ſchwarz, ſchwarz! Und ſie ſollten von weißer Schönheit ſein, die Symbole. Die Vorſtellung der langſamen Verweſung abweiſend. Gehen wir nicht mit Entſetzen an einem verweſenden Tierleich⸗ nam vorbei, den etwa das Meer ans Ufer geſpült hat? Und ſchaudernd denken wir unſere eigene Ver⸗ weſung voraus. Und man hat die Toten nicht von jeher ver⸗ brannt? Hätte man es getan, nie würde die Ver⸗ weſungsvorſtellung uns ſo brutal gepackt haben. Die Symbole des Todes müßten wie eine Er⸗ läuterung zu dem Spruch ſein, den ich für mein Grab⸗ monument gewählt habe: „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag,“ oder ſo, daß ſie ein tiefes und feierliches Myſterium ausdrückten, wie auf der Toteninſel Böck⸗ lins: dunkle Zypreſſen, die in einen roſigen Himmel hineinragen. Der eben Dahingeſchiedene iſt ſchöner, als der Lebende es war, und ſchön iſt die Flamme, die ihn ver⸗ zehrt, und die Urne ſoll noch ſchöner ſein, in der ſeine Aſche ruht, und der Raum, in dem die Urne ſteht, ſoll ſchön ſein. Ja, was wollte ich nur? Troſt ſuchen? Wo? Ich will mich durchdringen mit dem Gefühl mei⸗ ner Winzigkeit, meiner Erſetzbarkeit, damit, daß ich nur ein Atomchen im Wirbel der Materie bin. 61 Gleichgültig will ich mir ſelber werden, wie ick es dem Kosmos bin. Ich kam an einer Wieſe vorbei. Rinder weideten darauf. Mäher ſchnitten das Gras und warfen den Rindern Büſchel davon zu. Ich blieb ſtehen, und ich dachte: das Gras wird gemäht, damit die Rinder es freſſen. Sie ſollen es freſſen, damit ſie uns zur Nahrung dienen, und wir, jeder einzelne von uns, lebt, um die Menſchheit zu realiſieren. Und die Menſchheit — wiſſen wir, ob ſie nicht auch nur ein Mittel iſt, in der Hand einer Ur⸗ macht, die wir nicht kennen, und zu einem Zweck, den wir auch nicht kennen. Und das wäre ein Troſt? Ach nein, ach nein! Nur ein Mittel ſein, ein Handwerkszeug wie der Hammer in der Götterfauſt Tors? Iſt der Menſch am Ende nicht mehr als ein kos⸗ miſcher Einfall? Ein Ornament, an irgend welchem Weltendom, in dem Gott ſeine Myſterien feiert? Denke tiefer, du Troſtbedürftiger! Ja, ich will mich bemühen, die Weisheit des Naturgeſchehens zu verſtehen. Ich weiß, daß Geburt und Tod ſich bedingen, daß er gewiſſermaßen eine Zirkulationsnotwendigkeit iſt, der Untergrund für alle Lebensenergien. Ich kenne ſie, die ins Herz der Dinge dringenden Erkenntniſſe der Philoſophen und Religionskünder. Ich höre die Botſchaft der Unſterblichkeit. 62 Der Glaube daran, den der Materialismus be⸗ ſeitigt zu haben glaubte, er lebt mehr als je, von der frommen, grobmateriellen Anſchauung, die noch immer die Auferſtehung in unſerem ſpeziellen Fleiſch hofft, bis zu der ſublimiert tranſzendenteſten, die uns zur ewigen Seligkeit in das „Allein⸗Eine“ zurückſpediert. Und Zwiſchenſtufen gibt's. Die beliebteſte, flachſte und gebräuchlichſte iſt die Unſterblichkeit, die unſere Kinder uns verbürgen ſollen. Bei Gott, ein Troſt für Größenwahnige, die darin eine Beglückung finden, daß ihre Qualitäten in den Kindern fortleben werden; abgeſehen davon, daß dieſe Qualitäten es meiſtens gar nicht tun. Ich, im Gegenteil, ſtände es in meiner Macht, ich würde es verhindern, daß meine Kinder würden, wie ich war. Und außerdem, mein Sohn mag dieſe oder jene körperliche oder geiſtige Eigenſchaft von mir erben, mein eigentliches Weſen, das, was meine Indi⸗ vidualität ausmacht, erbt er nicht. Erwins Leben! Was geht mich das an. Es iſt mein Leben, das ich will! Müßte nicht die Vorſtellung, daß die Kinder ihre Krankheit, ihre für Glück und Fortkommen verhängnis⸗ vollen Eigenſchaften erben werden, viele Eltern mit Gram anſtatt mit antizipierten Unſterblichkeitsge⸗ nüſſen erfüllen? Beſſeren Troſt brauche ich, höheren. Zu euch flüchte ich, Schopenhauer, Plato, die ihr die Idee der Unſterblichkeit tief, tief erfaßt habt. 63 „Das Sterben iſt der Augenblick jener Befreiung von der Einſeitigkeit einer Individualität, welche nicht den innerſten Kern unſeres Weſens ausmacht, viel⸗ mehr als eine Art Verirrung desſelben zu denken iſt. Als eine Art Verirrung! Darüber habe ich ge⸗ ſonnen, verſucht, meinem Ich auf den Grund zu kom⸗ men. Haben nicht unabſehbare Reihen von Genera⸗ tionen die Atome, geiſtige und körperliche, zu meinem Sein und Werden geliefert? Und in dieſen Genera⸗ tionen waren vielleicht Henker und Hoheprieſter, Ver⸗ brecher, Tyrannen, Dichter, Philiſter. Und ich denke zurück an Taten, die ich faſt gegen meinen Willen, triebhaft begangen. Als ich damals ein Modell, das ſich widerſpenſtig zeigte, faſt erwürgte. Und dann wieder denke ich an den Knaben, der beim Schlittſchuhlaufen eingebrochen war, und den ich mit Einſetzung des eigenen Lebens rettete. Ich ſehe mich in Rom beim Miſerere in Tränen zerknirſchter Verzückung. Ich ſehe mich in animali⸗ ſcher Erniedrigung einer Dirne preisgegeben. Und das war immer dasſelbe Ich — dasſelbe! Ein Ragout, das ein raffinierter Schöpfungskoch zu⸗ ſammenbraute. Mir ſelbſt ein Rätſel. Und der Kern? „Das wahre Weſen ſieht, daß es ſelber nur eines in allen Menſchen iſt ... Der ganze Wille zum Leben iſt im Individuum, wie er im Geſchlecht iſt, und daher 64 iſt die Fortdauer der Gattung bloß das Bild der Un⸗ zerſtörbarkeit des Individuums. Und Schopenhauers ſchönes Bild vom Baum: „Der betörte Frager gleicht im Verkennen ſeines wahren Weſens dem Blatt am Baum, welches im Herbſte welkend, und im Begriff abzufallen, jammert üiber ſeinen Untergang und ſich nicht tröſten laſſen will durch den Hinblick auf das friſche Grüin, welches im Frühling den Baum bekleiden will, ſondern klagend ſpricht: „Das bin ich ja nicht! Das ſind ganz andere Blätter!“ — O, törichtes Blatt! Wohin willſt du? Und woher ſollen andere kommen? Wo iſt das Nichts, deſſen Schlund du fürchteſt? — Erkenne doch dein eigenes Weſen, gerade das, was vom Durſt nach Da⸗ ſein ſo erfüllt iſt, erkenne es wieder in der inneren, geheimen, treibenden Kraft des Baumes, welche, ſtets eine und dieſelbe in allen Generationen von Blättern, unberührt bleibt vom Entſtehen und Vergehen.“ Unſterblichkeit alſo nicht in den Kindern, ſondern in der Menſchheit, in der Gattung. Die Unſterblichkeit der Gattung! Iſt ſie verbürgt? Nein. Nur ein unermeßlich längeres Daſein hat ſie als der einzelne, ungefähr wie der Menſch mit ſeinen 70 und 80 Jahren das Ein⸗ tagsinſekt überdauert. Und warum ſoll mir dieſe Unzerſtörbarkeit der Gattung ſo am Herzen liegen, ſelbſt wenn dieſe Gat⸗ tung ſich bis zur Engelhaftigkeit entwickeln ſollte? Ich müßte doch überhaupt erſt den Sinn des Dohm, Schwanenlieder. 5 65 Lebens gefunden haben, ehe dieſe Vorſtellung troſt⸗ reich ſein könnte; und dieſen Sinn, wir werden ihn in abſehbaren Milliarden von Jahren nicht finden. Und dann — iſt es ſicher, daß die Erdbewohner eine ſolche Vollkommenheit erreichen werden, daß Nietzſches Übermenſch daneben ein unreifer Knabe wäre? Nicht ebenſo möglich, ſogar wahrſcheinlicher, daß ihre Entwicklung nur bis zu einem gewiſſen Höhepunkt gelangen und dann abwärts ſich vollziehen wird, endend bei vertierten Geſchöpfen? überall ſehen wir Analogien. Kein Troſt, kein Troſt iſt die Unzerſtörbarkeit der Gattung. Fliege höher, zagende Seele, laſſe im Tal die Un⸗ zerſtörbarkeit der Gattung. Zu Gipfeln erhebe dich, die im weißen Glanz kosmiſcher Glorien erſtrahlen. Höre die Verkündigung des All⸗Einen. Erfülle dich mit dem Glauben an die abſtrakteſte, aber tiefſte und reinſte Unſterblichkeit. Wiſſe, daß du eins biſt mit dem Ur⸗ weſen, dem Urgeiſt, der ohne Entſtehen iſt und ohne Vergehen, aus dem du hervorgegangen und in den du zurückfließen wirſt. Expatriiert dich der Tod aus dem irdiſchen Heim — eine neue, unausſprechlich ſchönere Heimat bietet dir das Welt⸗Eine. Erkenne, daß „hinter unſerem kleinen ephemeren Ich ein höheres kosmiſches Ich ſich birgt, das unſer eigentliches unzerſtörbares Weſen ausmacht. 66 „Der Leib,“ Plato ſagt's, „iſt das Grab der Seele.“ Und des Unſterblichkeitspſalms Schlußakkord „Ich werde ſtets ſein, und ich bin ſtets geweſen.“ — Und in dieſem Sinne erhebe ich das Glas: „Es lebe das Welt⸗Eine, der jüngſte Gott, das Neſthäkchen des Univerſums.“ Nein — nein! Es lebt nicht, nicht in mir! Die Tiefe, der äſthetiſche Zauber, der phanta⸗ ſtiſche Glanz dieſer geiſtreichen Märchen nimmt mich gefangen. Das Wunderbarſte aber ſcheint mir, daß dieſe intellektuellen Abſtraktionen dem Tode ſeinen Stachel nehmen ſollen. Wie? Das bißchen unmittel⸗ bare Perſönlichkeitsbewußtſein wäre nicht der Rede wert? Wir bezahlten damit — billig — das Welt⸗ bewußtſein, das Einsſein mit dem All? Blaß, blutlos ſind mir dieſe Gehirnbilder, ge⸗ maltes Feuer, das freilich unzerſtörbarer iſt als das wirkliche, aber es wärmt nicht und leuchtet nicht. — Ein Schaugericht iſt's, ein metaphyſiſches Hazardſpiel, wo man abwechſelnd auf rouge und auf noir ſetzt. Rouge das Gemüt, noir das Gehirn. Und zuweilen meine ich, daß man, wie man früher Rebuſſe — ſo jetzt Welträtſel löſt. Und in meinen ſchwärzeſten Stunden fange ich an, dich, das Welteine, zu haſſen, ſchon weil du ſo emi⸗ nent modern biſt! Zudringlich iſt es. In alles ſteckt es ſeine ſublime Naſe. Sprich von den modernſten Büchern — auch 5* 67 Romanen —, der Weltgeiſt geht darin um. Sprich vom Tode, der Weltgeiſt iſt da. Fange an zu denken, und der Weltgeiſt präſentiert ſich auf der erſten Ge⸗ hirnſtation. Ja — wenn ich ihn, den Weltgeiſt — und wär's nur, um ihn los zu werden — geſtalten könnte, wie Heine aus ſeinen großen Schmerzen kleine Lieder machte! Der alte Gott, ja, der exiſtiert in allen möglichen Kunſtformen, in unzähligen Exemplaren. Dieſer neue modernſte Gott aber — das Welt⸗Eine — wie geſtalte ich ihn? Als Vexierbild? Ich martere mir das Hirn ab mit dem All⸗Einen. Ich — der Bildhauer — ſehe alles plaſtiſch. Ich ſehe das All⸗Eine wie ein wogendes Meer, in dem meine Vorſtellungen auf und ab ſchwimmen, auf und ab, aber ſie kommen zu keinem Ufer. Uferlos, uferlos treiben ſie dahin. Wunderſchön ſeid ihr Philoſophen zu leſen. Sublimer Weisheit voll mögen eure Sprüche ſein. Ich aber brauche irdiſche Augen, nicht überſinnliches Schauen. Ich bin ganz und gar Künſtler. Ohne blühendes Leben komme ich nicht aus. Metaphyſiſche Entzückungen gleichen einer Fata Morgana, die dem verſchmachtenden Wüiſtenwanderer zauberhafte, quel⸗ lengetränkte Gegenden vortäuſcht. Aſtrologen ſind wir noch immer. Nur leſen wir die Zukunft nicht aus den Sternen, ſondern aus fun⸗ kelnd tiefen Worten und Begriffen. Jene alten Aſtrologen verkündeten von Zeit zu 68 Zeit Weltuntergänge; die modernen Zukunftsdeuter, die Gläubigen des Welt⸗Einen, verkünden Weltauf⸗ gänge. Ich höre die Botſchaft, doch mir fehlt der Glaube. Fern und fremd bleibſt du mir, erhabenes Welt⸗ Eine. Ein Rieſenloch, um das man immergrüne Kränze windet. Deine glaubensbrünſtigen, prahleri⸗ ſchen Seligkeitsverſprechungen können mir den Tod nicht erklären und nicht das Leben. Ich weiß nicht, was die Seele iſt und was der Geiſt. Rätſel! Rätſel! Und das iſt die zermalmende Schwermut, daß wir leben, handeln, leiden und ſterben, und wir wiſſen nicht, warum und wozu. So kriech' ich denn in bleicher Reſignation aus dem tranſzendentalen Gottesreich zurück in meine Maulwurfshöhle, um zu verenden. — Altersſchwach! Unwiderruflich! Nun iſt mir, als müßte ich mich meines Alters ſchämen. Es laſtet auf mir wie eine Schuld. Verbergen möchte ich ſie, wie der Schwer⸗ hörige, der, kaum noch etwas verſtehend, ſich den An⸗ ſchein gibt, als verſtände er alles. Die nagende Pein eines Schauſpielers fühle ich, der für große Rollen engagiert war, und der nur noch für ganz kleine, nichtsſagende taugt. Und er nimmt nicht ſeinen Abſchied? So ganz ohne Stolz iſt er? Zu Hauſe. Monika wird es vielleicht nie erfahren, daß ich nur vierzehn Tage in Rom war. Ich hatte ihr 69 nicht geſchrieben. Mündlich wollte ich ihr alles er⸗ klären. Und nun dieſes neue, ſchwere Schickſal! Sie iſt krank. Ich darf nicht zu ihr. Ein Schlaganfall ſcheint's. Und als ſollte alles über mir zuſammenſtürzen — der liebſte, mir vertrauteſte unter allen Künſtlern, iſt geſtorben. Ich habe ihm die Totenmaske abge⸗ nommen. So berühmt war er als Sonnenſcheinmaler. Vor ſeinen Wäldern und Feldern lachte einem das Herz im Leibe, man nahm förmlich in ihnen Sonnen⸗ und Luftbäder. Nun war er lange ſchon krank, und er malte noch immer ſonnendurchflutete Wälder und Felder. Aber ſein Sonnenſchein war auch krank geworden, eine trübe, ſchwere Sonne, die durch Trauerflöre ſchien. Ich ſah kürzlich eine Frau vor einer Wiege. Die Wiege war leer, das Kind tot. Aber ſie wiegte noch immer das Kind. Wiege ich auch noch immer mein totes Talent? Ja — tot! Ganz tot! Binde einem Genius die Flügel mit Stricken, er zerreißt ſie wohl. Offne einem Nichtgebundenen, wie ich es bin, die ganze Welt und ſage: Fliege! — Hohn! Hohn! Mit gebrochenen Flügeln! Der Unterbau für unſer bildneriſches Schaffen iſt Phantaſie; die Funken, die aus Jugendflammen ſprüi⸗ hen, nähren ſie. Fülle eine Lampe bis zum Rand mit 70 Petroleum; haſt du kein Streichholz, du kannſt ſie nicht anzünden. Hier iſt der Ton und hier die Hände, ſtark genug zum Kneten und Meißeln, und hier die Stirn, hinter der die Ideen brennen. Der Schöpfungsfunke fehlt. O, du mein Pegaſus, deine Flügel ſauſten ein⸗ mal ſturmgleich durch den Äther, nun biſt du nur noch zum Karrengaul zu gebrauchen, zu niedriger, mecha⸗ niſcher Arbeit. Warum tu' ich ſie nicht? Ich könnte Ornamente modellieren oder andere Stukkaturarbei⸗ ten herſtellen. Ich wollte es. Ich war in einer Stein⸗ metzwerkſtatt mich anzubieten. Ich brachte es nicht über die Lippen. Statt meine Dienſte anzubieten, beſtellte ich einen Fries, den ich nicht brauchte. Wer ein König war, kann nicht als Kärrner leben. Mein Haus iſt morſch. Ein Mieter nach dem anderen kündigt mir, und nun ſtehen all meine Kam⸗ mern leer. Und ich wandere betrübt von der einen zur anderen. Ich feiere täglich kleine Begräbniſſe. Vorgeſtern (das Vorgeſtern datiert Jahre zurück) begrub ich meine Phantaſie, geſtern meine guten, hellen Augen, und die Sicherheit meiner Hand begrub ich, und was wird morgen und übermorgen an die Reihe kommen? — Mit bitter ironiſcher Neugierde verfolge ich die Stationen meines Zerfalls. Zuweilen kommt mir, ſchaudernd, die Vorſtellung, 71 als wäre ich ein Lebendiger, an einen Leichnam ge⸗ bunden, und der Lebende ſieht — ſieht das Grauſige. So wie mir muß einem Stummen zumute ſein, der unausſprechlich Großes empfindet, und er kann es nicht ausſprechen. Nur unartikulierte Laute bringt er über die Lippen, Schreie, ſie zerſprengen ihm die Bruſt. Und dieſer verzehrende Neid auf die zukünfti⸗ gen Geſchlechter, denen ſich Welten erſchließen wer⸗ den, deren Wunderpracht wir heut' noch nicht einmal zu ahnen imſtande ſind. Phantaſtiſche Zukunftsbilder ſchweben mir vor. Mußten nicht ungeheure Zeiträume verſtreichen, ehe der Menſch die wahnſinnig kühne Idee faßte, über die Meere zu fahren? Und wieder in Tauſenden von Jahren könnte man da nicht Herr der Stüirme, der Winde werden? Und Schiffe auf dem Waſſer und Schiffe in der Luft werden zu Wohnſtätten der Men⸗ ſchen dienen, und mit einer Raſerei der Geſchwindigkeit werden wir von Norden nach Süden, von Siiden nach Norden fliegen. Der Erdkreis unſer Vaterland, die Sonne unſer Trabant, die Schönheit der ganzen Welt unſer Recht. Die Häuſermaſſen in den Straßen ſehe ich ver⸗ ſchwinden und die Zwangsehe und die Zwangsarbeit. Und keine Menſchen wird es geben, die einen beſtien⸗ haft phyſiſch oder geiſtig anfallen. Der Krieg: eine verſchollene blutige Legende. Jeder einzelne ſein eigener Herr und Geſetzgeber, ſein eigener Seelenhirt. 72 Und meine Bruſt weitet ſich, mein Herz klopft in Liebesleidenſchaft für dieſe fernen Jahrtauſende. Und ich werde tot ſein, tot, und nichts davon wiſſen und fühlen. Zukunftslos bin ich, und nun löſt ſich auch die Gegenwart von mir wie ein zertragenes Gewand. Ich werde das Gefühl nicht los, daß ich aus dem Zu⸗ ſammenhang der Dinge geriſſen bin. Ich las von der Entdeckung der Radiumſtrahlen, die der Wiſſenſchaft eine ſo grandioſe Perſpektive er⸗ öffnen ſollen. Ich warf den Aufſatz fort, ehe ich damit zu Ende war. Was kümmern mich die Radium⸗ ſtrahlen! Ich erlebe ja doch an ihnen nichts mehr. Und all die tiefen und ſtarken Bücher, ich will ſie nicht mehr leſen. Und viel ſtärkere und tiefere Büicher wird man ſchreiben, und ich werde ſie alle nicht mehr leſen, weil ich tot ſein werde. Nach materiellem Beſitz mag man bis zum letzten Tage trachten. Es ſind ja Erben da. Was ich Geiſti⸗ ges noch erwerben könnte — für wen denn? Ja, wenn ich an das Karma der Theoſophen glaubte, dann wäre ich ſelbſt mein eigener Erbe. Bei der Wieder⸗ verkörperung würde der geiſtige Beſitzſtand, in dem ich geſtorben, mein neues Schickſal beſtimmen. Ich komme von einem Spaziergang zurück. Ich habe mich erkältet. Ein Schüttelfroſt. Nebeldünſte ſtiegen auf. Ich habe nichts gegen eine Influenza, nag ſie mich hinraffen. 73 Feigling! Das iſt, als dingte jemand einen Mör der, weil er ſelbſt zum Mord zu feige iſt. Die Uhr! Die alte holländiſche Uhr da; hat ſie immer ſo laut, ſo vorlaut getickt? Dieſe unbeirrbare Regelmäßigkeit und Einförmigkeit, als fiele mir ein Tropfen immer auf dieſelbe Stelle, quälend, ſchmerz⸗ haft. Und als ticke ſie: „Ich bin die Zeit, und ich habe Zeit, du haſt ſie nicht, du haſt ſie nicht. Ticktack. Ich wollte an etwas anderes denken. Unmöglich. Immer tickte ſie mit kalter, höhniſcher Ruhe da⸗ zwiſchen: „Ich habe Zeit, ich habe Zeit, du aber nicht, du aber nicht. Ticktack, ticktack.“ Ich habe die Uhr angehalten. So, nun ticktacke doch weiter! Ich empfinde eine Erleichterung, als wenn die Zeit nun wirklich eine Weile ſtillſtände. Ich war in einen leichten Schlummer verfallen. Plötzlich ſchreckte ich auf. Was war das? Sie ging ja wieder — die Uhr! „Du haſt keine Zeit, du haſt keine Zeit.“ Das rätſelhafte, furchtbare Nichts! Langſam, langſam kriecht es heran. Nichts! Eine ewige Finſternis, die kein Auge durchdringt, ein Abgrund, in den kein Senkblei reicht. Nichts! Und ſchlingt doch in unerſättlicher Gier Welten in ſeinen ſchwarzen Schlund. Mich auch! Mich auch! Ich wehre mich mit der Verzweiflungs⸗ kraft eines Ertrinkenden, nicht gegen das Nichts, — was hülfe es auch, — nur gegen das Grauen vor dieſem 74 Eiſesatem, dem giftigen Magneten, der mich in ſich einzieht, Stück für Stück. Ich rufe meinen geſunden Menſchenverſtand an. Da iſt er. Er nickt, freundlich, begütigend. Es wäre ja alles ſo natürlich, auch mein Verfall. Es müſſe ja ſo ſein. Was ich denn eigentlich wolle? Na ja, ja wohl, ich weiß, es iſt alles ſo natürlich: es kann nicht anders ſein. Naturkorrekt das Siechtum. Und ich werde mich ja auch daran gewöhnen, und es wird allmählich zum Inventar meines ſchäbigen Da⸗ ſeinreſtes gehören. Ganz natürlich, daß ich im Staube liege. Aber ich lechze nach Höhen, nach Licht, nach Kraft. Im Kern bin ich noch urlebendig, ideenzeugend. Nur dieſe ekelhafte, ſchrumpfende Schale, die zugleich Kern ſein will. Weil ſie nicht mehr kann, ſoll ich nicht mehr dürfen. Was mein Inneres durchſchauert, gleicht wilden Brandungen, die von einem ſteilen Ufer abprallen, und immer wieder fallen ſie auf mein todwundes Herz zurück. — — Ich verbrannte heute meine Papiere. Plötzlich ſtörte es mich, daß dicht neben dem Kamin das Ske⸗ lett ſtand. Ich wußte, es war das Skelett eines Mör⸗ ders, eine Tatſache, die mich ganz gleichgültig gelaſſen hatte. Das Knochengeſtell war für mich nie etwas anderes als Handwerkszeug geweſen. Unleugbar, das Ding hatte eine ſcheußliche Phy⸗ 75 ſiognomie. Und wechſelte es die Phyſiognomie nicht? Grinſte es nicht bald widerwärtig freundlich, bald höhniſch mit einem verſtohlenen Triumph? Mit dem Verbrennen war ich fertig geworden. Müde war ich und überreizt. Ich wollte ins Freie. Wie ich meinen Hut nehmen will, entfällt er meiner Hand. Ich fühle mein Geſicht, meine Hände kalt werden. Das Skelett blutet. Aus ſeinen Augenhöhlen rinnt Blut. Im blutigen Dunſt ſteht es. Einen Augenblick ſpäter lache ich laut auf, ich lache grell, überluſtig, ſo daß mein eigenes Lachen mich widerwärtig berührt. Ich hatte nicht beachtet, daß die Sonne, die ſich den ganzen Nachmittag hinter ſchwerem Gewölk gehalten, plötzlich hervorgebrochen war und nun, im Untergehen, das Skelett um⸗ flammte. Von dem Moment an ſammelte ſich in mir eine ſtille Wut gegen das Knochengerüſt. Oder — galt ſie dem Mörder, oder — ſah und haßte ich in dieſem Ske⸗ lett mein eigenes zukünftiges? Meine Nervoſität ſtieg. Ich klingelte nach dem Mädchen. — Als es kam, trug ich ihm auf, das Skelett in die Kammer neben dem Atelier zu ſchaffen. Ein Modell, das ich erwarte, fürchte ſich davor. Ich ging. Draußen ſah ich mich alle Augenblicke um, als erwartete ich etwas, als würde etwas ge⸗ ſchehen, etwas Schweres, Schickſalsvolles, vor dem ich auf der Hut ſein müßte. 76 Es war dämmrig geworden. Bleich, grau die Luft. Die Landſchaft fahl. Das Waſſer ſtill, dumpf. Ein dünner, unhörbarer Regen. In Dunſt gehüllt alles. Die Leute, denen ich begegnete, tauchten wie Schattenbilder aus dem Dunſt hervor und verſchwan⸗ den darin wieder. Die großen elektriſchen Licht⸗ ballons lugten blaß mit Geſpenſteraugen durch das Nebelgrau, ſie erloſchen und flammten wieder auf. Zwei ganz weiß gekleidete Kinder eilten flüchtend durch den Nebelregen. Jedes trug eine große rote Apfelſine in der Hand. Ein alter Mann in weitem Mantel, mit langem, weißem Bart, kroch mühſam vorwärts. Den kannte ich ja — ein Kupferſtecher. Er war nicht älter als ich. Er murmelte vor ſich hin: „Ja, ja, ja, ta, ta, ta! Seine Hände zitterten. Ich ſah auf meine Hände. Nein, ſie zitterten nicht. Aber ſie waren kalt, eiskalt. Der Froſtſchauer kam wieder. Ich hatte mich ja am Tage vorher erkältet. Und immer hörte ich durch den Nebel das Ticken der Uhr, oder waren es Regentropfen; oder war's das Hämmern meines Herzens? An einer Stelle des Parks überſchritt ich die von Eiſenſchienen durchzogene Chauſſee. Ein dunkler Gegenſtand lag quer über den Schienen. Mein Gott — das Skelett. Sinnestäuſchung — ja wohl. Ich kehrte um. Ich kam an den See. Noch ein einziges letztes Boot trieb auf dem Waſſer. Was ſchwamm 77 hinter dem Boot her? Ich wußte es, wußte es — das Skelett. War da auf den Schienen ein Menſch überfahren worden, und hatte ſich im See an jener Stelle jemand ertränkt? Und das Skelett, das meine Sinne er⸗ füllte, hatte dieſe Schattenbilder herbeigezogen, und ſie tauſchten telepathiſche Grüße aus? Das hätte Monika denken können — aber ich? Ich dachte es ja auch nicht. Es war das Fieber, das in meinem Blut raſte. Ich bog in die Straßen der Stadt ein. Die erſte Straße war beinah' einſam. Ein Menſch ging hinter mir her. Plötzlich ſchauderte ich. Ich fühlte ſeine kalte Fauſt im Nacken. Ich raſte auf die andere Seite. Der Menſch war ruhig weiter⸗ gegangen. Zu Hauſe, im Atelier, warf ich mich auf die Ruhebank. Ich wollte verſuchen, zu ſchlafen. Der Mond ſtand im erſten Viertel. Ich verfolgte mit einer Art Spannung, wie er von einem Gegenſtand zum anderen glitt. Wohin ſein Licht fiel, war's, als habe er Schlafendes geweckt, Erſtarrtes ins Leben gerufen. Aber er war nicht ſtill, der Mond, wie ſonſt. Ein leiſes Raſcheln, Raunen, Ziſchen, Kniſtern hörte ich, als ob ſein weißer Glanz Töne aus den Dingen her⸗ vorlockte. Oder war's der Wind, der draußen ging? Aber das Fenſter war feſt geſchloſſen. Ich lag im Halbſchlummer. Ab und zu öffnete ich die Augen. Der Mond traf jetzt auf dem Vor⸗ ſprung der Tür meinen ausgeſtopften Raubvogel. 78 Seine Augen glitzerten raublüſtern. Er ſpreizte die Flügel. Will der ſchwarze Vogel etwas von mir? Etwa mit ſeinem ſpitzen Schnabel — — Ich ſchüttelte die Viſion ab. Und ich ſummte vor mich hin: „Kommt ein Vogel geflogen, ſetzt ſich nieder auf . . .“ Ich hatte Luſt, ihm die Augen auszuſtechen. Zu⸗ gleich fiel mir ein, ob man nicht auch Menſchen aus⸗ ſtopfen könnte? Grauſig wär's, wenn in der Kam⸗ mer dort, anſtatt des Skeletts, der ausgeſtopfte Mör⸗ der ſtände, leibhaftig — mit funkelnd lüſterner Mord⸗ luſt . . . Da war der Mondſtrahl ſchon weiterge⸗ glitten, hinüber zur Büſte meiner kleinen Ruth. Mein Kind — es lebte! Traurig ſah es mich an. Ich ging zu ihr hin. Mit zitternden Händen umfing ich ihr Köpfchen. Es fiel vom Poſtament, zerbrach. Ich war außer mir. Ich ſuchte die Scherben auf und hatte dabei die Empfindung, als wären es ihre wirklichen Gliederchen, die ich ſammelte. Es wandelte mich an, wie ein Kind zu weinen. Der Mond glitt über den Teppich. Ich hatte nie beachtet, wie merkwürdig verſchlungene Arabesken in die Borte des Teppichs eingewebt waren. Lauter kleine Gerippe ſchienen es, die miteinander tanzten. Was war das? Die getrockneten bräunlichen Palmen hinter der Ruhebank raſchelten, als wenn ein ſtarker Windzug ſie ſchüttelte. Dieſe Palmen hatte ich einmal einem kleinen Modelljungen abgekauft. Der hatte ſie aus dem Kehricht auf einem Kirchhof auf⸗ 79 geleſen. Sie hatten wohl lange, lange auf Grab⸗ hügeln gelegen, und nun — nun — — Mein Herz fing an, wild zu ſchlagen. Ich habe eine Flaſche Kognat aus dem Schrank genommen und faſt ein Weinglas davon gut hinuntergeſtürzt. Nun ſind mir die Augen⸗ lider ſchwer, ſchwer. Ich will ſchlafen. Was für eine Stunde liegt hinter mir. Ein De⸗ lirium. Der Kognak tat's wohl. Jetzt iſt mir wohl. Ich atme tief, wie einer, der gehängt werden ſollte, und der aus der Schlinge entſchlüpft iſt. Gräßlich war's, gräßlich. Ich ſchreibe es nieder, abſichtlich, um mir damit den Puls zu fühlen, ob ich vor Rückfällen ſicher bin. Ich ſchlief nach dem Kognak vielleicht eine halbe Stunde; dumpf und ſchwer wie ein Alpdruck war der Schlaf. Und der Traum — der Traum! Ich wollte ein Bad nehmen. Viele warteten in demſelben Raum auf das Bad. Aber ich hatte es zuerſt beſtellt. Ich ſtieg in die Wanne. Es war bald keine Wanne mehr, in der ich ſaß; das Waſſer breitete ſich weiter und weiter aus, den ganzen Raum erfüllte es. Ich ſchwamm darin wie im Meer. Weitab trieben meine Kleider. Und nun war es das Meer. Und alle, die mit mir gewartet hatten, ſie ſchwammen um mich her. Und mit einem Male waren es nicht mehr Lebendige. Ich ſchwamm in einer Flut von Leichen. Und die wurden immer ſchmaler, ſchmaler, und ſie raſſelten und klap⸗ 80 perten. Das kam daher, die Leichen waren alle Ge⸗ rippe geworden. Ich auch. Und mit einem Male ertönte von irgend woher ein Schrei: „Das iſt ja das Tote Meer.“ In Schweiß gebadet erwachte ich. Der ſchreckliche Traum! Ich wollte das elektriſche Licht aufdrehen, ver⸗ mochte aber nicht, mich zu erheben. Der Mond war höher geſtiegen. Wie mit verſtohlener Argliſt glitt er in den dunkelſten Winkel des Ateliers. In der Silber⸗ glut wurde eine Geſtalt ſichtbar, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Mein Herz ſtand ſtill. Das war ich ja. Meinen Mantel trug die Geſtalt, meinen Hut auf dem Kopf, tief ins Geſicht gezogen. Entſetzt ſprang ich auf. Ich zerrte den Mantel herunter — das Skelett. Diesmal keine Viſion. Wie war es aus der Kammer gekom⸗ men, wie zu dieſem Hut, zu dieſem Mantel, die doch im Schrank hingen. Ich griff an meinen Kopf, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn meine Hand einen blanken Totenſchädel gefühlt hätte. „La mort triomphante,“ murmelte ich abweſend. Warum auf franzöſiſch — ich wußte es nicht. Irgend eine Reminiszenz. Fort wollte ich, ich ſtürzte zur Tür. Da war ſie wieder, die eiskalte Fauſt im Nacken. Der Mut der Verzweiflung kam über mich. Ich wende mich gegen die entfleiſchten Knochen, in denen noch die Mordluſt brennt. Dohm, Schwanenlieder. 81 6 Knochen? Aber — nein — ich hatte ihn nur nicht erkannt — das iſt ja — der Tod — er ſelber. In⸗ kognito, als das Skelett eines Mörders, hat er ſich zu mir geſchlichen, mich zu überrumpeln. Und er war das Skelett auf den Schienen, im See. Jetzt galt es mein Leben. Ich packte ihn, ich kralle meine Hände in ſeine Rippen, mit Wolluſt höre ich, wie ſeine Kno⸗ chen vor Entſetzen klappern. Er wehrt ſich. Mit eiſernen Klammern halten ſeine Rippen meine Hände feſt. Meine unerhörten Anſtrengungen, ſie herauszu⸗ reißen, ſind umſonſt. Ich fühle mein Blut rieſeln. Ich ringe mit ihm. Wir ſtürzen zu Boden, und wir rollen — rollen — rollen. Ich verlor das Bewußtſein. Wie lange ich bewußtlos blieb, weiß ich nicht. Als ich zu mir kam, dämmerte ein ſchöner, klarer Herbſt⸗ morgen herauf. Ich war fieberfrei. Eine Kriſe war's. Ich wußte gleich, wie alles zugegangen. Das Stubenmädchen hatte ſich gefürchtet, das Skelett an⸗ zufaſſen, und ihm — um es vorläufig meinen Blicken zu entziehen — meine Kleider übergeſtülpt. Ich bin feig, dumm, verächtlich. Ich wäre für dieſen Rauſch des Grauens nicht verantwortlich, weil ich im Fieber war? Lampenfieber, Kanonenfieber, Todesfieber auch Tapfere würden davon ergriffen? Ich habe das arme Knochengeſtell aufgehoben, ihm die Rippen gerade gebogen, das Blut von ſeinen Nägeln — mein Blut — abgewaſchen. Ihm ein paar ausgefallene Zähne wieder eingeſetzt. Es beißt nim⸗ 82 mner. Freundlich und vertraulich habe ich ihm auf die Schulter geklopft. Wir ſind gut Freund. Monika! Ich war bei ihr. Ich darf ſie wieder ſehen. Ein ganz leichter Schlaganfall iſt's geweſen. Sie hat ihn völlig überwunden und iſt kräftiger und geſünder als vordem. Wie ſonſt liegt ſie tagsüber auf der Chaiſelongue, nur iſt ſie noch mehr als früher dem Tageslicht abgeneigt. Sie hat nach ihren ſchillernden Kleidern verlangt, wie ſie ſie in jungen Tagen trug. Ich habe ſie in Eile anfertigen laſſen. Und wie früher ihr blondes, läßt ſie ihr ſilbern ſchimmerndes Gelock über die Schultern fallen. Ihre Stimme iſt noch leiſer geworden, faſt flüſternd, an Harfentöne erinnernd. Die Augen hält ſie nun faſt immer geſchloſſen. Sie ſcheint eher ein geträumter als ein wirklicher Menſch. Erſt ganz allmählich merkte ich das Furchtbare und doch Wunderbare: ſie hat das Gedächtnis für Zeit verloren. Die 30 Jahre, die ihrer Erkrankung vor⸗ ausgingen, ſind in ihrem Gedächtnis ausgelöſcht. Sie iſt wieder jung, eine junge, bräutliche Frau. Eine myſtiſche Dichtung, eine Seelentragödie, voll ſpannen⸗ den ſchmerzlichen Zaubers iſt ſie für mich. Und das iſt noch nicht alles. Ihr ganzes Weſen, ihre Gebärden ſind wie die eines jungen Weibes, und doch anders, als ſie es in ihren Jugendjahren waren. Als ich zum erſten Male alles begriff, zerriß es mein Herz. 83 6* Der Gazeſchleier, der ihr Weſen verhüllte, iſt zer⸗ riſſen. „Wir haben alle Verſunkenes in uns,“ ſagte ſie einmal. Das Verſunkene iſt aus ihrer Seele empor⸗ getaucht, und es klingt hinaus wie in ſehnſüchtigen Geigentönen. Ich ſorge nun ſelbſt ängſtlich dafür, daß kein helles Licht auf ſie fällt. Ich könnte den Kontraſt zwiſchen ihrem Weſen und ihrer äußeren Erſcheinung nicht ertragen. Ja, war ſie denn nicht bis zuletzt lieblich? Und nun, da das erregte Seelenleben ihre Züge geglättet, iſt ſie in dem dunkelgoldigen, magiſch tiefen Dämmer⸗ ſchein ihres Zimmers ſchön. Eine materialiſierte Lilie, mit dem weißen Geſicht, das zart aus den Silberfäden ihres Haares leuchtet. Der Hoheit dieſer zitternden, jungfühlenden Seele gegenüber dachte ich, ob es nicht viele bejahrte Frauen geben mag, in deren Innerem das helle Lebensfeuer weiter brennt oder brennen würde, wenn nicht das Bewußtſein „ich bin alt“ wie Aſche darauf fiele und es erſtickte. Dieſe Frauen haben ihr Inneres ihrem Äußeren angepaßt, nicht ſcheinbar nur. Mag das Alter gleich⸗ ſam eine Verkleidung ihres Innenlebens ſein, ſchließ⸗ lich verwachſen ſie mit der Verkleidung: die phyſiſche Wirkung des Bewußtſeins „ich bin alt“ löſcht in der Tat aus, was in den Augen der anderen keine Da⸗ ſeinsberechtigung mehr hat. 84 Nun ſtelle ich mir vor, daß plötzlich durch einen Zauber Geſicht und Geſtalt dieſer Frauen wieder jung würde, ihr Seelenleben aber bliebe unberührt von dem Zauber. Und ob nun, da ſie wiſſen, daß ſie für die Welt wieder jung und ſchön ſind, dieſes Bewußtſein nicht doch wie ein Zauberſtab wirken würde, vor dem Türen ihrer Seele ſich öffneten, die ſchon geſchloſſen waren. Und ſie werden wieder jung, weil ſie jung ſein dürfen? Monika hat mich in ihre Atmoſphäre eingeſpon⸗ nen. Ich unterliege ihrer Suggeſtion. Ich ſehe ſie, ich höre ſie, wie ſie geſehen, gehört ſein will. Ich rede mit ihr, als wäre ſie die, die ſie zu ſein glaubt. „Weißt du noch,“ ſagte ich einmal, „als wir neulich (Jahr⸗ zehnte war es her) nach dem wundervollen Spazier⸗ gang heimkamen? Meine Sinne flammten noch von dem Sonnenuntergang. Ich zog dich an mein Herz. Du aber entglitteſt mir und ließeſt mich, krank vor Sehnſucht, allein. Liebteſt du mich denn nicht? „Ich liebte dich innig. Aber — das elektriſche Licht brannte, und du ſprachſt ſo laut, und dein Blick — er war auch ſo laut. Du wurdeſt mir fremd — fern. Nun biſt du tiefer geworden und ſtiller.“ Ich halte ſie an meinem Herzen wie ein Lieben⸗ der, bis mich ein Grauen befällt. Sie iſt ja irrſinnig. Bin ich mit ihr irrſinnig? Irrſinnig oder ſchwachſinnig? Damit ich's nicht werde — ich weiß mir zu helfen. Wer an heftigen Kopfſchmerzen leidet, reißt vom 85 Haupt, was ihn beſchwert, und wäre es eine Krone: Mich beſchwert das Leben. Ich habe tagelang mit mir gerungen. Nun iſt's üiberwunden. Ich bin entſchloſſen. Noch 20 Jahre könnte ich leben. Die Ärzte behaupten es. Ich will nicht. Ich beantworte alle läſtigen Fragen des Lebens mit dem Tode. Es iſt ſo natürlich, beinahe ſelbſtverſtändlich, was ich tun will. Ich töte nicht Lebendiges, nur eine lang⸗ ſame Agonie. Mich laſſe ich ſterben? Nein, nur das Gehäuſe, das Futteral, in dem ich einmal war. Schon lange ſpann mir die Parze den Faden des Lebens zu dünn, viel zu dünn, ich entreiße ihr die un⸗ geſchickte Schere. Ich bin eine Herrennatur. Der freie Tod iſt ein Abgang nur für Herrſchaften. Nein — nicht keuchend, bedeckt mit Wunden laſſe ich mich zur Richtſtätte ſchleifen, vor Zuſchauern, denen ich ein düſteres Schauſpiel bin. Auch nur eine Mode, bis zu Ende zu leben. Iſt nicht der ein Tor, der eine Mode mitmacht, auch wenn ſie ihn verhäßlicht, entſtellt? Für mich, den Gläubi⸗ gen der Schönheit, iſt der freie Tod auch eine äſthetiſche Forderung. Ich laſſe zurück, was für andere Wert haben könnte. Ich gehe mit reinem Gewiſſen. Monika nehme ich um ihretwillen mit. 86 Ich war zu den duftigen Tannenwäldern des Vororts hinausgewandert. Unter dem betäubenden Lärm der Landſtraße ſchritt ich dahin. Ein chaotiſches, wildes Durcheinander von Wagen und Pferden, von kreiſchenden elektriſchen Bahnen, Radfahrern, ſtaub⸗ aufwirbelnden Automobilen, und die Sonne darüber, lachend, luſtig, grell. War denn das alles wirkliches, ernſt zu nehmen⸗ des Leben? Mir ſchien es ein mechaniſches Getöſe, wie das Abdrehen einer Rieſenſpieluhr. Immer dieſelben Stücke. Hypnotiſierend. Wenn ich jetzt unter Menſchen bin, habe ich immer ein Gefühl der Überlegenheit, als wüßten all die ande⸗ ren nicht, was ich weiß. Wiſſen ſie denn, wie bald ſie alle nicht mehr ſein werden? Mir fiel der Ausſpruch einer jungen Verwandten ein, die, gefragt, ob ſie nicht heiraten wolle, antwortete: „Ach nein, wenn man heiratet, iſt man immer ſo bald Großmutter.“ — Ach, wenn man lebt, iſt man immer ſo bald tot. Im Vorübergehen ſah ich im Garten einer Villa einen blondgelockten Knaben im roten Röckchen auf einem Schaukelpferd. Mit Vehemenz gebrauchte er die Peitſche und gebärdete ſich, als ritte er im raſenden Tempo. „Wohin, wohin die Reiſe?“ rief ich. „Nach Amerika,“ rief er zurück, und aus den blauen Augen ſprühte die Luſt. 87 Iſt der Unterſchied zwiſchen dieſem Kind und den Erwachſenen ſo groß? Wir glauben auch vorwärts zu kommen, wenn wir uns nur hitzig bewegen. Iſt — nach Calderon — das Leben ein Traum, ſo ſcheint es mir ein Traum, den auf ſeinem Sturz vom Himmel zur Hölle Lucifer geträumt. Himmelsluſt und Höllenfeuer iſt in dem Traum. Ob Monika bereit ſein würde, mit mir zu gehen? Ich mußte ſie fragen. „Monika, du kennſt Hamlets Monolog: „Sein oder Nichtſein — Sterben — ſchlafen. Zu wiſſen, daß ein Schlaf das Herzweh endet . .. Herzweh haben wir beide, Monika.“ Sie verſtand mich gleich. Sie lächelte. „Für Hamlet mag es eine Frage geweſen ſein, nicht für mich. Es kommt mir fabelhaft vor, wie Menſchen glauben können, daß wir ganz und gar ſterben. Es ſtirbt ſo wenig von uns. Stirbt denn irgend etwas in der Natur?“ Sie macht jetzt beim Sprechen immer Pauſen, als horche ſie auf eine innere Stimme. „Die Vögel,“ ſagte ſie nach einer ſolchen Pauſe, „ziehen nach dem Süden, wenn es ihnen im Norden zu kalt geworden. Für uns iſt es nun auch im Norden zu kalt. Unſer Süden — es bedarf keiner langen Reiſe dahin, vielleicht — ein Gedanke, nur ein Gedanke, ein Wille, ſtark wie Adlerflug, der zum Atem ſagt: ſteh — ſtill.“ Sie öffnete weit ihre Augen und ſah mich ſtrah⸗ lend an. 88 „Es iſt recht, was du tun willſt; tu' es. Sterbend erwachen wir.“ Sie ſchlang die Arme um meinen Hals und legte den Kopf an meine Bruſt. Und ſie flüſterte. Alle Süßigkeit ihres Weſens ſtrömte ſie in dieſes ſchmei⸗ chelnd weiche Getön. Und ſo ſonderbar war's, ſie ſprach, als ob ſie nicht mit dem Ohr, ſondern mit dem Herzen hören müßte. Ihre Lippen berührten meine Bruſt. Und mein Herz ſchlug. Monika, Monika, wohin verirrteſt du dich! Verirrung dieſes Ausatmen ihrer ſüßen Menſch⸗ lichkeit? Für ſie, der Wirklichkeit Entrückte, gibt es kein Sollen und kein Dürfen mehr, kein Jungſein und kein Altſein. Wie losgelöſt vom Alpdruck ihres ſiechen Leibes, ſucht ihre nackte Seele die meine. Sagte ich es nicht ſchon einmal: alles Menſchen⸗ leben iſt wie ein Vraum, den auf ſeinem Sturz vom Himmel zur Hölle Lucifer geträumt? Verſprühen wir die letzten Funken unſeres Lebensfeuers in einem ſol⸗ chen Traum? Ein Trancezuſtand — ein myſtiſches Einsſein. Ich liebe dich, Monika. ². —. — — — —— — Aus ſtürmiſchem Meer bin ich in eine ſtille See gelangt; nur ein fernes ſchwaches Grollen und Wetter⸗ leuchten erinnert an überſtandene Unwetter. Die anderen alle um mich herum ſind ſchon lange für mich ſtumm geworden. Nun werde ich auch ſtill. Gott hat das Wort. Irgend ein Gott. Und was ich glaube, iſt dies: die Unſterblichkeits⸗ 89 verkündigungen der philoſophiſchen Genies bieten mit ihren grandioſen Gebärden nur pompöſe Abgänge von der Bühne des Lebens. Und alle Religionen mit ihren Paradieſesverheißungen ſind Märchen für Kinder⸗ herzen. Ein anderer Stern iſt mir aufgegangen. Er heißt Vernunft. Sie iſt Herr geworden über die Un⸗ vernunft, leben zu wollen. Und die Vernunft wächſt unter meinem ernſten ſtarken Willen. Und ſie redet zu mir ruhig, feſt, klar, und ſo einfach, ſo ureinfach. Ein Kind müßte ſie ver⸗ ſtehen. Poſe nennt ſie meine vermeintliche Trauer um ein Kunſtideal, das zu realiſieren mich nun das Siechtum hindert. Den myſtiſchen Lebenstrieb, mit dem der Menſch gern ſeine Todesfurcht bemäntelt, verwirft ſie. Widerſinnig erſcheint ihr mein inbrünſtiges Sehnen, zukünftiger Weltwunder Zeuge zu ſein; denn: wären alle jene Utopien, von denen ich neulich ſchrieb, Wirk⸗ lichkeit geworden, und ich lebte in dieſer Wirklichkeit, die mir heute ſo fabelhaft ſchön vorſchwebt, immer würde ich die Empfindung haben, ich wäre in einem dunklen Tal, hoch über mir die ſonnenverklärten Gipfel, zu denen eine große Sehnſucht mich zieht. Und hätte ich auch dieſe Gipfel erreicht, immer neue, leuch⸗ tendere würden emportauchen, und was heute ſtrahlen⸗ der Gipfel iſt, würde bald wieder den neuen Gipfeln gegenüber dunkles Tal ſein. Wären unſere Ohren millionenfach ſchärfer und feiner, als ſie es ſind, wir würden immer das Röcheln 90 einer ſterbenden Welt und den Geburtsſchrei einer neuen vernehmen. Und weiter ſagte die Vernunft: „Erkenne klug, und bekenne redlich, daß es ganz gewöhnliche Ichſucht iſt, die deinem Anklammern an das Leben zugrunde liegt. Narrenliebe! Siehſt du denn nicht, daß dieſe Ichſucht, dieſe Selbſtliebe ſinnlos, grundlos, abſurd iſt? Schämſt du dich nicht, in und an dir zu lieben, was kaum noch des Mitleids wert iſt? Was haſt du noch zu erwarten? Nichts! Was kannſt du dem Leben noch geben? Nichts! Wozu be⸗ darfſt du deiner noch? Zur Pflege des Siechtums. Nicht tauſendmal beſſer, ein Nichts im Tode ſein, als ein Nichts im Leben? Hältſt du dich für etwas beſonders Seltenes, Un⸗ erſetzliches? Nein. Mittelgut bin ich. Reißt dein Hingang eine Lücke in das Leben anderer? Nein. Nicht komiſch, wollteſt du dennoch dein Aufhören als etwas Furchtbares, Unnatürliches, als einen un⸗ erhörten Unglücksfall empfinden? Ja, urkomiſch. Wirſt du dir dieſe urkomiſche Ichſucht nicht ab⸗ gewöhnen? Ja, ich will's. Man hat mich Meiſter genannt. Ich meiſtere nun mich ſelbſt. 91 Den feigen Soldaten, der vor den Kugeln des Feindes ſich zur Flucht wendet, trifft die Kugel von hinten. Der ehernen Notwendigkeit biete die Bruſt und ſei ſtill! Das will ich. Mein freier Tod iſt ein letztes Aufflammen der Selbſtliebe, die nicht erträgt, daß ich meine eigene Ka⸗ rikatur werde; und zugleich löſche ich damit den letzten Reſt der Ichſucht aus. Ich habe das Schiff des Feierabends beſtiegen, das Monika mir einmal zugedacht. Die Trauerfahnen ſind eingezogen. Weiß wehen von den Maſten die Fahnen. Und ich ſehe die Ufer an mir vorüberziehen, Natur und Menſchen, und ich ſehe ſie gleichſam ohne mich, in ihrem eigenen Licht, und mein zärtlicher Blick grüßt ſie wie liebe Bekannte, von denen ich nun Abſchied nehme. Zum letzten Male war ich heute im Freien, in der trauten, lieben Landſchaft. Leicht gewelltes, grün be⸗ wachſenes Erdreich. Am Rand des Tannenwaldes ein kleiner See, das dunkle Auge in dem blumigen Wie⸗ ſengrund. Nicht weit vom Ufer ſtand eine breitäſtige Buche. Unter dem Baum küßte ſich ein Liebespaar. Eine Libelle kam über das Waſſer geflogen. Ihre Flügel wurden naß, und ſie verſank. Das junge Mäd⸗ chen bückte ſich nieder, nahm die Libelle vorſichtig aus dem Waſſer und legte ſie in die Sonne. — Ich trat zu dem jungen Geſchöpf und legte die Hand auf ihren 92 Scheitel: „Geſegnet ſeiſt du, frommes Kind, du und deine Kinder.“ Der Burſche wurde rot, ſie aber ſah mich leuchtend an und küßte mir die Hand. Vor einer Gruppe von Birken blieb ich ſtehen. Ihr luſtiges Gehänge wiegte der Wind. Daneben auf einer Wieſe unter dem roſigen Abendhimmel ſpielten Kinder Ringelreihen, und ſie ſangen dazu: „Ringel Ringel Reihe! Sind der Kinder dreie, ſitzen unterm Holler⸗ buſch, ſchreien alle: huſch, huſch, huſch.“ Liebe Geſchöpfchen waren es, mit Himmelsaugen, aus denen das Leben wie ein ſüßer Duft quoll. Und ich ſah noch mehr koſende Liebespaare, die die kommenden Kinder zeugen werden, die wieder unter den luſtigen Birken ſpielen werden. Und immer wird es ſingende Kinder geben, und immer Birken, deren luſtige Zweige der Wind wiegt. Und etwas in mir ſpielte und ſang mit dieſen Kindern, und etwas von meinem Herzen war in der blühenden Sinnlichkeit dieſer Liebespaare. So fühlte ich nun doch wohl das Leben der Gat⸗ tung in mir, fühlte die geheimnisvollen Fäden, die mich mit allen anderen verbanden? Auf dem Rückwege trat ich in das Atelier meines jungen Schülers, deſſen vernachläſſigtes Äußere mich vor nicht allzu langer Zeit degoutiert hatte. Ich be⸗ griff dieſe Regung nicht mehr. Ich ſah und empfand nur ſeine herrliche Begabung. Ich atmete den Früh⸗ ling. Leidenſchaftlich hatte ich für die Flamme, die meinen ſchöpferiſchen Geiſt genährt, und die im Er⸗ 93 löſchen war, Brennſtoff geſucht. Vergebens, ach ver⸗ gebens! Und nun finde ich hier meine Flamme wieder, rein und hoch in dieſes Jünglings Bruſt lodernd. Die Verzweiflung an meinem Können war grund⸗ los! Alles entwickelt ſich ſtufenweiſe. Dieſer da ſchreitet auf dem Wege, den ich angebahnt, vorwärts. Willkommen, du Neuer! Du Schöner! Du mein Erbprinz. Ich umarmte ihn zärtlich. „La jeunesse triomphante.“ Doch während ich noch mit tiefer Freude das Bild⸗ werk und das ſchöne Jünglingsantlitz betrachtete, dachte ich ſchon darüber hinaus. Auch dieſer Jüngling wird einmal nicht mehr ſchaffen, und mein und ſein Feuer vereint werden neue Seelen entzünden. Und wie ich vorhin die Lebensgemeinſchaft in der Gattung empfunden, ſo empfand ich jetzt die große Todesgemeinſchaft, die mich mit allen Menſchen ver⸗ band. Ich fühlte die Tragödie der Menſchheit. Und ſie erhob mich, und ſie läuterte mich. Und nun iſt mir, als hätte eine verborgene Wunde ſich geöffnet, und aller Krankheitsſtoff flöſſe heraus, und ich ginge der Geſundung entgegen. Und mir iſt, als ſtände ich im Vorhof eines Tempels, und nur eine kleine Pforte trennte mich von einem heiligen Raum. Heilig, heilig? Ja, bin ich denn nicht ein Un⸗ gläubiger par excellence? Ich denke an ein Wort, das einmal mein Knabe ſprach. Er war 8 Jahre alt und hatte ſchon in der Schule Religionsunterricht. Ich 94 examinierte ihn: „Glaubſt du an Gott?“ Und er: „Ja, ich glaube an Gott, aber es gibt keinen. Beinah' wie dem Bübchen geht es mir. Mein Ver⸗ ſtand hat den Glauben kopfüber in das Rieſenloch des Welt⸗Einen geſtürzt. Mein Gemüt bleibt in den immergrünen Kränzen hängen. Ich werde den Him⸗ mel nicht los. Und wenn ich mit einem Gemiſch von Feierlichkeit und wehmütiger Ironie vor der Ent⸗ ſcheidung ſtehe, ſo gilt die Ironie eben der feierlichen Stimmung, die halb Pſalm iſt, halb Requiem. Auf der Böcklinſchen Toteninſel ragen die ſchwar⸗ zen Zypreſſen in einen roſigen Himmel hinein. Und ſo gehe ich doch mit einer Frage auf den Lip⸗ pen zu den ſchwarzen Zypreſſen? Die Frage: Prälu⸗ dium oder Schlußakkord? Zieht mich eine göttliche Weſenheit in ſich ein, oder — nur Staub zu Staub? Seit einigen Tagen glaube ich bei Monika leiſe, ganz leiſe Anzeichen von einem Wiedererwachen ihres Zeitgedächtniſſes wahrzunehmen. Sie preßt zuweilen die Hand an ihre Stirn und ſieht forſchend um ſich, als beſänne ſie ſich auf etwas. Und einmal ſah ſie mich dabei lange und ernſthaft an. „Da iſt etwas, was falſch iſt, ſo Sonderbares, ſage es mir doch, Andreas .. Sie verlor den Faden ihres Gedankens wieder. Geſtern verlangte ſie einen Spiegel. Ich lenkte ihre Aufmerkſamkeit auf etwas anderes. Aber ſie wird den Spiegel wieder verlangen . . 95 Nein, meine geliebte Monika, das Furchtbare er⸗ ſpare ich dir. Ich habe das elektriſche Licht ausgedreht, dieſe letzten Zeilen ſchreibe ich im Licht des Vollmonds. Da ich mich nun entſchloſſen habe, dir, mein Freund, dieſe Blätter zu überlaſſen, wiſſe auch von meiner letzten Stunde. Lange, lange habe ich vor Monika geſtanden. — Mein Weib! Wie ſanft ſie ruht in ihrer Todesſchön⸗ heit. Mein letztes Kunſtwerk. Ich liebe ſie, die nun Schmerzloſe, Stille, Friedvolle, und wie ihr erſcheint mir nun der Tod vornehmer, wichtiger als das Leben. In dem Sarkophag da lag vielleicht ein König, oder ein Prieſter, oder ein Weib in prangender Schön⸗ heit. Keine war im Tode ſo ſchön wie du, Monika; das macht, weil du glaubſt, in einer Brautnacht ge⸗ ſtorben zu ſein, du weiße Blume, vom Mond geküßt. — Nur eine kleine Schraube an deiner Zeituhr hatte ſich gelockert, und die Zeiger drehten ſich einige Jahr⸗ zehnte rückwärts. Und dein Irrſinn war ſchön — viel⸗ leicht war es ein Sinn mehr; was jahrzehntelang ſchlief oder latent in dir war, das hat er erweckt. Du warſt bis dahin nur wie ein ſingender Vogel auf einem toten Baum. Nun war der Baum grün und blühend geworden, und dein Geſang herzergreifend. Das Schwanenlied deiner Seele. Das Lied war zu ſtark für deine Zartheit. Es ſprengte dir die Bruſt. Mein Gift wollteſt du nicht. 96 Bis zuletzt war noch im tiefſten Grund meiner Scele ein Schimmer träumender Sehnſucht nach einem jenſeitigen Wunderland — Reminiszenzen der Kinder⸗ gewohnheit, vor dem Schlafengehen ein Gebet zu ſpre⸗ chen. Nun iſt auch dieſer blaſſe Stern vor der ſtrahlen⸗ den Sonne reiner, einfacher Vernunft untergegangen. Keine weihevollen Grimaſſen mehr. Ganz wahr iſt nur: Ich ſterbe, weil es vernünftig iſt, zu ſterben. Dohm, Schwanenlieder. 7 97 Agonie 7* Eine ſchlanke, etwas gebeugte Frauengeſtalt er⸗ regte, als ſie raſch am Berliner Kurfürſtendamm ent⸗ lang ſchritt, die Aufmerkſamkeit der Vorübergehenden. Sie lief ſo mechaniſch dahin, als wiſſe das Hirn nichts von ihrer eiligen Vorwärtsbewegung. Eine ſonder⸗ bare Starrheit lag auf ihrem Geſicht mit den weit auf⸗ geriſſenen Augen, die in die Leere blickten, in die Leere, oder — in eine Ferne hinaus. Plötzlich blieb ſie ſtehen. Wo war ſie? Wo war ihr Haus? Sie war daran vorübergegangen. Sie kehrte um, trat in ein palaſtartiges Gebäude, ging über den Flur, über den Hof, ſtieg im Quergebäude vier Treppen hinauf und öffnete die Tür zu einem Maler⸗ atelier, ihr Atelier. Sie war Malerin. Sie blieb auf der Schwelle ſtehen. Noch immer mit dem abweſenden Blick, nahm ſie Hut und Cape ab; ſie glitten ihr aus der Hand, zu Boden. Langſam irrten ihre Blicke durch den Raum, und nur ganz allmählich wich ihre tote Starrheit einer großen Verwunderung. Das Atelier war im Geſchmack der Zeit einge⸗ richtet: phantaſtiſch bunt, ein wenig chaotiſch. Ein plaſtiſches Bildwerk — ein Kreuz mit dem toten Hei⸗ land, an ſeinem Fuß Maria, das Haupt zu ihm empor⸗ gewandt, ſtand unter grünen Gewächſen. Es hatte keinen beſonders künſtleriſchen Wert, war nur um der dekorativen Wirkung willen da. Durch ein kleines Weſtfenſterchen, das bei der Ar⸗ beit durch eine Jalouſie leicht zu ſchließen war, fiel ein Sonnenſtrahl auf eine grüne Palme. An dem Sonnenſtrahl blieben ihre Blicke faſt gierig hangen. Ihre Nüſtern blähten ſich, und wie ein Hauch kam es von ihren Lippen: „Leben!“ Aber gleich ſchloſſen ſich ihre Augen wieder, als ob das Licht ihnen wehe täte. Ein dumpfer, ſchwerer Seufzer quoll aus der Tiefe ihrer Bruſt: „Sterben! Sie bewegte mechaniſch den Kopf hin und her, ein halb irres Lächeln verzerrte ihre Lippen. Es war ſo verwunderlich, ſo ungeheuer verwunder⸗ lich — unfaßbar, unfaßbar! Sie mußte ſterben. Sie kam vom Arzt. Seit einigen Monaten war ſie leidend geweſen, ein immer fortſchreitendes, immer quälenderes Leiden. Die Symptome ganz wie bei der armen, lieben Freundin, die ſie bis zu ihrem Tode ge⸗ pflegt hatte. Ein über alle Maßen ſchmerzliches Sterben. Anfangs ſchreckte ſie, aus Feigheit, vor jeder ärzt⸗ lichen Konſultation zurück. Allmählich aber wurde die Vorſtellung der ſchauerlichen Krankheit zu einer Fol⸗ ter für ſie, die ſie ſchließlich nicht mehr ertrug. Und heut' endlich hatte ſie eine mediziniſche Auto⸗ rität aufgeſucht. Der Arzt hatte ſie gründlich unter⸗ ſucht, und als ſie ihn gefragt, was es ſein könne, hatte 102 er kurz geantwortet: er ſage ſeinen Patienten nicht, was ihnen fehle. Dann hatte er abſeits einige Worte mit ſeinem Aſſiſtenten gewechſelt, nicht abſeits genug. Mit furchtbarer Deutlichkeit hörte ſie das lateiniſche Wort, das der Arzt am Krankenbett ihrer Freundin gebraucht, um das ominöſe deutſche Wort zu ver⸗ meiden. Und mit derſelben Deutlichkeit hörte ſie noch ſeine letzten geflüſterten Worte: „Ein paar Monate noch.“ Es war alſo das, was ſie eigentlich längſt gewußt. Sie ſank auf den Diwan. Sie preßte beide Hände gegen die Schläfe, als wollte ſie die Gedanken ein⸗ klammern. Und dieſe Gedanken — ſonderbarerweiſe — um⸗ kreiſten nicht die nächſte Zukunft, nicht das, was ihr bevorſtand, ſie liefen rückwärts in die Vergangenheit. Miriam war die Tochter eines Landpredigers. Die Mutter ſtarb bei ihrer Geburt. Künſtleriſche An⸗ lagen verriet ſie früh. Sie fand Gönner und Förderer an der Gutsbeſitzerfamilie, die ihren Vater beſtimmte, ſeine Einwilligung zur Ausbildung der Tochter zu geben. In Weimar begann und vollendete ſie ihre Studien. Dort kam ihr zwar ihr naives Gottvertrauen ab⸗ handen, aber ſie fand Engelhart, den jungen Bild⸗ hauer, den ſie liebte. Ihn heiraten, das wäre nicht gegangen. Er hatte nichts, und ſie hatte nichts. Später heiratete ſie einen 103 wohlhabenden anderen, den ſie leiden mochte, und der etwas hattc. Engelhart war jung an einem Lungenleiden ge⸗ ſtorben. Sie wäre gern an ſein Krankenlager geeilt. Es ging doch aber nicht, der Leute wegen. War es eine poſthume Rache von ihm, daß ſie all⸗ jährlich an ſeinem Todestag mit der Poſt eine rote Roſe erhielt? Wen er mit dieſer Sendung beauftragt hatte, wußte ſie nicht. Sie wußte aber, woran dieſe Roſe ſie erinnern ſollte. Im großen und ganzen hatte ſie aus der Schick⸗ ſalsurne ein heiteres Los gezogen; vielleicht, weil ſie immer auf der goldenen Mittelſtraße geblieben war. Seit zwei Jahren war ſie Witwe. Vor kurzem hatte ſie ihre Tochter verheiratet. Gewiß, ſie hatte auch zuweilen, wie wohl jeder Menſch, Stunden gehabt, wo ſie weniger zufrieden war, wo die Seele nach etwas dürſtete, was das Alltagsleben nicht bietet, wo man ſich gewiſſermaßen auf die Zehen ſtellt, um über einen Zaun zu ſehen, hinter dem man Neues, Niegeſehenes, Herrliches vermutet. Auch als ihr Söhnchen im vierten Jahre ſtarb, da berührte ſie aus den brechenden Augen des Kindes ein geheimnisvoller Schauer, wie von weinenden Harfen⸗ tönen, mit denen irgendwo ein Cherub zarte Seelen hinüberſchmeichelt. Sie waren vorübergegangen, dieſe Sekunden⸗ bilder ihrer Sonntagsſeele. Sie hatte bald zur gol⸗ denen Mittelſtraße zurückgefunden. 104 Wohl war ſie ehrgeizig geweſen, aber nicht ſehr. Lebensluſtig auch, ohne je die Grenzen feinerer Sitte zu überſchreiten. Ach ja — die feine Sitte! Plötzlich tauchte in ihrem Gedächtnis ein kleiner, belangloſer Vorgang auf, den ſie längſt vergeſſen glaubte. Ein Knäbchen, etwa fünfjährig, war an der Hand ſeiner Mutter an ihr vorübergegangen. Das Kind be⸗ obachtete mit großem Intereſſe und wohl auch mit etwas Neid einen größeren Knaben, der an dem ele⸗ ganten, hohen Gitter einer Villa emporkletterte. „Wenn das der Schutzmann ſieht,“ ſagte das Kind. Und während die Mutter ihn fortzog, wiederholte er immer noch, indem er ſich nach dem Kletterer umſah: „Wenn das der Schutzmann ſieht.“ Waren dieſe Worte nicht das Leitmotiv für die Lebensführung der meiſten Menſchen? Nicht auch für die ihrige? Sie ſtellte ſich vor die Staffelei. Das Bild da — ſie hatte es mit ſo viel Liebe begonnen: Eine ganz in Sonne gebadete Landſchaft. Ein blondlockiges Kind, das ſich in einer Hängematte ſchaukelte, ſtreckte die Händchen nach einem Schmetterling aus. Sie würde das Bild nicht zu Ende malen. Sie hatte Wichtigeres zu tun. Sie mußte eben ſterben. Es überrieſelte ſie kalt vom Kopf bis zu den Füßen. Andere Kranke ſind wohl ſchon durch ihre Krank⸗ heit gebrochen, ſchwach, mit mattem Herzſchlag. Der 105 Tod naht ihnen — nur ein blaſſer Schatten, und ſein Umfangen iſt lind und ſchmerzlos. Sie aber iſt noch in voller Kraft, beinah' jugendfriſch, zu jeder Unter⸗ nehmung fähig, denk⸗ und gefühlsſtark. Ihr iſt der Tod plötzlich erſchienen, in ſchreckhaft ſchwarzer Maje⸗ ſtät, und jede Fiber ihres Weſens wehrt ſich gegen ihn. Ein ſchmaler, roter Streifen der untergegangenen Sonne glitt über den Raum und vergoldete den Saum ihres Kleides. Sie ſprang auf. Mit einem Ruck ſchüttelte ſie die Gedankenſchwere ab. Sie lebte ja noch, und es ging ihr leidlich. Und vielleicht hatte der Arzt ſich geirrt, ſie irren ſich ſo oft. Im ſchlimmſten Falle hatte ſie noch einige Monate vor ſich, und wenn ſie die Verordnun⸗ gen des Arztes befolgte — und das wollte ſie —, währte es wohl ein halbes Jahr, vielleicht ein ganzes. „Glücklich iſt, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern iſt.“ Sie trällerte den Vers vor ſich hin, in heller Kinderart, mit hoher Stimme, als würde ſie ihn dadurch tiefer in ſich aufnehmen. Schrecken der Zukunft in Gedanken antizipie⸗ ren, war ja, als wollte man ſich vor einer ſchweren Operation kleine Wunden beibringen, um ſich auf die größere vorzubereiten. Nein, leben! leben! ſolange das Lämpchen noch glüht. Daß ihr immer gerade die flachſten, abgebrauchte⸗ ſten Sprüche einfielen! Vielleicht, weil — — — 106 Ach was! Sterben — Unſinn. Ich will nicht! Punktum. Sie richtete ſich hoch auf und atmete aus voller Bruſt. Sie blickte in den Spiegel. Sah ſo eine Ster⸗ bende aus! Sie war noch ſchön. Das Profil jung, ſehr fein. Das dunkle Haar hatte ſie, graziös und loſe zuſam⸗ mengefaßt, im Nacken in einen leichten Knoten ver⸗ ſchlungen. Nahe der Stirn erglänzte ein einzelner weißer Streifen des Haares ſilbern aus der dunklen Maſſe heraus. Das gab ihr etwas Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war auch der Ring, den ſie am Finger trug. Der große, blaue Stein in der ſilbernen Faſſung hatte einen ſeltſam lebendigen iriſierenden Glanz. Wie blaue Augen. Er war ein Erbſtück, an das ſich — wie ſie von ihrer Mutter wußte — eine uralte, romantiſche Ge⸗ ſchichte knüpfte. Die Geſchichte ſelbſt erfuhr ſie nicht, um ſo mehr phantaſierte ſie hinein. Ein Talisman? Unſinn! Und doch — — Wie blaue Augen. Wie der fieberiſch iriſierende Glanz in den Augen ihres Sohnes, ehe er ſtarb. Sie ließ den Ring in der Sonne funkeln. Ja, ſie wollte weiterleben, als wäre nichts ge⸗ ſchehen — bis zuletzt, bis zuletzt. 107 Sie nahm Hut und Cape vom Boden und hängte ſie mit gefliſſentlicher Sorgfalt in den Schrank. Blumen, welche halb verwelkt in einem Glaſe ſtan⸗ den, gab ſie friſches Waſſer. Dann trat ſie an die Staf⸗ felei und begann zu malen, haſtiger, energiſcher, als es ſonſt ihre Art war. Eine Zeitlang lebte ſie in fieberhafter Haſt. Sie ſchaffte an dem Bilde in einer Woche mehr als ſonſt in der doppelten Zeit. Sie beſtellte ſich ihre Lieblings⸗ ſpeiſen. Sie trank ſtarke Weine. Zu ihren Spazier⸗ gängen oder ⸗fahrten holte ſie dieſe oder jene Freun⸗ din ab. Und der Kutſcher mußte immer ſchnell fah⸗ ren, ſo ſchnell er konnte. Oft war ſie im Theater. Aber nur luſtige Stücke ſah ſie. Es war, als fühle ſie immer einen Sporn. Und wollte abends der Schlaf nicht kommen, ſo nahm ſie Chloral. Sie hatte den Tod vergeſſen. Nur morgens, wenn ſie aus tiefem, traumloſem Schlaf erwachte, flog ein Schauer durch ihre Glieder. Sie taſtete an ihrem Körper entlang. Wie warm pulſierte überall das Lebensblut, wie kräftig war der Schlag des Herzens. Und in wenigen Monaten — — Sie klingelte ſchnell nach dem Frühſtüick. Der ſtarke Kaffee beſchwichtigte die zitternden Nerven. Miriam mochte nicht ſtill bleiben. Immer hatte ſie das Bedürfnis, ſich zu bewegen, vorwärts zu kom⸗ men, als könnte ſie damit irgend einer Bedrängnis entkommen, einem Anſpruch entſchlüpfen. Vielleicht 108 wollte ſie ſich auch nur ermüden, um nachts ſchlafen zu können. Sie ging am liebſten dahin, wo Leben und Be⸗ wegung war, am Kurfürſtendamm entlang, oder über die Charlottenburger Chauſſee. Am Kanal ſah ſie, wie am Ufer in der Sonnenglut Schiffer, mit den ſchweren Stricken um die Schulter, beladene Kähne mühſam ſchleppten. Auf der Chauſſee ſaßen Menſchen — auch Frauen darunter — die Steine klopften. Der Schweiß rann ihnen von der Stirn. Gewiß, das mußte ſo ſein, um der allgemeinen Kultur willen. Die Schwerarbeiten⸗ den aber, die wiſſen's und fühlen's nicht, daß ſie der Kultur dienen. Sie wiſſen nur, ſie müſſen arbeiten, bis ihnen das Blut aus den Nägeln ſpritzt. Der rohe Aufſeher, der ſie mit der Peitſche treibt, heißt: Not⸗ wendigkeit. Und viele trinken und prügeln zu Hauſe ihre Frauen, ſo kulturlos ſind ſie. Muß das wirklich ſo ſein? Immer und ewig? War ſie berufen, darauf zu antworten? Es ging ſie nichts an. Sie kam auf die breite Chauſſee, die am Kur⸗ fürſtendamm entlang zum Grunewald führt. Ein ſtrahlender Aprilnachmittag. Praller Son⸗ nenſchein. Sproſſendes, flimmerndes Grün. Und eine unabſehbare Menſchenmenge. Gellende Trompe⸗ tenſignale der Automobile, dröhnendes Kreiſchen der elektriſchen Bahnen. Scharen von Radfahrern mit hellem Geklingel. Kinderwagen, von Spreewälderin⸗ 109 nen geſchoben. Reiter, deren Pferde ſich vor den Auto⸗ mobilen bäumten. Equipagen, Droſchken, ein Geraſſel, eine tobende Luft und wirbelnder Staub. Und die Landſchaft: Sandflächen, Spargelbeete, dünne Reihen kleiner Kiefern, Bauplätze, Zäune. Und rechts am Wege die Glockentürme und die künſtlich her⸗ geſtellten Palmen und Bananenbäume, die über die Mauern eines ephemeren Indien emporragten. Und wie dieſe verſtaubten und vergrauten Imitationen fer⸗ ner Länder, die von Pappe und Holz flüchtig zuſam⸗ mengekleiſtert waren, ſo erſchien ihr auch die Luſt und Freude all der Leute, ſo pappen, ſo hölzern, ſo ver⸗ ſtaubt, vergraut, flüchtig zuſammengekleiſtert. Und ſie waren alle ſo brünſtig nach Freude. Sie warteten nicht, bis ſie kam, ſie jagten nach ihr wie nach einer Beute. Und in den Gaſtwirtſchaften tranken und tranken die Leute aus dem Volke, und ſie hatten ſchwer arbeiten müſſen, um trinken zu können, und das Trin⸗ ken bekam ihnen hinterher ſo ſchlecht. Warum waren ſie denn ſo luſtig? Ob es daran lag, daß ſo viele, viele beiſammen waren, gewiſſermaßen ein Kollektivvergnügen, wo die Luſt der Maſſe jeden einzelnen miterfaßt. Und das Atmen im Staub der Vorder⸗ und Hintermänner ge⸗ hört dazu. Zwei Hofequipagen jagen vorüber. Die eine iſt leer. In der anderen ſitzen Kinder. Alle Hälſe recken ſich. Die Hüte fliegen von den Köpfen, die Damen knixen tief. Miriams Lippen ſchürzen ſich ſpöttiſch. 110 Die Laternen werden angezündet. Durch ihren ſchwarzen Schleier hindurch erſcheint ihr jedes einzelne Licht der Laternen wie ein umflortes, in ſprühenden Regenbogenfarben flimmerndes Kreuz. Miriam biegt in eine ſtille Straße des Tier⸗ gartenviertels ein. Das Predigerhaus ſteht darin. Fünf bis ſechs Frauen treten in das Haus. Einige, ſchwarz gekleidet, ſchluchzen laut. Sie verſchwinden im Torweg, und aus einem Parterrezimmer klingt ihr Klagen hinaus. Vielleicht eine Mutter, die die Be⸗ erdigung ihres Kindes anmeldet. Niemand zog den Hut vor dieſer großen Trauer ab. An einem Tag wollte Miriam zum Schloßgarten von Charlottenburg. Am Eingang traf ſie ein Kinder⸗ fräulein mit zwei kleinen Mädchen. Die Kinder hatten von dem wilden Raſen Gänſeblümchen gepflückt, und hielten die Sträußchen beglückt in der Hand. Der Wächter am Eingang fuhr die Kinder grob an. „Blu⸗ men pflücken (es war nur dem Mäher verfallenes Un⸗ kraut) ſei nicht erlaubt.“ Er riß ihnen die Blümchen aus der Hand und warf ſie zornig in den Schmutz. Das größere Mädchen wurde feuerrot, das kleinere ſchluchzte. Sie hatten die Blümchen — ſagte das Fräulein entſchuldigend — dem Mütterchen heim⸗ bringen wollen. Vor wenigen Tagen hatte Miriam ähnliches erlebt. 111 Belleallianceplatz klang helles Kinderlachen. Sie trat Aus dem offenen Torweg eines Hauſes nahe dent durch den Torweg auf einen größeren Hof. Inmitten eines Raſenplatzes war eine Glaskugel aufgeſtellt, die in fortwährender Rotation allerhand lockende Früchte, die ſich im Hohlraum der Kugel befanden, hin und her ſchwang. Zwei Knaben aus dem Volk ſtanden vor der Glas⸗ kugel und freuten ſich über die Maßen an den tanzen⸗ den Früchten. Kaum hatte der Portier die Knaben er⸗ blickt, ſo ſtürzte er aus ſeiner Loge, packte die Kinder beim Kragen und ſtieß ſie mit rohen Schimpfworten hinaus. Der Übergang von heller Freude zu jäher Be⸗ ſtürztheit in den Kindergeſichtern war ergreifend. Es tat Miriam förmlich weh, daß ſie dieſem Kerl nichts antun konnte. Sind wir wirklich hochgekommen in der Kulture Ein Volk, das Kinder mißhandelt! Unter dem Schutz der ganzen Volkheit müßte das Kind ſtehen. Es iſt mehr als wir, weil es die Zukunft iſt. „Euer Kinder Land ſollt ihr lieben.“ (Nietzſche.) Ein Volk, das Mütter hat, die dulden, daß man ihre Kinder mißhandelt! In ihrem bequemen, angenehmen Leben hatte Mi⸗ riam, ſoviel es anging, trübe Eindrücke von ſich fern⸗ gehalten. Wozu mit unfruchtbarem Mitleid ſich das bißchen Lebensſonne verdunkeln laſſen! „Ich kann ja 112 doch nicht helfen,“ das war die Beſchwichtigungsformel für ihr Gewiſſen, für das Gewiſſen vieler Anderen auch. Nun aber, da ein ſchweres Schickſal ſie heimſuchte, fühlte ſie ein Verwandtſein, faſt eine Familienzärtlich⸗ keit für alle Leidenden. Sie dachte an eine dreiundachtzigjährige Kollegin, die, ſeit lange halb gelähmt, kürzlich ſchwer erkrankt ſein ſollte. Miriam hatte Camilla von Beaumont ſeit Jahren nicht beſucht. Jetzt ging ſie zu ihr. Vielleicht lag dem Beſuch die halb unbewußte Empfindung zugrunde, daß, wer anderen hilft, ſich ſelber hilft; ſie konnte der Kran⸗ ken Liebes und Tröſtendes erweiſen. Auch eine Art melancholiſcher Neugierde war dabei im Spiel: wie ſah dieſe Greiſin dem Tod entgegen? Camilla wohnte im eleganten Tiergartenviertel. Durch ein vornehmes Vorderhaus hindurch gelangte man in einen großen Garten, nicht beſonders gepflegt war er, aber auch nicht gerade verwildert. Seltſamer⸗ weiſe ſtanden drei oder vier kleine, ganz einfache Häus⸗ chen darin. (Vor vielen Jahren wurde auf dem Grund⸗ ſtück eine große Gärtnerei betrieben. Die Häuschen waren ein Überbleibſel aus jener Zeit.) Ganz am Ende des Gartens, in einem Winkel, durch eine dichte Hecke von dem übrigen Grundſtück getrennt, lugte aus grünem Gebüſch ein Hüttchen, ein Puppenhaus, das man aus irgend einem Grund in ſeinem Winkelchen belaſſen. Drei Stübchen hatte es Dohm, Schwanenlieder. 8 113 und eine Küche. Ein winziges Stück Garten gehörte dazu. Ein Taubenhaus nahm ihn zur Hälfte ein. Hier hauſte Camilla mit einer zwölf Jahre jünge⸗ ren Schweſter ſeit vierzig Jahren, anfangs noch mit der Mutter. Die war nun ſchon ſeitvielen Jahren tot. Ihr Vater war ein hoher Militär geweſen. Er ſtarb früh, ohne einen Pfennig Vermögen zu hinterlaſſen. Erſt hatten die Frauen von der Witwenpenſion gelebt, nach dem Tode der Mutter von einem königlichen Gna⸗ dengehalt. Konnexionen und Gönnerſchaften in der Ariſtokratie hatten Camilla ihre Studien, und ſpäter den Verkauf ihrer Bilder erleichtert. Beide Schweſtern waren völlig frei von ariſtokra⸗ tiſchen Allüren oder Prätentionen. Vielleicht, weil ſie ſich früh arbeitſam durchs Leben hatten ſchlagen müſſen, oder auch weil leichtes, franzöſiſches Blut in ihren Adern floß. Ariſtokratiſch war nur die Einfach⸗ heit und die ſichere Ungeniertheit, mit der ſie ihre Armut trugen. Sie zu bemänteln, kam ihnen nicht in den Sinn. Harmloſe Seelen, ungelehrt und unpolitiſch, nicht philo⸗ und nicht antiſemitiſch, nicht feminiſtiſch und nicht antifeminiſtiſch. Liebe Menſchenkinder. Camilla hatte nie beſonders gut gemalt, auch ſonſt hatte ſie keine hervorragenden geiſtigen Begabungen, man müßte denn ein pantomimiſches Tanztalent, mit dem ſie glänzende Erfolge bis über das ſechzigſte Jahr hinaus erzielte, dafür gelten laſſen. Aber viel 114 Temperament mußte ſie gehabt haben, Geſundheit, Nervenkraft, kühne Unternehmungsluſt. Mit der Stangenſchen Expedition und anderen Ge⸗ ſellſchaften hatte ſie die halbe Welt durchquert, mit ihren Bildern die Reiſekoſten und die Raritäten, die ſie mit heimbrachte, beſtritten. Einem unvergleichlichen Handelstalent verdankte ſie es, daß ihre Sammlung immer reicher und intereſſanter wurde — eine Sehens⸗ würdigkeit. Das Wohnſtübchen, das Miriam betrat, war ſo niedrig, daß ſie bequem mit der Hand die Decke be⸗ rüihren konnte. Die Raritätenſammlung nahm faſt den ganzen Raum ein. Staunenswert, daß die Schwe⸗ ſtern noch je ein Ruheplätzchen für ſich herausgeſpart hatten. Miriam fand die Malerin faſt unverändert. Klar, friſch, heiter wie nur je, und ebenſo redſelig. Sie lag auf einem Stuhl, der durch eine lange, darangeſchobene Kiſte zu einer primitiven Chaiſelongue avanciert war. Und mit lauter kümmerlichen, abgenutzten Sachen war ſie angetan. In den grauwollnen Pulswärmern haben die Motten gehauſt, das Cape über den Schul⸗ tern iſt defekt, die Decke über den Beinen löcherig. Auf dem Leibe liegt ihr ein zottiger Bettvorleger. Ein großes, ſchwarzwollenes Netz bedeckt ihr ſpärliches Haar. Um ſie herum aber glitzert und funkelt es von un⸗ zähligen Sachen und Sächelchen. Gefäßen aus leuch⸗ tenden Edelſteinen (ſind es auch imitierte, ſie leuchten 8* 115 darum nicht weniger), Geſchmeiden, Perlen, Toten⸗ köpfen, alten Waffen, alten Schränkchen, Pagoden, die nicken, ſeltſame Uhren, die mit einem ſo verſchollenen Ton ſchlagen. Die Totenköpfe — der eine trägt eine Perlenkrone, der andere eine Narrenkappe — genie⸗ ren die heitere Camilla ganz und gar nicht. Sehr ſtolz iſt ſie auf ihre rieſigen Antilopenhörner, weil es ihres⸗ gleichen in Berlin nicht wieder gibt. über ihrem alten, braunen Wollenkleid hat ſie auf dem Bruſtteil ein Stück ſchwarzen Velvet geheftet. Der ſollte einer zweifach um den Hals geſchlungenen leuchtenden Amethyſtkette mit einem Kreuz — einem Prachtſtück ihrer Sammlung — zur Folie dienen. Unbeſchreiblich, der märchenhaft groteske Effekt dieſes Geſchmeides auf der gelähmten Greiſin mit dem wollnen Netz auf dem kahlen Schädel und den Filz⸗ pantoffeln an den Füßen. Camilla glich ſo einer alten Zauberin. Miriam fand, daß es bei ihr ausſähe, wie in der Grabkammer einer aſſyriſchen Prinzeſſin, und ſie iſt die Mumie, wenn auch eine mit Filzpantoffeln an den Füßen. Im Weſen keine Spur von einer Mumie. Miriam erkundigte ſich teilnehmend nach ihrer Krankheit. Camilla lachte. Sie — krank! Erſt geſtern habe ſie bei Bekannten wieder einmal getanzt, das heißt mit Armen, Händen und Gebärden. Und morgen geht ſie zu Tiſch zu einer befreundeten Familie, die im Vor⸗ derhaus wohnt. 116 Ohne Unterbrechung und ohne Ermüdung ſpricht und ſpricht ſie. Sie ſpricht von dem überglücklichen Leben, das ſie hinter ſich hat. Dreißigmal iſt ſie in Italien geweſen, und am Bosporus war ſie, und auf der Akropolis, und die höchſten Berge hat ſie erſtiegen, an deren Fuß ſtand: „Nur für Geübte.“ Und der Fürſt P. — ein entfernter Verwandter — hat ihnen mehrmals eine ſchöne Wohnung in ſeinem Schloß eingeräumt, und ſie haben bei ihm diniert, und in den kleinen Garniſonſtädten haben ſie eine erſte Rolle geſpielt, und ein Graf K. hat um ſie angehalten. Ihn heiraten? O nein. Nur nicht ſich binden. Immer hat ſie einen undämmbaren Freiheitsdrang gehabt. Und nie in ihrem Leben Kopfſchmerzen. Und ihre Bil⸗ der hat ſie, wenn ſie nicht Raritäten dafür eintauſchte, von der Staffelei weg verkauft. „Und jetzt, Camilla, ſind Sie noch immer glücklich?“ „Ja. Ich bin glücklich. Und dieſes Glück atmete ſie in einer Luft aus, ſo dumpf und ſchwer, daß ein Glücklicher darin hätte un⸗ glücklich werden können. Die Schweſter Agnes war ſtillerer und ſanfterer Art. Ihre Reichtümer funkelten und blitzten nicht und kamen nicht von weit her, wie die Camillas. Dafür waren ſie lebendig: ihr Mopperl, der ſehr garſtige, watſchelnde Mops, und die Tauben. Die Tauben nannte ſie ihre Kinder, Mopperl war ihr zärtlich ge⸗ liebter Freund. 117 Miriam bemerkte den Mops nicht gleich. Was da neben ihr auf dem Sofa ſich ballte, hatte ſie für ein Stück Fell gehalten, bis ein aſthmatiſches Schnaufen den Hundegreis verriet. Eine kluge und beſcheidene Jungfrau, die Agnes, die das liebte, was ſie eben haben konnte. Um Mop⸗ perls willen geht ſie entweder gar nicht ſpazieren, oder doch nur langſam, langſam, damit 's aſthmatiſche Köterlein folgen kann. „Sie geht ſchon mit der Idee um,“ ſpottete Ca⸗ milla, einen Rollſtuhl für 's Mopperle anzuſchaffen, und“ (das flüſterte ſie Miriam zu) „wenn 's Mopperl in ſeinem Fett erſtickt iſt, nenne ich ſie: Witwe Mops. Und ſo herzlich lachte ſie über ihren Witz. „Nun muß ich zu meinen Kindern,“ ſagte Agnes ſie meinte die Tauben — und ging hinaus. Nach einer Weile erhob ſich Camilla, ſo daß ſie ins Gärtchen blicken konnte. „Dachte ich mir's doch, da ſitzt ſie wieder mit ihm. Sehen Sie nur.“ Im Gärtchen auf einer Bank ſaß die Schweſter Agnes Hand in Hand mit einem alten Herrn. Miriam erfuhr die Geſchichte der beiden. Als ſie noch ganz jung waren, liebten ſie ſich — ſchrecklich lieb⸗ ten ſie ſich, und Ferdinand wollte ſeine Agnes heim⸗ führen. Der Vater aber verſagte ſeine Einwilligung. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß der junge Mann in Beziehungen zu einer verheirateten Frau geſtanden. 118 Ob der Jüngling, damals faſt noch ein Knabe, nicht vielleicht der Verführte war, danach fragte er nicht. Das Liebespaar verließ Berlin — „leider nicht zuſammen“, wie Camilla etwas leichtfertig bemerkte. Sie wurde auf ein Jahr in ein Strafpenſionat ge⸗ ſchickt. Er benutzte ſein Herzeleid zu angeſtrengten Studien und wurde ein berühmter Juriſt, Geheimrat und Präſident eines Gerichtshofes. Ein wiſſenſchaftlicher Zweck hatte ihn jetzt nach Berlin geführt, und in dieſem Märchenwinkel findet er nun nach vielen Jahrzehnten die Jugendgeliebte wieder. Und da ſitzen ſie nun Hand in Hand, von Tauben umflattert, von Frühlingsduft umfloſſen. Und ſie ſieht ſo verwittert aus, wie ein Menſch nur verwittert ausſehen kann, und er hat eine ſo zittrige Stimme und ein ſo liebes, vornehmes Geſicht mit einer charakter⸗ vollen, großen Naſe. Und im nächſten Jahre, gerade zu ſeiner Agnes 70. Geburtstag, feiert er ſein 50jähri⸗ ges Univerſitätsjubiläum. Und ſie werden während der wenigen Wochen ſeines Aufenthalts in Berlin un⸗ zertrennlich bleiben. Das Schattenglück einer blaſſen Mondſcheinbräutlichkeit, vom Traum der Erinnerung lind gewiegt. „Auf Wiederſehen!“ ſagte Miriam, als ſie ging. Warum ſagte ſie das? Sie wußte doch, daß es kein Wiederſehen mit Camilla gab. Wir müſſen aber immer reden — reden! Der Wortreichtum macht uns im Den⸗ ken arm. Schweigen lernen — das ſollten wir. 119 Als ſie eine kurze Strecke gegangen war, blieb ſie unwillkürlich vox einem Hauſe in derſelben Straße ſtehen. Da wohnte im zweiten Hof, in einer freundlichen, kleinen Wohnung, Johanne Kerner mit ihrem kran⸗ ken Sohn. Der Sohn, ein entgleiſter Philologe, der durch Privatſtunden ſeine und ſeiner Mutter Exiſtenz friſtete, hatte ihre Tochter unterrichtet. Als Jüing⸗ ling hatte er Unglück gehabt und ſiecht nun dahin, lang⸗ ſam, hoffnungslos: Rückenmarkſchwindſucht. Von einigen reichen Familien, deren Söhne er erfolgreich zum Abiturium vorbereitet, wurden Mutter und Sohn erhalten. — Die Mutter entſtammte einer einfachen Handwerkerfamilie und hatte nur Volksſchulbildung. Miriam hatte ſich lange nicht um die beiden be⸗ kümmert. Das war unrecht. Sie wollte es wieder gutmachen. Die Alte bewillkommnete Miriam heiter. Ihrem Maxing ginge es in der letzten Zeit beſſer. Er unter⸗ richte ſogar wieder ab und zu. Und Miriam lauſchte mit innerem Behagen dem gemütlich plätſchernden Redefluß der Alten. Von Wirtſchaft und Küche erzählte ſie, und von Maxing und Friedchen, ihrem kleinen Dienſtmädchen. Ein kerniger, echt deutſcher Typus, dieſe Frau. Das ganze Leben Arbeit, aber eine gern getane. Alles Unglück, alles Schickſal — Gottes Wille. Ihr Sohn —. ihr Gott. Rührend, wie ſie von ihm ſprach, ihrem Maxing. 120 „Wenn er eine Stunde gegeben hat, dann iſt er ganz hin; dann bette ich ihn aufs Sofa, decke ihn ſchön mit einer Decke zu, ziehe die Gardinen zu und gehe gans ſachting auf den Korridor. Und wenn er die nächſte Stunde hat, wecke ich ihn wieder — und danach wieder dasſelbe.“ Und ſie und Friedchen, ihr Mädchen, eſſen immer etwas anderes als Maxing. Und das Friedchen iſt ſo anſtändig. Nur mit der Lisbeth von Levis hat ſie Verkehr. — Und Maxing ſagte neulich: „Mutting, bis jetzt habe ich immer noch Hoffnung gehabt, aber nun habe ich keine mehr.“ Und ganz entzückt iſt ſie von ihrem Waſſer; ſo wunderſchönes, eiskaltes Waſſer gäbe es in ganz Ber⸗ lin nicht. Das käme wohl daher, daß es aus dem Keller bei ihnen käme, und ſie ſage immer zu ihrem Sohne: „Siehſt du, Maxing, wir wohnen ja ſehr teuer, aber das wunderſchöne Waſſer iſt allein die Wohnung wert.“ — Und wunderſchön iſt auch der Roggenkaffee, den ſie morgens trinkt, mit einer trockenen Schrippe dazu. Davon bleibt ſie auch ſo geſund. (Die Schlag⸗ anfälle, Schwindel, den Rheumatismus, und daß ſie ein Auge verloren hat, rechnet ſie nicht.) Und mit der Frau Berger, ihrer Nachbarin, iſt ſie zu dem berühmten Profeſſor Huhn gegangen. Der Mann von der Berger iſt Sittenpolizeiinſpektor, er hat aber ſeine Frau ſo ſchlecht behandelt, daß ſie getrennt leben. Die iſt Plätterin, und durch das viele Aufdrücken mit dem Plätteiſen ſind ihr die Halsmuskeln erſchlafft, ſo daß 121 ſie immerzu mit dem Kopf ſchütteln muß. Und beim Profeſſor Huhn, da legt man eine Mark in eine Vaſe, und dafür unterſucht er einen wunderſchön; und da ſagte er zur Bergern: „Ja, liebe Frau, ſehen Sie, da trinken Sie nun den Tee, den die ſchmutzigen Chineſen mit ihren Füßen ſtampfen, und unſeren ſchönen Rog⸗ gen achten Sie nicht. Trinken Sie jeden Tag Roggen⸗ kaffee, und Sie werden ſehen — —“ Und das hat ſie auch getan, und ſie iſt wunderſchön geſund geworden. — Und ſeitdem trinke ich ihn auch; und Haferſchleim, den trinke ich mittags und abends, mit den Hülſen, das iſt das geſündeſte. Und ich koche ihn immer gleich auf drei Tage. Und wenn einmal keiner da iſt, weil wir Wäſche haben, dann koche ich Haferkakao, d. h. ich miſche den Kaako mit Hafermehl, das iſt billiger, als wenn ich ihn gleich gemiſcht kaufe. Ich muß ja auf jeden Pfennig ſparen. Und das Friedchen, die wollte erſt an den Roggenkaffe nicht ran; nun aber geht's auch. Fried⸗ chen, das iſt ein gutes Mädchen, und freundlich und ehrlich; aber ſie begreift ſo vieles nicht. Und das liegt an der Akkurateſſe, die ſie nicht hat. Wie oft ſage ich ihr, mit dem Scheuertuch ſoll ſie nicht an den Tür⸗ pfoſten und den Schrank⸗ und Kommodenbeinen her⸗ umklabaſtern. Das muß mit der Hand gemacht wer⸗ den, ſonſt verdirbt ſie die Möbel und die Türen. Und das Friedchen antwortet immer: Sie haben recht, Frau Kerner. Aber tun tut ſie's doch nicht. Und abends, da klackſt ſie nur alles ſo hin; wo es ſteht, da ſteht's; der Schinken und die Butter und die Radieschen. Und 122 dann mache ich alles ſchön ordentlich: Maxes Couvert, und den Schinken lege ich appetitlich auf den Teller, und in die Butter drücke ich ein Muſter. Und wenn ich zum Abräumen klingle, dann ſage ich: So, nun ſieh einmal, Friedchen; ſo mußt du es machen. Aber ſie lernt es doch nicht. Und die Bettdecke legt ſie auch nicht ordentlich über Maxes Bett; immer zipfelt ſie. Aber aufſcheuern tut ſie wunderſchön, alles blitzblank. Und einen Fehler muß der Menſch doch haben. Habe ich nicht recht? — Ich glaube, im vorigen Jahr wollte ſie gern fort und oben bei Levis dienen. Da bekommen die Mädchen monatlich drei Mark Biergeld. Aber ſie trinken kein Bier, und kaufen ſich dafür Bluſen, immer neue Bluſen. Und die ſtechen Friedchen in die Augen. Und ſie geht doch immer ſo anſtändig. Ein ſchwarzes Kleid hat ſie, und ein graues, und zu Weihnachten habe ich ihr ein grünes gekauft — es war ganz billig — doppelte Breite, für ſieben Meter nur acht Mark. — Ich kann es ihr aber nicht verdenken, daß ſie zu Levis wollte. Ein jeder will doch nur immer ein bißchen mehr Geld verdienen. Plätten und waſchen kann ſie wunderſchön, aber kochen nicht. Da kocht ſie — Frau Kerner — allein, und Friedchen ſitzt dabei und ſtrickt. Sie erzählte auch breit, wieviel Profit ſie von einer Gans hat: das Klein, und das Schmalz, und dann Gansſauer — mindeſtens gibt's 3—4 Mahlzeiten, das Schmalz ungerechnet. — Und letzthin hat ſie mit Friedchen drei Tage hintereinander gewaſchen, trotzdem ſie kurz vorher bei einem Schwindelanfall die Treppe 123 heruntergerutſcht iſt, ſich ganz aufgeſchunden hat, und eine leichte Lungenentzündung bekommen hat. Sie iſt aber wieder ganz geſund geworden, die Einundachtzig⸗ jährige. Nachts ſchläft ſie nicht. Sie hört, wenn ihr Sohn aufſteht und Waſſer trinkt, oder ſich ſchnaubt; und dann rückt ſie mit dem Stuhl, damit er merken ſoll, daß ſie wach iſt. Morgens aber, wenn ſie ſich mit dem wunderſchönen, eiskalten Waſſer, das aus dem Keller kommt, ſo recht übergoſſen hat, ſo daß Maxing aus dem Nebenzimmer ruft: Na, Mutter, du plätſcherſt wieder gut, dann iſt ſie wieder ganz friſch und munter. — Und Maxing wird ganz gewiß wieder geſund. Verwirrt im Gemüt verließ Miriam Maxings Mutter. Die und Camilla — zwei Glückliche. Beide hatten das bibliſche Alter längſt überſchritten. Sie mußten wiſſen, jeder Augenblick konnte ihr letzter ſein. Und wie ſtanden ſie zum Tode? Gar nicht. Sie dach⸗ ten nicht an den Tod. Er war für ſie nicht da. Sie hatten vollauf mit dem Leben zu tun. Steinalt, arm, krank und glücklich! Glücklich! Mein Gott, wodurch? Empfanden und empfinden ſie nicht, was andere Seelen bedrängt, er⸗ greift, zerſtört, weil ſie Dickhäuter ſind, Grobnervige? Oder iſt das Glück eine angeborene Gabe wie das Genie? Oder — — —. Sie fühlte, da war noch ein anderes, feineres, tieferes. Sie fand nicht gleich, was es war. 124 Aber nichts Helles, Warmes ſtrömte von dem Glück dieſer Alten auf ſie über. Ihre Augenbrauen zogen ſich zuſammen, ihr Mund wurde bitter. Wie Fauſt die Geiſter, die er rief, nicht wieder los wurde, ſo wurde Miriam die Glücklichen, die ſie gar nicht gerufen, nicht wieder los, denn — ſiehe da — in ihrem Vorzimmer, da ſaß ſchon wieder eine Glückliche, nein — eine Glückſelige. So nannte ſie ſich ſelbſt, die Auguſte Schraps, ihre ältliche Näherin. Zwar hatte ſie einen ſchrecklichen Stockſchnupfen, den ſie niemals los wurde, ihre Nieren waren auch nicht in Ordnung. Ihren Mann hatte ſie früh verloren und fünf kleine Kinder auch. Aber das war doch nur etwas Äußer⸗ liches. Frau Schraps gehörte einer orthodoxen Sektierer⸗ gemeinde an. Religion haben und keinen Kaffee trin⸗ ken, davon erwartete ſie alles Heil. (Gott, und was für dünnen Blümchenkaffe kriegte ſie zu trinken.) Sie arbeitet, um zu leben, aber ſie lebt, um in ihrer Ge⸗ meinde beſeligt zu werden. „Wie denken Sie über den Tod, Schrapschen? fragte Miriam ſie. Sie dachte ſehr freundlich darüber, denn — nach⸗ her beginnt ja erſt die eigentliche Herrlichkeit. Im Reiche Gottes müiſſe man zwar auch arbeiten, aber nur wenig, gerade ſo viel, wie recht iſt. Die hielt entſchieden den Todesengel für einen Portier, der ihr die Tür zu einem Schlaraffenland auf⸗ 125 ſchließen würde. Und das köſtlichſte dabei iſt, daß dieſe Tür vor der Naſe Millionen anderer (der Naſe aller derer, die nicht zu ihrer Sekte gehören) zugeſchlagen wird, während die Kinder Gottes — ihre Glaubens⸗ genoſſen — und ſpeziell Auguſte Schraps triumphie⸗ rend in die himmliſche, mietsfreie Wohnung einziehen werden. „Aber Schrapschen, jetzt im Leben ſind Sie doch ſo arm und müſſen ſich ſo mühſelig Ihr Stückchen Brot verdienen.“ „Arm — ich? Reich bin ich, eine Königin „Aber Schrapschen — — „Gott iſt ein König, und ich bin ſein Kind. „Lieblingskind,“ unterdrückte ſie beſcheiden. Und wie Schrapschen ſich ſchon im voraus über das Erſtaunen und Entſetzen der Menſchen freut, wenn die große Kataſtrophe nun hereinbrechen und der Herr die Erde mit Feuer und Schwert vertilgen wird, — mit Ausnahme der königlichen Kinder Gottes, ſpeziell der Auguſte Schraps. Freilich, zuvörderſt müſſe das türkiſche Reich verteilt werden, wie es im Buch Daniel ſtände. Und wenn Jeſus Chriſtus dann käme, dann würde der ganze Himmel ſchwarz ſein, ſchwarz wie die Nacht, ſo daß Furcht und Schrecken über die Menſchen kämen, nur nicht über die Kinder Gottes. Eine kleine, weiße Wolke würde man ganz oben in der Finſternis bemerken. Die Gläubigen aber, die wüßten, in der Wolke ſei Jeſus Chriſtus. Und immer 126 größer würde ſie, und immer näher käme ſie zur Erde, und ſie ſenkte ſich; und aus der Wolke ſtieg Jeſus Chriſtus mit all ſeinen himmliſchen Heerſcharen. Und ſie freute ſich ſo ſehr auf dieſen Augenblick, wenn alle ſo recht ſtaunen würden, daß ſie — Auguſte Schraps — recht gehabt habe. „Aber wenn Sie dann ſchon tot ſein ſollten, Schrapschen?“ „Dann wird mich Gott an dem Tag erwecken, da⸗ mit ich ihn zu ſehen kriege.“ überhaupt auf das Himmelsgewölbe hält ſie große Stüicke. Wenn ſie nur Geld hätte — ſo ſagt ſie — würde ſie noch Aſtronomie ſtudieren. „Aber Schrapschen, das können Sie nicht, Sie haben doch keine Ahnung von Mathematik, und jetzt, in ihrem fünfundfünfzigſten Jahr, damit anzufangen, iſt's zu ſpät.“ „O, das iſt ja bei uns, die wir den rechten Gottes⸗ glauben haben, etwas ganz anderes. Uns offenbart es eben Gott. Wir lernen ganz anders, leichter als andere Leute.“ Und ſie hielt es für ein beſonderes Glück, daß Mi⸗ riam mit einem richtigen Aſtronomen verwandt war, da würde ſie nun eher als das große Publikum er⸗ fahren, wann Jeſus Chriſtus in einer weißen Wolke, von tauſend Engeln umgeben, zur Erde wiederkommen würde. 127 Mit Energie wies das königliche Gotteskind alle Fleiſchesluſt von ſich, die Eßluſt ſchien ſie dazu nicht zu rechnen. Miriam traf ſie einmal in berauſchter Hin⸗ gabe vor einer Schüſſel Gemüſe. „Guck, guck,“ ſagte das königliche Gotteskind, „die Schraps kann eſſen! Und es iſt ſo gut, ſo gut von Gott, daß er mir dieſen Appetit gegeben hat.“ Oft gebrauchte ſie erhabene Worte, die ſie von ihren Predigern gehört, und an denen ſie ſich berauſcht, und die ihr die Vorſtellung erwecken von etwas Strah⸗ lendem, Seligem, Unausſprechlichem, das ihr zugleich eine Macht verleiht, die ſie über alle Ungläubigen er⸗ hebt. So fürchterlich glücklich, ſo entſetzlich glücklich waren all dieſe Menſchen, beinah ekelhaft glücklich, ein unheilbares Glück. Sie möchte dieſes Glück nicht, um keinen Preis. Iſt das Unglück eine Dornenkrone, ſo iſt es immerhin eine Krone, während das Glück jener einer Schellen⸗ kappe gleicht. ¹ Plötzlich geht es wie ein Erſchrecken durch ihren Sinn. Aber ihre Mutter, ihre liebe Mutter, die ſie nic gekannt, gehörte die nicht auch zu jenen Glücklichen ala Schraps? Und war doch eine ſo kriſtallreine Seele, die vielleicht daran ſtarb, daß ſie in der Nacht vor Miriams Geburt einen Erfrorenen vor ihrer Tür fand. Nach dem Tode ihres Vaters — nun ſchon vor zwanzig Jahren — war ein Tagebuch ihrer Mutter in 128 ihre Hände gefallen, das heißt, nur wenige Blätter aus einem Tagebuch, das irgendwie verloren gegangen war. Sie hatte damals die Blätter mit pietätvoller Rührung geleſen, ſich aber doch gewundert, wie eine Frau von ſo unſagbar engem Geſichtskreis ihre Mutter ſein konnte. Sie las jetzt die Blätter noch einmal. Den 12. Mai 1860. Heute vormittag hatte ich im Garten zu tun, es war zum Entzücken ſchön draußen, das Summen der Bienen an den Stachelbeerblüten und der Geſang der Vögel ſtimmten das Herz zur Freude und zum Lobe Gottes, der alles wieder ſo herr⸗ lich ſchmückte. Ich ſommerte heute auch die Betten, es war eine wahre Glut: 21 Grad. Den 14. Mai. Wir gingen dieſen Morgen nach Suhl, von da fuhren wir nach Schleuſingen, wo mein Mann Geſchäfte hat, ich hatte der Melli einen Beſuch verſprochen, den ich bei dieſer Gelegenheit ausführte. — Es war ſchönes Wetter, früh und abends etwas kühl, aber die blühenden Bäume, das junge Griin er⸗ quickten Herz und Gemüit. Die Melli freute ſich recht. — Um 12 Uhr waren wir wieder zu Haus, die Roſa⸗ munde hatte einſtweilen gewaſchen und geſcheuert. Den 17. Mai. Der Mai iſt diesmal ein wah⸗ rer Wonnemonat, wie wohl noch nicht leicht einer da⸗ geweſen, man kann ſich gar nicht ſatt ſehen an der Dohm, Schwanenlieder. 9 129 Pracht. Heute iſt Himmelfahrt, da war die Frau Kantorin ein bißchen da. Den 20. Mai. Eine große Hitze, nachmittags beſuchten uns Oberpfarrers mit der Marie und Minna und dem Rektor, gegen Abend zogen ſchwarze Gewitter⸗ wolken herbei, und es fing an heftig zu donnern. Als wir uns zu Tiſch ſetzten, war das Gewitter ganz nahe und alles ganz ſchwarz, dazu ununterbrochen Donner und Blitz, daß einem bange wurde. Es fing an zu regnen und zu ſchloſſen, ich deckte meine Kaſten mit den jungen Pflanzen zu, ſchaffte den Orangenbaum unter Dach und räumte das Beſte von den Blumenbeeten hin⸗ weg. Mit einemmal brach aus dem kohlſchwarzen Ge⸗ wölk die Sonne hervor und beleuchtete den Wald, ſo daß es ausſah, als ob alle Bäume im Feuer ſtänden. Das war ein wundervoller Anblick, unſere Hütte und das Wäldchen dahinter ſchienen ebenfalls zu brennen. So etwas Schönes, Herrliches habe ich noch nie ge⸗ ſehen, denn zu gleicher Zeit ſtand auch ein prächtiger Regenbogen am Himmel. — Wir ſtanden und bewun⸗ derten die majeſtätiſche Erſcheinung, während Blitz und Donner fortwährend über unſerem Haupte tobte. Das Merkwürdigſte von dieſer Erſcheinung war, daß auch Feuer in der Luft herumflog, wir bemerkten es beſon⸗ ders unterm Regenbogen und in der Nähe der Turm⸗ ſpitze, es war, als ob Schwalben herumflögen, doch es war keine Täuſchung, ſondern wirkliches Feuer, es haben außer uns noch Leute von hier und Heidebach geſehen. — So etwas Intereſſantes habe ich noch nicht 130 geſehen. Ich habe einmal wieder unſeres Gottes Güte und Allmacht recht erkannt, ſowie auch meine eigene Schwachheit und Nichtigkeit. Oberpfarrers gingen um elf. Die Mädchen blieben hier. Den 22. Juni. Nachmittag kamen Ober⸗ pfarrers und Rektors, ſie blieben bis abends um neun, mir war das gar nicht erwünſcht, ich hätte ſo gerne ein bißchen Ruhe gehabt, da ich in dieſer Woche faſt keine Nacht geſchlafen habe, das Eſſen geht auch nicht, dazu immerwährende Schmerzen. — Als der Beſuch fort war, traf auch mein liebes Männchen wieder ein, worüber ich recht froh war, er war über Eiſenach und Meiningen gereiſt. — In Erfurt hatte er allerlei ge⸗ kauft, mir brachte er eine wunderſchöne Tiſchdecke für ſechs Taler mit. Den 27. Juni. In Suhl war Konferenz, da ging mein Männchen ſchon früh hinunter, ich buk ein paar Aſchkuchen zu ſeinem übermorgenden Geburts⸗ tage, wo wir viele Gäſte zu erwarten haben. Im Garten wurde gemäht. Den 29. Juni. Heute war meines vielgelieb⸗ ten Männchens Geburtstag, da iſt er nun 40 Jahr ge⸗ worden, durch Gottes Hilfe und Gnade. Dem Herrn ſei von Herzensgrunde dafür gedankt. Möge er den Lieben auch fernerhin in ſeinen Schutz nehmen, ihm Kraft, Geſundheit und frohen Mut ſchenken und mir ihn noch viele Jahre am Leben erhalten. — Ach das wollteſt du tun, mein lieber Gott, auf dir allein ſteht meine Hoffnung und Zuverſicht, du kannſt es, darum 131 9* bitte ich dich inſtändig, erfülle meinen Wunſch, ſo es anders auch dein Wille iſt. — Ich war die ganze Zeit recht unwohl, heute war es aber einmal ganz hübſch, ich konnte meine Geſchäfte mit Leichtigkeit verrichten. — Früh brachte ich meinem einzig geliebten Schatz meine herzlichſten Glückwünſche dar, nebſt einem geſtickten Ruhekiſſen und ein Paar Schuhen, letztere hatte ich ſelbſt geſtickt, das Kiſſen jedoch bloß ausgefüllt. Nach⸗ mittags kamen Oberpfarrers mit Marie, von dieſer bekam er eine hübſche Schlummerrolle, von ihm ein Meſſer. — Diakonuſſens, Herters und Schmiedefelders erſchienen. — Den Kaffee tranken wir oben, Abendbrot wurde unten gegeſſen. — Es würden noch mehrere ge⸗ kommen ſein, allein wir hatten ununterbrochen Regen⸗ wetter. — Abends gab's Frikaſſee, Rindsbraten, Kirſch⸗ kuchen, Brottorte u. ſ. w., und wir tranken Wein, auch 2 Flaſchen Champagner. Frau Oberpfarrer half mir in der Küche, was mir ſehr wohl tat. — Den 22. Juli. Heut' früh fuhren wir alle zu⸗ ſammen nach Rottleben, wo meine Pate Hochzeit hatte, und wo ich ſeit 15 Jahren nicht mehr war; wir kamen kurz vor Mittag dort an. — Nachmittag war die Trauung, es gab übernatürlich viel Staat, alles in Seide. Der Bräutigam gefiel mir nicht. Der Helmer, der hatte in unſerer Abweſenheit da geſchlafen und auch den Garten bewacht, ſo daß wir weder eine Beere noch eine Kirſche vorfanden, da war richtig der Bock zum Gärtner geſetzt. Wir würden es nicht wieder tun, — zum größten Glück kommt er fort, das iſt ſehr gut. 132 Den 1. Januar 1861. In Gottes Namen und durch ſeine Güte und Gnade habe ich mit meinem lieben, guten Männchen nun wiederum ein neues Jahr begonnen. Wir können nicht genug rühmen, wie wohl uns der Herr in der verfloſſenen Zeit getan, mit wel⸗ cher Liebe und Güte er uns geführt. Unſere Herzen ſind des Dankes voll. Ein neues Jahr mit ſeinen vie⸗ len Tagen und Stunden liegt vor uns, was wird es uns bringen? Dafür laß ich meinen lieben Gott ſor⸗ gen, der weiß am beſten, was mir den rechten Segen bringt. Ich ſorge nicht, aber ich bitte ihn, daß er mir Kraft verleihen wolle, beſſer zu werden, und, wenn es ſeinem Willen gefällt, mir und meinem lieben Männ⸗ chen Geſundheit zu ſchenken, und Friede und Ruhe unſerem teuren Vaterlande. Amen. Den 8. Januar. Heute habe ich mein Schmalz ausgelaſſen, es gefällt mir jetzt ſehr wohl ohne Mädchen, die Luiſe holt früh Milch und Waſſer, dann bin ich wieder allein, und niemand macht mir etwas ſchmutzig, jetzt iſt alles noch einmal ſo rein. Den 10. Januar. Ich buk heute Kräpfel, Diakonuſſens mußten es gerochen haben, denn nach⸗ mittags kamen ſie mit ihrer Hildegard zum Beſuch. — Das Wetter war ſehr ſchön, der Weg aber naß. Den 17. Januar. Heute zu meinem Ge⸗ burtstage hat mir der liebe Gott große Freude beſchert, denn ich und mein liebes Schätzchen ſind geſund und froh. — Die Menſchen meinen es auch alle gut mit mir. — Mein liebes Männchen beſchenkte mich mit einem 133 ſchönen Kaffeeſervice, und von Oberpfarrers erhielt ich eine Apfelſine, von der Auguſte eine gehäkelte Kaffee⸗ ſerbiette, von der Marie ein Krägelchen und Manſchet⸗ ten. Auch von der Lina kam noch etwas an, eine ſehr ſchöne Stickerei zu einem Eckbrett. Ich habe mich über alles ſo gefreut. Abends kam Beſuch. Den 20. Juni. Es war wieder ſehr ſchönes Wetter, für nachmittag war eine Partie nach Finſter⸗ berg verabredet, dazu kam der Wagner, die Auguſte, Fräulein Kelberg und die Emma. Keins hatte etwas mitgenommen, ich mußte alſo für die ganze Geſellſchaft Lebensmittel einpacken. Ehe wir den Finſterberg er⸗ reichten, hatte ich noch große Angſt auszuſtehen, mein Männchen ging von uns ab, um den richtigen Weg zu ſuchen, kam aber nicht wieder zurück, es wurde gerufen, gepfiffen und geſucht, alles umſonſt, keine Antwort. Verirrt konnte er ſich nicht haben, es ließ ſich nicht anders denken, als daß ihm ein Unfall begegnet ſein müſſe, meine Angſt ſtieg mit jedem Augenblick. Als wir ziemlich die Höhe erreicht hatten, trugen mich meine Beine nicht weiter, ich mußte liegen bleiben, da trat er uns aus dem Häuschen wohlbehalten entgegen, mich aber übermannte mein Gefühl, ich mußte mich erſt recht ſatt weinen und zitterte an allen Gliedern. — Für mich war nun heute alles Vergnügen vorbei. Es wurde oben Kaffee gekocht, der allen herrlich ſchmeckte, dann ging's wieder langſam nach Hauſe. — Das war der ganze Spaß. — Die arme Luiſe hat tüchtig ſchleppen müſſen. — 134 Den 31. Auguſt. Heute habe ich wieder einen Johannisbeerkuchen gebacken, auch Beerchen einge⸗ macht, und im Garten hantiert, wo jetzt alles grünt und blüht. — Bohnen gibt's viel, auch die Gurken liefern noch einen kleinen Ertrag. Die Blumen ſtehen in ihrer vollen Pracht und wiegen mit ihrem Duft die ganze Umgebung. — Den 1. September. Es war ein ganz wun⸗ derſchöner Sonntag, aber leider von vielen zum Ar⸗ beitstag entheiligt. Wir ſaßen nachmittags in der Hütte. Abends kam der Wirt von Erfurt zurück, auch beſuchte uns der Stephan. Den 3. September. Geſtern war unſer Hochzeitstag, da habe ich ein paar friſche Kränze in die Stube gebracht. — Heute wurde im Garten Grumt ge⸗ mäht, — ich wuſch etwas. — Abends war wieder Muſik. Den 20. September. Es iſt noch immer Regenwetter, dieſe Woche hat es noch keinen Tag auf⸗ gehört, im Hauſe habe ich alles hübſch rein und in Ord⸗ nung. Kirmes wollen wir aber diesmal nicht feiern, mein lieber Schatz will verreiſen, doch wenn's kein beſſeres Wetter wird, wird's auch nicht dazu kommen. Ich wünſchte es ſehr, daß er nicht fort kann, ich habe eine innerliche Angſt und bitte den lieben Gott Tag und Nacht, wenn es nicht gut ſein ſollte, ein Hindernis zu ſchicken, ſo daß aus der Reiſe nichts wird. Iſt's Werk von dir, ſo hilf zum Glück, Iſt's Menſchentum, ſo treib's zurück Und and're unſre Sinnen. 135 Den 23. September. Ununterbrochen Regenwetter und furchtbarer Sturm. — Früh ging unſer Beſuch fort, wir blieben ganz allein bis gegen Abend, wo der Direktor kam und bis 10 Uhr bei uns blieb. Aus der Reiſe, die mein lieber Schatz heute an⸗ treten wollte, war nichts geworden. Gott der Herr hat mich erhört und Regenwetter genug geſchickt, um zu Haus zu bleiben; gewiß iſt es ſo am beſten. Den 23. November. Ich habe die Wäſche heute in die untere Stube gehängt. Es iſt wieder ziemlich kalt geworden. Recht froh bin ich, daß die böſe Woche nun zu Ende iſt, ich habe ſchwere Kämpfe durchmachen müſſen, aber der Herr hat mir beigeſtanden, er wolle mich auch fernerhin nicht ver⸗ laſſen. Ich lebe in einer beſtändigen, furchtbaren Auf⸗ regung, ach, daß ich mir doch manchmal ein härteres Herz geben könnte und weniger Bedauern mit anderen Menſchen hätte. Den 24. November. Dieſen Nachmittag bin ich wieder etwas ruhiger und heiter, habe mich aber in der Kirche vor Wehmut kaum faſſen können und viel geweint. Den 26. November. Endlich erhielt unſer Lehrer heute abend ſeine Sachen und zog nach Tiſch von uns aus, nun wird es ja wieder Ruhe werden. — Ich habe in den 5 Wochen, wo er bei uns war, etwas auszuſtehen gehabt. Er war immer ſtill und beſchei⸗ den und hat ſich ſtets ordentlich betragen, und das war noch ein Glück. 136 Den 26. Dezember. Heute hatten wir uns mit dem Lehrer Walter einen Spaß gemacht, wir hatten ihm nämlich einen noch ziemlich guten Schlaf⸗ rock geſchenkt, doch ſo, daß er es nicht wiſſen ſollte, von wem er wäre. Ich packte ihn ein und gab ihn dem Stephan, der iſt gegen Abend hinüber zu Walter ge⸗ gangen und hat ein Fenſter aufgemacht, und als ſpäter Walter bei ihnen war, hat er ihn hineingeworfen. An den Schlafrock hatte ich einen Zettel geklebt, mit einem ſchnell gefertigten Gedichte, es lautete: Mein Freundchen, weil du keinen Schlafrock haſt, So bin ich dir wohl ein willkomm'ner Gaſt; Ich bin zwar nicht mehr ſo ganz ſchön und neu, Doch zieh' du mich nur an ganz ohne Scheu. Dein Jäckchen kannſt du dann bei Seite tun, Das kann ja jetzt bis nächſten Sommer ruhen. Ich will jetzt lieber ſeine Stell' verwalten Und wärmer dich als jenes halten. Nun wünſch' ich nur aus tiefem Herzensgrund, Daß du mich lange trägſt geſund. Dieſe Geſchichte hat einen köſtlichen Witz gegeben. Am anderen Morgen hatte Walter den Schlafrock an und freute ſich königlich darüber; ich freue mich auch, denn es iſt zu ſchön, anderen eine Freude zu bereiten. Den 31. Dezember. Wieder einmal der letzte Tag im Jahre, wieviel werde ich noch erleben? So viel nicht mehr, das fühle ich, aber wieviel, das weiß nur Gott allein, in ſeiner Hand ſteht unſere Zeit, unſer Leben, und wie Gott es macht, ſo iſt es wohl gelungen. — 137 Den 28. Februar. Die letzten drei Abende haben wir Federn geſchliſſen. Wir haben jetzt reinen Sommer, gar keinen Schnee mehr und am Tage den ſchönſten Sonnenſchein, wo es ſtark taut, nachts friert die Erde wieder. — Den 13. Juli. Vormittag habe ich mit der Roſamunde im Garten gearbeitet, von Mittag ab hat es wieder ununterbrochen geregnet. Mein lieber Schatz war nach der Frühkirche ganz unwohl und konnte die Nachmittagskirche nicht ſelbſt halten. Ich machte mir große Sorgen, aber der liebe Gott half, daß es bald beſſer wurde und ich außer Angſt ſein konnte. Den 25. Auguſt. Ein wunderſchöner Morgen. Mein lieber, guter Schatz trat um 5 Uhr ſeine Reiſe nach Salzburg an. Ich begleitete ihn bis faſt halb nach Suhl, wo wir Abſchied voneinander nahmen, und wo eben die Sonne aufging. Es war mir recht weh⸗ mütig ums Herz, wegen der langen Trennung, ſcheiden tut allemal weh. Gott geleite den Lieben auf ſeiner Reiſe und bringe ihn glücklich und geſund wieder in meine Arme, an mein Herz. Als ich zurückkam, machte ich die Stube rein, ſommerte die Betten und nahm mir allerlei vor; doch war mir heute recht wehe und bange zu Mute. — Den 4. September. Heute machte ich ein paar friſche Kränze, um meinen Schatz zu empfangen. Die Emilie war wieder da. Den ganzen Tag hoffte ich auf meinen lieben Mann, allein es wurde Abend, und er kam nicht; da erboten ſich unſere Lehrer, ihm ent⸗ 138 gegenzugehen, worüber ich mich freute. Um 11 Uhr kamen ſie zurück und brachten mir den lieben, guten Schatz glücklich und wohlbehalten wieder mit. Ich freute mich ſehr und dankte Gott, daß die Zeit der Trennung vorüber und während der Zeit alles gut gegangen iſt. Den 28. September. Ein recht ſchöner, warmer Tag; wir ſaßen nachmittag wieder in der Hütte. Es iſt jetzt faſt wie Frühling, die Roſen und Priemeln blühen, ſowie die Erdbeeren, welche neue Früchte tragen, alles iſt ſo ſchön, ſogar die Schwalben ſind noch da, und doch iſt's mir oft ſo recht wehmütig und traurig ums Herz, daß ich mich der Tränen nicht enthalten kann, es iſt ja doch alles vergänglich und dem Wechſel unterworfen. Den 26. November. Heute kam endlich unſer neuer Organiſt aus Kindelbrück an. Es ſcheint ein ganz angenehmer Menſch zu ſein, wenn er auch nur recht ordentlich und gut iſt! Da er ſeine Sachen noch nicht mit hatte, ſo wollen wir ihn ſo lange behalten, bis er dieſelben hat. Den 28. November. Abends war die Lau⸗ retta da, die morgen Hochzeit hat, ich habe ihr ein Myrtenkränzchen gemacht und hoffe, daß ſie es mit Ehren tragen wird, was hier ſelten der Fall iſt. Den 2. Dezember. Muſik. Ich war recht froh, daß dieſen Abend Geſellſchaft bei uns war, ich bin jetzt immer unendlich ſchwermütig und möchte beſtändig weinen, ach, manchmal wohl am liebſten ſterben; nun 139 bin ich doch wieder etwas aufgeheitert und ruhiger, nicht mehr in ſolcher Aufregung. Den 31. Dezember. Am Schluß dieſes Jah⸗ res will ich noch einmal auf dasſelbe zurückblicken und bedenken, was Gott der Herr in demſelben mir Gutes getan hat. Obwohl auch Schmerzen und trübe Stun⸗ den mir oft das Herz ſchwer machten und tiefes Weh die Seele erfüllte, hat mir der liebe Gott doch geholfen; ich habe es durch ſeine Kraft überſtanden, und mein Herz iſt nun wieder ſtill und ruhig geworden. Gott meint es wohl und gut, auch wenn er wehe tut. Den 31. März 1863. Die Finken und Stare ſind wieder da und ſingen und pfeifen dem nahenden Frühling ihr Lied entgegen. Im Garten blühen die Schneeglöckchen. — Abends war Muſik. Der Kinder⸗ vater aß mit uns. Das Wetter war zu ſchön. Den 16. April. Alle Tage ſchönes Wetter und auch alle Tage Arbeit im Garten, was uns viel Mühe, aber auch viel Freude macht. — Heute ſahen wir auch die erſten Schwalben. — Den 27. Auguſt. Wir bekamen heute Beſuch von Köhnes, dem Rektor und Minchen Hahn aus Mei⸗ ningen; ſie waren zum Kaffee und Abendbrot da, ſpra⸗ chen auch den Beeren tüchtig zu und nahmen noch mit. Durch dieſe Unruhe und Anſtrengung wurden meine Füße gleich wieder viel ſchlimmer. Möge doch jetzt aller Beſuch und Unruhe fern bleiben. — Den 2. September. Heute war unſer Hochzeitstag, den wir nun durch Gottes Gnade das 140 10. Mal erlebt haben. Ich machte ein paar friſche Kränze und einen Strauß und ſchmückte damit die Stube. Der Herr ſei auch ferner mit uns. Den 22. September. Dieſen Morgen ließen wir unſeren guten Kindervater mit Kaffee trinken, er hatte die Betſtunde gehalten und da die ſchöne Melodie: „Brich an, du ſchönes Tageslicht“ geſpielt. Ich freute mich über die Maßen, dieſe mir ſo liebe Melodie wieder zu hören, und doch ſchnitt es mir tief ins Herz, denn das war ja das letztemal, daß der Kindervater hier ſpielte. — Übermorgen reiſt er ab. Den 23. September. Heute abend 9 Uhr kam mein Mann zurück, da kam auch unſer Kinder⸗ vater noch einmal herüber. Ich mußte Punſch machen, und wir ſaßen noch ein paar Stunden traulich und ge⸗ mütlich beiſammen, aber ach, zum letztenmal; dieſer gute Menſch, den wir ſo gern hatten, verläßt uns nun, und wir haben niemand, der ihn erſetzt. Mir tut dies unendlich leid und macht mich traurig. Den 24. September. Früh um 8 Uhr nahm unſer guter Kindervater Abſchied, er hatte noch einmal Kaffee mit uns getrunken, wollte Gott, nicht zum letz⸗ ten Mal. Die Trennung von ihm iſt mir recht ſchwer geworden, wegen ſeiner vielen guten Eigenſchaften. Möge Gott ihm Kraft geben, nicht vom rechten Wege zu weichen, ſondern gut und unſchuldig zu bleiben, wie er es bis jetzt geweſen iſt. — Das iſt mein größter Wunſch. Da heute ſo ſchönes Wetter war, hatte ich große 141 Freude, ich ließ die Kartoffeln herausnehmen, es ſind 12 Körbe voll geworden, groß, ſchön und gut, daß man ſich daran laben kann. — Mein Bruder Fritz hat mir Rebhühner geſchickt. Den 21. Oktober. Wir machten heute einen Spaziergang auf den Geiersberg, ich ſehnte mich ein⸗ mal auf die Höhe, in die Freiheit; es iſt meinen Füßen ganz gut bekommen, worüber ich mich ſehr freue und meinem lieben Gott von Herzen danke, denn der iſt's doch, der einmal wieder ganz allein geholfen hat. Den 29. Oktober. Faſt den ganzen Tag Regen, abends ein mächtiger Guß. Zum Glück kam mein lieber Schatz noch nach Hauſe, ehe es am ärgſten wurde. Er brachte mir eine Zuckertüite mit, worüber ich mich freute, mehr aber noch über die gute Nachricht, daß die königliche Partei geſiegt hat und die ſchlechten Demokraten unterlegen ſind mit ihrer Wahl. Den 30. Oktober. Dieſen Abend haben wir das Kraut eingemacht. Von meinem lieben Fritz kam ein Kiſtchen mit ſchönen Weintrauben und einer präch⸗ tigen, fetten Ente. Den 31. Oktober. Meine Füße ſind wieder recht ſchlimm, ich habe viel Schmerzen, und ſie ſind auch, beſonders der linke, ſehr dick. Wenn doch der liebe Gott hülfe, daß es einmal wieder beſſer würde. Den 2. November. Ich hatte mittags die Ente gebraten, da kam der garſtige Weber und blieb zum Eſſen. Da habe ich Kalbsbraten gewärmt und die Ente aufgehoben. 142 Den 5. November. Geſtern und heut' iſt's nicht viel Tag geworden. Es hat immer geregnet. Das Waſſer iſt ſehr groß. Meine Füße ſind ſehr ſchlimm. Den 7. November. Es hatte ſchon geſtern früh tüchtig gefroren, heut' desgleichen. Ich habe ge⸗ waſchen und gebügelt, auch etwas Mus gekocht, welches recht ſchön ſüß iſt. Für die Auguſte habe ich ein Über⸗ zieherchen und einen Rock zurechtgemacht und denſelben heut' noch gefärbt. Den 8. November. Heute nachmittag wurde der Lehrer Keller in ſein Amt eingewieſen, es war feucht und kalt, ſchneite noch dabei. Den 9. November. Schnee und Sturm. Meine Füße ſind auch einmal wieder recht ſchlimm. Den 10. November. Wir brachten dieſen Nachmittag unſere ſämtlichen Topfgewächſe in die Roll⸗ kammer in ihren Winterſtand. Abends die Lehrer. Den 12. November. Ich ließ heute eine Gans ſchlachten, weil ſie nicht mehr recht freſſen wollte, ſie war aber auch ſchön fett. Nachmittags beſuchte uns Erna. Ich habe dieſe Woche ein Bett genäht, welches mir die Melli aus Suhl beſorgt hatte, 10 Ellen à 8 Silbergroſchen. Den 13. November. Heut' ein recht ſchöner heller Tag, etwas kalt. Den 14. November. Da ich in dieſer Woche immer ſehr an meinen Füßen litt, ſo war manches liegen geblieben, ſo daß ich heut den ganzen Tag auf den Beinen ſein mußte, da waren ſie aber auch wieder 143 viel ſchlimmer geworden. Es wird mir oft recht ſauer, beſonders die Treppen auf und ab, und ich ſeufze oft: Ach Herr, ſo du willſt, kannſt du mir wohl helfen! Den 15. November. Ich und der Archi⸗ diakonus Hart waren heut in Ehren erſucht, bein Chriſtian Heier in Heidersbach Gevatter zu ſtehen. Die Taufe war gegen Abend in der Kirche, ich konnte heut nicht hinein, wegen meiner Füße, da hat der Hart allein die Stelle verſehen. Ich habe dem Kind den Namen Nanni gegeben, zu Ehren der Frau von Weſel. Den 17. November. Mittags kam die Amanda aus Suhl, um mir nähen zu helfen. Abends die Lehrer. Den 19. November. Geſtern beſuchte uns der Rektor aus Suhl. Mein Kleid mit dem Doppel⸗ rock iſt nun wieder fertig, es iſt ein neuer Leib und Armel daran gekommen, nun iſt's wieder wie neu; das braune, halbſeidene wird gewendet und auch neue Armel hineingemacht. Heut' den ganzen Tag ſchöner, heller Sonnenſchein. Den 20. November. Vormittags wurde das Nähmädchen fertig, ich habe ihr tüchtig geholfen und freue mich, daß ich nun wieder zwei hübſche neue Kleider habe; dafür habe ich ihr einen halben Taler bezahlen müſſen. Ich habe 15 Ellen roten Samt zu einer Altardecke gekauft, die Elle 16 Silbergroſchen. — Das Schwein, das wir für 21 Taler gekauft haben, wog 151 Pfund. Und Schmer waren's 14 Pfund. Wir ſind zufrieden damit, es hat ſich ſehr gut ge⸗ 144 ſchlachtet; wir haben eine Menge Wurſt bekommen, fetten und dicken ſchönen Speck und Schinken. Abends war alles vorüber. Den 25. November. Ich habe heut' das Schmer ausgelaſſen, mit der Roſa alles wieder rein gemacht, Würſte in den Rauch gehängt, Altardecke fer⸗ tig, viel Mühe und Arbeit, alles zur Ehre Gottes. Weiße Kränze und Litzen und ein Kranz, worin „Ehre ſei Gott“ und die Jahreszahl ſteht. — Hat tüichtig getaut. — Unſer Buchenreiſer wird hineingeſchafft, ſo ſchön haben wir's noch nicht gehabt, der Haufen nimmt faſt den halben Hof ein. Den 5. Januar. Ungeheurer Schneefall, daß immer geſchaufelt werden mußte. Ein paar Dächer ſind eingeſtürzt. Der Schnee bedeckt einen Teil der Fenſter. Während draußen das ärgſte Winterwetter, ſteht in der Kochſtube ein blüihender Orangenbaum und würzt mit ſeinem Duft die ganze Stube. Den 10. Januar. Da ich fünf Wochen zu Hauſe geſteckt, ſehnte ich mich nach friſcher Luft, fuhr mit nach Suhl. Garſtiges Wetter. Die Roſamunde hatte inzwiſchen geſcheuert. Den 17. Januar. Früh beſchenkte mich mein liebes, gutes Männchen mit einem neuen Kleid und einer Torte, worüber ich mich ſehr freute, noch mehr über die herzlichen Glückwünſche, die er mir darbrachte. Möge ſie unſer lieber, gnädiger Gott erhören. Ich hoffe, er wird's auch ferner gut mit mir machen, wie er es ja immer getan hat, wofür ich ihm nie genug danken Dohm, Schwanenlieder. 10 145 und ihn erheben kann. Wir verlebten den heutigen Tag ganz in der Stille und Einſamkeit, dabei aber in inniger Liebe und Freude. Den 18. Januar. Heut' von Oberpfarrers auch noch ein ſchönes Geſchenk, nämlich ein ſehr hübſches geſticktes Nadelkiſſen, zwei gehäkelte Decken und ein Paar Lichtmanſchetten aus Glasperlen. Von Frau Diakonus ein Glas Eau de Cologne. Den 19. Januar. In den letzten Tagen hat es wieder gewaltigen Schnee gegeben, man weiß gar nicht, wo noch alles hin ſoll. — Ich habe ſchon wieder Reißen, mache einen neuen Überzug fürs Kanapee. — Wieder tüchtiges Reißen, ich habe geſchwitzt, danach iſt's beſſer geworden. So viel Schnee und Kälte. Acht Rehe eingefangen, die ſich vor Mattigkeit nur ſo haben nehmen laſſen. Wäſche auf dem Schnee. Ein betrunkener Menſch im Schneegeſtöber umgekommen. O Gott! O Gott! Tränen floſſen Miriam über die Wangen. Die liebe, fromme Mutter! Bei ihr war es die eigene Herzensgüte, die ſie wie ein Lichtſchein umfloß, der auch noch den Grund ihrer Seele erhellte. „Selig ſind die geiſtig Armen.“ Ja? So wäre ſie unſelig, weil ſie nicht geiſtig arm iſt? Mutter! Liebe Mutter! Ich habe dich lieb. Aber ich kann nicht zu dir. Der Himmel und die Scholle 146 waren deine Welt. Du lebteſt in einem Altland des Weibtums. Und ich? Stehe ich etwa an der Schwelle eines Neulandes? Plötzlich ſchaudert ſie. Ach ja — ja! Ein Neuland! Nur iſt die Hand, die mich hinein, hinab ſtößt, von Eis. O, nicht daran rühren, nicht daran rühren! Wohin, wohin rettete ſie ſich vor der bohrenden, inneren Angſt, die ſie vor ſich ſelbſt verbergen möchte? Und ſie erſehnt eine Keuſchheit des Geiſtes, die ihr —. ach noch ſo robuſtes Lebensgefühl überwinde. Sie lebt ſo gern, ſo gern. Sie denkt an eine Gemeinſchaft, eine Art Tolſtoi⸗ gemeinde, die ſich in der Nähe eines Vororts, am Ufer des Sees angeſiedelt hat. Ob ſie dort — wo idealſte Geiſtigkeit erſtrebt wird — lernen könnte — — was? Daß ihr zucken⸗ des, hämmerndes Herz ruhig werde, ſchickſalsergeben. Sie fuhr zur Anſiedlung hinaus. Auf freiem Felde ſtanden die hüttenartigen Häuschen. Miriam kannte die Begründerin der Tolſtoige⸗ meinde von Berliner Wohltätigkeitsvereinen her. Adeline Satorin war eine naive Idealiſtin, immer im Begriff — coüte que coüte — die Welt umzu⸗ formen. Das einemal durch die Stiftung eines altrui⸗ ſtiſchen Weltbundes mit dem Motto: „Dieſen Kuß der ganzen Welt“ (an den „Kuß“ hatten ſich Spötter ge⸗ klammert), das anderemal durch einen Verein, der es 10* 147 ſich zur Aufgabe machen ſollte, die Verbrecher in den Gefängniſſen durch Muſik zu läutern. Weil ſie zu viel wollte, erreichte ſie wenig oder nichts. Aber unermüdlich fing ſie immer wieder von vorn an. Man wies Miriam den Weg zu den Tolſtoihütten. Vor einer der größten ſaß eine Landfrau in einem kurzen Rock, ohne Strümpfe, Sandalen an den Füßen, ein weißes Tuch um das leicht ergraute Haar. Adeline Satorin in eigener Perſon, oder, wie ſie nach berühm⸗ ten Muſtern genannt ſein wollte: „Die Frau vom Ses.““ Nach der erſten herzlichen Begrüßung wollte Mi⸗ riam wiſſen, ob das neue Leben Adeline beglücke. Aber gewiß. Sie lebten ja wie primitive Para⸗ diesvögel in dieſem Reich Platos. Miriam befragte ſie über die Prinzipien der Ge⸗ meinſchaft. O, die einfachſten von der Welt: Los von der über⸗ kultur! Los von allem Ballaſt! Los der Geiſt von der niederziehenden Schwere des Körpers. Sie hielt nicht damit zurück, daß ihnen der Kör⸗ per für ein inferiores Vehikel des Geiſtes galt, für eine quantité négligeable, über die man in Platos Reich die Achſeln zuckte. „Aber Ihr könnt doch nicht an die Lösbarkeit des Geiſtes vom Körper glauben? Daß man den Geiſt bis zu einem gewiſſen Grad 148 aus dem Körper herausdeſtillieren könne, daran glaubte die Frau vom See. „Werft nur nicht zu viel Ballaſt aus, ſonſt fliegt am Ende euer Lebensſchifflein zu hoch, in ein Wolken⸗ kuckucksheim, wo ſelbſt primitive Paradiesvögel keine Neſter bauen können.“ Miriam geriet aber doch ins Grübeln. Wuchs nicht in der Tat in der modernen Kultur der Unfrieden zwiſchen Körper und Geiſt? Wuchs nicht die große Sehnſucht des Geiſtes nach Siegen über den Körper? Gehört nicht der neuerdings ſo populär gewordene Aſtralleib ſamt Theoſophie, Hypnotismus und ähn⸗ lichen occulten Geiſterſcheinungen zu dieſen Zeichen der Zeit? Vielleicht iſt's auch ein Zeichen der Zeit — ein alleräußerlichſtes freilich —, daß die Schlankheit der Geſtalt ſo lebhaft erſtrebt wird. Und fiel dieſe Geiſtesſehnſucht nicht zuſammen mit der intellektuellen Verzweiflung des modernen Menſchen über die Unlösbarkeit der Welträtſel? Daß aber gerade Adeline die Pfadfinderin ſein ſollte zu jenen unzugänglichen Höhen, von denen noch jeder abgeſtürzt, — das mußte Miriam belächeln. Sie traten in das Häuschen. Im Wohnraum ſaßen vier oder fünf Perſonen eifrig leſend um einen großen Tiſch. Der war ganz mit Büchern bedeckt, Büchern in allen Sprachen, und ganz mit Tinte be⸗ kleckſt war er auch. Feinſauber, wohnlich und ordentlich ſah es in dem 149 Reich Platos nicht aus, vielmehr recht verwahrloſt. Was ging das den Geiſt an! Der Wohnraum diente allen möglichen Zwecken. Die eine Ecke war Garderobe. Auf der Erde Pan⸗ toffeln, ungeputzte Stiefel, Männerkleider, Strohhüte. In einem anderen Winkel ein Reiſekorb, der die Speiſekammer vorſtellte, ebenſo wie eine alte Kinder⸗ badewanne, in der getrocknetes und friſches Obſt auf⸗ bewahrt wurde. An den kahlen Wänden ein paar Tolſtoibilder. In der Küche kein Feuer, kein Holz. Sie lebten ja hauptſächlich von Früchten, Waſſer, Brot, Honig, Milch. Die Schlafräume, die waren keineswegs für pri⸗ mitive Paradiesvögel, eher für obdachloſe Spatzen, die keines Mundſpülglaſes, keiner Roßhaarmatratze oder ſonſt eines ziviliſierten Gerätes bedürfen, nicht einmal der roh zuſammengezimmerten Bettſtellen mit groben gewürfelten Decken, die allerdings vorhanden waren. Die Frau vom See führte Miriam über die Felder. Sie war ſehr ſtolz darauf, daß ſie und ihre Gefährten die Felder ſelbſt beſtellten, denn Selbſtge⸗ winnung des Lebensunterhalts gehörte auch zu ihren Prinzipien. Miriam war der Meinung, daß jeder Knecht die Arbeit viel beſſer und müheloſer verrichten würde. Gewiß, aber im Reiche Platos dürfe es keine Her⸗ ren und keine Knechte geben, und außerdem wäre das Arbeiten im Schweiße des Angeſichts ſo geſund und ſo ethiſch. 150 Sie kamen zu den kleineren Strohhütten. Vor einer dieſer Hüttchen ſaß ein junges Ehepaar (lebten natürlich in platoniſcher Ehe), Hella und Helios. (Wer den alten Adam ablegt, muß ſich ſtets einen neuen Namen zulegen.) Auch ſie laſen. „Platos Staat“ laſen ſie. Nur durch ein leichtes Stirnrunzeln zeigten ſie, daß die Störung durch den Gaſt unwillkommen ſei. Helios trug leichte Beinkleider, die bis zum Knie reichten, ſtreckte aber ungeniert ſeine braunen, behaar⸗ ten Beine und die nackten Füße von ſich, während bei ſeinem platoniſchen Weibe nur die Fußſpitzen aus dem Reformgewand lugten. Als ſeltſam fiel es Miriam auf, daß die Männer alle das Hemd vorn offen trugen, unbekümmert um den Anblick, den ſie boten. Das gehörte wohl dazu. Neben dem Ehepaar hatte jemand, der Franziskus hieß, nicht ſeine Hütte, ſondern ſein Lager aufge⸗ ſchlagen. Ein ganz Orthodoxer. Er ſchläft im Freien, auf dürren Äſten, weil ſie doch zur einfachſten Natur zurückkehren wollten. Tolſtoi und Plato, die paſſen ja eigentlich gar nicht zuſammen, die Koloniſten hatten ſie aber doch ver⸗ ſchmolzen. Franziskus hatte mit anderen Propheten das ge⸗ mein, daß er Schneider geweſen war, ein Handwerk, das ſich beſonders zu Prophetenzucht zu eignen ſcheint. Miriam erhielt den Eindruck, daß er berufen war, die Schlange in dieſem Paradieſe zu ſpielen. Er trieb alles auf die Spitze; wuſch und kämmte ſich kaum, 151 ging barfuß, hatte Röcke und Hemden über Bord ge⸗ worfen — nein, die Hemden nicht ganz. Er trug ein kuttenartiges Hemd (weiter nichts), auf das er ver⸗ ächtlich blickte als auf eine feige Konzeſſion an eine Kultur, die ſie doch überwinden wollten. Franziskus arbeitete nicht, vielleicht, weil er den Lilien auf dem Felde gleichen wollte. Er ſäte nicht, er erntete nicht — und Gott — — nein — Adeline Sato⸗ rin ernährte ihn doch. Sie ernährte überhaupt alle. Die ganze Kolonie lebte auf ihre Koſten. Tut nichts! meinte ſie, ſie werde alles durch ihre Gemüſe⸗ und Getreideernte wieder einbringen. Geſegnete Idealiſtin! Mit dem Hemd fing des Franziskus Natürlichkeit an, wo ſie enden würde, war nicht abzuſehen. Adeline wurde unruhig, ſie fürchtete wohl, daß dieſes enfant terrible der Kolonie über die Stränge ſchlagen könnte, und in der Tat fing er ſchon an, einige alarmierende Ausſprüche von ſich zu geben. Miriam hielt es für wahrſcheinlich, daß dieſer Franziskus auf Konto der Natürlichkeit mit bewußter, koketter Naivität ſeine derben Ungeniertheiten vor⸗ brachte, wie Ausländer wohl mitunter, auf Konto ihrer Sprachunkenntnis, gewagte Zweideutigkeiten lancieren. Als Miriam die Kolonie verließ, ſtand es bei ihr feſt, daß der Kulturmenſch von Prinzipien, ſchlechten Tolſtoilithographien, dem Plato in Schleiermachers 152 überſetzung, und einer dem Nullpunkt ſich nähernden Garderobe allein nicht leben könne. Platos Reich! Plato, für den Schönheit und Sitt⸗ lichkeit faſt identiſch waren. Hier aber hatte man die Schönheit bis auf ihren Schatten begraben, die Gra⸗ zien in die Flucht geſchlagen. Aber die Ethik! die Ethik! Sie ſpielen ja Ethik, abenteuern nur im Land der Ethik. Die ganze Anſiedlung mit ihrer aufgemalten Idea⸗ lität erſchien ihr wie ein ſpieleriſches Experiment, wie etwa die phyſikaliſchen Experimente es ſind, die Kna⸗ ben mit Spielzeugmaſchinchen anſtellen. Schwärmer, die zur Tat ſchreiten, gleichen den Bilderſtürmern, die des Daſeins reinſte und holdeſte Freunde für Feinde halten. Sie verwechſeln Natur und Barbarei. Und nun gar dieſer Franziskus, der ſich mit einer Art Wolluſt in rüder Abſtinenz wälzt — ein ſadiſti⸗ ſcher Asket. Miriam geriet in eine ſeltſame Geiſtesverfaſſung, in eine dauernde Irritation. Sie lebt ziemlich wie ſonſt, aber etwas in ihr iſt verändert und hat die Welt um ſie her verändert. Das Beſondere, ſehr Wichtige, das geſchehen iſt, hat ſie aus einer ſicheren, geſchützten Poſition, in der ſie in Reih und Glied ſtand, herausgeriſſen; ſie ſteht nun allein, ohne Halt. Freilich, ihr Blick iſt ungehinderter, freier geworden, weiter ſieht ſie, ſo weit, daß ſich zuweilen die 153 Dinge wie in eine graue, grenzenloſe Ferne zu ver⸗ lieren ſcheinen. Sie galt für geiſtreich, amüſant. Woran ſie ihren Geiſt, ihren Spott, ihre Erzählungskunſt ausließ, darauf war es ihr nicht angekommen. Über ſoziale, politiſche, künſtleriſche Fragen hatte ſie nicht ſonderlich nachgedacht. Das taten ja die anderen mehr als genug. Wahrſcheinlich mußte alles ſo ſein, wie es nun ein⸗ mal war. Anders jetzt. Die Dinge drängten ſich nah an ſie heran, ſtellten ihre Fragen. Sie hat im Leben viel geſehen, gehört, geleſen, aber nichts hat ſie eigentlich erlebt. Es iſt von ihr abgetropft wie Waſſer von einem Regenmantel. Und nun erlebt ſie, was ſie ſieht, hört, lieſt. Dinge und Geſchehniſſe des Alltags, die ſie früher gleichgültig gelaſſen, oder die ſie als ſelbſtverſtändlich hingenom⸗ men, bedrängen, beunruhigen ſie, belaſten ihr Gemüt, regen ihren Geiſt auf. Miriam ſaß im Tiergarten auf einer Bank. Früher hatte ſie das bunte Treiben im Frühlingsgrün und Sonnenglanz behaglich auf ſich wirken laſſen, ohne Nebengedanken, ohne Gedanken überhaupt. Anders jetzt. Es kam ihr vor, als wäre alles, was da um ſie herum vorging, Vergangenheit, und ſie ſäße da — eine Zeitloſe — und ſie wunderte ſich, daß alles ſo war, wie es war. 154 Ehepaare kamen daher, Arm in Arm. War dieſe Sitte des Sichaneinanderdrängens nicht unfein, un⸗ natürlich? Vielleicht eine Reminiszenz früherer Zeit⸗ alter, wo der Mann das Weib ſchützen mußte. Nun muß er gehen, wie ſie geht, oder ſie wie er. Warum hemmten ſie ſich ihre Bewegungsfreiheit? Und warum trugen all die Damen ihre zu langen Kleider wie Pakete in den Händen, oder ſie atmeten im unreinen Staubbad ihrer Schleppen? Und warum umpanzern die Männer ihre Kehlen mit ſteifen Apparaten von Stärke und Leinewand, als wären ſie zum Halseiſen verurteilte Verbrecher? Warum er das täte? hatte ſie einmal einen Ver⸗ wandten gefragt. „Ich kann doch bei Tag nicht im Nachthemd gehen,“ hatte er geantwortet. Und warum ſtarrten ſich die Leute gegenſeitig ſo an, oft böswillig, und ſie lachten offen oder verſteckt, wenn Vorübergehende von der Mode abweichende Ko⸗ ſtüme trugen, mochten ſie auch einfacher, ſchöner und zweckmäßiger als die Modetracht ſein. Unter den Dahinwandelnden waren Frauen, denen man ſchon von weitem anſah: das Weibchen. So flott, wogenden Ganges kamen ſie daher, Üppigkeit, un⸗ keuſches Wiſſen in Haltung und Gebärde, in den lan⸗ genden Blicken. Sie ſchlugen förmlich Rad vor den Männern. So aber gefielen ſie ihnen vor allen anderen. Das Weib aber will das Weib anders. Miriam ſchämte ſich dieſer Geſchlechtsgenoſſinnen. 155 Baßſtimmen vorübergehender Männer, die wie unterirdiſches Kollern klangen, fielen mißtönig in ihr Ohr, als entſprächen ſie einer feineren Kultur nicht. Und die mit den dichtbehaarten Geſichtern! Mahn⸗ ten ſie nicht aufdringlich an des Menſchen zoologiſche Abſtammung? Ein Wagen rollte vorüber. Elegante Herren im Jagdanzug, die Gewehre zur Seite, ſaßen darin. Der Rauch ihrer Zigarren zog wie ein ſchwarzer Flor hinter ihnen her. Daß ſie ſo friſch und fröhlich ihrem blutigen Werk entgegenfuhren, erregte Miriam. Die Jagd ein vornehmer Sport! Wieſo? Warum? Fragt ſie nicht wie die Kinder, die auch immer das Warum aller Dinge wiſſen wollen, weil die Welt ihnen ſo neu iſt? Müßten wir nicht wie die Kinder werden, und wie ſie wieder und immer wieder fragen: Warum? Denn was wäre nicht fragwürdig! Die Gewohnheit aber hat uns ein Schloß vor die Sinne gelegt. Etwas oder jemand hat für ſie das Schloß geſprengt. Wer? Nicht daran rühren! Nicht daran rühren! Miriam war bei einem Diner. Ein glänzendes Diner. Eine Flut von Licht und Duft. Funkelndes Silber. Auf dem weißen Damaſt rote Blumen. In den Kelchgläſern goldener Wein. Ein ſeidiges Rau⸗ 156 ſchen, ein Kniſtern und Blitzen köſtlicher Gewänder. Perlen und Diamanten auf der ſchimmernden Haut ſchöner Frauen. Und wieder kam Miriam die Empfindung, als ob ſich hier Vergangenes vor ihr abſpiele. War das nicht ein wundervoller Renaiſſance⸗ rahmen? Das Bild aber in dem Rahmen — Miriam ſah, wie die Schmauſenden immer röter und immer ſatter wurden, und immer noch nicht ſatt genug, und wie die Erhitzung und die Sattigkeit ſie verhäßlichte. Die anfangs reſervierte, kühle Haltung der Gäſte wich mit den immer feurigeren Weinen einer bewegten Munterkeit. Es war, als welkten die Blumen all⸗ mählich; die zarten Roſen auf den Wangen der Damen wurden grellrot; in ihren Augen entzündete ſich ein unruhiges, phosphoreszierendes Licht. Ihre Schultern ſchienen aus den Kleidern herauszudrängen. Die Grazien bekamen einen kleinen Stich ins Mänaden⸗ hafte. — Altmodiſch, beinah' komiſch erſchien Miriam das Flirten zwiſchen den jungen Leuten, dieſes Koſen mit Blicken und Worten, als läſe ſie in einem Familienblatt eine banale, langweilige Geſchichte, deren Ende jeder voraus weiß. — Ein geſelliges Amüſement, das lüſterne Um⸗ ſchnüffeln der Weiblichkeit, den jungen und älteren 157 Herren ein Anreiz für ſubſtanziellere Befriedigungen — anderswo. Geſchah den jungen Mädchen damit nicht ein Unrecht? Ja. Die Luft wurde fad in dem Gemiſch von Parfüm und ſcharfen Speiſegerüchen. Eine zahme Orgie. Es geſchah nichts Dionyſiſches kein Rauſch, höchſtens ein kleiner Spitz, der die Zun⸗ gen und Hände, beſonders der älteren Herren, zu klei⸗ nen Freiheiten den Damen gegenüber anſtachelte, die ſie mild und graziös lächelnd abwehrten. Miriam kannte die Geſchichte vieler dieſer glän⸗ zenden Frauen, dieſer hochangeſehenen Männer, eine Geſchichte von moraliſchen Irrungen, von Krankheiten, von herben Enttäuſchungen. Und da ſaßen ſie nun in breitem Behagen und ſchmauſten und lachten und ſchwatzten. Aber ſie waren es ja eigentlich gar nicht ſelbſt, nur ihre Masken, für die Geſellſchaft konſtruiert. Miriams Nachbar — ein älterer, bequemer Pro⸗ feſſor mit kahlem Schädel und glitzernden Augen — ſuchte ſie — wie es Geſellſchaftspflicht iſt — zu unter⸗ halten. Miriam meinte, er hätte ſehr gern nicht ge⸗ ſprochen, ſich lieber ausſchließlich an den feinen Spei⸗ ſen delektiert. Aber nein doch, ſie irrte. Das war ja der Pro⸗ feſſor Baumann, der ihr ſeit langer Zeit, augenſchein⸗ lich mit ſehr ernſten Abſichten, den Hof machte. Sie 158 hatte es ganz vergeſſen. Nun wurde ſie durch ſeine Haltung daran erinnert. Sie hatte den gemütlichen, geiſtvollen Herrn immer ſehr gern gehabt, war nicht abgeneigt geweſen, eine ſpäte Ehe mit ihm zu ſchließen. Sie unterhielten ſich über die Formen großſtädti⸗ ſcher Geſelligkeit. Miriam fand dieſe Maſſenſpeiſungen verwunder⸗ lich, da doch die meiſten Leute die Einladungskarten ärgerlich, wie Verurteilungen zu einer Haft, entgegen⸗ nehmen; eine Freiheitsberaubung, die ſich nicht ein⸗ mal in Geldſtrafe umwandeln läßt. Als ihr Herr etwas Banales von Geſellſchafts⸗ pflicht murmelte, unterbrach ſie ihn. „So komiſche Pflichten gibt's. Solche Diners zu geben — Pflicht. Sich dabei menſchenmöglichſt zu dekolletieren — Pflicht. Zu reden, wenn man ſich nichts zu ſagen hat — Pflicht.“ „Warum gegen den Stachel löken!“ ſagte gemäch⸗ lich der bequeme Profeſſor, „es iſt nun einmal ſo des Landes Brauch. Warum lachen Sie, Frau Miriam? „Mir fällt ein Vers ein, der über der Eingangs⸗ pforte eines Etabliſſements im Grunewald ſteht: „Mit altem Brauch wird nicht gebrochen, hier können Fami⸗ lien Kaffee kochen.“ Mein Gott, wozu, wozu über⸗ haupt ſo viel Sitten und Gebräuche! Immer etwas, was gar nicht zu ſein brauchte, immer Schranken.“ „Zum Schutz des Publikums,“ ſagte der geiſtreiche Herr, dem gerade nichts Geiſtreiches einfiel. 159 „Sie ſind ein Philiſter. Daß Sie's nur wiſſen, lieber Freund, ich habe oft wilde, anarchiſtiſche Ge⸗ lüſte, und wäre ich nicht krank“ — ja — (ſie ſagte es mit heiterſtem Geſichtsausdruck) „todkrank, ſo würde ich — ich würde — —“ Sie hielt inne und ſah vor ſich nieder. „Was würden Sie? „Ach, ich finde es nicht. Was können wir denn auch groß tun! Auf unſerem Stern iſt für uns Frauen nichts zu wollen. Und der Mars iſt ſo fern, ſo fern — Sie ſchien ihre Umgebung zu vergeſſen und ver⸗ fiel in Sinnen. Der Herr mit dem kahlen Schädel und den glitzernden Augen betrachtete ſie mit intenſiver, liebe⸗ voller Aufmerkſamkeit. Dieſes Weib war ja noch intereſſanter, als er ge⸗ meint. Freilich, etwas jünger wäre ſie ihm lieber ge⸗ weſen. Man kann eben nicht alles haben. Miriams Blicke waren an zwei Damen haften ge⸗ blieben, die ihr gegenüber ſaßen. Lilli und Erika, ihre ehemaligen Jugendfreundinnen. Allmählich waren ſie voneinander abgefallen. In Miriam tauchte die Erinnerung an ein Feſt auf — es mochte 25 Jahre zurück liegen — an dem ſie und die Freundinnen die Ballköniginnen waren. Sie ſah Lilli mit dem Kornblumenkranz in dem offenen, ſilberblonden Gelock, mit dem Ausdruck naiver, jubelnder Lebensfreude auf dem blütenzarten Geſicht. Stand dieſe zierliche Fee nicht damals vor dem Leben 160 wie das Kind vor der Weihnachtstür, in zitternd ſeli⸗ ger Erwartung der Herrlichkeiten, die da kommen wür⸗ den, kommen mußten? Und Erika! Was hatte ſie damals für ein vor⸗ nehmes, blaſſes, witziges Geſicht. In dem reichen, ſei⸗ digen, aſchblonden Haar eine einzige roſa Roſe. Kei⸗ nen Schmuck. Ein lichtgraues Tuchkleid umſchloß eng ihre hohe, herrliche Geſtalt. Sie war verlobt und über⸗ glücklich. Ohne ihre Schuld ging die Verlobung ſpäter zurück. Und nun? Grau, maſſig und kupfrig war ſie ge⸗ worden. Man ſagte ihr eine böſe Zunge nach. Das Lillichen war noch immer naiv, nahm ſich aber wie eine Weihnachtspuppe im April aus. Kaput war ſie. Warum hatten ſich dieſe beiden einſt ſo ſchönen und begabten Geſchöpfe ſo früh in den Sand ver⸗ laufen? Sie oder ihre Eltern waren vom alten Schlage, mit dem Glaubensſatz: Die Frau gehört ins Haus. Und da hatten ſie nun auf das Haus, das eigene Haus, gewartet und auf den Gatten und auf das Kind. Und als ſie lange, bis zur Lächerlichkeit lange gewartet und endlich begriffen hatten, daß nie das Haus für ſie kommen würde, und nicht der Gatte und nicht das Kind, da waren ſie müde geworden, verſauert und ver⸗ ſäuert. Aus war's mit ihnen. Dohm, Schwanenlieder. 11 167 Miriam fühlte den intenſiven Blick des Profeſſors Sie fuhr aus ihrer Verſonnenheit auf. „Was ſagten Sie? „Im Augenblick nichts. Ich möchte aber, was ich vorhin ſagte, ergänzen. Ich meine, daß dieſen Feſt⸗ lichkeiten doch noch etwas anderes zugrunde liegt als alter Brauch, z. B. das Bedürfnis — es kann ſich bis zur Sehnſucht ſteigern — nach Wechſel. Sie wiſſen, eine Hausgehilfin — ſo ſagt man ja wohl jetzt — ver⸗ läßt oft den beſten Dienſt, „um ſich zu verändern. Wir ſind ſo gern einmal anders. Das iſt ja ein Haupt⸗ reiz der Reiſen — beſonders der Reiſen ins Ausland — daß wir, in einer fremden Sphäre, unter Fremde verſetzt, ſelbſt ein bißchen Fremder werden, das heißt ein von der Zuhauſe⸗Perſönlichkeit Losgelaſſener. Sich zu verändern, iſt förmlich ein Inſtinkt der Menſchennatur. Und wenn wir den Schlafrock — trägt man nicht mehr? — alſo den Hausrock mit dem Frack vertauſchen, ſo iſt das nicht nur etwas Äußerliches, der Frack erſtreckt ſich auch auf den inneren Menſchen. Der häusliche Brummbär wird unter Umſtänden zu einem charmanten Kavalier. Ein verſchloſſener Schweiger entdeckt ſeine Zunge. Mit einem Wort: man hat ein bißchen neue Freude an ſich ſelbſt.“ „An ſeiner Maske,“ ſagte Miriam wegwerfend — „und nicht einmal mit Maskenfreiheit. Wiſſen Sie etwa noch mehr zur Verteidigung der Diners? „Ja, ich weiß noch mehr. 162 Er bezeichnete mit den Augen eine ältliche Dame, die in ihrer Nähe ſaß. — „Dieſe Dame iſt immens reich. Sehen Sie die dreifache Perlenreihe um ihren Hals? Die Perlen ſind falſch. Die echten liegen wohl⸗ verſchloſſen daheim in ihrer Kaſſette. Wozu die echten tragen, die irgendwie Schaden nehmen könnten, da die imitierten dieſelbe Wirkung haben, auf die Dame ſelbſt und auf alle anderen. Die Perlen ſind nur ein Sym⸗ bol des Reichtums. So ſind dieſe glänzenden Feſte vielleicht auch nur ein Symbol der Freude. Wozu haben wir denn die heut ſo ungemein moderne Auto⸗ ſuggeſtion? Mit ihrer Hilfe bewirkt das Symbol die Sache ſelbſt — die echte Freude.“ „Ich habe kein Talent für Autoſuggeſtion. Ich ſehe immer nur die imitierte Freude.“ „Und ich brauche die Autoſuggeſtion nicht. Für mich iſt dieſes Feſt heut echte, tiefe Freude.“ Seine Stimme nahm den dunklen, zitternden Klang tiefer Erregung an, als er fortfuhr: „Sie ſind ſchöner geworden, Miriam, ſeitdem ich Sie zuletzt ſah, vergeiſtigter. Es iſt, als hätten Sie inzwiſchen von Himmel⸗ und Höllenfahrten geträumt, oder als planten Sie, in tranſzendentem Übermut, einen Jenſeitsflug, hinweg über Raum und Zeit. Es ſieht faſt aus, als hätte ſich Ihre helläugige Pſyche in eine ſeheriſch blickende Pythia verwandelt.“ überraſcht, voll Sympathie blickte Miriam zu ihm auf, als ſie lächelnd antwortete: „Um ſich zu verändern, fahren auch die Pſychen zuweilen aus ihrer Haut. 11* 163 Gleich aber ſchwand ihr Lächeln wieder, und ſie ſtarrte ins Leere. „Wer weiß, vielleicht ſterben wir auch nur, um uns zu verändern.“ „Aber nicht, ſolange das Leben noch ſchönere Ver⸗ änderungen bietet. Miriam — Er ſah ihr mit einer innigen Bitte ins Auge. Sie ſchwieg. Und ungeſchickt, wie nur ein Gelehrter, der nicht jung, aber verliebt iſt, es ſein kann, ſagte er ab⸗ lenkend, im leichten Konverſationston: „Warum tragen Sie heut Reform? Vor lauter Falten iſt ja nichts von Ihnen zu ſehen. Eine Tracht für Feen oder für ſolche, die alle Urſache haben, ihren Mangel an Feenhaftigkeit hinter Falten zu bergen. Und ſo ſtreng puritaniſch Ihr Reformkleid, ſo undurchſichtig.“ Miriam fühlte, wie ſeine Blicke taſtend an ihrer Geſtalt entlang glitten. Mit unverhohlenem Widerwillen wandte ſie ſich von ihm ab, ihrem anderen Nachbar zu. Sie begriff nicht, daß ſie je an die Möglichkeit gedacht, dieſen be⸗ quemen kahlköpfigen Herrn mit den glitzernden Augen zu heiraten. Sie atmete auf, als die Tafel aufgehoben wurde. Als ſpäter beim Kaffee eine pompöſe Geheime Kommerzienrätin — ſie nahm es übel, wenn man die Silben „Kommerzien“ bei der Anrede nicht fortließ — Cercle bildete, hörte Miriam zu und amüſierte ſich wie in einem Poſſentheater. 164 Alſo immer noch hieß es: Frau Geheimrätin, Frau Baumeiſter, gnädigſte Frau, Exzellenz, Durchlaucht u. ſ. w., als ſäßen dieſe Damen auf Schulbänken, mit dem Ehrgeiz, auf die erſte Bank zu gelangen, und ſie ließen ſich herauf und herunter ſetzen, je nach dem Titel und der Stellung ihres Mannes. Gab es wirklich ſo etwas wie Frauen⸗ emanzipation? Und was dieſe Damen redeten! Pfeile, ihre Worte, die auf den Nebenmenſchen zielten. Miriam mußte an die roten Mäuschen denken, die auf dem Blocksberg den Hexlein von den Lippen ſpringen. Und was ſie glaubten? Sie glaubten daran, daß, wer zur Geſellſchaft ge⸗ hören wollte, bei Frau A. eingeladen werden müſſe, während Einladungen bei Frau B. nur einmal in jeder Saiſon anzunehmen wären. Sie glaubten, daß man eine Taille nur mit Seide füittern könne, daß ein Herrſchaftskutſcher nicht groß ſein dürfe; und aus einer Tcetaſſe Kaffee zu trinken oder bei einem Junggeſellendiner dekolletiert zu er⸗ ſcheinen, hielten ſie für Barbarei. Vor allen Dingen aber ſtand fettgedruckt in ihrem Glaubenskatechismus: „Du ſollſt eine gute Partie machen, auf daß du glücklich lebeſt auf Erden.“ Als man allzu heftig in Entzückung über die bril⸗ lante Partie eines der jungen Mädchen aus dieſem Kreiſe ſchwelgte, warf Miriam trocken ein: „Derartige 165 Ehen ſchienen ihr einige Ähnlichkeit mit einem Schoko⸗ ladenautomaten zu haben, nur ein bißchen umgekehrt. Wie ſie das meine, fragten die Damen erſtaunt. „In den Automaten, da werfen die Kinder ein Geldſtück hinein, und Süßigkeiten ſpringen heraus. Unſere klugen Ehekandidatinnen werfen die Süßigkeit der Liebe hinein, und heraus ſpringt der Gatte mit dem Geldſack.“ Man lachte gezwungen. Mit nervöſer Ungeduld folgte Miriam noch eine Weile dem Geſpräch der Damen, das ſich in demſelben Geleiſe zwiſchen Mediſancen und Banalitäten fort⸗ bewegte. Und plötzlich ſagte ſie laut und ganz unvermittelt: „Glauben Sie auch, meine Damen, daß der Menſch die Krone der Schöpfung iſt? „Natürlich — was denn ſonſt? „Nun denken Sie, ich halte dieſen Glauben für den wahnſinnigſten aller Aberglauben. Mir kommt das Lokal, das die Menſchen bewohnen, zuweilen wie eine große Schaubude vor, wo der Beſitzer der Bude — ich kenne ihn nicht — allerhand ſeltſame Mißbildungen, Kurioſitäten hochkomiſchen Genres zeigt, z. B. Ge⸗ ſchöpfe, halb Fiſch, halb Leib, die ſich aber dadurch von der Meluſine unterſcheiden, daß ihr oberer Teil — wo Herz und Hirn ſich aufzuhalten pflegen — den Fiſchleib bildet.“ „Wem denn der Schaubudenherr die Mißgeburten zeige?“ wollte eine der Damen wiſſen. 166 „Vielleicht den Bewohnern des Mars. Die pompöſe Geheimrätin hatte ſich erhoben, augenſcheinlich, um ihren Platz zu wechſeln. Und ſo hautain, wie es ihr irgend möglich war, ſagte ſie: „Meine Liebe, gehen Sie in ein Sanatorium. Die Zwillingskinder der Wirtin, ein Knabe und ein Mädchen, wurden präſentiert, bewundert und mit Süßigkeiten gefüttert. Miriam lockte die Kleinen in eine Ecke des Salons. „Haſt du uns was mitgebracht, Tante? „Nein.“ Sie wollten gleich wieder fortlaufen. Miriam hielt ſie zurück. Eine Geſchichte würde ſie ihnen er⸗ zählen. „Ja,“ ſagte das kleine Mädchen, „aber recht viel Folterqualen müſſen in der Geſchichte vorkommen.“ Und das Bübchen rief dazwiſchen: „Weißt ſchon, Tante, was ich werden will? Nein. Sie wußte es nicht. „Schiffebauer werde ich. „So, warum denn? „Weil ich ſo ungeheuer gern ſehe, wenn Schiffe untergehen. Und da könnte ich doch immer gleich neue bauen, daß immer welche untergehen können. Es kam ihr vor, als läge ein dunkler, ſchmerzlicher Sinn in dem, was die Kinder ſagten. Waren dieſe Weltdamen Glückliche, wie jene die ſie kürzlich aufgeſucht hatte? 167 Eigentlich nicht. Unglückliche aber auch nicht. Immer auf Zwiſchenſtationen ſich Aufhaltende, das waren ſie. Halb zufrieden oder halb unzufrieden, je nachdem ſie ſich amüſierten oder langweilten. Gewiß gab es auch unter ihnen begabte Perſönlich⸗ keiten, die inhaltreiche Geſpräche zu führen imſtande waren. Aber mit Frauen? lohnte ihnen nicht. Man ſagt wohl, daß die Juden noch antiſemitiſcher geſinnt ſind als die Antiſemiten. So denken auch viele Frauen antifeminiſtiſcher als die Männer, das heißt diejenigen Frauen, die eben nicht denken; typiſche Welt⸗ damen mit einem auswendig gelernten Lebenskatechis⸗ mus ohne Horizont, ohne Perſpektive. In die akuteſte Gegenwart eingebohrt, ſind ihnen Vergangenheit und Zukunft leere Abſtraktionen. Sie haben — um ein bereits abgeſtandenes Modewort zu gebrauchen — nicht den Ewigkeitszug. Die paar Jahrzehnte ihres bewuß⸗ ten Lebens bedeuten ihnen die Ewigkeit. Die Stadt, in der ſie leben — das Weltall. Von welchem Punkt des Denkens Miriam auch ausging, es mündete immer wieder in düſteren Peſſi⸗ mismus. Die Zeitungen wurden für ſie ein Quelle bitterer Erregungen. So lies ſie doch nicht! Sie las ſie doch; vielleicht, wie man in grauſamer Neugierde einer Stelle zuläuft, wo eine Anſammlung von Menſchen ein Unglück erwarten läßt. 168 Sie las von Lehrern, die in der Schule Kinder grauſam mißhandelten; und ſie kamen mit einem Ver⸗ weis davon. Sie las von Richtern, die in einem Pro⸗ zeß Urteile fällten, gegen die ſich ihr Herz und ihre Vernunft empörten. Sie las, daß Zeitungsſchreiber ein Buch, ein Stück, ein Bild mit dem Etikett „Meiſterwerk“ verſahen, und ſie wußte, die Werke waren wertlos. Im Theater, wenn ein Stück von phraſenhafter Geſpreiztheit oder alberner Spaßhaftigkeit bejubelt wurde, lachte ſie voll Hohn, und ſie lief vor dem Ende davon. Sie nahm wahr, daß heroſtratiſche Bücher, in denen einer, der ſich zum Titanen ernannt, ſeine geilen Paroxysmen austobte, eine gläubige Gemeinde fanden, ebenſo wie Pſeudopropheten, die mit myſtiſchem Hokus⸗ pokus und Chriſtusgebärden Seelenerlöſungen be⸗ ſorgten. Die Rattenfänger von Hameln ſterben nicht aus, ſolange unter den Erwachſenen ſo viele Kin⸗ der ſind. Sie las von der Heldengröße jener japaniſchen Schiffsmannſchaft, die, weil ſie ſich dem Feind nicht er⸗ geben wollte, ihr Schiff in den Grund bohrte und da⸗ mit verſank. Sich nicht ergeben! Den Feinden! Es zuckte um Miriams bitteren Mund. Feinde, die tapferen ruſſiſchen Soldaten! Kin⸗ diſche Vorſtellung. Doch nicht mehr Feinde als unſer Gegner im Karten⸗ oder Tennisſpiel. Mitleidende 169 Brüder, Lämmer, die wie ihr zur Schlachtbank geführt wurden, und die man mit Blut nährte, bis ſie in Raſerei verfielen. Gewiß, gewiß, ſie weiß es ja: je mehr mitleidende Brüder der fremden Nation ihr abſchlachtet, je höher wird euer Patriotismus bewertet. Aber dieſe erhabene patriotiſche Pflicht hört doch auf, wenn die Macht zu wüirgen aufhört. Nicht beinah ein Verrat am Vaterlande, euch ſelber abzutun? Liegt ihr tot auf dem Grund des Meeres (den Fiſchen ein Feſt), könnt ihr fürs Vater⸗ land, das teure, nie mehr im Blut eurer Brüder waten. Traurige Phantaſten, die ihr mit einer großen Ge⸗ bärde, um der guten Nachrede willen, eure blühenden Leiber zerſtört! Ehre! Noch von viel ſeltſamerer, Ehre las ſie, von einer Leichenehre, die Prieſter, als die Zeremo⸗ nienmeiſter Gottes, auch mit Heldenmut (denn ſie trotzen dabei dem Zorngelächter der Kulturwelt) ver⸗ teidigen. Prieſter, in deren Seelen noch die Scheiter⸗ haufen brennen, die eine katholiſche Leiche für entehrt halten, wenn eine proteſtantiſche Leiche neben ihr ruht, auf dem Friedhof. — Kriegshof eher. Wie verwirrte und komplizierte man Einfaches und Natürliches und machte das Geſunde krank. Miriam dachte zurück an das alte Liebespaar im Gärtchen des Puppenheims. Hätte nicht dieſem Paar, anſtatt der ſpäten, kurzen, von Abſchiedswehmut be⸗ tauten Freude das Sonnenglück eines vollen Lebens 170 leuchten können? Ein herriſcher Vater, der ſich wohl noch für den Lebensraub an ſeinem Kinde phariſäiſch als großer Ethiker fühlte. Und wie ohne Kraft und Jugendſtolz waren die beiden, daß ſie ſich unter das Joch beugten, anſtatt es zu zerbrechen, oder, wenn es nicht anders ging, dar⸗ unter wegzukriechen. Die einen moraliſch feige, der andere moraliſch größenwahnig. Immer und immer fragen wir die anderen nach der wahren Moral. Anſtatt eines Gottes im Buſen, einen Poliziſten im Gewiſſen. Aber nur der Gott hat recht, nur der. Sie erkannte nun auch, warum jene Menſchen, die ſie aufgeſucht, und die ſcheinbar im Leben nicht Glück, nicht Stern gehabt, dennoch Glückliche waren: die Beaumonts, die Johanne Kerner, die alte Näherin. Sie hatten jede ihren Gott, oder etwas, das die Kraft der Religion hatte, ſeeliſche Hingabe an irgend, irgend etwas. Der Gott von Maxings Mutter war der kranke Sohn. Camillas Gott ihre Raritäten. Sie hielt ihnen die Treue, trotzdem man ihr einen hohen Preis dafür geboten. Die alte Näherin, die hatte ihren Chriſtus, der ſchon reiſefertig im Begriff war, zur Erde abzufahren und ſpeziell ihr, ſeinem Lieblingskind, der Auguſte Schraps zu erſcheinen. Und ihre liebe, fromme Mutter, ja, die hatte den 171 alten, echten, perſönlichen Gott im Himmel, der ihr ebenſo nötig war für die große Wäſche, damit er Sonne gäbe, wie für die ewige Seligkeit. Sie aber, Miriam, ſie hat ihren Gott verloren und kann ſich keinen neuen mehr anſchaffen. Verloren hätte ſie ihren Gott!? Hat ſie denn je einen gehabt? Oder irgend etwas, das die Kraft der Religion hatte? Nein, nicht einmal einen Abgott. Ihre Kunſt? Sie hat Edelholz, aus dem ſie hätte Kunſtwerke bilden können, als Brennmaterial benutzt, um ihr Mittageſſen damit zu kochen. Ihre Tochter? Vielleicht, als ſie klein war. Nun haben ſie ſich auseinandergelebt. Sie begriff, daß es Menſchen gibt und gab, ſo reich, ſo immer wachſend, wachſend, mit jedem neuen Lebensabſchnitt ein neuer Menſch, ein neuer Gott, und der Tod unterbricht ein Daſein, das keine Grenzen hat. Ein ſolcher Menſch war Goethe. Sie aber iſt eine Armgeborene. Und doch — müßte nicht die Mitfreude, das Mit⸗ tun an der herrlichen Emporentwicklung der Menſch⸗ heit für die geiſtige Oberſchicht (gehört ſie denn dazu?) eine reine und hohe Befriedigung ſein? Ja, ja, ſie kann ja kommen, dieſe Herrlichkeit. Sie kann aber auch nicht kommen. Stand nicht Griechen⸗ land im Altertum auf unvergleichlicher Kulturhöhe? Es iſt noch da, an demſelben Platz, aber die Griechen, die es bewohnen, haben keinen Schatten von Ähnlich⸗ keit mehr mit jenen alten Hellenen: Deutſchland wird 172 auch nach tauſend Jahren noch da ſein; die es bewohnen werden, ſind vielleicht Barbaren und gelbe, ſchwarze und weiße Raſſen tollen in primitiver Roheit durch⸗ einander. Und alles fängt wieder von vorn an, immer wieder von vorn. Ein Grauen ſchüttelte ſie bei dieſer Vorſtellung. Ja, dann wären ja alle, die leben und bisher ge⸗ lebt haben, Narren, eine Art Weltall⸗Don Quixotes, die an metaphyſiſchen Chimären Blut und Leben lie⸗ ßen! Die Erde mit allem, was darauf kreucht und fleucht, wäre die Spielerei eines Gottes, ein Spiel, wie mit Seifenblaſen, leuchtende Gebilde in einem Augenblick geformt, im nächſten zerfließend. Und immer neue Gebilde bläſt der Herr des Alls von ſeinem Himmel nieder, bis er, des Spiels überdrüſſig, Erde Erde ſein läßt und der Erdball endgültig zerplatzt. Miriam erhielt ein Briefchen ihrer Freundin, Dore von Trauen, die ſie dringend zu einem Teeabend einlud. Miriam nahm dieſe Einladung an. Dore war eine jüngere Schriftſtellerin, die Witz, Geiſt, Temperament und viel Weltlichkeit beſaß. In letzter Zeit hatte ſie den Verkehr mit ihr gemieden. Ein Bedürfnis nach Teilnahme, nach Troſt, trieb ſie jetzt zu ihr. Ob ſie von ihrem Schickſal zu ihr reden ſollte? Sie war noch unentſchieden. Eine Anzahl Schriftſtellerinnen und Malerinnen ſaßen um den Teetiſch, als Miriam eintrat. Es waren, von einigen Ausnahmen abgeſehen, 173 nicht gerade die Spitzen der produzierenden Frauen, die da zuſammengekommen waren. „Spitzen ſagen ja mei⸗ ſtens ab,“ flüſterte Dore ärgerlich Miriam zu. Dore von Trauen galt für eine arge Erotikerin, eine von denen, über die ethiſche Herren, die ſchreiben können, wenn auch noch ſo mittelmäßig — den Stab brechen. Dore meinte es aber gar nicht ſo ſchlimm. In ihrem Leben kam nichts Illegitimes vor. „Weißt du ſchon, Miriam,“ rief ſie der Malerin gleich entgegen, „ich habe eben dem Publikum und hohen Adel verkündet: ich bin nicht mehr pervers.“ „Ja — lachte Melanie Arnsberg, „die Dore mit ihrer feinen Naſe hat's ſchon herausgeſchnüffelt: das Perverſe zieht nicht mehr.“ Man plauderte die üblichen Themata ab: Litera⸗ tur, Theater, Kunſt, Geſellſchaft. Und wie ſie alle heiter und geiſtreich waren, und niemand ahnte, daß ſie — Miriam — ſterben mußte. Sie kannte ſie alle, ſie gehörte ja zu ihnen, immer hat ſie ſich in ihrem Kreis behaglich gefühlt, ſich amii⸗ ſiert, ohne Kritik an ihnen zu üben. Nun glitten ihre Blicke, ihre neuen Blicke wägend, prüifend von einer zur anderen. Wie im Fluge erfaßte ſie die ganze Per⸗ ſönlichkeit dieſer Schaffenden. Und in Gedanken redete ſie mit ihnen. Da war Mignon Graz, die leiſe mit Maria Hell⸗ mann ſprach. Zwei Wahlverwandte. Maria, eine reizvolle Er⸗ ſcheinung, mit der dunklen Locke über der blaſſen Stirn, 174 mit der überſchlanken Geſtalt. Ihr intereſſantes, ſchwarzes Gewand hatte eine lange, wehende Flor⸗ ſchärpe und wehende AÄrmel. Das Wehende gab ihr etwas Flügelartiges. Ja, dachte Miriam, du biſt eine Pſyche, eine Pſyche mit feuchten Wimpern, lächelndem Munde und geſenk⸗ ten Flügeln. Oder eine Mimoſe, aus der bei jeder harten Berührung Lebensſaft entquillt. Dein Seelenleben iſt ein zartes Blüihen. Deine Sonnen ſchimmern durch mattſilbrigen Nebeldunſt, in deinen dunkelſten Nächten aber flimmern noch blaſſe Sterne. Aus deinen Gräbern duftet es von Veilchen. Eine Fichte im Norden, die ſich nach der Palme im Süden ſehnt. Eine Proteſtantin, und doch ganz Katho⸗ likin im Gemüt. Eine Leidende, eine tief Leidende iſt Maria. Sie liebt einen jungen Prieſter. Und immer hat ſie Kopfſchmerzen. Miriam hatte Mignon und Maria lieb. Mignon, eine junge Frau von ſechzig Jahren. — Ja — ganz jung war ſie. Ihre Jugendlichkeit lag in der kindlich reinen Phyſiognomie, in ihrer Haltung, in der anmutvollen Lieblichkeit der ganzen Erſcheinung. Eine Atmoſphäre der Vornehmheit umgibt ſie, eine Vornehmheit, die ganz in der Seele liegt, ein klein wenig in ihrer Toilette. Mit ſchönheitskundigen Fin⸗ gern und Augen verfertigt ſie ihre Kleider ſelbſt. Sie iſt arm und ſieht wie eine Fürſtin aus. Ein Wandervogel, fliegt ſie von Ort zu Ort, wohnt 175 immer nur im abgemieteten Zimmerchen. Ihre Stüb⸗ chen ſind ganz klein, aber ſie wählt ſie immer ſo, daß man vom Fenſter weit hinaus ins Freie ſieht, wie Leute wohl im kleinen Zimmer einen großen Spiegel mit verſteckter Einrahmung anbringen, damit in der Wiederſpiegelung das Zimmer doppelt ſo groß er⸗ ſcheine. Und neben dieſer vornehmen alten und doch ſo jungen Dichterin ſaß die junge und doch ſo uralt nor⸗ nenhaft blickende Walburg Herz. Wie Mignon iſt ſie Nur⸗Lyrikerin. Etwas Lechzendes, Verirrtes liegt im Ausdruck dieſes Kopfes, der auf einem kindhaft winzigen Kör⸗ perchen ruht, einem Körperchen mit ganz kleinen roten Händchen. Die Augen beherrſchen das Geſicht. Große, dunkle, drohende, wie in eigener Glut erſtarrte Augen. Seltſam dichteſt du, Walburg. Improviſationen einer ſchmerzlich verwundeten Phantaſie, die noch den Speer in der Wunde trägt. Lieder einer Lemure, Agonien einer Seele. Auffallend und feſſelnd iſt die Erſcheinung einer Malerin, Ruth Wodian. Jüdin. Schön und häßlich zugleich. Alt und jung. Bei Tage geht ſie in ſchwar⸗ zen, prieſterlichen Gewändern, abends ſind ſie von lich⸗ tem Roſa oder blaſſem Blau. Lange Schleppen. Von wilder Lockerheit das nachtſchwarze Haar. Lebt ſich aus, obwohl verheiratet. Wird tragiſch enden. Nie Dageweſenes will ſie malen und kann es nicht gut. Ihr Pinſel iſt zu klein für ihre maßloſe Seele. 176 Sie befleißigt ſich erſt ſeit kurzem der Malerei. „Und kleckſt ſchon wie ein richtiges Genie,“ hatte Dore geſagt, und Dora ſagte auch, ſie betäube ſich in Öl wegen der Untreue ihres Letzten, der in einer anderen Ehe, wo die Gattin unzweifelhaft jünger iſt als Ruth, die Rolle des troisieme dans le ménage übernom⸗ men hat. Ruth Wodian iſt die Intima der Luiſon Fiora (Pſeudonym für Minna Neumann). Die iſt jung, ſehr hübſch, odaliskenhafte Schönheit, ſinnlich, ehrgeizig, ge⸗ nußſüchtig. Trägt mit Vorliebe weiße Reformgewän⸗ der mit roten oder orangefarbenen Aufſchlägen. Die rote Nelke iſt ihre Blume. Miriam bewegt wortlos die Lippen. „Du, Luiſon, möchteſt die George Sand deiner Zeit ſein. Problem⸗ ſüchtig wäreſt du ja und mutvoll und zweckbefliſſen und von feurigem Wollen. Zu ſehr aber liegt dir Honorar und Ruhm am Herzen, und du nimmſt auch mit dem erſteren, wenn es hoch iſt, ohne den letzteren vorlieb. Sehr viel Talent, Temperament. Es iſt aber kein Allerheiligſtes, kein Tabernakel im Tempel deiner Seele, zu viel Vorhöfe. Darum wirſt du immer nur im Vorhof des Ruhms bleiben.“ Dore und Melanie von Arnsberg führten haupt⸗ ſächlich die Unterhaltung. Melanie — Anfang der vierziger Jahre. War auch einmal verheiratet. Durchaus jugendlich. Hübſch. Ganz in ſchwarze Spitzen gekleidet, durchſichtig an ge⸗ eigneten Stellen. Ein paar glitzernde Edelſteine — Dohm, Schwanenlieder. 12 177 unechte. Außer ihrem ſchlechten Ruf beſitzt ſie eine etwas unartige Burſchikoſität; wie ein Rohrſperling ſchimpfte ſie auf Onkels und Tanten, die ſich von ihr losgeſagt, und die niemand in dem Kreis kannte. In ihrer loddrigen, burſchikoſen Grazie iſt ſie in ihrer Art amüſant. Beſinnt ſie ſich aber auf ihren Adel und will die Vornehme herausbeißen, ſo wird ſie langweilig, geſpreizt, da ſie weder Bildung noch Geiſt beſitzt. Ihre Flinkigkeit im Schreiben iſt ſtaunen⸗ erregend. Melanie rühmte ihre Erfolge. Ihre Romane gin⸗ gen ab wie beim Bäcker die Semmel. Die Verleger kauften von ihr die kaum angefangenen, wie Spekulan⸗ ten das Getreide vom Halm kaufen. „Und biſt doch nur eine ärmliche Geſchäftsroman⸗ ciere,“ dachte Miriam. „Du machſt dir die Arbeit be⸗ quem, ſchreibſt im weſentlichen deine Romane ab. Du nimmſt Stoffe, Szenen, Dialoge, Charaktere, Witze, oü tu les trouves, vergißt aber die Zeichen aus den entwendeten Sachen herauszutrennen und gibſt dir nicht einmal die Mühe, zwiſchen deinen Flickereien einen Zuſammenhang herzuſtellen. Man ſieht überall die groben Nähte.“ Miriam mag die flinke Melanie nicht. Wie anders iſt ihre Dore. Die hat Jugend, Reiz, Talent, Geld, einen reinen Ruf. Oder — hat ſie etwa Dore Trauen auch über⸗ ſchätzt? Ja. 178 Ein reizvolles, unruhiges Geſicht hat Dore. Selt⸗ ſame Augen, die in der Ruhe unbeträchtlich erſcheinen. In der Erregung aber, oder auch nur im Geſpräch wer⸗ den ſie dunkel, ſpitz, dolchartig ſtoßend. Raubtier⸗ augen. Eine entzückende, grazile, beinah tanzende Geſtalt. Sie ſpricht in Zuckungen, oft mit einem ſeltſamen, koboldartigen Kichern. In ihren Romanen ſchöpft ſie aus dem Vollen. Sie ſchöpft, ſchöpft, und immer neue Waſſer ſprudeln unter ihrer robuſten Kraft hervor; nein, nicht Waſſer, eher Champagner, Punſch, Kognak. Ein wildes Potpourri. Farbenſinfonien und dunkle Nokturnos. Auf einer tollen Löwenjagd in den Tod hinein⸗ raſen, oder von dem Geliebten in blinder Eiferſucht er⸗ würgt zu werden — das wäre ihr Fall geweſen. Oder ein todbringender Ritt über ein unermeßlich weites Heidemoor. Vor tauſend Jahren vielleicht eine Judith, vor einigen hundert Jahren eine Borgia oder eine Katha⸗ rina von Medici, heut eine reizende, elegante junge Weltdame, in Pariſer Toilette, die Gift und Dolch mit der Feder vertauſcht und ſich ſchriftlich entladet. Sie könnte ſich im Sinnenrauſch wie eine Dirne hingeben — tut es aber nicht. Könnte in fanatiſcher Glaubensinbrunſt den Schleier nehmen — tut es aber nicht. 12* 179 Nietzſches Wort: „Wenn es einen Gott gäbe, wie hielte ich es aus, kein Gott zu ſein“, iſt ihr aus der Seele geſprochen. Wie hielte ſie es aus, kein Ibſen, kein Maupaſſant, kein Hauptmann, kein Maeterlinck, Fontane u. ſ. w. zu ſein. Wie hielte ſie es aus, keine Effie Brieſt, keine Monna Vanna, keine Frau vom Meer u. ſ. w. zu ſchreiben. Und ſie begibt ſich auf all dieſe Abenteuer, und ſie hat Erfolg, denn — ſie kann alles. Das Geheimnis der Mache iſt ihr offenbar geworden. Und daran ſcheitert ſie — am Zuviel⸗ können, überhaupt an einem Zuviel.“ „Ach, Dore, meine liebe Dore, nie wirſt du ein ſtrahlender Stern am Literaturhimmel werden. Biſt nur ein Komet, der mit ſeinem Schweif Himmel und Erde peitſcht; da er aber ohne feſten Kern, aus eitel Dunſt beſteht, tut er weder dem Himmel noch der Erde etwas, weder im Guten, noch im Böſen. Du lebſt nicht; was du fühlſt und denkſt, das tun wir alle, alle nicht, wir Intellektuellen, wir Umſtürz⸗ lerinnen in der Theorie. In der Praxis ſchreckt uns die Furcht. Wenn das der Schutzmann ſieht. Miriams abſonderliches Weſen war von Anfang an den Damen aufgefallen. Sie ſaß in einer Niſche. In ſich gekehrt. Richtete man das Wort an ſie, ſo ant⸗ wortete ſie einſilbig oder ſchüttelte wie abweſend den Kopf. Dore trat jetzt zu ihr. — „Miriam, was iſt mit dir los? Wir haben ſchon von anderen gehört, daß du 180 unter die Peſſimiſten gegangen biſt, unter die von ſchwerſtem Kaliber. Ich hab's nicht recht geglaubt. Warum ſtarrſt du uns ſo an, als wären wir Hiero⸗ glyphen, die du entziffern willſt. „Ich verſuchte es eben.“ „Ob du nicht eher als wir auf dem Wege zum Hieroglyphentum biſt? Dore wandte ſich zu den anderen. — „Seht her, ihr Schweſtern in Apollo, iſt dieſe hier noch unſere witzige, übermütige Miriam, die alle Welt amüſierte, faszinierte? Hin iſt ſie — hin!“ Sie zog Miriam in den Kreis der übrigen. „Her⸗ aus aus dem Winkel, Frau Diogenes! „Die Tonne dazu,“ ſpottete Luiſon Fiora, „mar⸗ kiert ſie durch ihr Reformgewand. - Während Miriam trübe lächelte, rieten die ſchaf⸗ fenden Damen hin und her, was hinter Miriams tra⸗ giſcher Maske ſtecken könne, und man einigte ſich ſchließlich auf einen Johannestrieb, der vielleicht mit einem coup de foudre eingeſetzt. Sähe es doch in der heutigen Welt beinah ſo aus, als würden die Frauen erſt zwiſchen dem 40. und 50. Jahr reif zur Liebe. „Schwatztanten,“ ſchalt Dore, „laßt ſie doch ſelber reden. — Du haſt das Wort, Miriam. Und Miriam nahm das Wort und verſuchte einen heiteren Ton anzuſchlagen. „Vielleicht habt ihr recht mit dem coup de foudre. Nur braucht es nicht Verliebtheit zu ſein, bei der er eine Rolle ſpielt. Habt ihr nie von Menſchen gehört, 181 die ein Geſicht gehabt und von Stund' an andere wurden?“ O ja, man wußte von ſolchen Menſchen, z. B. die Jungfrau von Orleans oder Ignaz Loyola, der Jeſui⸗ tenſchöpfer, oder Moſes mit dem feurigen Buſch. Ob ſie — Miriam — etwa auch ein Geſicht gehabt habe? „Ja.“ Sie ſagte es mit umherirrenden Augen. Ob das Geſicht ſchwarze oder blaue Augen gehabt, fragte Melanie neckiſch. „Seine Augen ſind wie zuckende Blitze oder bren⸗ nendes Eis. Man vergeht darin in Froſt oder in Glut.“ Miriam zog die Schulter in die Höhe, als wollte ſie ſich vor einem Angriff ducken. Ihre Zähne ſchlugen aufeinander. Die Hand krampfte ſich auf der Bruſt. „Mein Herz friert, gebt mir Wein.“ Man brachte ihr ein Glas Wein. Sie trank es mit einem Zuge aus. Die liebevollen Bemühungen der Damen wies ſie zurück. Ein belangloſer Herzkrampf; ſie litte zuweilen daran. Es wäre ſchon vorüber. „Ihr kennt den Roman des Gil Blas,“ ſagte ſie. „Da iſt es ein Dämon, der die Dächer von den Häuſern hebt, ſo daß ſein Schüler in das Innerſte der Ge⸗ mächer ſieht. Vielleicht kann auch ich ſehen, was hinter euren Stirnen iſt, weil — weil — „Ha! Weil du mit den Augen ſiehſt, die wie zuckende Blitze ſind.“ Melanie ſagte es. 182 „Oder wie brennendes Eis, das es nicht gibt, lachte Luiſon Fiora. Sie nahmen Miriams „Geſicht“ nicht ernſt. „Ich ſehe euch anders als früher.“ „Los mit der Kritik,“ rief man durcheinander. „Ihr wollt es? Aber wißt ihr denn, ich kann ja nicht mehr lügen, zu ligen käme mir ſo ungeheuer lächerlich vor, als wollte ein Vogel anſtatt zu ſingen — bellen. Und euch die Wahrheit ſagen — das will ich nicht.“ Sie erhob ſich und ging zur Tür. „Ehe du gehſt,“ rief Melanie ihr nach, „ſage doch, wer iſt oder wie heißt denn der Dämon, dem das Geſicht mit den merkwürdigen Augen gehört? Miriam ſchauderte. Sie wollte ſagen: „Es iſt ja der Tod.“ Sie brachte aber keinen Laut aus der Kehle. Dore umſchlang liebevoll die Fiebernde. „Du biſt krank, Miriam.“ „Ja — ſehr krank. Ich weiß, ich muß in ein Sanatorium gehen.“ Sie ging. Verdüſtert ſchlich ſie langſam ihrem Hauſe zu. Sie hatten ja recht, dieſe Schaffenden. Sie war nicht mehr Miriam. Sie amüſierte und faszinierte niemand mehr. Namenlos, entperſönlicht war ſie nur noch eine Seele, die zittert, ein Hirn, das grübelt. Und hat nicht, wer über Sein und Nichtſein grübelt, ſchon den Dolch in der Hand? 183 Sahen dieſe alle nicht das Leben wie ein Theater⸗ ſtück an, indem ſie ſich eine dankbare Rolle ausſuchten? Sie lebten — auf Applaus. Und nicht nur die Frauen, auch all die Männer, die dieſen Kreiſen naheſtanden, Künſtler, Schriftſteller und viele andere taten des⸗ gleichen. Entweder waren ſie „ſuchende Seelen“ (wie das Wort ſich ſchon überlebt hatte), ſchwankend zwiſchen Nietzſche und Tolſtoi, oder Perverſität war Trumpf bei ihnen. Sie brachten die Nächte in Kabaretts zu und ſtarrten ſo lange in Abgründe, bis ſie, ſchwindlig ge⸗ worden, unverſehens hineinrutſchten. Da war eine Gruppe — Miriam nannte ſie die Aparten — die auf Abſeitigkeit und Einzigkeit poſier⸗ ten. Nur anders ſein als die anderen. Und immer waren ſie in Angſt, mit der Menſchheit in einen Topf geworfen zu werden. Wieder andere hatten für ſich das Mittelalter entdeckt, und glaubten Myſtiker zu ſein, wenn ſie ſich die neuen Ausgaben von Eckart und Angelus Sileſius kauften und das Banner des heili⸗ gen Franziskus entrollten, was auf ihre Lebensführung weiter keinen Einfluß hatte. Lachende Löwen wollten die einen ſein, blutige Skeptiker — hauptſächlich damit beſchäftigt, über die Menſchheit kalt zu lächeln — die anderen. Die Rollen des Zarathuſtra oder die des Jeſus von Nazareth wurden lebhaft umworben. Auch eine Verknüpfung von Propheten⸗ und Bohemetum war be⸗ 184 liebt. Ihr Tempel — das Kabarett. Die Sphinxe dagegen fingen an vieux jeu zu werden. Alle Rollen des Welttheaters ſchienen vergriffen, oder ſie wurden ambitioniert, nur die des einfachen, natürlichen, harmoniſch geſunden Menſchen blieb un⸗ beſetzt. Was bedeutete das? Miriam glaubte die dunklen Gewalten zu erken⸗ nen, denen die Intellektuellen der Zeit verfallen waren. Alle dieſe Seelenverrenkungen, dieſes taſtende, raſtloſe Suchen, ſie waren ein wildes, ſehnſuchtsvolles Klopfen an Himmelstore, die ewig verſchloſſen blei⸗ ben, ſie waren Verzweiflung über die Unlösbarkeit der Welträtſel. Dieſe alle ſuchten den Sinn des Daſeins. Denn — hätte das Leben keinen Sinn — es wäre ja Unſinn! An einem Tage, als Miriam beſonders lange und eifrig gemalt hatte, empfand ſie plötzlich eine ſchwere Mattigkeit, einen Stich in der Bruſt, ein leiſes, faltes Überrieſeln. „Schon —“ dachte ſie. Ehe ſie den Pinſel beiſeite legte, warf ſie noch einen Blick auf das Bild. Ein jäher Schreck durchzuckte ſie. Das war ja ein fremdes, ganz anderes Bild als das, was ſie hatte malen wollen. Das Kind in der Hängematte haſchte nicht mehr nach Schmetterlingen. Die ſah man wie in Angſt flat⸗ 185 ternd am Horizont verſchwinden. In der Luft wir⸗ belnde Blätter. Ruhig in roſiger Schönheit ſchlief das Kind. Über ihm ſchwer⸗ und ſchwarzgeballtes Gewölk. Blitze ahnte man in ſeinem Schoß. Am Stamm des Baumes kroch langſam etwas empor, etwas Scheuß⸗ liches — ein Wurm, halb Drache, halb Schlange. Ein Bild ſchauerlicher Erwartung. Auch in ihr, auch in ihr — ſchauerliche Erwartung. Wer hatte ihr beim Malen die Hand geführt? Lächerlich, lächerlich, daß ſie den Tod nicht hatte ſehen wollen. Dumm, maßlos dumm, wie der Vogel Strauß, der der Gefahr zu entrinnen glaubt, wenn er den Kopf in den Sand ſteckt. Es war ja alles, alles hohle Affektation geweſen. Wenn ſie im Theater oder in Geſellſchaften lachte oder zu lachen glaubte, hatte ſie nicht immer das Gefühl gehabt, als grinſe ſie oder etwas in ihr? Der Tod. Auf ihren Spazierfahrten, wenn das Gefährt ſo pfeilſchnell dahinraſſelte, wer peitſchte die Pferde? Wer berührte eiſig ihre Lippen, wenn ſie aß, ſo daß ſie die Speiſen haſtig, mechaniſch herunterwürgte? Und wenn ſie einen Menſchen oder ein Bild hart beurteilte, wer ſah ihr höhnend über die Schulter: „Bring' doch andere nicht um, du liegſt ja nächſtens ſelbſt im Grabe.“ Der Tod! Der Tod! Er war dageweſen, immer, immer hinter ihr, vor ihr, in ihr. Und nun ſchmolz er mit all ihren Vorſtellungen zuſammen, ſo daß ſie ihn ſchließlich in einer beſtimm⸗ ten Geſtalt zu ſehen glaubte. Sie ſah ihn — beinah 186 kindlich —, wie er auf der Bühne in „Hanneles Him⸗ melfahrt“ dargeſtellt wurde: übergroß, unbeweglich, in lange, ſchwarze Gewänder gehüllt, ein Antlitz, ſtarr wie von Erz, von eiſiger Schönheit. In der Rechten das Schwert. Eine düſtere Bergpredigt. Nur ſeinen Augen wollte ſie nicht begegnen. Sie hatte die Vorſtellung, ſie würden ohne Augäpfel ſein und weiß, weißer als weißeſtes Schncelicht, oder ſchwarz wie die Finſternis ſelbſt, wie das ungeheure Nichts, das ſie ſich nicht vor⸗ ſtellen konnte. Tage kamen, wo ſie nichts wollte, nichts anderes wollte, als nur los, los von dem Geſicht des Todes. Sie lief ins Freie bis zum Park. Eine ſchwüle Stille brütete draußen, wie vor einem Gewitter. Die Spaziergänger wirbelten trockenen Staub auf. Der Himmel von einem fahlen, unreinen Graublau. Die Geſichter der Leute unfroh, ſtumpf. Die Pferde trotteten ſo maſchinenmäßig. In ſchwveren, automatenhaften Rhythmen bewegte ſich alles. Die Bänke beſetzt mit ſchweigenden Menſchen. Kein Wind⸗ hauch. Die Natur ohne Leben, die Menſchen ohne Seele, als wäre alles auf einen toten Punkt gelangt. Sie kam an eins der ſtehenden kleinen Gewäſſer des Tiergartens. Eine Anzahl Spaziergänger beob⸗ achteten neugierig einen Vorgang. Eine Anzahl Knaben hatten widerrechtlich einen kleinen Kahn beſtiegen. Der Kahn drehte ſich im Kreiſe. Die abenteuerliche Meerfahrt nahm einen be⸗ bedrohlichen Charakter an. 187 Mit einer langen Stange nahte der Parkwächter. Die Angſt verlieh den Kindern Geſchick und Kraft, und ſie ſteuerten zum Erdreich eines Gebüſchinſelchens hin. Kaum aber hatten ſie das kleinſte, ſechsjährige Büb⸗ chen ausgeſchifft, ſo trieb der Kahn ſchon wieder von der rettenden Inſel ab, und der kleine, verlaſſene Ro⸗ binſon erhob ein Jammergeſchrei: „Mutter! Mutter! Das Kind, in ſeiner Todesnot, tat den salto mortale in den forttreibenden Kahn hinab. Er gelang, aber das Jüngelchen kam aus der Scylla in die Charybdis, denn ſchon zog der ſchwarze Mann den Kahn mit der Stange ans Land. Und von neuem das Geſchrei des Kindes: „Mutter! Mutter!“ Der Hüter des Geſetzes gab dem Jüngelchen einen leichten Klaps: „Nun aber raſch zu Muttern.“ Und das Kind ſtürzte blindlings, unaufhaltſam durch die Menſchenmenge, immer noch nach der Mutter rufend. Die aber wohnte, wie ſich herausgeſtellt hatte, ungefähr anderthalb Stunden weit von dem Ort der Tat. Während Miriam weiterging, gellte ihr immer noch des Knaben Angſtruf nach: „Mutter! Und es rief auch in ihr „Mutter! Die Mutter — ein metaphyſiſcher Begriff, eine ſüße und große Macht, in deren Schoß wir uns, wenn Unheil drohend, rettend fliichten. Und aus Miriams Bruſt entringt ſich der Weh⸗ ruf: „Mutter! 188 Fremd und fremder wurde ſie in der Welt. Die Einſamkeit derjenigen, die anders denken und fühlen als ihre Umgebung, umfing ſie allmählich. Ihr Leben wurde ein einziger, langer Monolog. Alle Menſchen erſchienen ihr nur wie huſchende Schatten aus Traum⸗ bildern, ein ſpukhaftes, ſinnloſes Durcheinander. Immer wechſelnde und doch im Grunde immer gleich⸗ artige Momentbilder ohne Realität. Und ſie ſtand abſeits und fragte ſich, was dieſe huſchenden Schatten bedeuteten? Und ſie ſelbſt — war ſie nicht auch ſolch huſchender Schatten und nichts mehr? Freilich, ſie war ja immer ganz zufrieden ge⸗ weſen. Es ging ihr gut. Sie hatte ſich genährt und gekleidet, wie es ihr angenehm war. Sie konnte hübſche Reiſen machen. Ihre Ehe war friedlich, wenn auch — man kann eben nicht alles haben. Ihre Bilder wurden meiſt gut rezenſiert und fanden Käufer. Nun hat ſie auch ihre Tochter angemeſſen verheiratet, und die iſt auch zufrieden. Aber — aber . . . Sie ſprang auf. Sie lief auf und ab, immer ſchneller, als wären Verfolger hinter ihr. Sie waren es auch: ihre Gedanken. Sie packten ſie, rangen mit ihr mitleidslos, würgten ſie. Anfangs wehrte ſie ſich, dann ſank ſie ermattet zuſammen. Lange, intenſiv dachte ſie über ſich nach. Es wurde klar in ihr. „Ja, ſagte ſie ſich, ich habe immer zu den „Viel⸗ zuvielen“ gehört, deren Geburtsanzeige ebenſogut ihre 189 Todesanzeige hätte ſein können, denn ſie haben nie ein eigenes Leben gelebt. Sie ſah nun überall die Drähte, an denen man die Marionette — Miriam — hin und her gezogen hatte. Ja, ſie hatte geſehen und gehört, aber mit den Augen und Ohren anderer. Sie hatte geredet — mit den Worten anderer. Sie wußte immer, was die ande⸗ ren von ihr wollten, und das tat ſie. Was ſie ſelbſt von ſich wollte oder hätte wollen müſſen, danach fragte ſie nicht. Sie hat gemalt. Aber war ſie Künſtlerin? All ihre Bilder ließ ſie an ihrem inneren Auge vorüberziehen. Zuſammengepinſeltes. Nichts war aus dem Grund ihrer Seele gewachſen. Kunſthändler und Publikum hatten ihr ſuggeriert, was ſie malen ſollte. Hätte ſie all dieſe Sachen und Sächelchen gemalt, wenn es keine Käufer und keine Kritik gegeben hätte? Nein. Hätte ſie überhaupt gemalt? Wahrſcheinlich nicht. Man hatte ihr einen Weideplatz angewieſen, und da graſte ſie wie die Kuh ab, ſo viel ſie konnte. Tun das nicht die meiſten? Jd. Iſt das ein Troſt? Nein. Mit einemmal mußte ſie laut auflachen. Ein läſterliches Bild aus einem Witzblatt war ihr einge⸗ 190 fallen. Ein Kind war, ohne daß es jemand bemerkte, in eine Wurſtmaſchine geraten und mit in die Wurſtmaſſe zerhackt worden. Auf dem Bilde ſtanden nun die jammernden Angehörigen vor einer runden, ſchöngebundenen Wurſt, die der Geiſtliche ſalbungsvoll ſegnete. So war ſie auch in einem zähen Maſſenteig ver⸗ arbeitet worden, von ihm nicht mehr zu unterſcheiden. Den meiſten Menſchen geſchieht es. Ihre etwaigen Flügel kleben daran feſt wie die Fliegen am Leimſtock. Und manche zappeln ſich zu Tode. Sie nicht. Sie hat kaum je die Flügel geregt. Und wenn es ſo war, warum wollte ſie denn durchaus ſo fortvegetieren! Sei doch froh, daß deine Seele nun aus ihrem armſelig möblierten Souterrain ausziehen darf. Die ſchaurige Parze, die dir den Lebensfaden durchſchneidet, kreuzt ſie dir etwa einen Weg, hin zu einem hohen Ziel, oder nur zu einem guten Zweck? Nein, ach nein. Alſo nur damit — anſtatt der furchtbaren ſchwar⸗ zen Majeſtät mit der Stimme des Sturmes, das linde Flüſtern einer blaſſen Schattengeſtalt, dich — eine ver⸗ blödete Greiſin — ſanft und unmerklich hinüberleite? Es kam ein Tag, wo ſie alle dieſe ſchweren, nieder⸗ ziehenden Impreſſionen abzuſchütteln entſchloſſen war. Die waren nicht die rechte Quvertüre zu einer Totenfeier. Der Hinübergehenden ziemt ein Hinweg⸗ 191 ſehen über das, was der eine Tag gebiert, der andere auslöſcht. Sie wollte, daß ihr Herz ruhig werde und rein und groß. Es peinigte ſie auch, daß Freundinnen, wenn ſie ihnen begegnete, ſie forſchend anſahen, ſie fragten, ob ihr etwas fehle. So trug ihr Geſicht alſo ſchon den Todeszug. Sie wollte mit ihrer Krankheit ihre Angehörigen nicht aufregen, nicht ſchmerzlüſterne Augen ſollten die Stadien ihres Ablebens wie ein Schauſpiel verfolgen. Kein geſelliges Kranken⸗ und Sterbebett. Sie wollte für ſich allein ſterben. Das Wort eines Bekannten fiel ihr ein, der, als er vom Begräbnis einer alten Dame kam, meinte, die Dame habe mit ihrem Sterben kein Glück gehabt, man hätte ſich in ganz leidlicher Stimmung um ihr Grab geſchart. Ans Meer wollte ſie, dort auf dem kleinen dörf⸗ lichen Kirchhof begraben werden. Sie reiſte ab. Es war Ende Mai; ſie würde noch keine Gäſte in dem Badeort treffen. Am Meer brachte ſie faſt den ganzen Tag am Strande zu, oder ſie lag auf dem Waſſer. Sie war eine gute und ſichere Schwimmerin. Kam ein verfrühter Badegaſt des Weges, ſo hielt ſie gewiſſermaßen den Atem an, bis er vorüber war. 192 Die Schiffer ſtörten ſie nicht. Sie waren Staffage, ge⸗ hörten zur Natur. Nicht Staffage aber waren die kranken Kinder, die ein frommer Verein ſchon ſo früh an die See ge⸗ ſchickt hatte. Miriam ſah ſie täglich am Strand ſpielen, elende, ſkrofelkranke Geſchöpfchen. Unter ihnen ein etwa dreizehnjähriges Mädchen im vorgeſchrittenen Stadium der Schwindſucht, und einen verkrüppelten, ſchwachſin⸗ nigen Knaben, der in einer Art Karren gefahren wurde; dem Tode Verfallene, dieſe beiden, deren Da⸗ ſein durch die ſtarke Seeluft noch um eine kurze Friſt zu verlängern beinah' grauſam erſchien. Die Kinder befanden ſich in der Obhut einer from⸗ men Schweſtergemeinde. Nur die Aufſeherin war keine Schweſter, eine ältere, augenkranke Dame, mit einer blauen Brille, die ohne Entgelt, für freie Sta⸗ tion und Wohnung die Stellung übernommen hatte. Miriam wechſelte ab und zu einige Worte mit der Dame. Sie hätte gern den Kindern einmal eine Freude gemacht. — Ob ſie ihnen Kuchen ſchenken dürfe? „O, gewiß.“ Und ob man ihr geſtatten würde, das Hoſpiz zu beſichtigen? Auch das. Miriam ließ für die Kinder Kuchen backen, beſon⸗ ders feine Kuchen, und ſchickte ſie an einem Vormittag ins Hoſpiz. Am Nachmittag ging ſie ſelber hin. Sie durchſchritt einen kleinen Vorgarten und trat in ein freundliches Entreezimmer. Niemand war Dohm, Schwanenlieder. 13 193 darin. Eine lange Tafel war mit einem blendend wei⸗ ßen Tiſchtuch gedeckt. Auf der Tafel ſtanden in zier⸗ lichen Vaſen Blumen, dazwiſchen Brötchen, friſche But⸗ ter, und über die ganze Tafel verteilt, in verſchiedenen Schüſſeln, die Kuchen, die ſie geſchickt hatte. An den weißen Wänden hingen Heiligenbilder. Seit langer Zeit zum erſtenmal kam ein reines und ſchönes Gefühl über Miriam, eine Genugtuung, als hätte ſie einen verlorengegangenen koſtbaren Ge⸗ genſtand nach langem Suchen wiedergefunden. Sie hatten es alſo begriffen, dieſe frommen Schweſtern: „Das Jahrhundert des Kindes“, und be⸗ reiteten hier den Ärmſten und Elendeſten heitere Feſte. Und ſie ſegnete in ihrem Herzen die lieben, edlen Frauen. Die Aufſichtsdame erſchien. Sie war verlegen; ging gleich wieder, um eine Schweſter zu holen, die der Fremden das Hoſpiz zeigen ſollte. Die Schweſter kam, begrüßte Miriam aber nicht ſo freundlich, wie ſie es nach der Kuchenſpende erwarten durfte. Offenbar fühlte die Schweſter ſich beläſtigt; einſilbig, faſt mür⸗ riſch führte ſie die Beſucherin mit verletzender Haſt durch das Haus. Es lag dem Kurpark gegenüber, ziemlich tief. Die Einrichtungen der Schlafräume für die Kinder waren die denkbar primitivſten. Einige der Kammern zeigten an den Wänden verdächtige feuchte Flecke. Unbehagen beſchlich Miriam. Hinter dem Hauſe betrat ſie mit der Führerin einen nicht beſonders gro⸗ 194 ßen ſandigen Platz, auf dem ein paar kümmerliche Kiefern ſtanden. Auf der einen Seite wurde der Platz durch eine lange Holzbaracke begrenzt, die nichts als hölzerne Bänke und Tiſche enthielt. Auf den Bänken vor den Tiſchen ſaßen die Kinder, jedes hatte einen Zinnbecher mit Milch vor ſich und eine grobe, trockene Waſſerſemmel. Nahe dem Sandplatz erhob ſich ein faſt vollendeter Neubau, ein luftiges Gebäude mit großen Fenſtern und Balkonen. Miriam unterdrückte mit Mühe den aufſteigenden Zorn. „Und die lange Tafel mit den Blumen, für wen war ſie gedeckt?“ — „Für uns Schweſtern.“ Kein Schimmer eines böſen Gewiſſens klang aus der Antwort. Das Hoſpiz war zugleich ein Erholungsort für die Schweſterngemeinde, und das luftige Gebäude, das da aufgeführt wurde, war für die Schweſtern beſtimmt, beileibe nicht für die kranken Kinder, deren Räume un⸗ genügend und unerfreulich waren. Die Aufſeherin mochte nicht beſtellt haben, daß der Kuchen für die Kinder ſein ſollte. — Gleichviel: daß dieſe frommen Seelen ſich an ſchön gedeckter Tafel güt⸗ lich taten, während die armen Geſchöpfchen mit dem Notdürftigſten abgefunden wurden: mit einem dürren Sandplatz, Waſſerſemmeln und einer häßlichen Holz⸗ baracke, die man mit geringen Mitteln lieblich und heiter hätte geſtalten können — es war verrucht. Ohne ein Wort des Abſchieds floh Miriam die Stätte, über deren Pforte die Worte Jeſu Chriſti: 13* 195 „Laſſet die Kindlein zu mir kommen“, ein Hohn ge⸗ rveſen wären. Am anderen Tag auf ihrem Morgenſpaziergang hatte ſie ein kleines Abenteuer, das nicht geeignet war, den unfreundlichen Eindruck des vorangegangenen Tages auszulöſchen. Sie paſſierte eine Stelle des Strandes, wo die Zöglinge eines vornehmen Hoſpizes (Knaben zwiſchen 8—14 Jahren, und Kinder wohlhabender oder reicher Eltern) badeten, in dem üblichen Badekoſtüm, durch einen Strick miteinander verbunden. Sie war ſchon über die Badeſtelle hinaus, als ſie lautes Rufen hinter ſich hörte. Sie wendete ſich um und gewahrte am Strande zwei Herren, die mit hefti⸗ gen Gebärden ihr zuwinkten und etwas riefen, das ſie nicht verſtand. Sie blieb ſtehen, in der Meinung, es drohe ihr auf dem Wege eine Gefahr. Da kam ſchon ein Bübchen — ein angezogenes — angeſprengt und berichtete atemlos: Der Herr Direktor und der Herr Doktor (die Herren am Strand) ließen ihr ſagen, an dieſer Badeſtelle für Knaben dürften Frauen nicht vor⸗ übergehen. Das ſei ſtreng verboten. Sie ſolle ſofort umkehren. Miriam blieb einen Augenblick verdutzt. Dann lachte ſie laut, mit einem ſchrillen Ton, der ihr ſelber weh tat. Sie hatte überhaupt nie in ihrem früheren Leben ſo viel gelacht wie jetzt. Kein gutes Lachen, ein herzangreifendes, faſt wie ein konvulſiviſches Weinen. 196 Miriam mußte an eine Notiz denken, die kürzlich durch alle Zeitungen ging, über die ſie auch hatte lachen müſſen. Ein Spitalarzt bemerkte, daß in einem Kran⸗ kenhaus das Kaltzimmer, das zur Aufnahme der zur Sektion beſtimmten Leichen diente, zwei Eingänge und eine Scheidewand hatte, und erfuhr, das geſchähe, um die Geſchlechter voneinander zu trennen. Die Tatſache war einem ärztlichen Fachblatt entnommen. Wie war es nur möglich, daß ſo Geringfügiges wie ein Badereglement ſie tief erregen konnte! Es kam wohl daher, daß ſie ſeitdem — — alle Dinge wie durch ein Vergrößerungsglas ſah, oder wie durch die Spiegelung einer jener Garten⸗Glaskugeln, die alle Gegenſtände in die Breite oder Schiefe ver⸗ zerren. Vor einem Baum im Wald, den der Sturm um⸗ geriſſen, und über den lebendes Gezweig raſchelnd rannte, ſtand ſie wie vor einer Leiche, bekümmert, trauernd. Ein Hüindchen, das tot am Strand lag, von In⸗ ſekten gierig umſummt, erregte ihr ſchauderndes Mit⸗ gefühl. Sie begegnete einem tiefäugigen, greiſen Prole⸗ tarierweib, das auf dem Rüicken eine ſchwere Laſt trug. Auf zerfetzten Filzſohlen ſchlorrte ſie keuchend dahin. Und die Alte grüßte ſchmunzelnd, mit luſtig zwinkern⸗ den Äuglein. Und ſie bettelte nicht. Daß ſie es nicht tat, erzürnte Miriam beinah, und ihr vergnügtes 197 Schmunzeln entſetzte ſie; es ſchien Miriam furchtbarer als Klage und Anklage; denn es zeigte die Wirkung des Elends. Tierartige Heruntergekommenheit. Sie kam an einer Fiſcherhütte vorbei. Mit dem alten Schiffer, der darin wohnte, war ſie oft aufs Meer hinausgefahren. Sie trat in die Hütte. Der Schiffer war geſtorben, traurig war er geſtorben. Er hatte ein krankes Bein bekommen. Der Arzt ſagt, das wird ſchon wieder. Er iſt guten Muts. Kommt ein Bauer und ſagt: „Das wird nie wieder.“ Da hat er keinen guten Mut. Seine Tochter ſteht am Herd und ſchält Kartoffeln. Der Alte kommt durch die Küche: „Wohin gehſt, Vater?“ Der Vater ſieht ihr ſo ſonderbar aus. „Mal in den Hof, Tochter.“ Als die Kartoffeln geſchält ſind, geht ſie in Vaters Kammer aufräumen. Sie ſieht eine Blutlache am Boden. Das Taſchentuch auf dem Stuhl iſt blutig. Sie hebt es auf. Ein blutiges Meſſer liegt darunter. Es ahnt der Tochter nichts Gutes. Sie geht auf den Hof, ſie geht in die Scheune. Da iſt der Vater die Leiter zum Heuboden heraufgeklettert, und da hat er ſich an einem Haken erhängt. Sie geht zurück in die Küche, kocht das Mittagbrot fertig, ißt und geht dann zu ihrem Bruder, ihn zu fragen, was ſie tun ſoll. „An⸗ zeigen,“ ſagt der Bruder. Sie zeigt an. Als der Be⸗ amte ſie auf das Unverantwortliche ihrer Handlungs⸗ weiſe aufmerkſam macht — dem Alten wäre vielleicht noch zu helfen geweſen — meint ſie: „Na, ich dächt 198 doch wegen der Schande, es braucht doch niemand zu wiſſen. Wir hätten ihn dann abgeſchnitten und ins Bett gelegt.“ O ja, das geſunde Volk! Die ſchönen Natur⸗ inſtinkte! Die große, rührende Kindesliebe. Sie lachte ſchon wieder. Miriam war tief in den Wald hineingewandert. Nur wie fernes, dumpfes Klagen der Elemente tönte das Brauſen des Meeres hinein. Es dämmerte. Am Rande des Waldes hatten Bäume, vom Sturm zer⸗ zauſte, geſpenſtiſche Formen angenommen. Gekrümmt, die Wipfel bis zur Erde gebogen, als ſuchten ſie die eigene Wurzel, oder horchten in die Erde hinein. Bei anderen lag das durcheinandergeſchlungene, ver⸗ äſtelte Wurzelwerk nackt da, verſteinerten Schlangen gleichend. Wieder andere mit geſträubten Blätter⸗ kronen, ſchienen in wilder Eile vom Meer ins Dickicht des Waldes zu flüichten. Am Himmel zwiſchen Gewölk ein blutroter Strei⸗ fen. Eine Eule krächzte. Die geheimnisvollen Schauer der Waldeinſamkeit umfingen Miriam. Unheimliche Geräuſche, als müßte in der nächſten Minute etwas geſchehen, Unſagbares, etwas, das auf der Lauer lag? Wo? In ihr ſelber? Jeder Menſch, ſagt irgend ein Dichter, hat in ſeiner Bruſt eine Geſpenſterkammer: Meint er das Gewiſſen? Sind es die Erinnyen ſeiner böſen Taten, die in einer Geiſterſtunde erwachen? 199 Aber ſie, Miriam, ſie hat doch nichts getan, nichts das die kleinſte Furie herbeilocken könnte, ſich an ihre Sohlen zu heften. Nichts? Wirklich nichts? Waren es die ſchleichenden, giftigen Nebeldünſte, die in ſie eindrangen und ein Fieber in ihrem Blut entzündeten? Und das Blut rauſchte ihr ins Ohr: Wo ſind die reinen, tiefen Gefühle, die einſtmals in dir keimten? Wo ſind die ernſten Gedanken, die zu denken du geſchaffen warſt? Haſt du nicht keimendes Leben getötet? Es kann ſein. Warum? Nicht wahr, weil du ſchnell vorwärts kommen wollteſt im Leben, und Ideale ſind Hinder⸗ niſſe, über die, wer beim Rennen nach Erfolg ſiegen will — hinweg muß. Es kann ſein. Sie gelangte an eine Lichtung. Der Mond ſtand über dunklem Gewölk. Ein zartes, weißliches Gebilde tauchte daraus empor. Wie ein Geſicht. Im nächſten Augenblick war es im Wolkenſchoß verſunken. Engelhart! flüſterte es in ihr. Aus dem Gebüſch funkelte es ſeltſam. Aber nein — nicht ſeltſam. Leuchtkäferchen ſind's. Unwillkürlich ſagt ſie „lucciola“, das italieniſche Wort für Glüih⸗ würmchen, ein Wort, das ihr wie eine ſchlürfend ſüße Liebkoſung ins Ohr klingt. Und mit dem Wort taucht eine Szenerie von über⸗ wältigendem Zauber vor ihrem inneren Auge auf. 200 Vor vielen, vielen Jahren war's. Eine ganze Künſtlergeſellſchaft war von Weimar aus nach Neapel gepilgert. In einer Nacht kehrte man von Bajä nach Neapel zurück. So viel Sterne am Himmel! Leuchtende, kleine Silbermonde. Zahlloſe lebendige Sterne in den Lüften: Lucciola! Lucciola! Sterne auch in aller Herzen. Engelhart hielt ſie umſchlungen. Es konnte nicht anders ſein. Sie ſchritten wie ſchwebend durch die funkelnde Nacht, ſternentrunken, gottberauſcht, von innerer Lebenswonne glühend. Lucciola! Lucciola! Nie fühlten Menſchen ſich göttlicher vermählt. Apoll und Dionys hielten die Hochzeitskrone über ihnen. Lyrik und Dityrambe waren in dem Hochzeits⸗ pſalm, den dieſe Zaubernacht ſang. Er hatte von einem Buſch rote Roſen gepflückt. Die Blätter ſtreute er über ſie hin. Die letzte und ſchönſte Roſe aber, die küßte er, dann gab er ſie ihr: „Denk' an dieſe Stunde.“ Die Erinnerung zauberte jetzt träumeriſche Ver⸗ zücktheit auf Miriams Antlitz. In dem letzten roſigen Schimmer der untergegangenen Sonne erſchien es einen Augenblick von junger, bräutlicher Schönheit. Der Himmelsſchein erloſch und ihre Viſion. Sie war wieder im Wald. Sie hörte die Eule wieder krächzen. Es dämmerte tief. — Hatte ſie um Engelharts willen etwas zu ſühnen? 201 Sie konnten doch nicht zuſammenkommen. — Die Verhältniſſe — — es ging doch nicht. Doch, doch, es wäre gegangen. Und als er todkrank war, iſt ſie nicht zu ihm ge⸗ gangen. Es ging doch nicht, wegen der Leute. Doch, doch, es wäre gegangen — — Aber — aber —: „Wenn das der Schutzmann ſieht.“ Das war's. Sie hatte dem, den ſie liebte, ſie hatte dem Gott im Buſen die Treue gebrochen. Ja wohl, auch ſie hat ſtatt eines Gottes im Buſen einen Poliziſten im Gewiſſen gehabt, und nur der Gott hat recht, nur der. Heraus aus dieſem Walde, wo die Gräber der Seele ſich öffnen. Sie wollte doch, daß ihr Herz ruhig werde und rein. Rein und ruhig werden! Sie hatte früher hier und da mit großem Inter⸗ eſſe über den Buddhismus geleſen. Wie — wenn ſie der inbrünſtigen Entzückungen dieſer Erdentrückten teilhaftig werden, wenn ihr ein tranſzendentes Licht aufginge, in dem ſie ihre kranke Seele geſund baden könnte? Sie verſchaffte ſich die Reden des Gautamo Buddha. Mit Andacht begann ſie ſich in das Buch zu ver⸗ tiefen. Die fremdartige Form feſſelte ſie anfangs. Sie legte es aus der Hand, ehe ſie es zu Ende geleſen. 202 Das war ja zum Wahnſinnigwerden! Bei dieſen ſyſtematiſchen, gewollten, unaufhörlichen Wiederholun⸗ gen wurde ihr ſchwindlig. Sie wirkten auf ſie wie ein nervöſes Kitzeln; ſie fürchtete die Drehkrankheit zu be⸗ kommen, und am Ende finge ſie an zu tanzen wie die raſenden indiſchen Derwiſche. Aus Millionen Worten immer derſelbe Sinn: das Ziel alles Seins iſt Wahnverlöſchung. Innere Schau⸗ ung, Weltabtötung, Leidensvernichtung. Wie man dahin gelangt? Sehr einfach. Man gibt alles Begehren, alles Wollen auf, man verläßt Haus, Kind, Weib, geht in die Heimatloſigkeit, ſetzt ſich im Wald auf den Boden und verſenkt ſich in innere Schauung. Und ſiehe, man iſt von Geburt und Ster⸗ ben, von Schmerzempfindungen u. ſ. w. befreit. Von allen Gefühlen loskommen!? Wüßte ſie nur, wie ſie es machen ſollte, um einen einzigen Mückenſtich nicht zu empfinden. Und was verſchafft denn nun die „ſelige Heiter⸗ keit“, wenn man nichts mehr ſchmeckt, riecht, fühlt, taſtet? Und die ſelige Heiterkeit — ſie wird nicht als Luſt empfunden? Sie weiß von ragenden Geiſtern, die erſchüttert wurden von der Tiefe und Heiligkeit buddhiſtiſcher Schriften. Sie aber hat kein Talent für den Buddhis⸗ mus. Seine weißen Lichtfluten blenden ihr blödes Auge. Und ihr Herz wurde nicht ruhig, nicht rein, nicht groß. 203 Wie waren große, geniale Menſchen geſtorben? Nicht die meiſten ſtill, vornehm, in Schönheit, der Tod wie eine Himmelfahrt? Das Sterben wollte ſie von ihnen lernen. Ihr Gedächtnis verſagte. Sie ließ ſich die Bio⸗ graphien berühmter Menſchen kommen. Und ſie las und las. Und ihr Herz erzitterte. Nein, nein! Nicht von denen konnte ſie das ſtille, vornehme Sterben lernen. Ach ſo viele, die Pfeile waren, die auf den Über⸗ menſchen zielten, wurden wahnſinnig oder ſchoſſen ſich tot, oder ſie waren Vampyre, die ſich das Blut aus der eigenen Bruſt ſogen. Oder ſie boten das Bild eines edlen Wildes, auf das eine Meute gehetzt wurde. Und etliche, denen man ſpäter Marmordenkmale von immenſem Werte errichtete, gingen an Hunger zu⸗ grunde. Am unſeligſten aber erſchienen ihr diejenigen, die in grenzenloſer Verbitterung ſtarben, weil die Zeit⸗ genoſſen den Stern auf ihrer Stirn nicht ſahen oder ihn für ein Kainszeichen hielten. Erlauchte, die man erſt nach ihrem Tode, oft lange nachher, zu den Un⸗ ſterblichen erhob. Ach, kaum einer war ſtill und vornehm, im Frie⸗ den des Alters hingegangen. Und Miriam verſetzt ſich in den Gemütszuſtand eines Nietzſche, der in dem königlichen Bewußtſein ſeiner Einzigkeit bei Lebzeiten mit Mühe den Verleger fand, der ſich herbeiließ, ſeine Schriften zu drucken. Und als 204 die Welt von der ungeheuren Wirkung ſeiner Schrif⸗ ten widerhallte, war er ſeit Jahren geiſtig tot. Sie las die Briefe, die Daniel Schubart vom hohen Asperg, nach achtjähriger Gefangenſchaft, an ſeinen fürſtlichen Peiniger ſchrieb; und die knechtiſche Demut, mit der er ſeinen Henker anwinſeln mußte, um die Gnade, Weib und Kind wiederſehen zu dürfen, ent⸗ lockte ihr Tränen des Zorns. Und ſelbſt Kant mußte vor einem unwiſſenden, beſchränkten Monarchen zu Kreuze kriechen und halb und halb widerrufen, um Frieden und Exiſtenz zu haben. Und Miriam leidet als Nietzſche, als Byron, als Kleiſt, als Lenau, als Giordano Bruno. Alle dieſe Großen, die für die Menſchheit ihr Herz⸗ und Hirnblut hingaben, waren ſie nicht wie die Kinder, die in einen Schweinekoben Roſen werfen! Die Tiere beſchnüffeln die Roſen, grunzen mißvergnügt und wen⸗ den ſich fort. Ihr Herz wurde nicht rein, nicht ruhig, nicht groß. Und allmählich vertiefte ſich ihr Schmerz um einzelne zu einem immenſen Weltſchmerz. Und ſie ſah Wunden, wo nur noch Narben waren, und ſie ſah all die Werkzeuge, die neue Wunden ſchlagen würden. Blut, das längſt eingetrocknet, floß für ſie von neuem, Tränen, die längſt verſiegt, ſah ſie wieder rinnen. Und immer war ein Schluchzen in ihrer Kehle, im Herzen ein tiefes Weh. 205 Die Abgründe der Vergangenheit öffneten ſich vor ihr, die Schatten der Weltgeſchichte ſtiegen empor, um⸗ drängten ſie, und, wohin ſie blickte, allüberall immer nur Henker und Opfer. Sie erlebte im Geiſt die Ketzer⸗ und Hexenver⸗ brennungen, die Martern, die man Geiſteskranken an⸗ tat, die Bartholomäusnacht, Kitſchenew, Scheiterhaufen und Guillotine. Und das war das Entſetzlichſte. Das Gewiſſen der Zeit nannte alle Greuel gut, notwendig. Aber das war! Das war! Nein — nein! Das iſt! Das iſt! Sie vergrub ihr Geſicht in den weißen Sand. Sie gedachte der tieriſchen Grauſamkeit, mit der in den Kolonien Neger und Kulis von den Plantagen⸗ beſitzern oder ihren Angeſtellten zur Arbeit gepeitſcht, tödlich gemißhandelt werden. Sie las von grauen⸗ haften Morden, die Söhne an ihren Eltern, die Eltern an ihren Kindern verübten. Hier ward der Jude ver⸗ brannt, da der Sozialiſt, und immer noch, „wo der Menſch ſeine wahren Gedanken ausſpricht, iſt Gol⸗ gatha.“ In den Parlamenten nennen ſie ſich gegenſeitig Verräter, Elende, Flachköpfe, und ſie erſinnen Wunden, der eine für den anderen, und indem der eine das Tun des anderen brandmarkt, begeht er vielleicht ſelbſt einen Schurkenſtreich: er denunziert, er verleumdet, und die Beſtandteile ſeiner ſittlichen Entrüſtung ſind Rache⸗ durſt, Größenwahn, Neid, Grauſamkeit, Eigennutz. 206 Und niemand fragt: Biſt du ein guter Menſch? Sie ſagen nur: Du biſt ein anderer Menſch als ich, mit einem anderen Gehirn, anderen Meinungen, und darum in die Hölle mit dir, wenn du nicht in meinen Himmel willſt! Und das Fürchterlichſte — das Maſſenelend — ſie kannte es kaum. Hätte ſie es nicht kennen müſſen! Sie erinnerte ſich, daß ſie vor Jahren einmal, an einem eiskalten Wintertag in eine Schar Arbeitsloſer, die demonſtrier⸗ ten, hineingeraten war. Der Anblick dieſer Leute hatte ſie entſetzt: zerlöcherte Röcke, zerriſſene Stiefel, und die Geſichter, die Geſichter! Von Hunger und Qual rede⸗ ten ſie, einer wilddrohenden oder ſtumpfen Qual. Vor Weh und Mitleid hatte ihr Herz geklopft, und ihr Gewiſſen hatte aufgeſchrien: Hier iſt ein unge⸗ heures Unrecht geſchehen. In eine offene, blutende Wunde hatte ſie geblickt. Wo waren die Verkünder des Evangeliums der Liebe, die das ſoziale Gewiſſen aufpeitſchten! Zu Hauſe in ihrem behaglichen Atelier bei heißem Tee, hatte ſie bald alles vergeſſen. Das war nun einmal nicht anders. — So ſind die Menſchen. Und ſie iſt gerade ſo. Und viele meinen: Arme und Reiche müſſe es geben. Und ich ſelbſt — habe ich mich nicht immer da⸗ mit zufrieden gegeben, daß der einzelne ja nichts kann, aber gar nichts. Und gäbe ich alles hin, was ich habe und was ich bin, und verkaufte ich noch meinen Leich⸗ 207 nam, kaum einen Tropfen ſchöpfte ich aus dem Ozean des Elends fort. Eine Ideenaſſociation führte ein anderes Bild vor ihre Seele. Chriſtus wurde gekreuzigt — damals. Damals? Man würde ihn auch heut' noch kreu⸗ zigen, denn — kreuzigt man nicht heut' noch die Chri⸗ ſten? Nicht, die ſich ſo nennen, die es ſind, die nach des heiligen Nazareners Lehre handeln. Das Irrenhaus bedroht ſie, Zuchthaus nicht aus⸗ geſchloſſen, wenn ſie gegen den Stachel der Staats⸗ einrichtungen löken. Im günſtigſten Fall machen ſie ſich unbeſchreiblich lächerlich. Ein Beiſpiel Luiſe Michel, die verruchte Vetroleuſe. Seht, da! Ein Wunder! Eine Chriſtin! Nie gab es einen glühenderen Prediger der Nächſtenliebe, denn ihre Worte waren Taten. Ihr ganzes Leben eine einzige leidenſchaftliche Opfertat für die, denen das ungeheure Unrecht geſchah. Haben Biſchöfe und Erzbiſchöfe vor ihr gekniet? Hat der Papſt ſie kanoniſiert? — Ins Zuchthaus kam ſie. Fürchtet keine Überfüllung, ihr Irrenhäuſer und Zuchthäuſer! Es gibt keine Chriſten. Plötzlich richtete ſie ſich empor. Ihr Auge ſtarrte. Ihr Mund blieb offen: Die Viſion des Krieges. Der Krieg! Der Krieg! 208 Und die Menſchen werden nicht wahnſinnig ange⸗ ſichts dieſes Blutrauſches, bei dieſem Amoklaufen gan⸗ zer Völker gegeneinander! Hundertauſende, Hund⸗ derttauſende ſterben in Qualen, und ſie ſind wie Trop⸗ fen, die ins Meer fallen. Das Meer rauſcht darüber hin, und es iſt, als wären ſie nie geweſen. Wilde Völkerſtämme opfern ihren Götzen leben⸗ dige Menſchen. Und der Schlachtengott, dem man Hekatomben blühender Menſchenleiber opfert, er wäre kein Götze, kein Fetiſch? Er, den die Heerführer an⸗ rufen, daß er ihre Kanonen und Bajonette ſegne, da⸗ mit ihre Leichenernte reicher ausfalle als die ihrer Feinde! Wo biſt du, Gott? Gott der Liebe! Und du ſchleuderſt in dieſe von Blut purpurne Nacht der Un⸗ menſchlichkeit keinen deiner Blitze, nicht den Blitz, aus dem ein Kreuz aufleuchtet, das Kreuz mit dem Hei⸗ land: Du ſollſt nicht töten! Und an dieſes Leben ſich klammern, aus dem es heult, grinſt, wehklagt, wie aus einem Irrenhaus, einem Hoſpital, einem Hexenſabbat? An dieſes Leben ſich klammern! O gut, ſehr gut, daß es ſo iſt, wie es iſt, ſo ſchau⸗ rig, ſo ſchaurig! Nur mehr, mehr ſo wilder Schrecken! Jeder ein⸗ zelne iſt wie ein Meſſer, das einen der Fäden, die ſie ans Daſein binden, zerſchneidet. Nur zu! Nur zu! Natur und Menſchen im ſchauerlichen Bunde. Milliarden von Feinden erzeugt täglich die Natur, die Dohm, Schwanenlieder. 14 209 uns plötzlich überfallen oder langſam hinwürgen vor der Zeit. Sie verbergen ſich in Waſſer, in Brot, in Fleiſch, ſie erfüllen die Lüfte. In Tarnkappen kom⸗ men ſie geſchlichen. Und wir ſind Wehrloſe, Wehrloſe! Und was von draußen zerſtörend auf uns ein⸗ dringt, es wiederholt ſich im eigenen Innern. In ſeinen eigenen Stachel ſtürzt ſich der Skorpion. Wir auch. Ein tiefer, tiefer Schmerz kam über Miriam, nicht üiber den Tod, nein, über das Leben. Und ſie weint üebr das Leben. Sie lacht über das Leben. Sie verwünſcht das Leben. Ein unermeßliches Mitleid mit den Menſchen, und ein ingrimmiger Haß gegen die Menſchen zerreißt ihr das Herz. Ja — von Furien durchraſt iſt die Geſchichte der Menſchheit. Die Welt trägt das Antlitz der Meduſa. Jedes Herz, das fühlt, erſtarrt davor. Kalter Schweiß ſtand auf Miriams Stirn. Und ſie flüſterte in ſich hinein: „Ich ſterbe gern, ich ſterbe gern.“ Jeder einzelne erſchien ihr nun wie jener Menſch in einer ſchauerlichen Erzählung, der mit einem wun⸗ derbar konſtruierten Automaten ſo recht zum Ver⸗ gnügen tanzt. Und er tanzt und tanzt und hat ver⸗ geſſen zu fragen, wie und wo die Schraube gedreht wird, die den Mechanismus des Werkes zum Stillſtand bringt, und der Automat in grauſamer Umklamme⸗ rung tanzt ihn zu Tode. 210 Der Automat: das Lebensgetriebe, das uns um⸗ klammernd zu Tode tanzt. Sie, Miriam, aber weiß, wo die Schraube ge⸗ dreht wird, wie ſie der grauſen Umklammerung ent⸗ ſchlüpft. Ja, ſie ſtirbt gern. An einem Tage hat ſie am Strande mit ihrem Ring geſpielt. Er rollt ihr aus der Hand, rollt weiter. Eine herandrängende Welle erfaßt ihn, trägt ihn ins Meer hinaus. Sie ſieht ihn eine Weile auf der Welle tanzen, dann hüpfend zu ihr zurückkommen. Eine neue Welle packt ihn. Einen Augenblick hat ſie die Viſion, daß mit dem Ring eine zitternde Hand aus dem Waſſer ſich ſtreckt — ihre Hand, und daß es die Hand einer Ertrinken⸗ den iſt. Der Ring iſt fort. Wie blaue Augen war ſein Stein. Und plötzlich erwacht in ihr der Schmerz um ihren Sohn, der vor ſo vielen Jahren ſtarb. Sie glaubte ihn begraben — den Schmerz — er war nur ſcheintot. Die Toten, die wir liebten, als ſie lebten, ſind nie⸗ mals ganz tot in uns. Die Gräber ſpringen immer wieder auf, wenn ihre Stunde da iſt. Die Stunde war gekommen. Miriam lebte mit den Toten. Und der Tod wird allmählich für ſie ein Magnet, der ſie an ſich zieht — unwiderſtehlich. Und er zieht ſie fort von allem, was Leben iſt. 14* 211 Ein dunkler Nachmittag. Sie ſteht in einem Ge⸗ witter. Der Sturm peitſcht die Blätter von den Bäu⸗ men, er peitſcht entfliehende Vögelchen ins Meer. Irgendwo hat der Blitz eingeſchlagen. Hinter dem Wald züngeln Flammen empor. Die rote Glut umwallt Land und Meer mit einem Purpurmantel. Schön iſt das Gewitter. Und in dem Gewitter iſt der Tod. Er iſt im Sturm, er iſt im Blitz. Er iſt Schönheit, Größe, Feierlichkeit. Und alles Leben, ſo ſcheint ihr, entſteht nur, damit er — der Tod — ſein Daſein damit friſte. Er trinkt unſer Blut. Hatte nicht jener Knabe, der immer neue Schiffe bauen wollte, damit immer Schiffe zum Untergehen da wären — inſtinktiv den Sinn der Schöpfung er⸗ faßt? Mors imperator! Nein, mehr als imperator. Schöpfer zugleich und Vernichter. Allmächtig und all⸗ gegenwärtig iſt er. Der Tod iſt Gott. In extatiſcher Feierlichkeit ſieht ſie ihm entgegen. Und ihr Herz wurde ſtill. Immer mehr fühlt ſie ſich eins mit der ſchwimmen⸗ den, rinnenden Grenzenloſigkeit des Meers; ſie fühlt es wie das leiſe, zärtliche Umfangenſein von etwas Un⸗ greifbarem. Die Weidenbäume, nah ihrer Villa, er⸗ ſcheinen grob und derb, der verträumten Seelenhaftig⸗ keit des Meeres gegenüber, das Meer, das am fernen Horizont den Himmel berührt und eins mit ihm wird. Land und Himmel kommen ſonſt nie zuſammen oder 212 doch nur da, wo unermeßliche Wüſten wie der Ozean ſind. Das Meer zieht ſie ein in ſeine grandioſen Rhyth⸗ men. Es iſt, als ſchritte ſie ins Unendliche. Und ihr Herz wurde rein. Für den, der auf der Brücke zwiſchen dem Diesſeits und dem Jenſeits ſteht, übt das Meer einen tiefen, ge⸗ heimnisvollen Zauber. Sein Rauſchen wird zu einem Pſalm, ſeine Stille zu einem Requiem. Meeresſtille ward in Miriams Seele. Ihre Viſion von der Geſtalt des Todes wandelt ſich allmählich. Er wird ihr zu einem Symbol der Ein⸗ ſamkeit — eine Geſtalt, hoheitsvoll, lichtumfloſſen, von erhabener Reinheit, weiß wie Schnee, mit Geiſterfüßen, über den weißen Dünenſand ſchattenlos, lautlos da⸗ hingleitend. Und nicht ein Schwert trägt ſie. Eine Schale hält ſie in der Hand, aus der eine ſtille, ſilberne Flamme in den Äther emporſteigt. Und in der Einſamkeit wandelt die Heimgehende wie durch eine Milchſtraße von Sternen. Ihr Gang wurde ſchwebend, zuweilen ſchwankend, als fühle ſie keinen feſten Boden unter ihren Füßen. Ihr Haar war weiß geworden. Und wie früher der einzelne Haarſtreifen ſilbern glänzte, ſo erſchien jetzt der ganze Kopf ſilberumſponnen. Eine Inbrunſt der Lebensverneinung kam über ſie. Sein und Leben erſchien ihr immer mehr nur Oberfläche. 213 Die Nähe des Todes wirkte auf ſie wie eine Evo⸗ lution in der Natur, wo vielleicht aus dem Grund des Meeres ſich eine Inſel hebt, ein morgenfriſches, unbe⸗ rührtes Land, über das keines Menſchen Fuß noch ge⸗ ſchritten. Der Tod hat ſie aus der Maſſe herausgehoben. Der Atem der Ewigkeit umweht das Haupt der dem Tode Geweihten. Und ihr Herz wurde groß. Eines Morgens in der Frühe kam der Strand⸗ wächter — er war zugleich Jäger — an ihr vorüber. Wenige Schritte von ihr entfernt ſchoß er ſeine Flinte gegen eine Schar von Krähen ab. Eine fiel zu Boden und zappelte, zappelte. Der Strandwächter ging pfeifend weiter, ohne ſich nur nach dem verwundeten Tier umzuſehen. Sie trat an den Vogel heran, wollte ihn ins Waſſer werfen, um ſeine Qual zu enden. Ihre Finger bebten vor dem blutigen Flügel zurück. Ein ältlicher Herr kam des Weges. Sie bat ihn, dem verwundeten Dier den letzten Liebesdienſt zu er⸗ weiſen. Er nahm die Krähe auf, unterſuchte ſie und ſagte: „Es iſt nur eine leichte Verwundung. Ich bin Arzt. In einigen Tagen kann ſie wieder fliegen.“ Er ſchlug vor, ſie an eine abgelegene Stelle im Walde zu tragen, wo ſie ohne Gefahr ihrer Geneſung entgegenkrächzen könne. Nur die Ernährung würde Schwierigkeiten machen. 214 Miriam erbot ſich, dafür Sorge zu tragen. Sie gingen zuſammen eine Strecke in den Wald hinein, bis ſie eine paſſende Stelle fanden. Sie trug Moos zuſammen, und er bettete behutſam den Vogel in das Neſt. Auf dem Rückweg ſprach er angenehm über dies und jenes, über Land und Leute der Oſtſee. Er hatte eine eigene humoriſtiſche Art dabei. In ihr war ein ſtilles Freuen, daß da ein guter Menſch an ihrer Seite ſchritt. Täglich brachte ſie nun dem Vogel Futter. Er kannte ſie bald und ſchlug mit dem geſunden Flügel, wenn er ſie kommen ſah. Einigemal traf ſie den Arzt dort, der ſeinen Patienten beſuchte. Das letztemal, als ſie bei dem Moosneſt zuſammentrafen, war der Vogel auf und davon. Er verſchwand damit nicht aus ihrem Geſichts⸗ kreis. Er umkreiſte niedrigen Fluges ſeine Retterin auf allen ihren Wegen. Der eine Flügel war ſteif ge⸗ blieben. Er kam nicht mehr hoch damit. Zuweilen aber blieb das Tier aus. Dann fehlte es Miriam, ſie ſchaute nach ihm aus. Sie liebte wohl gar ihre Krähe? Liebte ſie in ihr etwa ihre eigene gute Tat? Wäre es ſo — wäre es ſo — ja — — Lichtblitze ſchoſſen durch der Kranken verdüſterte Seele. Eines Tages lag die Krähe tot am Strande. Hatte der Orkan, der in der Nacht gewütet, die Flügellahme an einem Stein zerſchmettert, hatte ein Raubvogel ſie 215 zerhackt — gleichviel. „Meine gute Tat iſt tot,“ dachte Miriam finſter, „ſie war überflüſſig." Sie grub dem Tier ein Grab. Der Arzt kam dazu. „Meine arme Krähe,“ ſagte Miriam. „Und ich verliere mit ihr meinen einzigen Patien⸗ ten oder“— er ſah ſie forſchend an — „Sie ſind krank, ich möchte Ihnen helfen.“ „Ja, todkrank,“ ſagte ſie. Eine Idee kam ihr. Sie fürchtete ſich vor dem letzten Stadium der Krankheit. Sie wußte, es würde ſchrecklich ſein. Wenn einer ihr helfen könnte, ſo war es dieſer gute und kluge Menſch. Sie ſagte ihm, was ihr fehle, und mit bebenden Lippen trug ſie ihm ihre Bitte vor. Er ſah ſie mit inniger Sympathie an. „Ich kann Ihnen kein Verſprechen geben, ehe ich Sie nicht unter⸗ ſucht habe.“ Sie zögerte. Endlich willigte ſie ein. Die Unterſuchung fand ſtatt. Als ſie beendigt war, hatte das Geſicht des Arztes einen wunderbaren Aus⸗ druck, einen ſtrahlenden. „Sie ſind geſund. Ich habe nicht das leiſeſte Symptom der Krankheit, an der Sie zu leiden glauben, gefunden.“ Sie ſah ihn ungläubig an. „Unmöglich.“ „Mein heiliges Ehrenwort, Sie ſind geſund „Ein Irrtum ausgeſchloſſen? 216 „Ausgeſchloſſen. Sie ſind blaß wie eine Tote. Ich begreife es. La joie fait peur." Sie ſah ihn groß, mit leeren Blicken an. Er ging. Er fühlte, ſie mußte allein ſein. Sie zweifelte nicht mehr daran, daß der Arzt recht hatte. Sie hätte es eigentlich längſt wiſſen müſſen. Die beängſtigenden Symptome waren in den letzten Monaten mehr und mehr geſchwunden. Sie hatte nicht darauf geachtet, weil ihre Gedanken ganz wo anders waren. Sie ging an den Strand. Raſtlos lief ſie da auf und ab. Sie iſt geſund. Der Arzt ſagt's. Jener Arzt in Berlin war wie ein Richter geweſen, der eine Schuldloſe verurteilt. Oder — glaubte ſie ihr Todesurteil aus ſeinem Munde zu vernehmen, weil ſie es von ihm erwartet hatte? Grundlos, ſchauerlich grundlos all die Qual, die ſie in den letzten Monaten durchs Leben gepeitſcht. Einer tragiſchen Autoſuggeſtion iſt ſie zum Opfer ge⸗ fallen. Gleichviel — gleichviel. Die Todesgewißheit hat ſie vom Leben fortentwickelt. Sie kann nicht zurück in das Element, aus dem ein dämoniſch toller Irrtum ſie herausgeriſſen. Ihre Glieder zittern, ihr Herz hämmert. Ge⸗ 217 ſund! Es iſt nicht wahr. Sie iſt todkrank. Stirbt nur der Körper? Das Leben haben! Was ſoll ſie mit dem wieder⸗ geſchenkten Leben? Das iſt, als wenn einer viel Geld hat, es iſt aber nichts da, was er dafür kaufen könnte, kaufen möchte. Sie hat in Abgründe des Daſeins ge⸗ blickt. Was klang ſo ſchauerlich aus der Tiefe? Der Satan lachte. Gott weinte. Ihre Augen ſchweifen über das Meer. So ſtill und ſchwanengleich gleiten in der Ferne die großen Schiffe dahin, und man weiß doch, auf den Schiffen ſelbſt herrſcht wüſter Lärm, Teer⸗ und Maſchinen⸗ geruch. Auf den Fiſcherbooten rote Segel. Leuchtenden Meerblumen gleichen ſie über den rollenden Wogen, und auf dem Boden der Schiffchen verenden unzählige kleine Fiſche. Sie ſah am Ufer Fiſcher ihre Netze aus dem Meer ziehen. Nichts war darin als ſchwarzer Schlamm. Gleich von neuem ruderten ſie hinaus an eine andere Stelle des Meeres. Alles Leben ſtößt ſie ab. Sie hat monatelang in einem Tempel gewohnt. Durch ſeine ſchlanken Säulen, ſein kriſtallenes Dach ſind Mond und Sterne geflutet, und nun ſoll ſie zurück in ein Mietshaus, in das der Straßenlärm dringt. Es wüirde ja immer, immer dasſelbe ſein, vielleicht noch zwanzig Jahre lang, nur mit ihrem zunehmenden Alter immer alles geringer, matter. Dieſelben Bilder 218 malen, die ſie ſchon gemalt hat? Sie kann es nicht. Sie hat die Pinſel zerbrochen. Ihre Tochter! Sie würde ſie fortan immer ſehen, wie ſie war: eine leere, oberflächliche Weltdame, und ſchenkte die Tochter ihr Enkel, die Kinder würden immer davonlaufen, wenn ſie ihnen nichts mitbrachte oder ihnen keine Geſchichten mit Folterqualen erzählte. Sie hat das Leben verlernt. Es kommt nicht wieder — es kommt nicht wieder! Wer nur einen Zipfel vom Schleier der Iſis ge⸗ hoben, der ſtirbt. Sie iſt dem Leben nicht mehr angepaßt. Dem Tode iſt ſie's. Seltſam ging die Sonne unter, weiß, feierlich, ohne Feuer, ohne Purpur, rein, hell, faſt ſilbern ſchwebte ſie durch das überſinnliche Blau des Him⸗ mels. Und über Miriams in brennendem, tranſzen⸗ dentem Durſt halb geöffnete Lippen drängt ſich Brun⸗ hildens Todesruf: „Starke Scheite ſchichtet mir dort. Am anderen Morgen — die Sonne war noch nicht aufgegangen — ging ſie ans Meer. Im Weſten war es noch nachtblau, von klarer Unberührtheit, im Oſten vom zarten Schimmer der kommenden Sonne über⸗ haucht. Mit nackten Füßen, in ein weites, weißes Gewand gehüllt, ſtieg ſie hinab. Immer roſiger ſpannte ſich der Himmel darüber. 219 Es wurde wie das Lächeln eines träumenden Seraphs ſchmeichelnd ſüß, von echoleiſer Zartheit. Die kranken Kinder im Aſyl begannen ihren Mor⸗ gengeſang. Sie lag auf dem Rücken und ließ ſich treiben, weiter, immer weiter, bis nur leiſe noch, als ob Engel die Silberſaiten einer Harfe rührten, der Geſang zu ihr hintönte. Und nun verwandelte ſich ihr abermals die Viſion des Todes. Asrael war's, der Erzengel, mit den nachtdunklen Schwingen, die Himmel und Meer umſpannen. Und ſie ſah im Geiſt ein letztes — ihr letztes Bild. Sie ſah ſich ſelbſt, eine weiße Tote, in einem Lilien⸗ nachen über den zärtlichen, zarten Golddunſt des Waſſers hingleiten. Ihr zu Häupten — Asrael. Die ganze Geſtalt in glühender Bewegung, das Gewand wie vom Sturm erfaßt, den Arm mit einer großen Ge⸗ bärde hinausgeſtreckt, als zeigte er einem unſichtbaren Steuermann die Richtung, in der er zu ſteuern hat. Wilde Göttlichkeit im Blick, ein Blick voll ſiegender Kraft, ein demantener Pfeil, der Raum und Zeit durchdringend ins Herz des Alls ſich bohrt. Weit im Umkreis ſeiner Flügel leuchtet der Äther. Und es brauſt um ſie wie von heiligen Orgeln. Und ſie ſinkt, verſinkt. Noch einmal taucht ſie em⸗ por. Horch! Sie ſpricht, ſie lacht: „Wenn das der Schutzmann ſieht.“ Ihr Schwanenlied. 220 Benjamin Heiling Benjamin Heiling, der Schullehrer — oder viel⸗ mehr der penſionierte Schullehrer —, ſchritt langſam durch die Dorfſtraße nach Hauſe. Er hatte ſeine letzten Stunden gegeben, von den Kindern ſich verabſchiedet. Die ganze Feier hatte im Abſingen eines Chorals be⸗ ſtanden und in ſeiner eigenen, kurzen Rede, die mit der üblichen Moral ſchloß: „Bleibt brav. Werdet nützliche Menſchen.“ Kleine Mädchen hatten ihm Sträußchen gebracht. Er hielt ſie noch in den Händen und ſog im Gehen den Duft der friſchen Heidekräuter ein. Wie wenig gerührt waren die Kinder geweſen. War er es etwa? Ebenſowenig. Sonderbar war ihm zumute. Nicht wehmütig und nicht traurig. Nur leer, unluſtig, wie einem, der abreiſen muß, und er weiß noch nicht, wohin. Einer ſeiner Schüler rannte an ihm vorbei, ohne zu grüßen. Er rief ihn zurück. „Die Mütze vom Kopf.“ Es ſah beinah trotzig aus, wie der Junge nun, halb lachend, die Zähne zeigend, die Mütze zog vor dem, der doch nichts mehr bedeutete. Der Lehrer wußte, daß der Junge hinter ihm her eine lange Naſe machen würde. Seine Schüler hatten niemals beſonderen Reſpekt vor ihm gehabt. Er hatte die Disziplinierung der wil⸗ den Schar ſchlecht verſtanden. Und das war wohl auch der Grund ſeiner Penſionierung. Er war noch nicht alt. Kaum ſechzig. Aber verbraucht. Ganz ſtill war es in der Gaſſe. Kein Laut. Die Heimchen zirpten. Einen Augenblick blieb er vor ſeinem Häuschen ſtehen. Er ging nicht hinein, obwohl er wußte, daß das Mittageſſen bereitſtand. Er ſpürte keinen Hunger. Er bog in einen ſchmalen Feldweg ein. Es war ſein eigenes, winziges Stückchen Feld, an dem er vorbei⸗ führte. Die Beſtellung dieſes Feldes gehörte zu ſeinen Obliegenheiten. Das Sproſſen, Blühen, Gedeihen und Ernten der Feldfrüchte gehörte zu ſeinen geringen Lebensfreuden. In den letzten Jahren, ſeitdem die Gattin tot, die Töchter ſich nach auswärts verheiratet, war er läſſiger in der Feldbeſtellung geworden. Mechaniſch riß er im Weitergehen hier und da eine Unkrautſtaude aus dem Boden. Unter einem Nußbaum, ſeinem Nußbaum, ſetzte er ſich auf eine Bank. Er hatte ſie ſelbſt gezimmert. Er wollte nachdenken. Er wußte, da war etwas, üiber das er denken, notwendig denken mußte. Er ſah von ſeinem Platz aus, wie ein junger Mann aus der Tür ſeines Häuschens trat. Die alte Bauernfrau, die ſeine einfache Wirtſchaft beſorgte, wies ihm den Weg zum Schulhaus hin. 224 Das war der neue Lehrer. Klug und munter ſchaute er aus den Augen. Benjamin Heiling wußte, daß er nächſtens auf die Schulſtelle hin heiraten wollte. So war auch er vor 35 Jahren — ein hoffender Jüngling — ins Dorf gekommen. Er hatte ſtudieren wollen. Der Vater ſtarb. Die Mutter war arm. Ben⸗ jamin blieb nur die Wahl zwiſchen einem Handwerk und dem Lehrerſeminar. Er entſchied ſich für das Leh⸗ rerfach. Er hoffte, als Lehrer Gelegenheit für ſeine Fortbildung zu finden. Bücher gab es ja überall in der Welt. Es kam anders. Er verliebte ſich in das zarte Töchterchen eines Muſikers, der zum Dorfmuſikanten verkiimmert war—, man ſagte, aus Liebe zu einem Zigeunermädchen, dem er nachgelaufen. Dem armen Benjamin blieb bald keine andere Sorge, als die Beſchaffung des Brots für ſeine Fa⸗ milie. Schon nach der erſten Geburt wurde die Frau kränklich. Er half ihr, ſo viel er konnte, in der Wirt⸗ ſchaft. In den Abendſtunden war er dann ſo müde, daß an eine Kopfarbeit nicht zu denken war. Jahr für Jahr hatte er auf die großen Ferien ge⸗ hofft, auf die Fußwanderungen, die er ins Gebirge hinein unternehmen wollte. Immer gab es Hinder⸗ niſſe. Er kam niemals über das Dorf hinaus. Allmählich hatte er ſich in ſein Los gefunden, wurde ein Dorfſchulmeiſter, wie die meiſten anderen es auch ſind. Weder verdroſſen noch heiter war er. Etwas Maſchinenmäßiges haftete ihm an. Dohm, Schwanenlieder. 225 15 Einmal im Jahre wurde er zu dem Gutsbeſitzer aufs Schloß geladen. Deſſen Töchterchen hatte er den erſten Unterricht erteilt. Er atmete immer auf, wenn das Diner vorüber war. Die Leutſeligkeit des Herrn Barons, die rauſchende Seide der anweſenden Damen, die vornehmen Diener, und daß er nicht wußte, was er reden ſollte — das alles war wie ein beklemmender Traum, aus dem man zu erwachen wüinſcht. Benjamin Heiling war ſo ſchüchtern, wie ein Menſch nur ſein kann. Sein Blick ſchweifte jetzt mit müder Gleichgültig⸗ keit über ſeine Wieſe, über ſein Feld. Es blühte pran⸗ gender Reife entgegen. Was ging es ihn an! Die Ernte ſchon gehörte ſeinem Nachfolger. Hätte er nur wenigſtens Häuschen und Feld bis an ſein Lebensende behalten dürfen. Hart, grauſam, daß man ihm beides nahm. Das war, als ſagte man ihm: Deine Friſt iſt abgelaufen. Geh! Stirb! Die Zukunft, die vor ihm lag, würde ſie nicht wie ein ſtilles, langſames Begräbnis ſein? Begräbnis! Er dachte an die, die von ihm gegan⸗ gen waren. An ſein Weib, die immer ſo in ſich gekehrt war, und immer ſo viel arbeitete, und die ſo ſtill ge⸗ ſtorben war, ohne Krankheit, ohne Klage. An der Nähmaſchine ſitzend, fand man ſie tot. Der beiden Kleinen, die, kaum daß ſie in die Welt geblickt, die Augen wieder ſchloſſen, gedachte er nicht. Auch die verheirateten Töchter ſtreifte ſein Ge⸗ denken nur flüchtig. Aber ſein lieber, träumeriſcher 226 Junge, der vor einem Jahr, neunzehnjährig, geſtorben war, an den ſaugten ſich ſeine Gedanken feſt. Der zarte Knabe hatte eine unübenwindliche Ab⸗ neigung gegen das Lernen gehabt. Nur Muſik war in ſeinem Kopf. Benjamin wußte keinen Weg zu ſeiner Ausbildung. Es gab wohl auch keinen. Alſo auch wieder Volksſchullehrer. Er fiel beim Präparandenexamen durch. Mit Mühe und Not ver⸗ ſchaffte der Vater ihm eine kleine Schreiberſtelle in der Stadt. Jeden Morgen um halb ſechs mußte der ſchwächliche Jüngling aus dem Hauſe fort, und ehe er die Eiſenbahn erreichte, noch eine weite Strecke laufen. Gegen ſechs Uhr abends kam er heim, todmüde, ver⸗ hungert. Und doch half er dann noch im Hauſe, machte das Holz klein, melkte die Ziege. Oft ſah Benjamin ihm mit feuchten Augen nach, wenn er des Morgens im Winter bei bitterer Kälte ſei⸗ nen Leidensweg antrat. An einem Tage kam er aufgeregt nach Hauſe. Eine Operngeſellſchaft war in der Stadt. Lohengrin wurde gegeben. Nur einmal, ein einzigesmal ſollte der Vater ihm erlauben, ins Theater zu gehen. Er flehte, als ob ſein Leben davon abhinge. Und der Vater gab die Erlaubnis und gab das Geld. Nach Mitternacht kam er heim. Noch ſah ihn Benjamin vor ſich, wie er an ſein Bett trat. Sein Schritt beinah tanzend, die Augen leuchtend, auf den Lippen ein verzücktes Lächeln. Am anderen Tage lag er fiebernd im Bett, Schmerzen in der Bruſt quälten 15* 227 ihn. Aber immer zitterten ſeine Lippen von einem leiſen Summen. Er wurde immer kränker. Und am dritten Tage ſagte er: „Fühlſt du nicht, Vater, daß ich ſterbe?“ Und er ſagte es wieder und wieder. Und Benjamin ſtreichelte ihn zärtlich und tröſtete ihn. Und er bettete ihn weich und legte ihm den Kopf zurecht und nahm die heiße Hand des Kranken in die ſeine. Seit zwei Nächten hatte er kein Auge geſchloſſen. Er ſchlief ein. Er erwachte von einer eiſigen Berüh⸗ rung. Die Hand, die die ſeine umklammert hielt, war kalt geworden. Sein Sohn war tot. Um ſeine Lippen noch ein leiſes Zittern, die offe⸗ nen Augen ſtarrten verzüickt. Ein Schluchzen ſtieg bei dieſer Erinnerung in Ben⸗ jamins Kehle auf. Er ſprang auf, in zornigem Schmerz. Und er ſtreckte abwehrend die Hände gegen ſein Haus aus, gegen ſein Feld, gegen die Gräber. Die Gebärde war wie eine Abſage — an wen? Gebückt ſchlich er heimwärts. Die Heimchen zirpten. Etwa eine Viertelſtunde vom Dorf entfernt ſtan⸗ den die Überreſte einer alten Burg. Ein alter Ka⸗ ſtellan, der ſie gelegentlich für ein kleines Entgelt Leuten aus der Stadt zeigte, bewohnte eins der noch gut erhaltenen Turmzimmer. Ein anderes hatte für einen geringen Preis Benjamin gemietet. Seine Pen⸗ ſion reichte gerade zum notdürftigſten Lebensunterhalt 228 aus. Die alte Magd des Kaſtellans genügte ſeinen geringen Anſprüchen an Bedienung. Seit einigen Wochen war er in dem Turmſtübchen inſtalliert. Vom Fenſter aus hatte er eine weite Schau ins Land. Da ſaß er oft ſtundenlang, müßig, und ſchaute und ſchaute und ſah doch eigentlich nichts. Stau⸗ nen und Unruhe waren in ihm, darüber, daß er nicht mehr zur Schule ging, nicht mehr auf dem Feld zu arbeiten brauchte. Sehnte er ſich nach der Schule zurück? Nein. Es war für ihn immer ein Aufatmen ge⸗ weſen, wenn die Glocke zwölf ſchlug. Nichts tun! War das auf die Dauer auszuhalten? Aber was hätte er tun ſollen? Er hatte ja nichts anderes gelernt, als was er ſeit 35 Jahren geübt. Er lief umher, planlos, ziellos. Er fing auch an zu leſen. Da waren noch ein Dutzend Bücher, die er nach und nach für ein paar Ifennige antiquariſch ge⸗ kauft, aber niemals geleſen hatte. Er las ſie jetzt. Mittelmäßige Bücher, naturwiſſenſchaftliche, hiſtoriſche. Er war bald damit fertig. Sie reizten ihn nicht, ſie zum zweitenmal zu leſen. Er ſaß wieder ſtill am Fenſter. Er hatte ja nach⸗ denken wollen. Es gab ſo viel, ſo unendlich viel, über das ſich denken ließ. Er war ſo entwöhnt vom Denken, und darum wanderten ſeine Gedanken — wie ſeine Füße auf den Spaziergängen — unſtet, ziellos umher. Aufgeſcheuchten Vögelchen gleich, die flattern, ſchwir⸗ 229 ren, durcheinanderwirbeln, will man ſie greifen, ſind ſie auf und davon. Und er ſagte ſich: Die Gehirnpar⸗ tikelchen, die zum Denken taugen, ſind bei dir ſteif ge⸗ worden, verhärtet. Und ſie werden nie wieder in Fluß kommen. Er vermied den Anblick ſeiner Wieſe, ſeines Fel⸗ des; auf ſeinen Spaziergängen ſchlug er immer die ent⸗ gegengeſetzte Richtung ein. Allmählich litt Benjamin unter der Einſamkeit. Mit dem orthodoxen Geiſtlichen des Ortes hatte er keine Fühlung. Inſtinktmäßig mieden ſich beide. Warum kam niemals eins der Kinder zu ihm, die er unterrichtet hatte. Er hätte ſie gern auf ihren Spiel⸗ plätzen aufgeſucht, er wußte aber, es würde ihnen nicht recht ſein. Es waren eigentlich nicht die Kinder, die er ſuchte, nur das Frohe, das Leben, die Freude, die von ihnen ausging. An einem Tage war er ganz in ihre Nähe ge⸗ kommen. Er hörte ihr lärmendes Lachen. Die Luft trug den Ton einer Flöte zu ihm hin; weich klagende Klänge. Wie Nachtigallenſchluchzen in Sperlings⸗ gezwitſcher tönten ſie in die kreiſchende Kinderluſt hinein. Der die Flöte blies, war ein blinder, bruſtkranker junger Menſch, ein Verwandter des Kaſtellans, den man zur Erholung aufs Land geſchickt hatte. Kurz nach beſtandenem Abiturium hatte er bei einem chemiſchen Experiment ſein Augenlicht verloren. 230 Benjamin hatte ſchon oft ſeinem Spiel gelauſcht. Er trat in den Hofraum der Burg, wo der Jüngling auf einem Liegeſtuhl, den Oberkörper halb aufgerichtet, ruhte. Als er aufhörte zu ſpielen, redeten ſie mitein⸗ ander. Die ſanfte Ergebenheit des jungen Menſchen in ſein Schickſal rührte Benjamin. Er ſagte es ihm. Der Jüngling lächelte: „Ich bin nicht immer blind; wenn ich ſpiele, ſehe ich. Schöneres kann nie⸗ mand ſehen. Nicht wahr, eine Fata Morgana iſt wun⸗ dervoll, und doch auch nichts Wirkliches, nur Vorge⸗ zaubertes. Je nach den Stücken, die ich ſpiele, ſehc ich herrliche Farben, roſenrote und tiefblaue. Ich ſehe ſtille Seen und weite Meere, und reizende Mädchen ſehe ich, roſenbekränzte, die einen Reigen tanzen, und eine unter ihnen iſt nackt — weil ſie von weißem Marmor iſt. Die trägt keine Roſen, aber ein goldenes Kreuz auf der Bruſt. Ich ſehe ſie oft. Zuweilen ſitzt ſie aut einem Grabe, das ganz voller Veilchen iſt, und ich bilde mir ein, es iſt mein Grab, und ſie weint um mich.“ Er ſann vor ſich hin, und dann ſagte er leiſe: „Und zuweilen ſehe ich Gott.“ Und nach einer langen Pauſe ſagte er wieder: „Ich höre an Ihrer Stimme, daß Sie traurig ſind, und auch weil Sie ſo oft zu mir kommen, weiß ich es. Sie ſollten auch das Flötenſpiel lernen. „Muß es die Flöte ſein?“ fragte Benjamin. „Ich weiß nichts anderes. Aber ganz aus dem Innern muß es kommen. 231 Plötzlich hatte Benjamin eine Eingebung, als ſpränge in ſeinem Gehirn ein verborgenes Fach auf. Mußte es die Flöte ſein? Könnte ihm nicht etwas anderes dasſelbe ſein, was dem Blinden die Flöte war? Hatte er nicht im Seminar als Halberwachſener eine Tragödie geſchrieben, die von ſeinen Mitſchülern maß⸗ los bewundert worden war? Freilich, der Direktor hatte ihm die Blätter um die Ohren geſchlagen, und er wäre beinah um dieſer „Allotria“ willen durchs Examen gefallen. Konnte nicht die Feder ſeine Flöte werden? Ja, er wollte ſchreiben — alles, was er ſah, dachte, empfand — er wollte es aufſchreiben. Aber er ſah ja nichts, er dachte nichts, er empfand nichts. Er wollte es doch verſuchen. „Mein letzter Ver⸗ ſuch,“ lächelte er matt. Seine Blicke ſchweiften über die Landſchaft. War es doch, als hätte ſchon ſein Entſchluß zu ſehen, Sehenswertes geſchaffen. Und er ſah, wie die Köpfe des Winterweizens in grünlichem Goldton ſchillerten, in rötlichem Gold die des Sommergetreides. Von weißen Blüten waren die Kartoffelfelder überſät. Zahlloſe Schmetterlinge flat⸗ terten darüber hin, aus den langen Gräſern der Wieſen guckten die kleinen, lieblichen Feldblümchen. Kühle Friſche umſchmeichelte ihn. War das nicht hübſch? Ja — es war ſehr hübſch. 232 Und war doch immer ſo geweſen. Er hatte nicht darauf geachtet. In all den Jahrzehnten hatte er die Natur nur in Beziehung zu ſeinem Landbeſitz gewertet. Die Sonne war da, um ſeine Früchte zu reifen, der Regen, ſie zu tränken. Die goldſchimmernden Ähren waren ſein Brot, das üppige Gras Ziegenfutter. Die lieben kleinen Feldblümchen — Unkraut. Nun hatte er keine Wieſe und kein Feld mehr. Die Natur war für ihn nicht mehr eine Ernährungs⸗ frage. Geſtern habe ich den Entſchluß gefaßt, zu ſchreiben. Heut in aller Frühe ſitze ich ſchon mit der Feder da und warte — warte. Ich bin beinah neugierig, was die Feder ſchreiben wird. Wer weiß, am Ende wird ſie zu einer Art Wünſchelrute, die aus meinem dürren Innern einen Quell herauslockt. Närriſch. Ich weiß recht gut, daß ich die Tinte nur wie Alkohol gebrauchen will, um die Dumpfheit abzuſchütteln, um den wirren Spazier⸗ gängen meines Gehirns ein Ziel zu geben. Alkohol berauſcht? Ach nein, ich müder, alter Mann bringe es zu keinem Rauſch mehr. Ich habe es in all den Wochen nicht herausge⸗ bracht, warum die Kinder in der Schule kein Herz zu mir faßten. Nun ſage du es mir, meine Feder — — Ich bin im Stübchen auf und ab gegangen. Ich habe ins Land geſchaut, am offenen Fenſter das Aroma der Wieſen geatmet, und es war, als ſöge ich damit Klarheit ein. 233 Ob wirklich in der Feder, in dem Schreibenwollen eine geheime Kraft liegt, eine herausziehende? Vor ſo vielen, vielen Jahren iſt das Uhrwerk meines Ge⸗ hirns ſtehen geblieben. Wird die Feder der Uhr⸗ ſchlüſſel ſein, der es aufzieht? Beinah habe ich es erfaßt, warum ich und die Kinder niemals zuſammenkamen. Rückwärts ſchauend, habe ich mich im Verkehr mit ihnen beobachtet, mich ausgeforſcht. Was fehlte mir? Herr des Himmels! Ich glaube, ziemlich alles was zu meiner Aufgabe gehörte, vor allem — die Seele und die Liebe. Ich unterrichtete, weil ich mit meiner Familie leben mußte. Ich tat alles ſo unperſönlich, als wäre ich gar nicht dabei. Das fühlen die Kinder. Der da vor ihnen ſtand und ihnen Leſen, Schreiben, das Ein⸗ maleins und die Bibelſprüche beibrachte, war der Herr Lehrer, nur der Herr Lehrer. So ein richtiger Menſch — nein. Der Herr Lehrer arbeitete im Schweiße ſeines Angeſichts ſein Penſum ab, gerade wie er es mit ſeinem Felde tat, und wie die Schulkinder atmete er auf, wenn die Arbeit getan war. Wäre es nicht eine ſchöne Auf⸗ gabe geweſen, den Gedanken⸗ und Gefühlskreis dieſer Naturgeſchöpfchen zu erhöhen, auf dies wilde Gewächs ein veredelndes Reis zu pfropfen? Gewiß! Gewiß! Aber es war nicht meine Aufgabe. Bin ich zum Lehrer, zum Erzieher geſchaffen? Nein! Dreimal nein. Volkserzieher klingt wunderſchön. Iſt es auch. 234 Wächft etwa der Volkserzieher wie Wegekraut — auf jedem Boden? Ich wußte nichts von Kinderſeelen. Die derben Inſtinkte dieſer Bauernkinder ſtießen mich ab, ihre oft ſchmutzigen Kleider, ihre gemeinen Gebärden und Worte erregten mir Widerwillen. Ein Charakterbildner, der ſelber charakterlos iſt. Ja, das bin ich, das war ich immer. Schon als Kind nannte man mich Duckmäuſer. Die Jungen riefen mir ſpottend: „Mädchen“ nach. Ich war ſchwächlich. Schlugen und zerrauften mich meine Kameraden, ich wehrte mich kaum. Ich empfand es wie ein Schickſal, das mich traf, etwa wie Donner und Blitz. Hinterher verkroch ich mich in einen Winkel und ſchmiedete Rachepläne, unerhörte, grau⸗ ſame. Bienen wollte ich einfangen, zahlloſe, und ſie dann im geeigneten Moment auf die Raufbolde los⸗ laſſen. Oder — den ſchlimmſten Buben, den, der mir ein Loch in den Kopf geſchlagen, den lockte ich in Ge⸗ danken auf einen Ameiſenhaufen, und Arme und Beine band ich ihm an einen Baumſtamm feſt. In meiner Phantaſie war ich ein Herkules. Und ich malte mir aus, wie ihm die Tiere in Naſe, Ohren, Mund krie⸗ chen würden, und ich erbebte vom Kopf bis zu den Füßen in grauſigem Entzücken. Schließlich aber iden⸗ tifizierte ich mich mit dem Gemarterten, und ich war es ſelbſt, der das Ameiſenabenteuer erlitt. Und ſah ich dann meinen Peiniger wieder, ſo war ich froh, daß er vergnüglich lebte und mich weiter knuffte. 235 Ich erinnere mich dunkel: in den erſten Jahren meiner Lehrtätigkeit ſuchte ich wohl Fühlung mit den Kindern und ihren Eltern. — Von den Eltern erfuhr ich faſt ausnahmslos grobe Zurückweiſungen, wenn ich ſie auf äußere oder innere Unſauberkeiten ihrer Kinder aufmerkſam machte. Immer war der Refrain: „Das geht den Herrn Lehrer nichts an.“ Die Eltern führten ſogar Klage über mich. Ich hielte die Kinder nicht in Zucht. Sie verwilderten. Und da alle Kolle⸗ gen, die ich jemals ſprach, die Meinung dieſer zärt⸗ lichen Eltern, daß ohne Stock mit den Kindern nicht auszukommen ſei, teilten, ſo fügte ich mich. Ab und zu prügelte ich; aber immer mit dem Gefühl hinter⸗ her, als müßte ich mir und den Kindern etwas ab⸗ bitten. Ein Gefühl, in das ſich ein leiſer Ekel miſchte. Mehr als einmal hätte ich Eltern anzeigen müſſen, die ihre Kinder ſträflich vernachläſſigten oder ſie gar mißhandelten. Ich unterließ es; häßliche Szenen fürchtete ich wie das Feuer. Zu ſehr hatte ich in mei⸗ nen Knabenjahren unter ſolchen Szenen gelitten. So empfindlich war ich dagegen, daß ſchon ein grobes Wort, eine zornige Gebärde mich erſchreckte. Nun, da ſie beide tot ſind — mein Vater und meine Mutter — denke ich an ſie mit erbarmender Liebe. Warum wurde er — mein Vater — ein Trinker? Niemand weiß es. Vielleicht war er krank. Vorher war er ſo tüchtig geweſen, der Herr Rektor Heiling. Schließlich wurde er ſeines Amtes entſetzt, mit 236 einer kleinen Penſion und dem Verſprechen einer Frei⸗ ſtelle im Seminar für ſeinen Sohn. Meine Mutter — ſie hatte ſo gut und friedlich mit ihm gelebt, bis er anfing zu trinken. Dann wurde ſie allmählich heftig, böſe. Szene auf Szene. Der ſchreckliche Vorgang, kurz vor dem Tode meines Vaters, hat ſich unauslöſchlich in mein Herz gebrannt. Weihnachten war vor der Tür. Der Vater war in ſich gegangen. Seit 14 Tagen hatte er nicht getrunken. Er wollte es nie mehr. In der Hoffnungsfreudigkeit ihres Herzens be⸗ ſchloß die Mutter, den Chriſtabend ſo feſtlich wie mög⸗ lich zu geſtalten. Alles, was ſie in den letzten Jahren geſpart, gab ſie dafür hin. Ich ſehe noch den großen Ausziehtiſch mit dem ſchneeweißen Tiſchtuch. In der Mitte der Chriſtbaum, glitzernd und flimmernd von allerhand Behängen. Kleine Geſchenke, ſorgfältig ver⸗ deckt, lagen um den Chriſtbaum herum, am ſorg⸗ fältigſten eingewickelt mein Geſchenk für die Mutter, das koſtbarſte Geſchenk, das ich jemals in meinem Leben einem Menſchen gemacht habe. Die Mutter hatte ſich lange, beinah leidenſchaftlich, ein beſtimmtes Kochbuch gewünſcht. Der Preis war ihr zu hoch. Ich hatte mir das Buch von der Gattin des Oberlehrers geborgt und es in ſeinen Hauptteilen mit meiner ſchönſten Handſchrift abgeſchrieben. Monate hatte ich zu der mühſeligen Arbeit gebraucht, halbe Nächte zur Hilfe nehmen müſſen. Ich wußte, meine Mutter würde ſich unſinnig darüber freuen. 237 Das Hauptgeſchenk für uns Kinder — ein Schlit⸗ ten — fehlte noch. Der Schreiner hatte ihn bis Mit⸗ tag nicht abgeliefert. Der Vater ging, ihn zu holen. Er kam nicht wieder. Die Mutter lief zum Schrei⸗ ner. Vor Stunden ſchon war der Vater dort geweſen. Den Schlitten hatte man ihm ausgeliefert. Als die Mutter zurückkam, ſang ſie grell und laut ein luſtiges Lied. Sie ſang es mit verzerrten Lippen und mit umherirrenden, drohenden Augen. Ich ver⸗ ſtand, daß ſie es tat, wie ein verirrter Wanderer in dunkler Nacht ſingt, um ſeine Furcht zu übertäuben. Mit einemmal unterbrach ſie ſich: „Ich zünde die Lichter an, dann kommt er, dann kommt er!¹ Langſam, langſam, mit zitternden Händen ziin⸗ dete ſie ein Licht nach dem anderen an. Als ſie bei dem letzten war, da kam er wirklich — unſer Vater. Sinn⸗ los betrunken wie noch nie. Und den Schlitten hatte er auch vertrunken. Mit Grauſen ſahen wir, wie die Mutter ihre ge⸗ ballte Fauſt gegen das Geſicht des Vaters erhob. — Sie ſchlug nicht zu. Aber ſie ergriff den brennenden Chriſtbaum und ſchleuderte ihn durch das Fenſter, hin⸗ aus in den Schnee; die kleinen Geſchenke flogen nach und auch mein Buch — mein Buch! Und in der näch⸗ ſten Minute ſchlugen praſſelnd die Flammen an dem Baum empor, und in Rauch und Feuer ging unſer Weihnachtsfeſt auf. Und mein Buch! Ich lief fort, hinaus aus dem Hauſe, weiter, weiter. Ich wollte ſterben. Wie konnte ich danach 238 noch leben! Nahe dem Kirchhof war ein Teich, groß wie ein kleiner See. Da hinein wollte ich. Meine Mutter noch böſer als der Vater! Das Gerechtigkeitsgefühl des Kindes empörte ſich dagegen, daß ſie uns Kinder ſo furchtbar ſtrafte, weil der Vater unrecht getan. Ich kam an die Kirchhofsmauer. Im matten Mondlicht ſchimmerten die bläulich weißen Mauern wie Marmorwände, geſpenſtiſch; geſpenſtiſch auch der rieſenhafte kahle Baum an der Mauer. Der glatte Teich funkelte im Mondlicht wie das ſterbende Auge eines Raubtiers. Ich ſprang hinab. Der Teich war zugefroren. Ich wollte auch erfrieren. Ich nahm mir vor: Wenn die Glocke zwölf ſchlägt, biſt du tot. Es begann zu ſchneien. Weiche, große Flocken rieſelten langſam auf mich nieder. Ich hatte die ſelt⸗ ſame Empfindung — nicht, daß ich dieſe Situation ſchon einmal erlebt, ſondern daß ich ſie noch einmal erleben würde. Ich war wohl ſchon halb erfroren, als mich plötz⸗ lich die Viſion des brennenden Weihnachtsbaums auf⸗ ſchreckte. Wie das Feuer mit glühenden Füßen über den Schnee lief und die Weiße des Schnees wie mit Roſen beſtreute. Und wie die Rauchſäule, vom Mond durchſchimmert, ſich wie eine ſilberne Schlange empor⸗ reckte — war das nicht ſchön geweſen! Und meine Mutter, ſah ſie nicht wie eine wilde, ſchöne Furie aus mit der Feuerfackel in der Hand! 239 Der Baum würde noch brennen, ich mußte das noch einmal ſehen. Ich taumelte halb bewußtlos nach Hauſe. Der Baum brannte nicht mehr. Ich wurde ganz bewußtlos. Wochenlang lag ich im Fieber. Als ich wieder zu mir kam, war der Vater ſchon begraben. Ich möchte wieder leſen, aber tiefere, beſſere Bücher als die, die ich ſchon geleſen habe. Ob ich an Erika ſchreibe, ſie bitte, mir Bücher zu ſchicken? Ich laſſe es lieber. Es würde ihr Umſtände machen. Sie würde mir auch nicht die rechten Bücher ſchicken. Ich habe ja auch kein Geld, ſie zu bezahlen. In einem Winkel des Burghofes ſproſſen aller⸗ hand Pflanzen. Ich betrachte oft lange und aufmerk⸗ ſam die Blätter der einen Pflanze. Ganz wunderſam erſchienen mir dieſe Blätter und Blättchen, die unter⸗ einander ſo verſchieden waren. Einige von roſigem Rot mit bräunlichen Rändern, andere von ſanfter Pur⸗ purfarbe. Wieder andere zartgeſprenkelt, maigrün mit rötlichen Tupfen. Bei einigen iſt die Mittelrippe blut⸗ rot. Und wie fein und zierlich die Auszackung der Blätter, als hätte der liebe Gott ſich beſonders damit bemüht. Jedes einzelne Blatt ein kleines Wunder an Schönheit. Und über all den Blättern ein ſamtner Flaum. Die Konifere, um die herum die Pflanzen ſich gruppieren, hat noch leuchtend friſchgrüne Spitzen. Und in jedem Jahr wird ſie neue haben, und immer 240 höher wird ſie wachſen, ſie wird nie aufhören zu wachſen. O du ſtolzer, beneidenswerter, hochſtrebender Baum! Warum habe ich früher ſo gleichgültig über all das hinweggeſehen? Haben meine Augen geſchlafen, und erwachen ſie nun allmählich? So wird es ſein. Unbewußt aber haben die Augen, was ſie Reizvolles ſahen, weitergegeben dem Gedächt⸗ nis, der Seele in Gewahrſam. Nun taucht ein lieb⸗ liches Bild nach dem anderen aus ſeinem Verſteck her⸗ vor. Mein armes Dörfchen mit ſeinem Überreichtun an Kirſchen und Roſen gehört dazu. Unſere Kirſchbäume wachſen hoch und ſtark wie Buchen und Linden. In die Fenſter der kleinſten Hütte lachen ſie hinein, die roten Kirſchen! Die Chauſſeen ſind damit eingefaßt. Zur Zeit der Kir⸗ ſchenernte ſchlagen ſich die Pächter auf Grasplätzen, in der Nähe ihrer Bäume, Holzbuden zuſammen. Nachts ſchlafen ſie darin. Ihr Eſſen kochen ſie im Freien. Vor den Hüttchen ſtehen primitive Bänke für die Gäſte, die die gekauften Kirſchen gleich an Ort und Stelle ver⸗ zehren. Ein buntes, luſtiges Treiben entwickelt ſich da, und ſpät abends leuchtet anheimelnd über die ein⸗ ſamen Wieſen das Licht aus den Hütten. Und immer ging ich an dieſen Wieſen entlang, un⸗ bewußt von dem ſanften Reiz der Szenerie hinge⸗ zogen. 241 Dohm, Schwanenlieder. 16 Und beinah ſo viel Roſen wie Kirſchen hat mein Dörfchen, ſind es auch zum Teil nur Wildroſen. Ein ſüßes, blühendes Gekoſe und Geſchlinge um kahle Baumſtämme, um ſchmutzige Scheunen, morſches Ge⸗ mäuer. In alle Ritzen dringen ſie ein, ſie klettern an den Wänden der Hütten auf, ranken ſich an den Tele⸗ graphenſtangen empor. Nie pflückte ich eine Roſe, nie ſtand in meinem Zimmer eine Vaſe mit Roſen. Nie trug Marie eine Roſe im Haar. Unſer älteſtes Töchterchen aber hatte ſie Roſe genannt, Erika die kleinere. Sie ſtellte ſich ſo gern die Kinder als Blumen vor — das ſagte ſie. Meine Kinder! So liebliche Szenen führten ſie auf, ſo rührend naive Ausſprüche taten ſie. Mein kleiner Liebling, mein Luz! Der hatte an einem Weihnachtsabend ein Chriſtbäumchen auch für unſer Hündchen zurechtgemacht, und ein Würſtchen hatte er daran gehängt. Und als er einmal mit einer Halsentzündung im Bett lag, da mußte ihm Roſe immer dieſelbe Geſchichte vorleſen, die vom großen und vom kleinen Klaus; wenn ſie aber an die Stelle kam, wo der große Klaus ſeine Großmutter totſchlägt, dann ſagte er: „Lies das leiſe für dich.“ Und erſt wenn die Großmutter tot war, durfte ſie weiterleſen. Roſe, die älteſte, war wohl das klügſte meiner Kinder. Ich hatte einmal vor langer Zeit Rouſſeaus „Emil“ geleſen. Ich hatte wenig davon behalten, nur das eine, daß der Erzieher, wenn ſein Zögling unrecht 242 tat, ihn nicht anders beſtrafte, als daß er ihn unter den Folgen ſeiner Unart leiden ließ. Ich erklärte das meiner Roſe: z. B. Emil hat mit Abſicht die Fenſter⸗ ſcheiben ſeines Zimmers zerbrochen. Da muß er nun in der argen Kälte, die durch die ſcheibenloſen Fenſter eindringt, bitter frieren. „Vater, das ſtimmt nicht,“ ſagt meine Roſe. „Weißt du noch, wie die Mutter einmal für dich eine Schüſſel köſtlicher Erdbeeren beiſeite geſtellt hatte? Ich konnte nicht widerſtehen, und ich habe ſie fortge⸗ naſcht. Sie ſchmeckten prachtvoll und ſind mir herr⸗ lich bekommen, und wer keine Erdbeeren kriegte — das warſt du.“ — „Es ſcheint, du biſt klüger als ich, Roſe.“ „Das macht, weil du ſchon ſo alt biſt,“ ſagte Roſe ernſthaft. Und ich lachte, weil ich noch ſo jung war — da⸗ mals. Meine Frau war krank. Sie hatte Rheumatis⸗ mus im Achſelgelenk. Sie konnte die Arme nicht be⸗ wegen. Die derbe, ungeſchickte Art der Bauersfrau, die die grobe Arbeit im Hauſe tat, machte ihr Pein. Roſe — ſie war wohl kaum neun Jahr alt — merkte es. Sie beriet mit den Geſchwiſtern, und ſie kamen überein, ſie wollten die Mutter ganz allein pflegen. Und die Kinder trugen ein Tiſchchen vor das Bett und holten Teller, Meſſer und Gabel herbei. Und ſie trip⸗ pelten hin und her — um ſacht zu gehen, hatten ſie ſich die Stiefelchen ausgezogen — und ſie redeten leiſe 16* 243 untereinander und mit der Mutter, und Roſe ſchnitt Brot und Fleiſch in kleine Sticke; Erika fütterte die Mutter, und der kleine Luz kniete vor dem Bett und mußte koſten, ob die Suppe nicht zu heiß war. Und dann trugen ſie wieder trippelnd und flii⸗ ſternd alles fort. Erika war einmal zwiſchen dem Eſſen aufs Bett der Mutter geſprungen und hatte ſich zärtlich an ſie geſchmiegt: „Biſt du ſehr krank, Mutti? „Id.“ „Ich habe dich ſo lieb, ſo lieb, weißt, wenn di ſtirbſt, Muttchen, dann laß ich dich ausſtopfen. Und wieder frage ich mich, warum empfand ich kaum die Holdſeligkeit dieſer Kinder — meiner Kinder? War die Verdroſſenheit und Monotonie meiner ganzen Exiſtenz daran ſchuld? War es Stumpfheit? War Trotz dabei? Wie mir der Zufall zu Hilfe gekommen iſt! Ich bin ihm ſo dankbar. Ich begegnete zuweilen auf meinen Spaziergän⸗ gen dem jungen Schloßfräulein zu Pferde. Gar freundlich grüßt ſie immer. Sie iſt ein raſches, luſti⸗ ges Fräulein. Geſtern ritt ſie ganz dicht an mir vorüber. Sie hielt ihr Pferd an und fragte, wie mir mein wohlver⸗ dienter Feierabend bekäme? Da faßte ich mir ein Herz; ich habe ihr geſagt, daß 244 ich ſo gern leſen möchte, ſo recht tiefe Sachen, aber ich hätte keine Bücher und wüßte niemand, der ſie mir leihen könnte. Sie hat gelacht. Sie verſtände meine Anſpielung. Und dabei ſah ſie mich ſonderbar forſchend an und ſagte dann: „Wiſſen Sie, Benjamin Heiling, Sie ſehen ſo recht wie ein alter Dichterphiloſoph aus. Die Bücher ſollen Sie haben.“ Ihre letzte Gouvernante ſei in Berlin unter die Emanzipierten geraten. Die hätte ihr kürzlich einen Packen Bücher geſchickt, die alle fabelhaft bedeutend ſein ſollten. Ihre braven Eltern hätten ihr die Lektüre der Biicher verboten, natürlich ohne ſie zu kennen. Der Papa aus Angſt vor was Sozialdemokratiſchem, die Mama aus Angſt vor etwas wie „Freie Liebe“. „Leſen Sie die Bücher, Benjamin Heiling, und ſagen Sie mir dann, ob Dinge darin ſtehen, die ge⸗ eignet ſind, eine jungfräuliche Seele zu knicken und die Mutter künftiger Agrarier zu kompromittieren. Damit ritt ſie davon, hielt aber in einiger Ent⸗ fernung ihr Pferd noch einmal an und rief zurück: „Ich gratuliere Ihnen auch zu der Verſetzung Ihres Schwiegerſohnes nach Berlin. Sie ſollten Ihre Toch⸗ ter einmal beſuchen, ein bißchen Großſtadtluft atmen. Ob die Baroneſſe ihr Verſprechen halten wird? Heut', als ich in meinem Schreibtiſch etwas ſuchte, fiel mir ein kleines Papierpaket in die Hand. Mit einem weißen Bändchen war es zugebunden. Ich habe 245 mich eine Weile beſinnen müſſen, ehe mir einfiel, was das für ein Paketchen war. Marie hatte es mir einſt⸗ mals übergeben: wenn ſie geſtorben wäre, möchte ich es ihr in den Sarg legen. Ich hatte es verſprochen und — vergeſſen. Ich kann die häßliche Pietätloſigkeit nicht wieder gut machen. So wollte ich nun wenigſtens die Papiere ungeleſen verbrennen. Als ich das Bändchen löſte, fiel ein Blatt zu Boden. Zu meinem Erſtaunen erkannte ich meine eigene Handſchrift. Ich nahm die Blätter auseinander. Nichts als meine eigenen Verſe, die ich in der Verlobungszeit meiner Braut gewidmet. „An Maja“ ſtand darüber. Maja, ſo hieß ſie ja eigentlich. Der Geiſtliche bei der Trauung meinte aber, das ſei ein exotiſcher Name, auf deutſch hieße es Marie. Im Anfang nannte ich ſie noch oft Maja, ſpäter nie mehr. Ich habe die Gedichte nicht verbrannt. Ich will ſie noch einmal leſen. Und du wollteſt ſie mit ins Grab nehmen, Maja, Marie!? Ich komme vom Marienhügel. Ich habe lange intenſiv an Marie gedacht. Nicht nur ihr Bild, ihr ganzes Sein habe ich mir zurückgerufen. Auf dieſem Hügel habe ich ſie zum erſtenmal ge⸗ ſehen. Er iſt ganz mit Hafergras bedeckt. Bräunlich, weich iſt es wie ein zartes Fell; wenn der Wind dar⸗ 246 überſtreift, ſieht es aus, als wenn er es liebkoſend zauſte. Die Kräuter und Büſchchen in den wogenden Ähren ſind wie grüne Schleifen in einem Gewand von mattem bräunlichen Gold. Auf einem Stein, ein Tuch unter dem Kopf, mitten im Gras lag ſie und — ſchlief. Es war, als wenn der Duft der Lupinen, der vom Feld her kam, von ihr aus⸗ ginge. Als ſie ihre Augen, die wie blaſſe Vergißmeinnicht waren, aufſchlug, verliebte ich mich gleich in ſie. Unter Weib hatte ich mir immer etwas ganz Be⸗ ſtimmtes gedacht. Ein Weſen, das flink und friſch in Haus und Garten herumwirtſchaftet, für den Gatten und die Kinder ſorgt, das Haus blank und rein hält. An Wochentagen mit einer Schürze, Sonntags mit dem Gebetbuch zur Kirche gehend. Wie wenig entſprach das Äußere meiner Frau dieſer Vorſtellung. Mit den ſtrengen Konturen ihres ſchmalen Geſichts glich ſie einem Bild von Holbein. Ihre Geſichtsfarbe war wie leiſe getönter Marmor. Die feinen, ſchwachen Augenbrauen über den matten Vergißmeinnichtaugen waren etwas zu hoch gewölbt. Ein leichter Goldſchim⸗ mer lag über dem dünnen Haar. Ganz unwirklich erſchien ſie mir, nur wie ein Echo von etwas ſehr Schönem. Daß ſie meiner Vorſtellung vom Weibe durch ihre Lebensweiſe entſprach, dafür ſorgten unſere engen Ver⸗ hältniſſe. Marie arbeitete den ganzen Tag. Und ſo 247 geſchickt war ſie. Ihre Kleider fertigte ſie ſelber an Immer waren ſie von demſelben Schnitt und von der⸗ ſelben Farbe. Eine Art Hänger von weißlicher Farbe, in der Taille leicht zuſammengezogen. Einmal aber ſagte ſie: „Ich möchte ein Kleid haben von weißer Seide, mit langer Schleppe, und ganz mit Perlen müßte es beſtickt ſein.“ Sie hatte eine wahre Paſſion für die weiße Farbe. Die Wände ihres Stübchens hatte ich, weil ſie mich darum bat, weiß ſtreichen laſſen, auch die Möbel. An den Wänden hingen ein paar Heiligenbilder und ein Kruzifix. Im Gemüt war ſie Katholikin. Sie hatte in die Ehe nichts mitgebracht als einen Holzkäfig mit zwei weißen Tauben. Die weißen Tau⸗ ben flatterten frei im Stübchen umher. Das hölzerne Bauer aber mußte draußen bleiben, weil es häßlich ausſah, ſagte ſie. Ließ ſich zufällig eine der Tauben auf dem Kruzifix nieder, ſo faltete ſie unwillkürlich die Hände. Ich ſah ſie leiſe erſchauern. An den Fenſtern hingen lange, faltige, weiße Gardinen. Faſt immer waren ſie zugezogen. Und Sommer und Winter ſtand ein Strauß blaſſer Vergiß⸗ meinnicht im Zimmer. Im Winter künſtliche, die machte ſie ſelber mit ihren Feenhänden ſo fein und reizend, daß ſie von wirklichen nicht zu unterſcheiden waren. Wenn die Sonne durch die Fenſter flutete, ruhte ein flimmernder, weißgoldiger Schimmer auf dem Stübchen, ſo daß ich, wenn ich eintrat, überraſcht ſtehen 248 blieb, mit dem Gefühl, als paſſe ich da mit meinem dunklen, abgetragenen Rock nicht hinein, als wäre ich zu ſchwer für dieſe ſchimmernd weiße, zarte Welt einer Traumprinzeſſin. Vielleicht war Marie zu weiß für mich. Etwas rot hätte in die Farbloſigkeit meiner Exiſtenz einen froheren Ton gebracht. Eine ſtille, ſtille Frau war ſie. Gleitendes, Schattenhaftes, Zagtaſtendes war in ihrer Art. Wenn Marie ab und zu auf Stunden aus dem Hauſe verſchwand, ſo konnte man ſicher ſein, ſie auf dem Marienhügel zu finden. Da ſang ſie auch oft, ſie ſang Lieder, die nie jemand gehört. Sie hatten etwas ſo Verſchollenes, als kämen ſie aus einer Meerestiefe heraus — — Sehnſuchtsruf einer Seejungfrau. Und dieſes fremdartige Weſen wurde faſt eine Magd. Ich ſah ſie am Waſchfaß ſtehen, ich ſah ſie mit dem Beſen in der Hand, am Plättbrett, am Küichen⸗ herd. Wie ſie mir in dieſen Hantierungen, in dieſem Widerſpruch zwiſchen ihrem Tun und ihrem Sein miß⸗ fiel! Ich konnte den Eindruck nicht los werden, als hätte ſie mir damit ein Unrecht getan. Vielleicht ver⸗ gaß ich ſie darum ſo bald. Sie hörte auf, Maja zu ſein. Sie wurde Maric. Nun wird ſie in meiner Erinnerung wieder Maja. Und ich redete mit ihr in Gedanken. Hatte ich nicht angefangen, dich zu lieben, Maja? Erſchienſt du mir nicht wie eine Traumprinzeſſin? Warum haſt du mich ſo enttäuſcht? 249 Und Maja antwortete: „Dein Haus ſollte rein und fein ſein, und deine Kinder auch. „Warum, Maja, beſtandeſt du darauf, daß der kleine Luz mir ſo ſprechend ähnlich ſehen ſollte, da er doch ganz und gar dir glich? Und warum wurdeſt du böſe, wenn die Leute die Ähnlichkeit mit mir be⸗ ſtritten?“ Und du ſagſt: „Der kleine Luz war doch dein Liebling.“ „Und weißt du noch, Maja, wie ich dich einmal auf dem Hügel traf? Du ſtandeſt hoch aufgerichtet und riefſt hinaus in die Luft: Benjamin Heiling! „Wegen des Echos — ſagſt du. — Ich habe das Echo ſo gern. Es klingt ſo klagend, ſehnſuchtsvoll, wenn es Benjamin Heiling ruft — ich meinte, dann müßteſt du kommen.“ Allmählich war Marie blaſſer und dünner ge⸗ worden. Ihre mattroſa Lippen wurden faſt weiß. Ihre Augen umrandeten ſich rötlich, wie von vergoſſe⸗ nen Tränen. Wenn ich an ihre letzte Lebenszeit denke, iſt mir's, als hätte ſie im Haar einen weißen Ver⸗ gißmeinnichtkranz getragen. Ein Bild verklungener Erinnerungen, oder eine Muſik, die in dämmernde Fernen ſich verliert — ſo war ſie. Sie ſtarb ſo leiſe, wie eine Blume verblüht. Als der nächſte Frühling kam, meinte ich, ſie müßte auch wieder kommen und wieder blühen. Doch das alles empfinde ich eigentlich erſt nach⸗ 250 träglich. Solange ſie da war, dachte ich über ſie hin⸗ weg. — Das Schloßfräulein hat mir die Bücher geſchickt, zumeiſt wiſſenſchaftliche, aber auch Dichtungen. Seit drei Monaten keine Zeile geſchrieben. Keine Zeit — keine Zeit! Immer nur geleſen habe ich — geleſen! Mein Kopf ſchmerzt. Meine Nerven zittern. Ich bin in einer ungeheuren Aufregung. Ich muß wieder ſchreiben, ſonſt erſtickt's mich. Was für Bücher! Was für Büicher! Biicher wie Fanfaren, die meine verſchlafene Seele aus verborgenen Tiefen emporgeriſſen haben. Büicher wie Lerchenjubel aus blauer Höhe. Bücher, den Ge⸗ hirnen geiſtiger Athleten entſprungen, die mit einem salto mortale über Himmel und Hölle hinweg ſich in das Herz des Alls bohren. Ihr Großen, ihr Erlauchten — in glühender An⸗ dacht erhebe ich meine Hände zu euch. Noch kann ich euch nicht faſſen. Über mir ſchwebt ihr, wie Geiſter in der Luft. Wie ſolltet ihr auch gleich zu mir herab⸗ ſteigen, zu mir, deſſen ganze Bildung in auswendig gelernten Katechismen und Leitfäden beſteht. Verhungert war ich, verhungert. Nun ſchlinge ich im Heißhunger in mich hinein alles, was ſich mir bietet, wie ein Raubvogel auf Beute ſchießt. Ich nehme bald das eine, bald das andere Buch zur Hand. Keines habe ich noch zu Ende geleſen. 251 Zu viel dringt auf mich ein und von allen Seiten. Ihr Weiſen, ihr Verwegenen, ihr Klaſſiker der Wiſſenſchaft und ihr funkelnd Neuen, ihr reicht mir volle Schalen, und ich trinke — trinke, ich berauſche mich in Nektar. Mir iſt, als ſtände ich in der Morgenfrühe in einer Landſchaft, die mit Nebeln verhüllt iſt. Die Sonne trifft den Nebel — ein Schleier nach dem anderen ſinkt. Auch von meinem Gehirn. Worte, Bilder, ſubtile und ſtarke, die nie zuvor mir eingefallen, ſie kommen zu mir — hohe Fremdlinge in armer Hütte. Neue Naturgeſetze entſchleiern ſich mir, neue Ge⸗ ſellſchaftsgeſtaltungen, neue Frauen, neue Religionen. Auf allen Gebieten Revolution. Was bisher für Wahr⸗ heit galt, iſt Irrtum geworden. Ich taumle zwiſchen erhabenen Empfindungen und Verzweiflung, eine Verzweiflung, die mit Selig⸗ keit gemiſcht iſt. Seligkeit, weil ich wie auf einer Him⸗ melsleiter mich aufwärts ſchweben fühle. Ver⸗ zweiflung, weil der Stufen zu viele ſind — zu viele! Vor Aufregung kann ich nachts nicht einſchlafen. Aber ich will, ich muß ſchlafen, ſonſt kann ich am ande⸗ ren Tag nicht leſen, nicht denken. Fühle ich mich un⸗ wohl, ſo kommt eine ſchreckliche Angſt über mich. Ich darf nicht krank werden. Keine Minute iſt zu ver⸗ lieren, keine einzige. Ich laufe im Sturmſchritt täg⸗ lich meinen Spaziergang ab, um ein möglichſt geringes 252 Quantum Zeit für meine körperliche Krafterhaltung zu verbrauchen. O, hätte ich die Spannkraft der Jugend. Ich brauche ſie nicht! Ich brauche ſie nicht! Nie war ein Jüngling ſo begeiſtert wie ich, nie hatte er einen ſo unbeirrbaren, heißen Willen, nie eine ſo lei⸗ denſchaftliche Liebe zum Wiſſen. Meine Intelligenz hat ſo lange Jahre geſchlafen. Nun iſt ſie ausgeruht, jung, kraftvoll. Ich höre Quellen rauſchen — weitab — weitab. Ich finde ſie auf. Vorwärts! Vorwärts! Benjamin Heiling! Du wirſt in einem Jahr erreichen, wozu andere ein Jahr⸗ zehnt brauchen. Mein werden alle großen Gedanken ſein, die ge⸗ dacht worden ſind, mein alle hohen Gefühle, die wie purpurnes Blut durch das Herz der Welt rinnen. Wenn ich jetzt auf meinen Spaziergängen das Schloßfräulein von weitem ſehe, ſo biege ich in einen Seitenweg ein. Ich mag nicht mit ihr reden. Wie könnte ſie auch meinen inneren Aufruhr verſtehen. Geſtern war die Begegnung nicht zu vermeiden. Sie ritt mir quer über den Weg. Wie mir die Bücher gefallen haben, fragte ſie gleich. Freilich, ſetzte ſie hinzu, die alten philoſophi⸗ ſchen Herren wie Kant, Fichte, Schelling, die würde ich ja längſt gekannt haben. 253 Nein, ſagte ich, ich kannte ſie nicht, nur ihre Namen. Ich habe ja nicht einmal Goethe geleſen. Und ſie fragte noch einmal, wie mir die Bücher gefallen hätten. Abſurd ſchien mir die Frage. Verwirrtes habe ich ihr wohl geantwortet. Ich hörte mich reden von Totenglocken, die in dieſen Büchern untergehenden Welten läuten, von flammen⸗ den Morgenröten, die unter Donner und Blitz dunklen Nächten entſteigen, und Ähnliches. Plötzlich ſtürzten mir Tränen aus den Augen. Ich wendete mich ab. Ich hörte ſie im Galopp davon⸗ jagen. Ich habe meine Gedichte an Maja geleſen. Mein Gedächtnis wußte nicht mehr von ihnen. Wie ganz fremde Gedichte las ich ſie. Eine Stunde des Rauſches war es. Ich habe die Verſe an meine Lippen gedrückt. Ich habe mich in meine Lieder verliebt. Und es jubelt in mir: „Ben⸗ jamin Heiling, du biſt ein Dichter! Und du, Maja! O Maja, das Schickſal hatte uns beide verkleidet. Darum erkannten wir uns nicht, und gehörten doch im Innerſten zuſammen. Du frei⸗ lich, du haſt mich geahnt. Du wollteſt ja meine Ge⸗ dichte mit ins Grab nehmen. Zwei Geheimniſſe, gin⸗ gen wir aneinander vorüber. Nun weiß ich's, was für ein Geheimnis deine Seele barg. Du warſt eine Künſt⸗ lerin. Die Schönheit war dein Beruf. Eine zarte, 254 ſchattenhafte Schönheit: Roſige Abendwolken, die im dunklen Weiher ſich ſpiegeln, Tau der Nacht, in dem die Strahlen des Mondes ſich brechen. Erika hat mich nach Berlin eingeladen. Ich gehe zu ihr. Dem Schloßfräulein habe ich die Bücher zu⸗ rückgebracht. In den öffentlichen Bibliotheken in Berlin kann ich ſo viel Bücher haben, wie ich will. Sie hat mir eine Empfehlung an ihre emanzipierte Gou⸗ vernante gegeben. Sie iſt Volksſchullehrerin und zu⸗ gleich Schriftſtellerin. In Berlin! Ich weiß es jetzt, ich habe es herausgebracht, das Schloßfräulein hat an Erika geſchrieben, darum hat ſie mich eingeladen. Sie ſind ſo gütig zu mir, Erika und ihr Mann, als wäre ich ein Kranker oder ein Greis. Ihre zwei erwachſenen Kinder ſind nicht im Hauſe. Das nachgeborene Söhnchen Benjamin iſt erſt fünf Jahre alt. Eine liebliche Frau iſt meine Erika. Still, wie ihre Mutter es war, nur nicht ſo fremdartig. Etwas Bibliſches iſt in der Art, wie ſie ihrem Mann unter⸗ tan iſt, zu ihm — dem Herrn — aufſieht. Er iſt vom Scheitel bis zur Sohle preußiſcher Be⸗ amter. Er iſt es mit Stolz. Daß er vom Subaltern⸗ beamten zum Poſtrat aufgeſtiegen iſt, ſchreibt er ſeiner unwandelbaren Pflichttreue, ſeinem unbeirrbaren Ernſt zu. Nie iſt er auch nur 5 Minuten zu ſpät ins Amt 255 gekommen, nie hat er einem Verein angehört, und jed⸗ wede Umſturzbeſtrebung — wozu er auch den religiö⸗ ſen Freiſinn und die Frauenbewegung zählt — hat er unnachſichtig verurteilt. Mit mir iſt er außerordentlich korrekt, ſehr höflich. Und doch — ich fühle es — in ſeiner Vorſtellung bin ich nicht der Vater ſeiner Frau, nur ſein Schwieger⸗ vater, der in ſeinem Hauſe weiter keinen Zweck hat. Ich zähle für ihn nicht. Er hört nicht auf das, was ich ſage. Er hält wohl die Fortexiſtenz eines vom preußi⸗ ſchen Staat wegen Unbrauchbarkeit Penſionierten für inkorrekt! Ich meine, man geht mit mir etwas zu rückſichts⸗ voll um. „Benjamin“ — ſagt der preußiſche Beamte zum Söhnchen, „bring dem Großvater eine Fußbank, ein Kiſſen, mach' das Fenſter zu, damit der Großvater keinen Zug kriegt.“ Erika ſucht mir das zarteſte Fleiſch aus. Ob ſie es mir ſchneiden ſoll? fragt ſie. Bin ich denn gelähmt? Wenn ſie aber mit der elektriſchen Bahn ins Freie fahren, fragt niemand: „Willſt du nicht mitkommen, Vater? Selbſtverſtändlich war's, daß ich's nicht tun würde, ſo alt und gebrechlich wie ich bin. Der kleine Benjamin kam neulich in mein Zim⸗ mer, als ich mir die Nägel ſchnitt. „Warum ſchneideſt du dir die Nägel, Großvater? Du biſt doch ſo alt, du ſtirbſt doch bald.“ 256 Alten Leuten ſollte man nicht zeigen, daß man ſie für abgenutzt hält, das macht ſie älter und müder. Ich fühlte mich beinah' verpflichtet, hinfällig aus⸗ zuſehen, ging unwillkürlich gebückter, als zieme das Aufrechte mir nicht mehr. Darum iſt es nicht gut, wenn alte Leute in den Familien ihrer Söhne oder Töchter als Großväter oder Schwiegerväter leben. Ich habe die Emanzipierte des Schloßfräuleins aufgeſucht. Eine mittelalterliche, ſtramme, ſtattliche Jungfrau vermutete ich in ihr. Marion Lis aber iſt ein junges Mädchen von 25 Jahren, ſchlank wie ein Knabe, klein wie ein Spielzeug. Ich glaube, daß ſie ſehr hübſch iſt. So oft ich ſie ſehe, immer trägt ſie ein blaues, lockeres Kleid, das ſie faſt wie ein griechiſches Gewand gürtet. Um den Hals eine lange Kette von ſchimmern⸗ dem meeresbläulichen Geſtein, Muſcheln oder Perlen. Ein etwas wirres Gehänge dunkler Locken fällt ihr in die Stirn. Einen Kontraſt zu ihren melancholiſch ſehn⸗ ſüchtigen Augen bildet ein aufwippendes, keckes, beinah impertinentes Näschen. Wie eine junge Zauberin ſieht ſie aus, oder wie ein mythiſches Weſen, halb Nixe, halb Pythia. Das Näschen und die weißen, ſcharfen, kleinen Zähne geben dem Geſicht, wenigſtens zeitweiſe, einen Kampfcharakter. Bald iſt ſie wie ihre Augen melan⸗ Dohm, Schwanenlieder. 17 257 choliſch ſehnſüchtig, bald wie ihr Näschen herausfor⸗ dernd, kritiſch, ſcharf. So herzlich und vertrauensvoll iſt ſie mir gleich entgegengekommen. Freunde ſind wir geworden. Wie kläglich unwiſſend bin ich neben ihr. Und ſie iſt doch auch nur Volksſchullehrerin, und noch dazu nur ein Weib. Wie anders aber auch iſt ihre Perſönlichkeit und ihre Situation. Sie hat ein ſtarkes Tempera⸗ ment, von blitzender Leidenſchaft oft. Und ich — der Sohn eines Trinkers — bin ein ſchlaffer Träumer ge⸗ weſen. Sie wird von einer großen Bewegung ge⸗ tragen. Sie lebt in der Hauptſtadt, in einem Schla⸗ raffenland des Geiſtes, wo man nur Augen und Ohren zu öffnen braucht, um Geiſtigkeit einzuatmen. Und — das iſt die Hauptſache — Marion gehört der jungen Generation an. Ich ſtaune, wie ſie ſich ihr Wiſſen zu erobern ver⸗ ſteht, auch das vom Leben. Sie ißt oft in der Volks⸗ küche, um das Volk kennen zu lernen. Sie geht in berüchtigte Cafés, um einen Schimmer auch von dieſer Welt zu erhaſchen. Einige Male war ſie ſogar in mitternächtigen Kabaretts, um, wie ſie ſagt, den Duft der jüngſten Generation zu ſchlürfen. Ich höre Vorträge an der Univerſität, in den freien Akademien, naturwiſſenſchaftliche, pſychologiſche, philoſophiſche, über Kunſt, Literatur. Marion Lis iſt meine Führerin, meine Begleiterin. Vieles, das ich nicht verſtehe, erklärt ſie mir. 258 „Meine Antigone,“ ſagte ich einmal zu ihr, „die den blinden Ödipus führt.“ „Mein Odipus,“ antwortete ſie, „hat keine Schuld auf ſich geladen, aber das iſt wahr, ich liebe ihn! Eigentlich nicht wie meinen Vater, mehr wie mein Kind, denn er iſt ein Werdender.“ „Der längſt ein Gewordener ſein müßte, Marion. „Ich helfe ihm dazu.“ Wir leſen zuſammen alte und neue Philoſophen, am liebſten ihn, den Herrlichen, den Geliebteſten — ſage ich Dichter, ſage ich Philoſoph? Dichter und Den⸗ ker biſt du zugleich. Du, dem die einen als einem Vampyr fluchen, der das Blut aus reinen Herzen ſaugt, während die anderen deine Bücher heilige Schriften nennen. Deine Gedanken ſind wie Grazien, die um das Feuer eines Vulkans tanzen, oder leuch⸗ tende Hieroglyphen, die zu enträtſeln feinſte Wonne iſt. Dunkle Roſen und Zypreſſen, ſcharlachrote Gift⸗ blüten und Paſſionsblumen entblühen deinem Zauber⸗ garten. Und deine Bäume wachſen in den Himmel. Ich bin dir wahlverwandt. Ich! Dir! Lachſt du, Gekrönter? Wie ſollteſt du nicht lachen, du, des Übermenſchen Erkenner, und ich, der gelebt hat, als wäre er vor der Erſchaffung des Geiſtes geboren. Ich empfinde es jetzt oft tief, innig, wie ſchön, wie reich das Leben ſein kann. Dieſes Fühlen des Wach⸗ ſens iſt köſtlich. Ich war in einem Raupenzuſtand mit verborgenen Flügeln. Sie entfalten ſich. Ich bin 17* 259 wieder jung, im funkelnden Morgenrot eines Er⸗ wachenden. Zuweilen, wenn ich über die tiefſten Fragen des Seins höre oder leſe, iſt es, als wölbe ſich über mir ein Dom. Säulen in grandioſen Rhythmen ſehe ich ragen, und die Taube des Heiligen Geiſtes ſchwebt mir ent⸗ gegen. Eine tiefinnerliche Frömmigkeit hebt mich empor. In heiligen Schauern ahne ich eine neue Religion: Ein Suchen Gottes, fernab von der Kirchengläubig⸗ keit, die in gehirnenger Extaſe den endgültigen Gott gefunden zu haben glaubt, einen ewigen, unabänder⸗ lichen, unauswechſelbaren Gott. Als ob die Götter nicht mit den Menſchen wüchſen! Und darum werden die wahrhaft Religiöſen Gott noch nach Jahrtauſenden, nach Milliarden von Jahren ſuchen, Gott oder die Wahrheit oder den Urgrund alles Seins — es iſt alles dasſelbe. Und darum, weil ich fromm bin, will ich erkennen, alles, was zu erkennen iſt. Der Erkennendſte, Wiſ⸗ ſendſte iſt der Gotterfüllteſte. Ich habe Marion gefragt, ob man in der Schule nicht ihre auffallende Erſcheinung mißbillige? Sie brach in ein helles Gelächter aus. Wie ich glauben könne, daß ſie ſo à la idealiſierte Bohemienne ſich in der Schule zeigen würde! In der Weberſtraße ahne niemand, daß Eliſe Jäkel — ſo hieße ſie in Zivil — und Marion Lis identiſch ſeien. Die zwei Seelen 260 in ihrer Bruſt heiſchten auch zwei Namen und zwei — Koſtüme. „Warten Sie ein paar Minuten“ — ſagte ſie „Marion Lis geht, und Eliſe Jäkel kommt wieder. Sie ging ins Nebenzimmer. Als ſie zehn Minu⸗ ten ſpäter wieder heraustrat, erkannte ich ſie kaum in dem dunkelwollenen, hoch am Halſe geſchloſſenen Kleid mit dem weißen Krägelchen und Manſchetten. Ihr Lockengewirr war einem glattgezerrten Scheitel ge⸗ wichen. Darüber ein unſcheinbares Filzhütchen. Unter dem Arm die Mappe mit den korrigierten Heften. Gleich aber warf ſie das Hütchen wieder weg und ſträubte mit den Händen ihr Haar empor. „Üübrigens,“ ſagte ſie, „bin ich rieſig gern Lehre⸗ rin. Ich liebe meine Schulkinder, und ſie widmen mir Gegenliebe, ſie erſticken mich förmlich mit Blumen und Küſſen. Es wäre heller Wahnſinn, wenn der Herr Rektor mich aus irgend einem Grund an die Luft ſetzte, ſelbſt wenn er dahinter käme, daß ich in einer Volks⸗ verſammlung über ſexuelle Dinge geredet habe.“ Und das hat ſie getan. Auf dem Nachhauſeweg von einer ſolchen Verſammlung ſagte ſie: „Wundern Sie ſich über mich, Benjamin Heiling, daß ich ſo frank und frei in die Weltordnung hineinpoſaune? Es gibt ja auch heut noch antifeminiſtiſche Heißſporne, die unſere Seele in Frage ſtellen. Soll ich zitieren? Ich wehrte ab. „Aber nun haben wir Frauen ſelbſt das Land unſerer Seele entdeckt. Möglich, daß wir uns im Ent⸗ 261 deckerſtolz etwvas blähen. Es iſt ja eine ſo neue Freude für uns, daß wir ſagen dürfen, was wir fühlen, und noch mehr, daß wir es ſagen können.“ „Und Sie ſagen alles, was Sie fühlen? Sie lächelte liſtig. „Nein. Wir müſſen der Zu⸗ kunft etwas zu tun übrig laſſen, einer Zeit, wo kein Poliziſt mehr in den Verſammlungslokalen die Ohren ſpitzen wird.“ Ein Einfall kam ihr. Sie würde eine Humoreske ſchreiben: „Die Erweckung des Poliziſten.“ Ob ich nicht glaube, daß dieſen uniformierten Hor⸗ chern, wenn ſie jahrein jahraus ſolche ſtürmiſchen, radi⸗ kalen und beiſpiellos klugen Reden mit anhörten, nicht ſchließlich ein paar Dickhäute platzen müßten und ſie ſich dann meuternd gegen ihre Vorgeſetzten wenden würden, polizeiabtrünnig bis zum Bruderkuß mit Sozialiſten und Frauenrechtlerinnen. Drollig kann meine Antigone ſein. Aber das Drollige hebt ſich bei ihr immer von einem ernſten, zuweilen ſchwermütigen Hintergrund ab. Ein Vertrauen, das ſie mir neulich ſchenkte, zeigt dieſe beiden Züge. Wie es kam, daß ſie Schriftſtellerin wurde, hat ſie mir anvertraut. Vor einigen Jahren habe ſie einen jungen Mann geliebt, einen reizenden Jüngling. Heiraten konnten ſie ſich nicht. Er hatte nichts, und ſie hätte ihre Stel⸗ lung als Volksſchullehrerin verloren. Da habe ſie eines 262 Tages den von Herz und Kopf gebilligten Entſchluß gefaßt, von dem, den ſie liebte, ein Kind zu haben. Sie ſagte das ganz einfach, natürlich, ohne zu er⸗ röten, und ſetzte noch hinzu: „Nicht wahr, ein Kind zu haben, muß entzückend ſein. Nur ein Banauſe kann auf den Einfall gekommen ſein, es unmoraliſch zu fin⸗ den. Aber die Rektoren wiſſen gar nichts von der wahren Moral. Die verwechſeln Moral und Religions⸗ ſtunde. Und da eben wäre ſie Schriftſtellerin geworden, um zu ſagen, was ſie nicht zu tun wagte. Irgend⸗ wo hätte ſie doch ihren lodernden Zorn und ihre ebenſo lodernde Kinderſehnſucht entladen müſſen. In der Tat, ſie kämpft wie eine junge Löwin für das Recht der Lehrerin, ſich zu verheiraten. In ihrer letzten Dichtung — ſie iſt in poetiſierender Proſa ge⸗ ſchrieben — baut ſie auf dieſes Recht eine Tragödie auf. An Liebe und Mutterſehnſucht geht ihre Heldin zugrunde. O! Marion Lis, ob nicht aus dem Boden der Ehe und der Mutterſchaft tiefere Tragödien wachſen? Deine Heldin weint über ihre ungeborenen Kinder. Ob nicht das Weinen um lebende Kinder, die unſer Herz zer⸗ reißen, unendlich bitterer iſt? Ja, ich frage mich oft, ob nicht der ganze Menſch — das Menſchſein an und für ſich — eine Tragödie iſt. Wer hat ſie gedichtet? 263 Ein fröſtelnder Novembertag. Im Park lag das braune, ſchmutzige Laub in muffigen Maſſen zuſam⸗ mengeballt. Ein paar grämliche Blätter zitterten noch an den Bäumen. Eine ältliche Frau, in wollene, halb zerlumpte Tücher gewickelt, zog allein einen Wagen mit Tonwaren — zum Verkauf. Ich blieb ſtehen. „Die Arbeit iſt zu ſchwer für Euch. „Man will doch leben.“ „Warum wollt Ihr es? Sie tippte mit dem Finger auf ihre Stirn. Es war ihr ſo ſelbſtverſtändlich, daß man leben wollte. Wer es nicht einſah, war eben blödſinnig. Im Tiergarten ſchlief auf einer Bank ein junges Weib. Ein gedunſenes, rotes Geſicht hatte ſie. Ihre grobe Hand umkrallte eine leere Flaſche. Neben ihr ſaß ein alter Mann, der ſchielte nach der Flaſche, wäh⸗ rend er gierig, mit zitternden Händen, ein Stück trocke⸗ nes Brot aß. „Schenken Sie mir etwas, zum Schluck Brannt⸗ wein,“ ſagte er, als ich vorüberging. Ob dieſe Leute alle zu dem geſchaffen wurden, was ſie jetzt ſind? Die alle wiſſen nicht, wozu ſie geboren wurden. Und das iſt der Unterſchied zwiſchen ihnen und mir. Ich weiß, wer ich bin, und ich bin es doch nicht. Ich bin jemand anders. Zu fremden Zwecken hat man mich gemißbraucht. In einem der beſten Bücher las ich's: Freiheit 264 heißt: den Geſetzen des eigenen Weſens folgen.“ So war ich ein Sklave, ich trug das Joch, das andere mir aufzwangen. Einem Phonographen glich ich, der nur von ſich gibt, was man in ihn hineingeſprochen hat. Nie ſtand ich auch nur einen Augenblick auf einem Punkt, wo meine Entſchließung frei geweſen wäre. Zwiſchen Mauern wurde ich vorwärts geſchoben. Ich habe die Geſetze meines eigenen Weſens er⸗ kannt — ſpät. Ob zu ſpät? Ich bin ein Dichter. Hohe Lieder ſind in mir. Mein Durſt nach Erkenntnis iſt unſtillbar. Je mehr ich trinke, je intenſiver wird er. Aber dann — dann plötzlich eine Frage, unter der ich zuſammenzucke. Sie greift mir ans Herz. Wozu? Wozu? In heißer Haſt ſammle ich Wiſſensſchätze, aus jeder Geiſtesblume ſauge ich Tau und Duft. O ja, Benjamin Heiling, du biſt fleißig, fleißig wie eine Biene. Wo iſt der Honig, den du hergibſt? Wohl ſchiffe ich nun auf tiefen Meeren von Ge⸗ danken, mit der unermeßlichen Sehnſucht, an ein Land zu kommen. Ab und zu glaube ich, den friſchen Erd⸗ geruch zu ſpüren, den der Wind zu mir hin weht, ich glaube in fernſter Ferne die diamantnen Türme einer heiligen Stadt wahrzunehmen. Und ich komme nicht weiter! Ich komme nicht ans Land, denn mein Schiff iſt ohne Steuer. Zwiſchen Klippen und Sandbänken 265 hindurch muß ich mich winden. Mühſam iſt die Fahrt. Kein Leuchtturm iſt da, mir den Weg zu weiſen. Und was mich am meiſten niederdrückt, iſt dies: In einer bewegten Stunde empfange ich eine Idec. Herrlich ſcheint ſie mir. Ich ſpinne den Gedanken weiter aus zu einem feinen Gewebe. Eine ſtolze Freude erfüllt mich. Da leſe ich ein längſt geſchriebenes Buch, und ich leſe meine eigenen Gedanken, nur tiefer, klarer, wiſſen⸗ ſchaftlicher begründet, als ich es vermocht hätte. Und das geſchieht mir wieder und wieder. Und ich merke: alles, was ich denken könnte in meiner armen Un⸗ wiſſenheit, iſt längſt gedacht worden. Ich entdecke nur Länder, die ſchon entdeckt worden ſind. Und es wird mir klar: Wer ein neuer Meiſter werden will, muß die alten Meiſter kennen. Nie werde ich auch nur ein Ge⸗ ſelle ſein, kaum ein Lehrling. Ich hatte mich heut' in Kants Ideen über Raum und Zeit vertieft. Plötzlich liefen mir die Gedanken davon. Sie liefen hin zu meinem Dörfchen. Auf dem Grabe meines Sohnes ließen ſie ſich nieder. Mit ſtar⸗ kem Willen rief ich ſie zurück. Sie kamen gehorſam. Nach einer Weile waren ſie wieder fort — meine Ge⸗ danken. Diesmal wanderten ſie zu dem alten Burg⸗ hof, wo der kranke Jüngling auf der Flöte ſpielte. Wie — ich hätte über mein Denken keine Gewalt mehr? Bin ich denn alt? Ich! Soll ich die ungelebten Jahre etwa mitzählen! 266 Ich mache mir zu wenig Bewegung. Das iſt's. In die Sonne will ich. Ich bin lange im Park umhergewandert. Ich dachte zurück an meine Spaziergänge in der Heimat. Immer verfolgten da meine Blicke die Sonne, wenn ſie ſich gegen Abend von der Ebene zurückzog, die Schatten allmählich höher ſtiegen, bis nur noch die Baumkronen auf den Hügeln in roter Glut ſtrahlten. Ich lief dann, ſo ſchnell mich meine Füße trugen, atem⸗ los, keuchend den Hügel hinan — zur Sonne. Kam ich oben an, umfingen mich Schatten. Am fernen Horizont ſah ich die rote Sonne verbluten. Und nun laufe ich wieder — der Sonne nach. Und ich bin atemlos, und ich keuche. Verblutet am fernen Horizont die Sonne meines Geiſtes!? So gliche ich am Ende doch nur einem kahlen, mor⸗ ſchen Baumſtamm, den blühendes Pflanzenwerk um⸗ rankt, das hoch über ſein dürres Holz hinauswächſt. Und der närriſche Stamm hat ſich eingebildet, all die Fülle des roten wilden Weins und des blauen Winden⸗ geſchlinges wären aus ſeinem Mark herausgewachſen. Der arme, morſche Stamm! Fort mit der Melancholie! Schaffe, Benjamin Heiling! Deine inneren Melodien, bringe ſie zum Tönen! Du biſt dir und der Welt den Honig ſchuldig. 267 Und ich arbeite abends bis in die Nacht hinein. Das iſt mir die liebſte Zeit. Ich trinke vorher ſtarken ſchwarzen Kaffee. Wie gut das wirkt. Meine Phantaſie flammt auf. Gedanken zucken in mir auf und nieder. Gefühle ſchwirren wie Sing⸗ vögel um mich her. Ich greife zur Feder. Bald aber ſchwanken wieder die Gedanken haltlos im Gehirn. Zerrinnende, ſich überſtürzende Wogen. Sie werden ſich noch im Sand verlaufen, und meine Singvögel fliegen fort. Zuweilen werden meine Traumgeſtalten drohend, als trüge ich die Schuld, daß ſie ohne Leben bleiben. Sie greifen mich an, ich fürchte mich vor ihnen, ihre Fülle ängſtigt mich. Stunden kommen, wo dieſe Furcht zur Qual wird, einer Qual, die der eines Stummen gleichkommt, der bei einer herankommenden Gefahr den Hilferuf nicht auszuſtoßen vermag, der ihn retten könnte. Aber ich bin nicht ſtumm. Ich klage — klage! Nein. Ich klage an. Wen? Das Schickſal? Ein unabwendbares, un⸗ entrinnbares Schickſal etwa wie Krankheit, Alter, Tod, wie ein Erdbeben, das mich verſchlingt, eine Waſſerflut, die mich fortfegt? O nein — ein entrinnbares, ein künſtliches Schick⸗ ſal von ſtarren Vorurteilen, von grauſam lächerlicher Ungerechtigkeit über mich verhängt. Wer verhängte es? Der Staat. 268 Ich klage den Staat an. Ich ſchreibe an den Kultusminiſter. Ich ſchreibe gleich. Und dieſes ſchreibe ich: „Herr Kultusminiſter. Es iſt eine Anklage, die ich erhebe, eine Anklage gegen den Staat, gegen das Kultusminiſterium. Vor beinah' 4 Jahrzehnten hat der Staat mich in einem Dorf als Lehrer angeſtellt. Er hätte es nie tun dürfen. Ich habe gewiſſenhaft meine Pflicht getan, und ich bin doch ein ſchlechter Lehrer geweſen, ein ſehr ſchlechter. Aus zwei Gründen. Und dieſes iſt der erſte Grund. Ein Lehrer, der ſelber nichts gelernt hat, der ſelber ohne Kultur iſt, kann Kinder nicht lehren, nicht erziehen. Und ohne Bildung, ohne Kultur ſind wir dürfti⸗ gen Seminariſten nahezu alle, im Anfang unſerer Laufbahn faſt noch unreife Knaben. In der Präparandenanſtalt, die mich für meinen Beruf vorbereitete, erhielt ich mit 18 Jahren noch Ohr⸗ feigen, und drei Jahre ſpäter das Recht, ſie auszu⸗ teilen. Für das Kind iſt das Beſte gerade gut genug. In aller Munde iſt dieſer Spruch. In der Menſchen Herz ſteht er nicht. Der Staat weiß nichts davon. Dem geiſtigen Adel der Nation ſoll der Volks⸗ erzieher angehören. Wie der populäre Schriftſteller, der für das Volk ſchreibt, der höchſten Kunſt bedarf, um zu wirken, einer Kunſt, die mit plaſtiſcherAnſchaulichkeit, mit Schönheit 269 der Form, Schlichtheit, Klarheit und Tiefe verbindet, ſo muß der Volkslehrer und Jugendbildner auf der Höhe der Kultur ſeiner Zeit ſtehen, denn er hält die Geſittung und Geſinnung der kommenden Generatio⸗ nen in ſeiner Hand. Adlige Menſchen erziehen ein adlig Geſchlecht. Der arme Seminariſt auf dem Dorf, der nieder⸗ gedrückt von der Sorge um das tägliche Brot, im Schweiß ſeines Angeſichts ſeinen Kohl baut, lebt in geiſtigem Elend. Meine Toten mußten begraben werden, die Leben⸗ den geſpeiſt und gekleidet, meine alte Mutter mußte ich erhalten. Dem Staat ſtehen die Mittel nicht zu Gebot, an Volksſchulen geiſt⸗ und wiſſensreiche Männer anzu⸗ ſtellen. Sie müſſen ihm zu Gebot ſtehen. Wie ſie zu beſchaffen ſind? Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht wiſſen. Ich habe ja nichts gelernt. Es iſt Sache des Staats, der Regierung, der Parlamente. Die Jugenderziehung darf keine Geldfrage ſein. Daß neben der Höhe der Bildung die pädagogiſche Begabung, die ganze Perſönlichkeit des erziehenden Lehrers maßgebende Faktoren ſein müſſen, iſt ſelbſt⸗ verſtändlich. Und hier bin ich bei dem zweiten Punkt angelangt, bei dem Grund, der mich, um meiner Perſönlichkeit willen, zu einem untauglichen Lehrer machte. 270 Hätte ich auch alles Wiſſen, alle Kultur gehabt, die das Lehramt heiſcht, ich wäre dennoch ein völlig unge⸗ eigneter Jugendbildner geweſen, denn zu dieſem hohen Amt war ich nicht berufen und geweiht. Herr Miniſter, hätten Ihre Eltern Sie gezwun⸗ gen, Maler zu werden, Sie wären — ohne künſtleriſche Begabung — ein elender Stümper geblieben. In einem Beruf, der unſerer Natur widerſtrebt, werden wir immer nur das Dürftigſte leiſten. Auf die Zuſicherung einer Freiſtelle hin, und weil mein Vater für meine höhere Ausbildung kein Geld hatte, wurde ich Volksſchullehrer. Ich konnte nicht werden, wozu die Natur mich ſchuf. Aber mit Bewilligung des Staats — ich hatte ja mein Examen beſtanden — durfte ich an Genera⸗ tionen von Kindern ſündigen. Arme Kinder! Was Sie dazu tun ſollen, Herr Miniſter? An ſozialen Ein⸗ richtungen, die von Gottes und Rechts wegen beſtehen, wäre nichts zu ändern? Doch — doch, es iſt zu ändern! Ich weiß nichts von Soziologie, nichts von Staats⸗ und Rechtskunde, von Pſychologie. Eines aber weiß ich — es braucht nicht gelernt zu werden — daß die Gerechtigkeit aller Menſchlichkeit ſchönſtes Kleinod iſt, heilig gleich der Monſtranz, vor der man in die Kniee ſinkt. Das Volk liebt das Wettrennen. Ich möchte ein Wettrennen nach Gerechtigkeit erleben. 271 Es gibt eine Vorbedingung für die Verwirklichung gerechterer Inſtitutionen, die ſo einfach zu erfüllen iſt. Ein Kind muß es begreifen. Der Staat öffne — ohne Geld dafür zu nehmen — alle Bildungsſtätten, von der Volksſchule bis zur Univerſität und den Akademien allen, ausnahmslos allen, anſtatt je nach der Klaſſe, in der die Menſchen geboren werden, Werkſtatt und Atelier, Kanzel, Tri⸗ büine, Katheder und Straße unter ſie zu verteilen. Vergewaltigung iſt eine ſolche Abſtemplung. Niemand wird als Proletarier, niemand als Fürſt geboren. Ohne Lumpen und ohne Krone kommen wir zur Welt. Das Recht aller Rechte iſt das Selbſtbeſtimmungs⸗ recht. — Wie? Die Kirchen ſtehen jedem offen und die Tempel der Wiſſenſchaft nicht? Sie ſind dem Mittel⸗ loſen verſchloſſen? Und doch iſt das ernſte Forſchen nach den Wahr⸗ heiten, die die Wiſſenſchaft in ihren höchſten Spitzen offenbart, läuternd wie das Gebet, ja läuternder, denn dieſe ſchöpferiſche Erhebung der Seele umfaßt das ganze Leben des Wahrheitſuchenden. Mit welchem Recht hat man meine Seele zum Pariatum verdammt, meinen Geiſt zur Gottloſigkeit!? Ich weiß, was Sie einwenden wollen, Herr Mini⸗ ſter. Es liegt auf der Hand: Und wenn alle Hochſchulen der Welt den Kindern armer Leute offen ſtänden, wer erhält ſie während der Studienjahre? 272 Der Staat, Herr Miniſter, oder die Gemeinde oder die Nation. Wie — womit? Ich weiß es nicht. Ich habe nichts gelernt. Das aber weiß ich: jedes Men⸗ ſchenkind iſt zugleich ein Gotteskind, und kein einziges darf für ſich und die Menſchheit verloren gehen. Gewiß, es gab und gibt Dichter und Denker, die gleich mir unwiſſend waren, dann hatten ſie aber das Wiſſen vom Leben. Sie hatten irgendwie die Welt geſehen und die Freude erfahren. Ich mußte auf einem armſeligen Dorf unter ſtumpfen Bauern und rohen Dorfkindern hinvegetieren. Verbrechen gegen das keimende Leben werden be⸗ ſtraft. Der Staat begeht unzählige Verbrechen gegen geiſtiges, keimendes Leben. Kinder, ſchuldloſe, vielleicht großangelegte, ſtößt man in die Tragik eines toten Lebens. Mit allen Waffen der Wiſſenſchaft, mit patheti⸗ ſchen Aufrufen an Vernunft und Gefühl bekämpft man den Alkoholismus, aber man läßt das Kind im Hauſe des Trinkers. Er bleibt das Familienoberhaupt. Meine Wiege ſtand im Hauſe eines Trinkers. Menſchenpflicht und Staatsklugheit gebieten, das Kind aus dem Sumpfboden heraus in eine Atmo⸗ ſphäre geiſtiger Geſundheit zu retten. Der Gärtner weiß, wie jede Pflanze zu behandeln iſt, damit ſie gedeihe. Der Viehzüchter tut, was ſeinem Tiere frommt. Das menſchliche Kind überläßt man den Zufällen einer Umgebung, die es brechen oder ver⸗ derben kann. Dohm, Schwanenlieder. 273 18 Die Ungerechtigkeit hat blutige Finger. Wen ſie damit zeichnet, der ſiecht dahin. Herr Miniſter, ich hatte einen Sohn, einen zarten, träumeriſchen Knaben. Er war ganz Muſik. Der Sohn des armen, weltfremden Dorfſchullehrers konnte nicht Muſiker werden. Er mußte ſterben, ohne gelebt zut haben. Ich hatte ein Weib. Sie war eine geborene Künſt⸗ lerin. Sie mußte Magddienſte tun. Sie hätte ſo wunderſchöne Bilder gemalt. Ich ſehe ſie vor mir — ihre Bilder. Lautloſe Bilder, in denen kein Windhauch Laub und Blumen bewegte. Träumende Waſſer hätte ſie gemalt. Sie liebte das Echo. Ihre Bilder hätten den Reiz des Echos gehabt, die dunkle, linde Wehmut des Leiſen, Weitentfernten. Und ich! Herr Miniſter, ich bin ein Dichter. Hohe Lieder ſind in mir. Lieder wie Adlersflug, der um Sterne kreiſt, Lieder wie Nachtigallenklage, ſchluchzend und ſüß. Und ich ringe umſonſt, dem Herrlichen, das ich innerlich ſchaue, Form und Geſtalt zu geben. Vorgezeichnet von der Natur war mein Platz im Leben, ein Platz an der Sonne. Auf einen Weg hat man mich gezerrt, der immer weiter von meinem eige⸗ nen Weg abführte, von der Sonne ins Schattenreich. Ich blicke mit Schaudern, mit Gram, ja mit Ab⸗ ſcheu auf meine Vergangenheit zurück, auf den Mecha⸗ nismus, in dem mein Leben hingegangen iſt. Was iſt der Tod in blühender Jugend, der nur 274 Zukunftsträume begräbt, im Vergleich mit der Tra⸗ gödie eines Menſchen, der ſein eigenes, ganzes langes Leben nicht gelebt hat. Mein Leib war da. Er hat einen toten Gaſt be⸗ herbergt — den Geiſt. Ich habe meine Seele entdeckt, als ich über 60 Jahr alt war. Und dieſe junge, neue, ſtarke Seele, ſie iſt eine Flamme, die in meinem Blut raſt, ſie verbrennt mein Gehirn. Sie frißt mein Herz. Verrucht! Verrucht! Ich konnte nicht weiter ſchreiben. Ich habe ge⸗ weint, geweint wie ein Kind. Ich habe wild geſchluchzt: Ich will mein Leben wieder haben! — — — — Ich habe den Brief nicht abgeſchickt. Was ich da ſchrieb — ſo banal iſt es, ſo ohne Hand und Fuß. Luftſchlöſſer, Hirngeſpinſte. Man hat mich nichts ler⸗ nen laſſen. Unbegreifliches habe ich erlebt, Rätſelhaftes. Die junge Zauberin! Die junge Zauberin! In ihre Muſchelkette hat ſie mich eingeſchlungen in einen meerblauen Traum. Wir ſaßen am Fenſter in ihrem Zimmer und laſen eines jener modernen Bücher, die wie ein myſtiſcher Tempel ſind, in dem narkotiſche Blumendüfte ſich mit Weihrauch miſchen. Wir hatten geleſen, bis es dunkel wurde. Im Zimmer tiefe Dämmerung. Der Himmel war noch von einer ſeltſamen Helligkeit, ſilbern durchſchimmer⸗ 18* 275 ter, fließender Alabaſter. Im Zenith die ſchmale Mond⸗ ſichel, darunter ein einziger großer Stern wie ein leuch⸗ tendes Fragezeichen. Lang ſahen wir in ſchweigendem Entzücken em⸗ por. Marion ſchmiegte ſich wie ein zärtliches Kind an mich. Auf einmal ſagte ſie leiſe: „Ich liebe dich, Ben⸗ jamin Heiling.“ „Ich weiß es, Marion.“ Und ſie: „Ich liebe dich. Nimm mich zu deinem Weib.“ In ihren Augen ſchimmerten Tränen. Sie barg ihr Haupt an meiner Bruſt. „Marion, meine liebe Marion,“ ſagte ich, „du träumſt ſeltſam.“ Ich dachte erſchauernd an einen Vorgang, den ich vor Jahren miterlebt hatte. Zu einer Hochzeit war ich geladen. Im zweiten Stock eines Hauſes fand ſie ſtatt. Im erſten Stock war am Tag vorher jemand geſtorben. Eine Fülle von Blumenſträußen und Kränzen prangten auf dem Hoch⸗ zeitstiſch der Braut. Da ging die Tür noch einmal auf, und eine dunkle Geſtalt überreichte der Braut einen Totenkranz, mit langem wehenden Trauerflor. Er hatte die Stockwerke verwechſelt. Die Braut erkrankte ſchwer. Das erzählte ich Marion. Und ich ſagte: „Marion, reichſt du mir nicht — umgekehrt wie in jenem Erleb⸗ nis — irrtümlich einen Hochzeitskranz, als wäre ich 276 der Bräutigam, da doch der Totenkranz auf mich wartet? Rote Roſen im weißen Haar ſind grotesk.“ Sie ſah mich feſt und klar an: „Ich liebe dich, Benjamin Heiling.“ Und ſonderbar, ſonderbar redete Marion Lis. Es klang ſo unſinnig und ſo fremd, ſo phantaſtiſch und doch wieder ſo nüchtern erklügelt. Sie iſt ein echtes norddeutſches Großſtadtkind. So klug doziert ſie, und zerſetzt ihre eigenen Gefühle. Und etwas ſchelmiſche Frechheit iſt in der Unerſchrockenheit dieſer Neuen Frau. Deine Worte, Marion, habe ich in meinem Ge⸗ dächtnis aufbewahrt. „Die Liebe, ſagteſt du, erlebt jeder einzelne als etwas Urneues in der Welt. Da gibt's keine Schablone, keine Norm, kein Allgemeingültiges. Die Leute ſagen: Jugend gehört zu Jugend, ſie geruhen ſogar die genau zueinander paſſenden Lebensalter zu beſtimmen. Weil das natürlich wäre, ſagen ſie. Natürlich! Dem Wilden iſt es natürlich, ſeinen Feind aufzu⸗ freſſen. Mir nicht. Und was iſt der Seele natürlich? Wer vermißt ſich, es zu wiſſen! Im Reich der Pſyche gibt es keine Diktatur. Liebte ich mit meinen 25 Jahren einen Knaben von 18 Jahren — was ich nie tun würde — wie ſie die Köpfe ſchütteln würden und ziſcheln: „pervers“. Und es wäre dem Mädchen, das liebt, ſo natürlich, ihren Knaben zu lieben. 277 Die Leute! Die Leute! Sie wiſſen nur immer, was ihre Großeltern und Urgroßeltern auch ſchon wußten. Und dann ſchreiben ſie immer alles gleich auf unzerbrechliche Tafeln. In den Sand müßten ſie ſolche Maximen ſchreiben, damit der Wind ſie bald verwehe. Ich denke nicht daran, vor jeder Zeit⸗ oder Lokalmeinung untertänig zu erſterben.“ Und weiter ſagteſt du, Marion: „Soll ich wieder einen Jüngling lieben wie jenen, den ich geliebt habe? Jünglinge ſind zum Tanzen, zum Küſſen, zum Unſinn reden, wohl auch zum Zeugen eines Kindes — aber ſie ernſt, mit Inbrunſt der Seele zu lieben? Nein, dazu ſind ſie mir zu aufflackernd, zu lichterloh, zu flach. Für eine ſolche allgemeine, begehrliche Feld⸗ und Wie⸗ ſenliebe bin ich nicht derbſinnlich genug. Anfänger des Lebens, dieſe Jugendlichen, höchſtens ſind ſie ein Ver⸗ ſprechen. Selten löſten ſie es ein. Ich kann nur den vollendeten Menſchen lieben, der Tiefe hat und Ge⸗ heimnis. In dir, Benjamin, liebe ich alle Lebensalter. In deiner naiven Unerfahrenheit liebe ich das Kind, in deiner ſehnſüchtigen Idealität den Jüngling, in der tiefen Andacht deines Denkens den Mann, und in deiner ſinnenden Melancholie würde ich das Alter lie⸗ ben, wenn — — aber du biſt nicht alt. Dein Alter iſt mir gleichgültig, es geht mich nichts an. Ich liebe nicht mit den Augen. Zuerſt, zu allererſt liebe ich den Men⸗ ſchen in dir, den Mann nur nebenbei. Ich blicke zu dir auf wie zu dieſem alabaſternen Himmel mit der Mondſichel und dem einſamen Stern 278 darunter. Ein leuchtendes Fragezeichen biſt du am Himmel der Menſchheit. Ich habe ſeinen Sinn verſtanden, Benjamin Heiling.“ Und ich antwortete: „Marion, du redeſt mit einem, der weiße Haare hat. Fehlt dir der Sinn für Schönheit, für die Schönheit der Jugend? Das Alter iſt häßlich.“ „Nein,“ ſagte ſie, mir fehlt der Sinn für Schön⸗ heit nicht.“ Marion ſtand ſeitlich am Fenſter, ich ganz im Dunkel, dem Ausgang des Zimmers nahe. Das ſchwache Mondlicht ließ ſie wie ein grau ſchimmerndes Nebelbild erſcheinen, nur die Muſchelkette ſchimmerte matt unter dem Mond. Sie ſah nicht zu mir hin, und ſie ſprach nun, als rezitiere ſie eine ihrer Dichtungen in poetiſierender Proſa. Und es war eine Dichtung, denn ſie ſagte: „Ben⸗ jamin Heiling! er iſt ſchön. Sein Genius hat in ſeine Züge all das Hohe und Holde geſchrieben, was er hätte leben, was er hätte dichten müſſen. Weiß wäre ſein Haar? nicht weiß, in ſilbernen Locken wallt es über ſeine hohe Stirn von Bronze. Seine lichten, blauen Augen haben den hymniſchen Blick des Sehers — meta⸗ phyſiſche Augen. Benjamin Heiling hat den Kopf einer antiken Bildſäule. Benjamin Heiling hat etwas von der Schönheit zukünftiger Menſchen. Er iſt ein Außer⸗ ordentlicher, 279 Mit einer raſchen Bewegung wandte ſie ſich zu mir hin, lachte leiſe und ſchelmiſch und ſagte: „Ich übertrebe ein wenig, denn ich bin auch ein Dichter. Was ſagt Benjamin Heiling nun? — Und ich ſagte: „Marion, du haſt mich in ein flim⸗ merndes Netz verſponnen. Traum, Dichtung, Wirklich⸗ keit wirren ſich mir ineinander. Während du ſprachſt, hatte ich eine innerliche Empfängnis. Nie fühlte ich intenſiver die Tragödie meines Lebens, oder nenne es eine dämoniſche Poſſe. Und dieſe Tragödie: ein Menſch, zugleich Greis und ein Werdender, zugleich welk und eben erblüht — dieſe Tragödie des tiefſten Schmerzes — ſie iſt noch nicht geſchrieben worden. Ich will ſie ſchreiben. Marion, ich kehre in mein Dorf zurück, zur alten Burg. Gelingt es mir, das innerlich Geſchaute zu geſtalten, ſo nehme ich es als Bürgſchaft, daß es noch eine Zukunft für mich gibt. Dann komme ich zurück, im Frühling, wenn auch die Erde wieder neu wird. Verſagt meine Kraft, be⸗ gräbt mich daheim der Winterſchnee.“ Leiſe, ſo leiſe, daß ich es ſelbſt nicht hörte, öffnete ich die Tür. Und ich ging hinaus, und ich ging, und ich ging. Es war mir, als ſchritt ich ins Endloſe. Wieder im Burgſtübchen. Seit Wochen ſchon. Einſam. Weiß die Welt. Schnee! Schnee! Weicher, tiefer Schnee. Mir iſt, als verſänke ich langſam da⸗ rin. Weite, weiße Einſamkeit! 280 Der Jüngling vom Burghof ſpielt nicht mehr die Flöte. Er iſt heimgegangen. Sein Nachfolger will ich werden. Ganz aus dem Innern muß es kommen, ſo ſagte er. Rede nun, meine Seele. Erklinge von dem Drama, das ich in jener Stunde, als Stern und Mondſichel am Himmel wie ein leuchtendes Frage⸗ zeichen waren, empfing. Ich warte, warte. Mit heißer Ungeduld warte ich auf meine neue Kraft. Meine Flöte bleibt klanglos. Nicht Rhythmus, nicht Melodie entlocke ich ihr. Nur ein Gewirr abge⸗ riſſener Töne: ein dunkler Geigenſtrich — ein jäher Trommelwirbel. Ein Waldvöglein hebt an zu ſingen. Gleich würgt ihm ein Raubvogel die holde Kehle. Die Saiten der Geige ſpringen. Und jeden Morgen zerreiße ich, was ich am Abend geſchrieben: klirrendes Geklimper, keine Muſik. Ich gehe über die weißen Felder, ich blicke zum bleichen Himmel auf. Und unwillkürlich bilden meine Lippen immer dieſelben zwei Worte: Maja und Marion. Maja, die Hilfloſe, weiße Leidensgeſtalt, die nur wie ein Traum vom Leben war. Und Marion mit den rubinroten Lippen und den ſehnſüchtigen, wollenden Augen — die das Leben ſelbſt iſt. Die weißen Perlen und die meerblauen Muſcheln, ſie ſollen in den heiligen Rezitativen und den düſteren Chören meines Dramas die Harfentöne werden. 281 Werden! Ach! Nichts wird! Nichts wird! Hoch⸗ zeit will ich halten mit erzenen Gedanken, mit ſamtenen Gefühlen, vergehen will ich in der zärtlichen Leiden⸗ ſchaft dichteriſcher Inſpiration. Verlaſſen ſie mich ſchon, ehe die Brautnacht da iſt? Mir ſtürzen die Tränen aus den Augen. Ich habe das Schloßfräulein wiedergeſehen. Sie fand, ich ſehe unheimlich vergeiſtigt und ganz ver⸗ magert aus — der richtige Dorfprophet. Es fehlten mir nur Sandalen an den Füßen, eine lange Mähne und das ſchlottrige Gewand. Die Gebärde hätte ich. Sie würde in Zukunft für die Zunahme meines Ge⸗ wichts ſorgen. Am anderen Tage ſchickte ſie mir allerhand feine Sachen und einen großen Korb mit Wein. Es wären ſtarke Weine, vom beſten aus dem Schloßkeller, ſagte der Diener, der ihn brachte. Seit jenem Tage, wo meine Mutter den Chriſt⸗ baum in den Schnee ſchleuderte, iſt kein Tropfen Alko⸗ hol über meine Lippen gekommen. Die roten Siegel auf den Flaſchen werde ich nicht brechen. Ich gehe täglich auf Majas Grab. Wie fromme Katholiken zu Heiligen flüchten, damit ſie ihnen in der Not helfen ſollen, ſo komme ich zu dir, Maja: Hilf mir! Ich ſchlinge die Arme um das Grabkreuz und rede zu dir. Ob du mich hörſt? Ob du nun wiſſen wirſt, daß ich dich liebe, nur dich, und daß ich das Geheimnis 282 in deiner Bruſt kenne. Du biſt weiß, und Marion iſt rot. Rot iſt das Leben. Es wendet ſich von mir, und ich gleite langſam weg von der roten Marion zu der weißen Maja. Denn wir beide gehören zuſammen in ewiger Treue, Maja unter der ſchwarzen Erde, ich oben im weißen Schnee. Nur iſt der Unterſchied: Du frierſt nicht mehr. Und ich friere. Ich bin Eis. Daß ich auftaue — hilf mir, Maja! Ja, mir iſt kalt. Ich friere im Innern. Ich habe es wieder mit ſtarkem Kaffee verſucht. Umſonſt. Eine Weile habe ich im dämmernden Dunkel am Fenſter geſtanden. Aus einem Winkel des Stübchens leuchtete etwas — die roten Siegel der Weinflaſchen. Starke Weine ſollen es ſein. Ich weiß wohl, ich weiß wohl — — ich will nichts wiſſen. Ich habe den Korb mit dem Wein verhängt. Ich friere noch immer. Ich bin müde. Häßlich war der graue Lappen über dem Weinkorb. Ich habe ihn beiſeite geworfen. Vogelſtraußart zu meinen, daß nicht da iſt, was man nicht ſieht. Lockt nur! Lockt, ihr dunklen Leiber mit den blutigen Hälſen ohne Kopf. Ich verſtehe eure ſtumme Sprache. Ich antworte nie. Eure Siegel breche ich nicht. Mit ihren ſcharlachnen Mündern haben ſie nun gar den Mond zu Hilfe gerufen. Geſpannt verfolge ich 283 ihn — den Mond — wie er allmählich langſam glei⸗ tend zu ihnen hinhuſcht — — — da iſt er ſchon bei ihnen. Und geil lachend funkelt's mich an, wie mit Dirnenaugen — nein, mit Raubtieraugen. Ich habe Furcht. Die Kälte iſt noch geſtiegen, draußen und in mir. Nur einen Tag, eine Stunde möchte ich haben, wo das Feuer unter meinem Eis hervorbricht, mein meer⸗ wildes, ſternenlauteres Feuer. Ich weiß, ich weiß, ein Trunk des ſtarken Weins und — und — nein — dreimal nein. Und doch — und doch — und wenn nur ein ein⸗ zigesmal — nur heut' — — Habe ich ſo wenig Ver⸗ trauen zu mir ſelbſt? Bin ich ein Pedant? Bin ich feige? Bin ich Sklave meiner Prinzipien? Ich bin frei! Ich will es ſein! Ob ich von dem Wein trinke oder nicht, ich bleibe meines Willens Herr. Aber ich will den Rauſch — ein einziges Mal. Ich trinke. Ich hab's getan. Ich habe das rote Siegel ge⸗ brochen. Wie es vor mir auf dem Tiſch lag, da ſah es aus wie eine kleine Blutlache. Einen Augenblick hatte ich die Vorſtellung, daß es aus einer Wunde gefloſſen, die ich mir beigebracht. Eine Wunde!? Nie war ich ſo heil! 284 Ich habe getrunken. Wieviel weiß ich nicht. Köſt⸗ liche Wärme durchſtrömt mich. Noch wärmer will ich werden. Heiß will ich werden. Es iſt Mitternacht. Ich fühle keine Spur von Müdigkeit. Ich war noch hinausgelaufen ins Freie, als müßte ich der Nacht das Wunder künden, das mir geſchah. Ich habe das beſtimmte Gefühl, daß ich größer ge⸗ worden bin. Meine Muskeln ſtraffen ſich. Kraft, Ge⸗ ſchmeidigkeit in allen Gliedern. Ich bin ſo jung, ſo jung, ſo ſtark, ſo neu. Wie alles in mir Leben ge⸗ wonnen hat, ſich klärt, ſich formt. Durch den Nebel, der mein Gehirn einnahm, zucken Blitze in goldroſiger Pracht, es ſind Ideen, große, kühne, leuchtend in der Sternennacht. In einem wilden Impuls warf ich mich in den Schnee und rief Marion — treulos meiner Maja. Den Hymnus will ich dichten, den Marion in mei⸗ nen Augen las. Ich habe tief und lange geſchlafen. Wach bin ich nun, aber ſterbensmüde, elend, kalt. Der Kopf ſchmerzt. Die Glieder wie gelähmt. Habe ich nicht in der Nacht ein wunderſchönes Lied geſchrieben? Wo iſt es? Das Fenſter ſtand offen. Der Wind hat es fortgeweht. Ich bin verärgert, ſo gereizt, als müßte ich — . bin ich böſe geworden über Nacht? Ich habe mich er⸗ 285 kältet. Das iſt's. Mit heißem Trank heilt man Er⸗ kältungen. Nur ein Glas Wein noch, ein einziges — das letzte. Ich ſchwöre es. Lange, lange habe ich nicht geſchrieben. Wie lange — ich weiß es nicht genau. War ich nicht eigentlich verreiſt? Ich bin es noch. Ich war im Süden. Ich bin im Siden. Ich ſchreite üiber eine Erde, aus der es blüht und ſproßt in pran⸗ gender Fülle, der Schnee weht ſilberne Blumen nieder. üiber mir der Himmel von ſingendem Blau. Ich weiß es jetzt: wer einmal getrunken hat, muß immer wieder trinken, ganz ſicher, wenn er der Sohn eines Trinkers iſt. Schrecklich nur ſind die Pauſen. Bin ich nüchtern, dann verfalle ich. Die Kniee ſchlottern mir, die Hände zittern. Ich gehe ängſtlich an meinem Spiegel vorbei. Ich werde abſcheulich ausſehen und wüſt. Ich will ſie wieder haben, die Schönheit des künftigen Menſchen. Und ich trinke immer wieder, voll brennenden Durſtes nach Schönheit, nach Inſpiration, nach der Inbrunſt des Denkens. Schön iſt der Rauſch. Ob künſtlich erzeugt vom Wein, ob durch Selbſtberauſchung oder vom Fieber, von Wahnſinn. Das Entzücken an der Schönheit von Natur und Kunſt, die Liebe, die Wolluſt des Schmerzes, die Selig⸗ keiten der Erkenntnis — alles iſt Rauſch, und Dionyſos iſt ein Gott. 286 O mein Vater, daß ich dich verachten konnte! Ich bitte es dir ab. Jetzt begreife ich dich. Du ſehnteſt dich fort aus der armſeligen Wirklichkeit in das Götter⸗ land, das die Evoes der Bacchanten durchklingen. Mitunter läuft mir ein Schauder über den Leib. Ich erkenne dann, daß der Rauſch nur eine blutige Fata Morgana iſt, eine Selbſtvorſpiegelung, die in einen Abgrund lockt. Ich weiß, ich wandle am Ufer eines Todesſtroms. Aber was aus dem Strom emporſteigt, iſt wild und ſchön. Einmal war es der Tod ſelbſt. Er ſaß auf einem ſchwarzen Roß, ſtrahlend, denn ſeine Rüſtung war von Gold. Langſam enthüllte er ſein trauriges Geſicht und ſah mich an, ſo ſehnſüchtig verzehrend, mit Augen, die wie verblaßte Vergißmeinnicht waren, denn er liebt mich. Ich wollte zu ihm. Da hatte der Strom ihn fortgetragen. Ich fiebere. Ich habe Viſionen. Ich will ſie haben, meine Phantaſie ſchafft ſie. Ich bin ein Schöpfer. Ich höre die Glocken in der Dorfkirche läuten. Rufen ſie mich? Hat Marion Hochzeit? Sie wartet auf mich. Sie ſteht am Altar. Die Kerzen flammen. Orangeblüten hat ſie im Haar; die duften weithin, die Kirche iſt erfüllt davon. Ein kranker Duft, der ver⸗ zehrt. Langſam erliſcht eine Kerze nach der anderen. Der Schleier der Braut fließt auseinander zu einer 287 Nebelwolke. Immer weiter, breiter, dichter und dunkler wird die Wolke, bis ſie alles, was da iſt, ein⸗ hüllt. — Durch den ſchwülen Atem der Orangeblüten ſchrillen Sterbeglöckchen. Töne und Düfte ringen miteinander. Ein heißes, lärmendes Ringen. Da fällt aus dem verwundeten Herzen der Braut ein Blutstropfen in die Nebel⸗ wolke. — — — Urplötzlich — Schweigen. Erſtarrtes, ſchauerliches Schweigen. Und ich erkannte, was ich bisher für Schweigen hielt, war nur ein Chaos leiſeſter Laute geweſen. Dies war das Urſchweigen, in dem nichts mehr wird, nichts mehr vergeht. Eine Viſion voll Entſetzen. Gewiß, ſie kam von dem ſchalen, weißen Wein, den ich trank, und der die ganze Nacht offen im Mondſchein geſtanden. — — — Von dem roten habe ich nun getrunken, dem dun⸗ kelroten, dem Burgunder. Mein Blut erbrauſt. Der kranke, entnervende Duft iſt gewichen. Die Kirche iſt noch da, aber es iſt eine Kathedrale. Hohe Bogenfenſter. Die Sonne bricht durch die bunte Glasmalerei und ſtreut über den marmornen Fußboden feurige Rubi⸗ nen, roſige Topaſe, goldgrüne Smaragden, flimmernde Opale. Poeſien ſind's: meine flammenden Dityram⸗ ben ſind's, meine leuchtenden, meine zärtlichen Lieder. Sie verklingen vor den heiligen Chören, die wie aus Tuben von Erzengeln aus der Höhe der Kathedrale niederrauſchen. Chöre erſchütternder Gedanken, die 288 das Herz des Weltalls geſtreift. Mit Inbrunſt louſche ich ihrem geheimen Sinn. Ich habe mich geirrt. Die Glocken läuteten doch nicht in der Kirche. Sie läuten in mir. Ein jauchzen⸗ des Frühlingsgeläut. Ich erblühe! — — Was brauſt! Was brauſt! Vom Norden ein Sturm — — all meine Blüten wird er brechen. Es dunkelte ſchon, als ich heut an Majas Grab⸗ hügel kam. Auf dem Wege hatte ich wieder die Emp⸗ findung, als wandelte ich an eines Todesſtroms Ufer. über dem Strom flogen lichte Vögel. Die ſangen hell, jubilierend. Und die giftigen Dünſte ſtiegen aus dem Waſſer empor, höher und höher, und mitten im tril⸗ lernden Jubel ſtürzten die Vögel hinab. Der Strom ſchlang ſie ein. Die ſingenden Vögel, ſind das meine Lieder, und die tödlichen Dünſte, ſteigen ſie aus meinem vergifteten Hirn empor, und mitten im hymniſchen Jubel ſtürzen ich und meine Lieder hinab!? Ich komme von der Vorſtellung nicht los, daß du — meine Maja — von mir weißt. Und indem ich jetzt ſchreibe, rede ich zu dir. Sahſt du, Maja, wie ich wieder heute die Arme um dein Kreuz ſchlang, und wie dicht und weich die Schneeflocken auf mich fielen, wie damals, als ich ein zwölfjähriger Knabe — ſterben wollte. Dohm, Schwanenlieder. 289 19 K Sahſt du, wie ich immer weißer wurde, bis ich wie eine Statue von Marmor aus dem Dunkel heraus⸗ leuchtete! Dein Grabmonument bin ich nun, meine Maja. Und der Schnee rollt, rollt aus der Höhe. Er rollt mir einen Mantel von Hermelin um die Schulter. Maja, ſieh'! ich trage königlichen Hermelin. Aber eine Krone habe ich nicht. Nur dein Kreuz über mei⸗ nem Haupt. Ein ſterbender Dichter. Ein Dichter? Nein. Ich habe nur das Herz eines Dichters. Es bricht. Ich weine um den Dichter in mir, der im Leben tot war, immer tot. Ich weine — ich weine — am Kreuz. An einem kalten Frühlingsmorgen fand man den penſionierten Dorfſchullehrer Benjamin Heiling auf dem Grabe ſeiner Gattin, an ihrem Kreuze knieend, ſchneebedeckt und — tot. Die Sonne beſtrahlte ihn. Tropfen auf Tropfen rann an ihm nieder. Es war, als ob der Tote ſich in Tränen auflöſte. Setzmaſchinenſatz und Druck von A. Seydel & Cie., G. m. b. H., Berlin SW. 290