Yx24,886 P1890.4681 Frau Tannhäuſer. Novellen von H. Dohm. Inhalt: Frau Tann⸗ häuſer. - Sterben im Leben. - Ob Schein, ob Wesen? - Marie. Breslau⸗Leipzig Druck und Verlag von S. Schottlaender 1890. H. Dohm. Frau Fannhäuſer. Novellen. Frau Tannhäuſer. Novellen von H. Dohm. Breslau Druck und Verlag von S. Schottlaender 1890. Inhalt. Frau Tannhäuſer . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Sterben im Leben . . . . . . . . . . . . . . . 97 Ob Schein, ob Weſen? . . . . . . . . . . . . . 243 Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Frau Tannhäuſer. Lieber Freund! Nicht wahr, mit irgend einem bedeutenden Gefühl muß man doch die erſte römiſche Feder in die erſte römiſche Dinte tauchen? Ich thu's. Mein Gefühl iſt Verwunderung, grenzenloſe Verwunderung, daß ich überhaupt in Rom bin. Wie ich hergekommen — wenn ich die Geſchichte in einem Roman läſe — unſinnig würde ich ſie finden, unmöglich. Ein Glück, daß Heiterkeit und Appetit bei mir unverwüſt⸗ lich ſind, ſonſt — wer weiß, ob ich nicht ſchon eine Rolle in der Statiſtik geſpielt hätte, unter der Rubrik: Selbſt⸗ morde. Ich habe aber nun einmal kein Talent, der ſchönen Gewohnheit des Daſeins vorzeitig zu entſagen, woraus Du aber nicht ſchließen darfſt, daß ich nicht ſehr, ſehr unglück⸗ lich bin. Ach, an meiner Wiege iſt es mir nicht geſungen worden, daß ich an unglücklicher Liebe dahinſiechen würde, denn ich ſieche, wenn ich auch äußerlich etwas ſtärker ge⸗ worden bin. Daß es zu keinem tragiſchen Conflict gekommen iſt, zu keinem Duell, keiner Gift⸗ oder Waſſerleiche, das danke ich Dir, Du lieber verſtändiger Mann, Sokrates Dul ohne die Kantippe natürlich. Aber ein klein wenig Lob verdiene Rom. ich doch auch? Habe ich nicht die Fahne der ungeſchminkteſten Wahrheit hochgehalten? Nicht umſonſt habe ich mich im Licht Deines philo⸗ ſophiſchen Geiſtes geſonnt. Was haſt Du mich gelehrt? „Menſch, ärgere Dich nicht. Du nimmſt es nicht übel, wenn ich die Perlen Deiner Weisheit ein bischen berliniſch faſſe. Und ferner haſt Du geſagt: „Wie der Geiſt Gottes über den Waſſern, ſo ſchwebe über all unſeren Schickſalen die heitere Vernunft.“ Die Reue haſt Du einen Diebſtahl an der Zeit genannt, und die Liebe, — die haſt Du mit einem Schopenhauer'ſchen Aperqu abgethan. Mit dieſen und ähnlichen Lichtblitzen haſt Du das clair-obscur meiner Seele erhellt. Und einmal haſt Du auch zu mir geſagt: „Marie, ich habe mich in Deine fröhliche Weltauffaſſung verliebt Du biſt von Temperament ein Philoſoph, Du biſt mein allerliebſtes Atom, das in der Sonne tanzt, tanze nur immer ſo fort, und folge ganz Deiner blühenden, froh⸗ ſinnigen Natur; nie werde ich Dir irgend einen Zwang anthun, und liebſt Du mich eines Tages nicht mehr, ſo ſage es, ſage es, ich werde nicht mit der Wimper zucken, wir trennen uns dann „a l'amiable.“ Das heißt, Du haſt Dich natürlich wieder ganz anders ausgedrückt. Darfſt Du böſe ſein, wenn Deine Philoſophie Schule bei mir gemacht hat? Uebrigens bedauere ich es keinen Augenblick, daß ich vier Jahr mit Dir verheirathet geweſen bin. Freilich, ſeit⸗ dem Du Dich in die Geſchichte der alten Baudenkmäler, in's Hieroglyphiſche und Sanskritiſche verbiſſen hatteſt, ſo 10 daß Du kaum zum Mittageſſen an die Oberfläche tauchteſt, wobei es Dir dann ganz gleichgültig war, ob Suppenfleiſch oder Faſan auf den Tiſch kam, was für eine Hausfrau doch nicht angenehm iſt, — ſeitdem war's mir immer, als wärſt Du verreiſt, und Du reiſteſt immer weiter und weiter, in Länder, deren Sprache ich nicht mehr kannte, und ich ſtand, ganz Iphigenia, am Ufer, Dich Verlorenen mit der Seele ſuchend. Und bald erſchienſt Du mir nur noch im Licht eines Stilllebens, etwa von Holmberg gemalt — ein Gelehrter in ſeinem Arbeitscabinet, von Folianten umgeben — hochintereſſant, als Ehemann aber — nirvanahaft. Du hätteſt nie heirathen ſollen, nie, oder höchſtens ein häßliches, gelbes Hinduweib. Du ſiehſt ja doch nicht, ob man hübſch iſt. Dein Charakter aber — alle Achtung! Was würde ein anderer Mann geſagt und gethan haben, wenn ſeine Frau ihm Confidenzen gemacht hätte, wie ich ſie Dir gemacht habe. Noch ſehe ich die Scene vor mir, als wäre es geſtern geweſen, und es ſind doch ſchon vier⸗ zehn Tage darüber hingegangen. Weißt Du noch, wie ich in Dein Zimmer trat, mit dem Frühſtücksbrötchen in der Hand, um mir Contenance zu geben? Du mit der Naſe in den Büchern. „Was willſt Du?“ — „Mit Dir ſprechen.“ — „Habe keine Zeit.“ — „Ich werde warten.“ — Ich ſetze mich, Du ſchreibſt weiter, excerpirſt, ſchlägſt nach, immer ſo fort, und ich ſäße vielleicht heut noch auf jenem Stuhl, wäre ich nicht auf den ſinnreichen Einfall gekommen, Dich mit Brot⸗ kügelchen zu bombardiren. Ein kluges Kügelchen traf eine Hieroglyphe in's Herz, rieſiger Klecks. Das klärte Dich über die Situation auf. Du gabſt mir Audienz. Ich fiel 11 gleich mit der Thür in's Haus. „Vetter Egon liebt mich leidenſchaftlich, ich ihn dito, wir wollen uns heirathen, laß Dich von mir ſcheiden.“ Du hatteſt Dich abgewandt und griffſt nach einem Buch, das zu Boden gefallen war, und als Du wieder aufblickteſt und mich anſahſt — ein bischen haſt Du doch mit der Wimper gezuckt — ſo merkwürdig ſahſt Du mich an, — da that mir beinah' leid, was ich geſagt hatte, und wärſt Du mir damals zu Füßen oder wenigſtens um den Hals gefallen, ſo — wer weiß, am Ende hätte ich Dir das unermeßliche Opfer gebracht und auf Egon verzichtet. Du aber ſagteſt nur: „Laß mich nachdenken“ und winkteſt mir, fortzugehen, und als ich nicht gleich ging, winkteſt Du noch einmal, etwas ſtreng, und — ich ging. Wie ſchnell, wie weiſe und wie edel⸗ müthig haſt Du nachgedacht, Du mein Sokrates! Du haſt ja ſo viel Verſtand, Du mußteſt es natürlich finden, daß ich Egon liebe. Du weißt ja, daß wir uns als Kinder ſchon lieb hatten und für einander beſtimmt waren, und daß die Heirath nur an einer Caprice meines Vaters, der an Egon irgend ein kleines Charakterdeficit entdeckt haben wollte, ſcheiterte. Es war dann jugendliche Uebereilung von mir, daß ich Dich heirathete. Du glaubſt gar nicht, wie ſie mir alle Deine Berühmtheit, beſonders Deine zu⸗ künftige, anprieſen. Gewiß, Du gefielſt mir, aber Du biſt viel zu ernſt und zu tief für mich. Wollte ich uns durch eine Fabel illuſtriren, ſo würde ich ſie „Der Schmetterling und die Eule“ nennen. Die beiden Thierchen kommen nie zuſammen. Das eine lebt im Sonnenglanz, das andere in obſcurem, nächtlichem Gemäuer. Egon, der lebt auch im Sonnenglanz. Was der für Esprit hat, und für 12 Augen! Ich liebe ihn raſend, und wir wären Beide gewiß geſtorben, wenn Du nicht ſo lieb geweſen wärſt. Ich wußte es ja im Voraus, daß Du mich nicht zu Dir zwingen würdeſt; daß Du aber ſo einfach und liebevoll auf die Scheidung eingegangen biſt, das vergeſſe ich Dir nie. Ich habe mich aber auch ganz correct benommen. Habe ich nicht? Was hätte eine vulgäre Frau gethan? Ihren Mann betrogen. Greulich! Und daß ich ſo ohne Murren auf all Deine Bedingungen eingegangen und mich in das Land der Goldorangen habe verbannen laſſen, das war doch auch recht vernünftig von mir, während es wiederum von Dir ſehr hübſch war, daß Du Egon erlaubt haſt, mir ſo oft zu ſchreiben, als er will. Kannſt Du es aber verantworten, daß Du mir nicht erlaubt haſt, ihm eine Zeile zu antworten? Ich habe Dir aber einmal mein Ehrenwort gegeben, zu thun, was Du verlangſt, und ich werde es halten. Wie Du es willſt, werde ich Dich alle vierzehn Tage einmal ausführlich über die künſtleriſchen, topographiſchen, landſchaftlichen und ſeeliſchen Eindrücke, die ich von Rom empfange, orientiren, ſo bädekerhaft als möglich. Warum willſt Du mir denn aber keine Zeile ſchreiben? Das begreife ich wieder nicht — das heißt — doch — ja, ich fange an es zu verſtehen. Du beſter, edelſter Menſch, Du willſt meine Gefühle nicht beeinfluſſen; das iſt wieder ſehr hübſch von Dir, aber gar nicht hübſch iſt es, daß Du mich gerade nach Rom, in dieſe troſtloſe Einſamkeit, geſchickt haſt. Tante Friedel, als dame d'honneur, mit ihrem Strickſtrumpf und ohne ihre ausgezeichneten Büchſen mit Eingemachten, zählt doch kaum. 13 Ueber unſere Penſion, die pecuniären Fragen und einige andere Angelegenheiten hat ſie Dir ſchon berichtet. Die arme Tante, ſie kommt gar nicht aus dem Aerger und aus der Angſt heraus, — Angſt, weil alle Hunde hier ohne Maulkörbe umherlaufen, und Aerger, weil kein Italiener ein Wort deutſch verſteht, wenn ſie auch noch ſo lant und deutlich ſpricht. Und dann der Kaffee! ſeine grauſchwarze Grundigkeit hat ſie ſchon an den Rand von Thränen gebracht. Wer ſoll auch hier ſeines Lebens froh werden! O, ich errathe, warum ich hier bin: Tannhäuſer — Reue — Buße! u. ſ. w. Ich bin ſchlauer als Du denkſt; dazu aber lieber Freund, habe ich nicht genug geſündigt. Oder wollteſt Du nur den Ernſt meiner Gefühle für Egon prüfen? Dann hätteſt Du mich nach Paris ſchicken ſollen. An den Deutſchenhaß da drüben glaube ich nicht, er wird ſich wohl nur auf die unangenehmen Deutſchen beziehen. Rom iſt kein Aufenthalt gegen Liebe. Aus der Feuerprobe dieſer tödtlichen Langeweile hier wird die meine geläutert hervorgehen. Wenn ich auch heiter thue, meine Scherze ſind feucht von Thränen. Lebe wohl, Rom iſt gräulich, und Egon, den liebe ich raſend, Dich aber achte ich wahnſinnig. Deine treue Freundin Marie. Sokrates! Freund! Ruf mich zurück! ruf mich zurück! Ich halte es ja doch nicht aus. Oder laß Egon hierherkommen. Es hilft Alles nichts. Ich werde ihn lieben bis zum letzten Athem⸗ zug, und ganz ſpeciell bis zum letzten Athemzuge in Rom. 14 O, dieſes Rom! Sind das verlogene Menſchen, die ſich — via Bädeker — für dieſes Neſt begeiſtern. Ich glaub's nicht! Ich glaub's nicht! Mein einziger Troſt hier ſind Egons Briefe; da er⸗ fährt man doch wenigſtens, was in dem reinlichen, ent⸗ zückenden, bezaubernden Berlin W. vorgeht. Ich habe ein roſa Bändchen um die Briefe geſchlungen und darüber geſchrieben: „Troſt in Ruinen.“ Nimm es nicht übel, aber er ſchreibt wirklich ſehr amüſant. Er er⸗ zählt mir den neueſten Börſenwitz. Habe ich gelacht! Denke Dir — nein, ich unterdrücke den Witz. Auf der Höhe Deiner antiken Baudenkmäler haſt Du ja doch keinen Sinn für modernen Esprit. Rom alſo! Rom! wie eine volle Woge rollt einem das Wort von der Lippe. Der Ort aber: ſteinernes Ge⸗ rümpel, verblichene Scherben, marmorne Naſenloſigkeit, Riſſe, Sprünge, Trödel, zeitloſer Kehricht, wüſtes Gekreiſch von Menſch und Eſel, und über Allem der würzige Hauch ranzigen Oels — das iſt Rom. Und die Umgegend, die Campagna? eine wüſte Steppe, wo der wilde Stier gedeiht und der beißwüthige Hund, der Räuber mit dem Dolch im Gewande und Moderluft. Und die elenden Gaſſen in der Stadt! Wenn ich mir einmal eine Güte anthun will, ſo fahre ich nach Makao, das iſt ein funkelnagelneuer Stadttheil Roms in der Nähe des Bahnhofs, ganz acceptable Straßen, wie bei uns etwa die Steglitzer⸗ oder Kurfürſtenſtraße. Wenn wir Bewohner der Regentenſtraße einen Ausflug in die Steglitzerſtraße machen wollten, um friſche Luft zu ſchöpfen — lächerlich! 15 Bei der Regentenſtraße fällt mir unſer vis-à-vis, der Baron Fuchs ein. Weißt Du, was dem neuerdings in Nizza paſſirt iſt? Egon ſchreibt es mir. Er lernt da eine reizende junge Dame kennen, die ſich mit einem alten Herren, der natürlich nur ihr Vater ſein kann, dort auf⸗ hält. Sie machen einen gemeinſchaftlichen Ausflug zu⸗ ſammen, er tanzt auf einem Balle alle Tänze mit ihr. Er iſt total verliebt und hält bei dem alten Herrn um die junge Dame an. Der alte Herr ſoll vor Lachen bei⸗ nahe erſtickt ſein. Du erräthſt, daß die junge Dame nichts weniger als ſeine Tochter war. Verzeih' die Abſchweifung. Ja, was ich ſagen wollte. Von den Säulen auf dem Forum bis zu den Tiſchen und Stühlen in unſerer Penſion wackelt und bröckelt Alles in Rom. Freilich an den gewölbten Plafonds der Zimmer in unſerem Palazetto — welches Haus wäre hier nicht ein Paläſtchen — hüllen ſich Freskoengel in roſige und bläuliche Schleier, die Beine aber an Tiſchen und Stühlen werden mit Strippe zu ihren Pflichten angehalten. Ach Gott, Alles iſt hier antik: die abgeſtoßenen Teller, die henkelloſen Töpfe, die ſchlüſſelloſen Thüren, die verroſteten Klingelzüge, antik ſcheinen auch die römiſchen Ochſen, nach den zähen Roſtbeaf zu ſchließen, das ſie auf den Mittags⸗ tiſch liefern. Du weißt gar nicht, wie gut Du es mit Jetten haſt, die ſo perfect kocht. Antik ſind auch die Fremden in unſerer Penſion, 20 ältliche Engländerinnen und ein Ehepaar auf der Hochzeitsreiſe, das zuſammen 125 Jahr zählt, von denen auf die ſchöne ſchwerhörige Hälfte noch ein paar Jahre mehr kommen, als auf die wegen Podagra hinkende. Sie 16 iſt grundhäßlich, er geweſener Beau, ſie ſehr reich, er ſehr arm, ſie raſend eiferſüchtig, er Don Juan außer Dienſten, ſehr malgré lui. Sie führt den Trouſſeau einer Neu⸗ vermählten mit ſich und erſcheint zum Diner in halb⸗ langen Aermeln und coeurförmigem Ausſchnitt; ab und zu inſcenirt ſie ein Schäkerſpiel Neuvermählter, ſie flüſtert ihm in's Ohr, giebt ihm kleine Schläge mit dem Fächer und ſchielt ihn über ihre Brille liebevoll an. Anfangs ſaß der wacklige Seladon neben mir und ſpielte den Char⸗ manten — ſie entbrennt in Eiferſucht und läßt eine engliſche Tante mit einer Nachtmütze zwiſchen mich und ihn ſchieben. Er blinzelt über die Nachtmütze fort zu mir herüber. Mein Nachbar auf der anderen Seite iſt ein deutſcher Baron, Mecklenburger, nicht ohne Geiſt: Monocle, Scheitel über den Hinterkopf, lächelnde Blaſirtheit mit Schopenhauer verbrämt, ſchlank, frivol, hört auf den Namen von Malwitz. Der hatte es gleich weg, daß ich mit meinem aſchblonden Haar, grauen Augen und Grübchen in den Wangen etwas beſonderes Rares wäre, was ich daraus ſchließe, daß er es mir ſo oft als möglich ſagt, ganz ab⸗ geſehen von dem Veilchenſtrauß, den er täglich bei mir abſetzt, Unkoſten allerdings nur 5 Pfennige, die zarte Symbolik aber der Gabe verleiht ihm Werth. Mitunter erinnert mich der mecklenburgiſche Herr an Egon. Er er⸗ zählt Anekdoten, nicht ganz ſo, aber beinahe ſo hübſch wie er. Nun ja, er macht mir den Hof, wobei ich Dir nur geſtehen will — bitte, nicht die Augenbrauen runzeln — daß ich hier für ein Mädchen gelte. Tantchen hatte — ohne jede Nebenabſicht natürlich — in das Fremdenbuch: H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 2 17 „Frau Hartung nebſt Nichte“ geſchrieben. Kann ich dafür, daß man mich nun, je nachdem man Italiener oder Deutſcher iſt, Fräulein Hartung oder Signorina anredet. Eigentlich bin ich doch auch gar nicht mehr verheirathet, und Wittwe bin ich auch nicht. Was bin ich denn? Iſt es nicht ſo viel ſchicklicher und bequemer? Eine Frau, die in Scheidung ſchwebt! Abſcheuliche Poſition. Und dann dieſes ewige Fragen: Warum in Rom? Wozu in Rom? Wieſo in Rom? Siehſt Du, Dir ſchadet es nichts, und mir macht es Vergnügen. Das Unglück, wenn ich nun wirklich in die Lage käme, dem mecklenburgiſchen Reactionär einen Korb zu geben. Schon aus politiſcher Antipathie gegen ihn würde es mir Spaß machen. Tantchens Nachbar iſt ein Holländer, irgend ein van Schulz oder van Müller, ich kann den Namen nicht be⸗ halten, ein langer knochiger Herr mit ſtarken und energiſchen Zügen und einem großen Kopf, der auf einem zu dünnen und zu langen Hals zierlich auf⸗ und niederſchwankt. Dieſer Van (ich werde ihn der Abkürzung wegen nur „Van“ nennen) zeichnet ſich durch ein Notizbuch und ein Cello aus, die er immer in Bereitſchaft hält. Er ſpricht alle vorkommenden Sprachen, ißt von allen Speiſen, ſpricht mit allen Menſchen, ſpielt mit allen Clavierpaukern und verbindet mit den buſchigſten Augenbrauen das kindlichſte Gemüth. Sein Beruf: Menſchenfreund und Muſikdilettant. Tantchen, obwohl er etwas älter iſt als ſie, bemuttert ihn. Es ſcheint, die beiden Herren können ſich nicht leiden. Der Holländer ſieht immer beleidigt aus, wenn der Baron 18 etwas Geiſtreiches ſagt, und der Baron überhört die Aeuße⸗ rungen des Holländers als durchaus geringfügige. Ganz nach Deinem Wunſch durchſtreifen wir täglich die Stadt nach allen Richtungen. Ich ſperre die Augen auf und öffne die Thore meiner Seele, nicht nur um meinen Horizont zu erweitern, ſondern hauptſächlich um Dir etwas Hübſches ſchreiben zu können. Ja, was denn? Das Amüſanteſte, glaube ich, iſt Tante Friedel, die ſich hier zuſehends an Körper und Geiſt embellirt; wenn das ſo fortgeht, hört ſie nächſtens auf, alt zu ſein. Du weißt ja, wie ängſtlich ſie ſonſt war; jetzt, ſeitdem ſie die Hoff⸗ nung aufgegeben hat, den Italienern das Deutſche beizu⸗ bringen, entwickelt ſie einen Löwenmuth. Sie ſagte den Eingeborenen die unverfrorenſten Wahrheiten in's Geſicht — auf Deutſch. Gleich in unſerer Straße, der via sistina, da rekeln ſich den langen lieben Tag die römiſchen Modelle in der Sonne, die Du ja ſammt ihrer maleriſchen Tracht aus hunderttauſend Feuilletons auswendig kennen mußt. Was thut unſere liebe Tante? Sie haranguirt ſie folgender⸗ maßen: „Ihr Nußknacker, Ihr Orangeneſſer, iſt das eine Manier, die Schalen auf der Straße umherzuwerfen, daß anſtändige Fremde ausrutſchen und ſich Arme und Beine brechen müſſen! Strickt doch, Ihr Faulpelze, damit Ihr einen ganzen Strumpf auf die Beine kriegt, und kämmt Euch, damit Andere nichts von Euch kriegen. Und was habt Ihr denn da auf den Füßen? Dieſes chaotiſche Durcheinander von ſchmutziger Baumwolle, Lederriemen, Sohlen, Löchern, Fetzen und Bändern ſoll Schuhwerk ſein? Ich danke.“ Und damit nahm ſie ihre Kleider, um ſie 2* 19 vor der Berührung mit den Modellen zu ſchützen, ſo eng zuſammen, daß ihre Füße in ihrem ganzen reſpectablen Umfang zum Vorſchein kamen. Die ganze Bande brach in ein Hohngelächter aus: „il pié! il pié! (Fuß). Und ſeitdem, ſo oft wir die Straße paſſiren — etwa drei Mal täglich — das ganze Rachechor hinter uns her: „II pié! Und das iſt nun, ſo weit die via sistina reicht, Tantchens Beiname geworden. Wie ſie aber mich nennen? Sage ich's? Ich habe Dir Aufrichtigkeit geſchworen — ich ſag's. „Angelo del cielo“ rufen ſie hinter mir her. Und ach, dieſer „Angelo del cielo“ marſchirt nun durch Dick und Dünn in dieſen elenden Gaſſen umher, mit dem Riechfläſchchen in der einen Hand, während Tantchen in der andern Hand ein Flacon mit Ungarwein trägt, beides als Schutzmittel gegen etwaiges Bacillengeſindel, das gewiß hier ſeine ſchönſten Herde hat. Und der Lohn für alle dieſe Strapazen? Nichts als zuweilen ein ſüßer Schreck, wenn ich in dunkle, feurige Augen blicke, die mich an ſeine Augen erinnern. Zu unangenehm in dieſen krummen Gaſſen ſind die zahlloſen Schlächterläden, immer einer neben dem anderen, als ob alle Römer die Bantingkur brauchten, und kein milderndes Schaufenſter von Glas iſt da zwiſchen uns und dieſen Opfern des Carnivorenthums. Bis auf die Straße hinaus ſind die Ladentiſche geſchoben, auf denen Lungen, Lebern und andere mir ganz unbekannte blutige Eingeweide⸗ piécen den Käufer anlocken ſollen. Ganze Reihen abge⸗ ſchiedener Lämmer hängen wie Damoklesſchwerter über unſeren Häuptern und nicht einmal ein paar Blumentöpfe 20 zwiſchendurch beſchönigen die Metzelei. Daß Schlächter⸗ läden ſo die Vorſtellung von Blutthaten und Leichenfeldern erwecken können, habe ich erſt in Rom erfahren müſſen. Als einmal gerade ein Schlächtermeiſter in ſeiner Thür ſtand, ſchrie ihn Tantchen entrüſtet an: „Aber lieber Mann, ſo abgebrüht ſind wir Berliner nicht, daß ſolche Lämmer unſeren Appetit reizen könnten, der Anblick ver⸗ ekelt einem ja das ſaftigſte Beefſteak. Müßt Ihr ſchon Euer Gewerbe auf offener Straße treiben, ſteckt doch die Hängelämmer auf Spieße, und laßt ſie Angeſichts urbi et orbi braten anſtatt bluten. — So aber — da läuft man ja ſchnurſtracks in den Gemüſeladen nebenan, kauft Artiſchoken und . . . Da fiel ein Blutstropfeu von einem Hängelamm auf ihren neuen Hut. Entſetzt flohen wir auf die andere Seite der Straße und wären beinah aus der Scilla in die Charybdis gerathen, das heißt in die geöffneten Arme von zerlumpten Bettlern. Davor ſchützte uns der Holländer; der kam unverſehens durch die Straße und ſtreckte nicht nur ſchützend ſeine Hände vor uns aus, er zog auch ein Taſchentuch — gewiß eins von holländiſcher Leinwand — aus dem Rock und ſäuberte Tantes Hut, was ihrerſeits ein gerührtes Erröthen zur Folge hatte. Weißt Du, das Betteln, das iſt eine wahre Tortur für die Fremden. Es verhärtet Einem das Herz in der Bruſt, Ekel tödtet das Mitleiden, und wenn man giebt, ſo wirft man ſeinen Obolus hinter ſich, nur um ſo ſchnell als möglich aus der verpeſtenden Nähe dieſer Unglücklichen zu entkommen. Ehe man in eine Villa oder Kirche gelangt, 21 muß man zwiſchen Bettlerreihen förmlich Spießruthen laufen. Sie betteln nicht wie bei uns mit einem wehmüthigen Gemurmel und flehenden Blicken, ſie betteln mit allen Gliedern ihres Körpers, mit Armen und Beinen, mit Lumpen und Wunden. Viele haben oder fingiren fürchter⸗ liche Gebrechen. An den Stellen, wo die meiſten Fremden vorüberkommen, liegen ſtets eine Anzahl ſcheußlich geballter Klumpen, die ſich auf allen Vieren fortwälzen und unter krampfhaften Verrenkungen wahnſinnig um einen Soldo kreiſchen. Das angeſchoſſene Thier flieht in die Einſam⸗ keit, um ſeine Wunde zu verbergen, dieſe Bettler ſchwingen ihre verſtümmelten Arme und Beine wie Trophäen und überbieten ſich einander mit wildem Triumph in Blos⸗ legung ihrer Gebrechen. Ich ſah, wie ein Einarmiger einem Andern, dem beide Beine fehlten, anſpuckte, weil er einige Soldi mehr erwiſcht hatte als er. Man glaubt ſich in Zeiten fernſter Uncultur verſetzt, wo Ausſätzige und vom Teufel Beſeſſene an der Tages⸗ ordnung waren. Und dieſes phyſiſche Pariathum durch⸗ frißt ganz Rom, und dahin ſchickſt Du mich zartfühlende Berlinerin! Was habe ich Dir gethan! Ach Gott, ja, ich habe Dir ja was gethan. Tantchen fuhr an jenem Tag die Bettler an: „In's Hoſpital mit Euch! Ich ſchäme mich in die Seele Eurer Regierung hinein, die Euch hier auf offener Straße crepiren läßt. Giebt es denn keine Siechenhäuſer in Rom? oder wartet man auf die Cholera, damit die Euch da unten ein Unterkommen ſchafft? Und damit ſtieß ſie energiſch 22 mit ihrem Schirm auf das Pflaſter, daß es hohl wie Grabeskollern klang. „Wenigſtens,“ meinte der Holländer, könnte die Regierung dahin wirken, daß dieſen Elenden täglich ein unentgeltliches Bad verabreicht würde. Der Gebadete müßte dann mit einem Schilde verſehen werden, und nur wer dieſe Reinlichkeitsmedaille aufweiſen könnte, hätte An⸗ ſpruch auf Almoſen. Tantchen fand es noch einfacher, daß die bettelnden Herrſchaften, Angeſichts der Fremden, in eine der zahlloſen römiſchen Fontainen ſprängen, natürlich in einem decenten Badecoſtüm; die Fontainen, meinte ſie, wären doch nicht blos zum Plätſchern da, und ſie ſchloß ihre Rede mit einem Loblied auf die Berliner Polizei. Es ſei eine liebe Polizei, ſolche Wirthſchaft könne bei uns nicht aufkommen. Und darauf entwickelte ſie mir den Plan, dem Polizeilieutenant unſeres Reviers, der ihr einmal bei einer Dienſtmädchen⸗ Affaire behülflich geweſen war, eine Photographie vom Coloſſeum mitbringen zu wollen. Dieſer Plan aber fand ebenſo wenig Anklang als der Vorſchlag des Holländers, unverzüglich das Ghetto zu be⸗ ſuchen. Tantchen erklärte, ohne eine Stärkung nicht einen Schritt weiter gehen zu wollen. Ich ſchlug vor, in ein nahegelegenes Café zu treten. Sie wollte nicht, ſie habe es ausprobirt, der einzig trinkbare Kaffee käme im café nationale vor. Wir gingen alſo dahin, und Tantchen be⸗ ſtellte ſich Kaffee mit crema (Sahne). Merkwürdig dick war die Sahne; ſie nimmt einen Löffel, koſtet, ſtößt empört die Taſſe fort und ſtreicht Italien aus der Reihe der Culturländer. 23 Der Holländer blättert in ſeinem Notizbuch. Da ſteht's: den Gebrauch der ſüßen Sahne zum Kaffee kennt man in Rom nicht. Was man in den Cafés als crema erhält, iſt dicke oder ſaure Milch. Er giebt der Tante den Rath, ſich künftig in die Cafés aus einer der zahl reichen Molkereien Roms ein Töpfchen Sahne mitzubringen, welcher Vorſchlag aber von ihr als gar zu materiell ver⸗ worfen wird. Und während ſie noch von dem Hofgarten in München ſchwärmt, wo man bei Lutze den beſten Kaffee mit der beſten Sahne trinkt, nur die Taſſen wären viel zu klein, tritt der Baron ein, unendlich erfreut, uns zu treffen: Schon ſeit einer Weile hatte ich ihn gegenüber auf der Straße bemerkt, heftig ſein Monocle auf das Café richtend, dann war er auf eine Blumenverkäuferin losgeſtürzt, und nun überreichte er mir den längſtgewohnten Veilchenſtrauß er hätte geahnt, mich hier zu treffen. Ich lachte: ich lache immer, wenn mir nichts Geiſtreiches einfällt, was häufig der Fall iſt. Und findeſt Du nicht auch, gegen ein unbe⸗ quemes Liebeswerben giebt es keine bequemere Abwehr als ein harmloſes Lachen? Erlauben die Stimmmittel, daß es ſilbern klingt — deſto beſſer. Das Lachen ſagt: ich weiß ja, daß Deine Liebe nicht ernſthaft iſt, ich amüſire mich, Du amüſirſt Dich, weiter hat es keinen Zweck. Uebrigens bleiben ſeine Huldigungen natürlich in den Schranken der Ehrerbietung. Würde ich ſie mir ſonſt gefallen laſſen? Er iſt der reine Troubadour; z. B. beſtelle ich in einem Reſtaurant ein Beefſteak, ſo läßt er ſich ein Cotelette geben, und laſſe ich mir ein Cotelette geben, ſo beſtellt er ein Beef⸗ ſteak. Warum? Im Fall mein Beefſteak ſchlecht iſt, legt er 24 mir ſein Cotelette zu Füßen, und läßt mein Cotelette zu wünſchen, ſo muß ſein Beefſteak vor den Riß. Rührend, nicht? Jedem Schnupfen meinerſeits beugt er vor, indem er über die Bänke von Stein, auf die ich mich ſetze, ſeinen Paletot breitet. Sehr edel? Nicht? Der Holländer brachte das Ghetto wieder auf's Tapet, und mit den beiden Herren, Muth und Jehovavertrauen bewaffnet, entſchloſſen wir uns zu dem Wagniß. Ich ging mit Herrn von Malwitz voraus, Tantchen mit dem Van hinterher, und mit einem Mal fiel mir ein: Fauſt und Grethchen, Martha und Mephiſto; es war aber kein Garten, in den wir luſtwandeln gingen, o nein, ganz im Gegentheil. Es grauſte mich an, das Ghetto, als käme ich — Herr Gott, ich glaube, es wächſt mir ein leichter Flaum von Poeſie auf der Lippe — auf einen Kirchhof des Menſchenthums. Waren das Menſchen — Häuſer — Straßen? Das ganze Ghetto eine phantaſtiſche Kloake, eine menſchliche, lebendige Ruine voll unheimlichen, kreiſelnden, wirbelnden Lebens. Nichts als verſteinerter Schimmel, Löcher, Höhlen, verfallende Steinklumpen, ſchwärzliche Mauern, Geſtank und raſtloſe Menſchen, die in ihrer wilden, ſcheuen Art etwas Geſpenſterhaftes haben, etwas krank Sehnſüchtiges. „Ein architektoniſcher Höllenbreugel,“ ſagte der Baron, und der Holländer ſetzte verbeſſernd hinzu: „Eine Menagerie wilder Steine.“ Der Abfall von Monaten, Jahren, Jahrhunderten liegt aufgehäuft in den engen Gaſſen, ein ſenſationeller Unrath. Wie Menſchen dieſe Luft nur ein paar Stunden 25 athmen können, ohne zu erſticken, begreife ich nicht; und dahin ſchickſt Du mich! Barbar! Tantchen hielt ſich, ſeitdem wir das Ghetto betreten hatten, permanent die Naſe zu und näſelte nun in höchſt komiſcher Weiſe, wenn ſie etwas ſagen wollte. An manchen Häuſern klettern ſchmale Hühnerſtiegen von außen an dem bröckligen Mauerwerk empor; ſie führen in halb demolirte Räume. Durch die leeren Fenſterhöhlen ſieht man ſtruppige Köpfe ſich unſtät auf und abbewegen. Auch ein alter, ſchiefer Palazzo ſteht in einer engen Gaſſe. Ueber dem marmornen Altan hängen Lumpen. In Höfe haben wir geblickt, nur wenig Quadratfuß groß und von hohem Mauerwerk eingefaßt. Auf den Mauerrändern und auf dem Pflaſter des Hofes ſickerte eine grünliche Jauche, Fenſterlucken öffnen ſich auf dieſen Hof, dahinter die Schlafzimmer der Familie. Die Betten: eine Handvoll Lumpen auf einem alten Kaſten. Auf einem ſolchen Kaſten ſahen wir einen ſterbenden Greis. „Mikrobenhaft,“ ſagte der Baron. „Kommahaft,“ verſtärkte der Holländer. Tantchen erkundigte ſich aufgeregt nach der nächſten Badeanſtalt, ich aber konnte vor ſchmerzlicher Verblüfftheit kein Wort hervorbringen. Einmal ſtanden wir vor einemgeheimnißvollen, cyklopen⸗ haft gewölbten Bogen, der in eine ſchwarzbraune Finſterniß führte. Ich ſetzte einen Fuß hinein, der Baron riß mich zurück. Tantchen hielt ſich noch energiſcher die Naſe zu und näſelte: „'s riecht zum Himmel!“ Und denke Dir, Oſterien (Gaſtwirthſchaften) giebt es ſogar in dieſer Heimat des Urſchmutzes. „Öſteria“ ſtand 26 auf einer niedrigen Thür in einer verwitterten Mauer Oeffnete ſich die Thür, ſo quoll ein giftiger Athem heraus. Die kleinen Fenſter in der Mauer waren mit einer dicken Kruſte von — ja, ich weiß nicht wovon bedeckt. Ein großer Theil der Wohnungen empfangen Luft und Licht nur durch die Hausthüren. Jeder kann in die dumpfen Gewölbe hineinſehen. Drinnen ein wildes Durch⸗ einander: Küchengeräth zwiſchen Strohmatratzen, auf einer Matratze ein ſchnarchender Strolch, zerlumpte Wäſche auf Tiſchen und Stühlen, am Boden abgenagte Knochen; in Fett⸗ und Waſſertümpeln balgen ſich kleine, ſtruppige Kinder. Die beiden Hauptſtraßen ſind ganz angefüllt, die eine mit Millionen alter Schuhſohlen, die andere mit eben⸗ ſo viel Lumpen. Rieſenſchränke voll Abhub. Auf kleinen Stühlen, in langen Reihen ſaßen alte Weiber mit kraus⸗ ſchwarzen Haaren und raſtloſen Augen und ſortirten die Lumpen. Einige von ihnen glichen halb Vampyren, halb Prophetinnen. „Das ganze Ghetto,“ meinte Herr von Mallwitz, „iſt wie die Hallucination Eines, der am Säuferwahnſinn leidet.“ „Ich möchte das Ghetto eher einen irren Epilog zum Mittelalter nennen,“ corrigirte der Holländer. Dein Glück, lieber Freund, daß ich keine Schriftſtellerin bin und auch ſonſt keine glühende Einbildungskraft beſitze, ich könnte mir am Ende vorſtellen, daß dieſe Sohlen Nachts, wenn der Mond ſcheint, ſich an die Schuh und Stiefeln hefteten, zu denen ſie einſt gehörten, und in das Schuhwerk ſchlüpften die Menſchen, die es einſt getragen und — ecco, der grauſe Geiſterſpuk wäre fertig. Der Holländer be⸗ 27 lehrte uns aus ſeinem Notizbuch, daß nicht mehr viel Juden im Ghetto wohnten. Ich glaub's, dafür ſpricht, daß die Bewohner, wenigſtens ſoweit meine ethnographiſche Einſicht reicht, wenig jüdiſch ausſehen; meiſt grobe, plumpe, dick⸗ naſige Geſichter. Die beſitzenden Juden haben längſt den Staub — nein, den Schutt und Moder von ihren Füßen geſchüttelt. zu dem ein ſocialer Rachegeiſt dieſes Stadtviertel zertreten hat. „Einem der Kröſuſſe des Ghetto,“ ſo erzählt der Baron, „war vor einigen Jahren ein großes Unglück paſſirt Seine ſchöne Tochter verſchwand. Er ſetzte Himmel und Hölle und Geldſack in Bewegung, um ſie wiederzufinden. Endlich fand er ſie, in einem Kloſter, getauft, katholiſch, als Nonne.“ „Nur zu begreiflich,“ meinte der Holländer, „daß ſie Antipathie empfand gegen eine Religion, wo ſelbſt auf den Treppen der Synagoge ein ſo fürchterlicher Schmutz ange⸗ häuft liegt.“ Hier brach er plötzlich ab, zog ſchuell ſein Notizbuch hervor und zeigte dem Baron eine doppelt unterſtrichene Stelle. „Gieb nie ein Almoſen im Ghetto, ſonſt biſt Du verloren.“ Es war zu ſpät. In halber Zerſtreutheit hatte der Baron bereits einige Kupfermünzen in eine Schaar bettelnder Kinder geworfen. „Schnell, ſchnell,“ flüſterte uns heiſer der Holländer zu, und ohne recht zu wiſſen, welche Gefahr uns drohte, liefen wir eilig davon, das Geheul der Kinder, die ſich in einem wilden Knäuel um die paar Soldi balgten, hinter uns laſſend. Die Bande aber hatte Blut geleckt, ſie war uns auf den Ferſen, und wie die Reiſenden in ruſſiſchen Steppen den wilden Thieren, ſo ſahen wir uns dieſen Bettel⸗ 28 wölfen preisgegeben. Wir blieben feſt und gaben nichts. Sie begnügten ſich nicht mehr mit dem Gekreiſch um einen Soldo — die ganze Rotte war wie von einer bacchantiſchen Wuth befallen — ſie umzingelten uns, zupften an unſeren Kleidern, klammerten ſich an uns an. Schlugen die Herren mit ihren Stöcken eine Breſche in die lebendige Mauer, neue Schaaren füllten ſie gleich wieder aus. Da plötzlich packt mich einer der größeren Jungen an der Schulter, ſo gewaltſam, daß ich hintenüber falle, mitten in die Lumpenbagage hinein. Nun hätteſt Du den Baron ſehen ſollen, wie ſeine Augen ſprühten, wie er mich mit dem Anſprung eines Löwen aus dem Knäuel heraushob. Er hielt mich einen Augenblick ſchwebend in der Luft, wie eine Siegestrophäe, ſo daß ich ein Bischen zappeln mußte; ich wurde dunkel⸗ roth vor Zorn, konnte aber den Zorn nicht austoben, mein Mecklenburger war ſchon über den Buben her, den er gewiß todtgeſchlagen hätte, wenn ich nicht für ihn gebeten hätte. Der Bube hatte wieder Egons Augen. Tantchen meinte ſpäter, es wäre ihr ſo vorgekommen, als hätte der Baron, während er den Miſſethäter anfuhr, ihm etwas in die Hand gedrückt; ſie muß ſich aber wohl geirrt haben. Nach dieſer tollen Scene hielten ſich die kleinen Strolche in einiger Entfernung von uns, die Verfolgung aber gaben ſie nicht auf; immer ſpringend und kreiſchend hinter uns her, aus dem Ghetto heraus, weiter und weiter über die Piazza di Venezia, bis in den Corſo. Da brach unſere Energie, und wir gaben Jedem einen Soldo. O Sokrates, die raſende, raſende Freude, die ſie über 29 dieſen einen, einen Soldo an den Tag legten, die wäre wohl eine ſocialiſtiſche Thräne werth geweſen. Das Ghetto alſo iſt eine Sehenswürdigkeit von Rom? Ich glaube, Herr von Malwitz hat Recht, wenn er es eine Sehenswürdigkeit für Dichter nennt, die das Bedürfniß fühlen, ſich von der Menſchheit ganzem Jammer — um ihn gedruckt zu verwerthen — anpacken zu laſſen. Der Holländer empfahl es für angehende Philoſophen, die Menſchenverachtung en gros brauchen. Tantchen aber hielt diesmal keine Rede. All ihre grimmigen Gefühle concentrirte ſie näſelnd in den pathetiſchen Schrei: „Poſaunen, Poſaunen! Damit die Mauern fallen! Wir verließen das Ghetto mit einem Lächeln auf den Lippen über die Ungläubigen, die von der Darwin'ſchen Theorie — der Abſtammung des Menſchen vom Thier⸗ nichts wiſſen wollen, und mit dem Schwur, dieſen greuel⸗ vollen Ort, wo ſelbſt die ſtrahlende Sonne nur wie ein wildes grelles Lachen aus einer gequälten Menſchenbruſt wirkt, nie mehr zu betreten. Daß die Regentenſtraße tauſend Mal ſchöner iſt als der Ghetto, laſſe ich mir von Niemand ausreden. Gute Nacht. Marie. Lieber Freund! Von unſerer Penſion habe ich Dir noch ſo gut wie nichts geſchrieben. Die iſt noch das Gemüthlichſte in Rom. Der Salon mit ſeinem flammend gelbrothen Cretonne auf allen Polſtern und Tiſchen — blendend. Man iſt drauf und dran, den Sonnenſchirm dagegen aufzuſpannen. Für poetiſche Gemüther — überall Grünes. Aus Korbgeflechten 30 hängt es von den Wänden nieder, auf den Tiſchen tritt es als Blumentopf auf. Hinter dem Pianino, über dem Kamin⸗ ſpiegel, in dunklen Winkeln — Palmen. Die Palme iſt hier, was bei uns früher — Gott hab ihn ſelig — der Gummibaum war. Die Engländerinnen mit den großen ausgeſchnittenen Schuhen, mit ihren wollengeſtrickten Tüchern, vielen Broſchen und ihrer betriebſamen Lernhaftigkeit geniren mich nicht. Alle haben mich gern, merkwürdig, nicht wahr? Von dem mecklenburgiſchen Granden bis zu Pietro herunter. Das iſt der Diener und zugleich Bräutigam von Celeſte, dem Stubenmädchen. Er markirt mir immer mit den feurigſten Blicken das beſte Stück Braten auf der Schüſſel, und denke Dir, auch der hat Egons Augen, und mit dieſen Augen ſchielt er, — shoking! Celeſte rächt ſich für die Anbetung, die er mir zollt, durch abſolute Schonung des Ungeziefers und Staubes in meinem Zimmer, und neulich vollführte ſie ſogar einen Racheact, mit dem eine Salondame Ehre eingelegt hätte. Ich ſpreche mit ihr im reinſten fließendſten Italieniſch; und was ſagt ſie darauf? „Merkwürdig, ſagt ſie, „wie das Deutſche und Italieniſche ſich ähneln! Sie fingirte zu glauben, daß ich deutſch ſpräche — unver⸗ ſchämt. Ich habe ſie deshalb auch nicht einen Augenblick bemitleidet, als ſie geſtern ſchluchzend aus dem Zimmer der greiſen Neuvermählten flog. Der Grund war klar, denn hinter ihr ſtand mit aufgehobener Rechten — ein Rache⸗ geiſt — die beleidigte Gattin. Ihr Theurer hatte offen⸗ bar dem Mädchen nachgeſtellt. Die hochzeitreiſende Urahne ſetzt übrigens auch den Feldzug gegen mich fort. Sie hat ſich mit ihrem Schatz 31 an die andere Seite der Tafel placiren laſſen und einen Blumentopf vor ſein Geſicht geſtellt, um ihm meinen An⸗ blick zu entziehen. Er hat ein paar Blätter auseinander gebogen und verſucht nun, durch die Lücke mit mir zu lieb⸗ äugeln. Das wird wieder wenn ſie dahinter kommt eine luſtige Scene geben. Du ſiehſt, es giebt Leute, die eiferſüchtig auf mich ſind, wenn es auch nur Stubenmädchen, komiſche Alte und Mecklenburger ſind. Dir freilich iſt die krummſte Hieroglyphe lieber als die ſchlankſte Gattin. Uebrigens gegen den Baron muß ich doch nächſtens die Würde und Hoheit, die die Vertraulichkeit entfernen ſoll, herauskehren. Seine Neigung nimmt Dimenſionen an . .. Er hat zuweilen Nüancen in der Stimme und etwas Tiefes und Heißes im Blick — wie Egon. Jeden Abend, wenn wir nach dem Diner in den Salon treten, finde ich auf dem weichſten Fauteuil, an der wärmſten Kaminecke einen Plaid, einen Bädecker und die berüchtigte Daudet'ſche Sappho, um die Engländerinnen dir einen horreur vor unſittlichen Büchern haben, von dem Lehnſtuhl abzuſchrecken. Es iſt auch ein Pianino da. Herr von Malwitz ſingt, nicht aufregend, aber angenehm. Neuerdings ſingt er mit Vorliebe den Rubinſtein'ſchen Asra, augenſcheinlich nur, um ſich mit dem Asra⸗Jüngling an der Stelle, wo, er vor Liebe ſtirbt, zu identificiren. Geſtern z. B. ließ er ſeine Stimme an der betreffenden Stelle brechen; Un⸗ betheiligte würden vielleicht ſagen, ſie ſchnappte über, weil es mir aber galt, ſage ich, ſie brach. Er ſtand auf, kam melancholiſchen Schrittes auf mich zu und wollte etwas 32 ſagen, ſagte aber nichts; dann ſagte er doch etwas, aber blos: „wozu? wozu?“ worauf er ſich ebenſo ſchleunig als effectvoll zurückzog, nachdem er einen blauen Blitz aus ſeinen Augen geſchleudert, der ſeinen Zweck, mein Herz ein⸗ zuäſchern, gänzlich verfehlte. Als ich ſpäter in mein Zimmer trat, duftete es ganz nach Veilchen, ohne daß ein einziges Veilchen zu ſehen ge⸗ weſen wäre. Tantchen fühlte ſich davon ganz ſpiritiſtiſch angeweht und neigte zu der abergläubiſchen Vorſtellung, daß durch die Decke hindurch — der Baron wohnte über uns — ſein liebender Geiſt im Verein mit ſeinem ſtarken Willen dieſes veilchenhafte Duften bewerkſtelligt hätte. Als ob es nicht Veilchenparfüms gebe und dienſtfertige Geiſter, ſie in Umlauf zu ſetzen. Der Don Juan a. D. warnt mich vor Herrn von Malwitz, und flüſtert mir zu — er flüſtert mir immer etwas zu, wenn ſeine Greiſin gerade die Brille putzt: „liaison dangereuse.“ Die nächſte Woche gehört den Ruinen, Gärten und Galerien. Ach wie langweilig! und wie liebe ich Egon! wirklich über alle Maßen; es verdrießt mich nur, das Pietro Augen hat wie er, und ich hatte mir ſo viel auf ſeine Augen eingebildet. Das iſt wieder eine Täuſchung, die ich Rom verdanke, Du böſer Sokrates. Deſſen ungeachtet grüßt Dich freundlich Marie. Lächerlich, wie alle Welt hier meinem Egon ähnlich ſieht. Dir gleicht keiner, nur der Sokrates, er iſt aber doch noch häßlicher als Du. H. Dohm, Frou Tannhäuſer. 3 33 Lieber Ernſt! Warum ſind nur dieſe Villen mit den dazu gehörigen Gärten ſo berühmt? Warum begeiſtern ſich die Fremden ſo dafür? Wahrſcheinlich weil in dieſen Gärten keine Bäume ſind, die Schatten geben, keine Bänke, die Lehnen haben, und keine Wieſen, die gemäht, ſüß nach Heu duften: mit einem Wort, weil Alles ganz anders iſt als daheim, und nicht halb ſo hübſch. Wir waren — natürlich wieder zu Vieren — in den Gärten der Villa Medici und Wolkonski, Du erinnerſt Dich, in dem Mendelsſohn'ſchen Briefwechſel wird davon wahn⸗ ſinnig geſchwärmt. Ich weiß nicht, mir kommt hier Alles ſo kirchhöflich vor; wohin ich auch gehe, überall gähnt mich eine ſchimmelige Ewigkeit an, überall etwas Ein⸗ oder Ausgebuddeltes. Geſtern z. B. in der Villa Wolkonski. Ja, iſt denn das wirklich ein Vergnügen, durch lange Alleen zu luſtwandeln zwiſchen Sarkophagen — wenn auch in einigen Peterſilie gezogen wird — zwiſchen Columbarien, abgeſchlagenen Armen und Beinen, ſteinernen Togafetzen und bröckligen Gliedmaßen. An Mauern, Grotten, Wänden, Baumſtämmen, über⸗ all ſind kleine Trümmerreſte eingefügt, oft ſo kleine, daß man archäologiſch überbildet ſein muß, um das Ganze zu errathen, in das dieſe Stückchen hineinpaſſen. Da giebt's Läppchen von Ohren, Nägel von Fingern. Naſenflügel, die Spitze einer Locke, ein paar Federn aus einem Vogelflügel, die Falte einer Toga u. ſ. w. „Eine ſteinerne Reſterhandlung,“ ſagte der Baron. 34 „O nein, entgegnete der Holländer, zierlich das Häls⸗ chen ringend, „marmorne Vergißmeinnicht der Weltgeſchichte. Tante erröthete vor Vergnügen und drückte ihm die Hand, ſo hübſch fand ſie das Wort. Denke Dir, dieſe Tante iſt im vollen Zuge, ſich zu bekehren. Während ſie in den erſten Wochen meine Ab⸗ neigung in Bezug auf Rom noch überbot, ſteuert ſie jetzt friſch im Fahrwaſſer aller übrigen, begeiſterungsſüchtigen Foreſtieri. Sie und ihr Verehrer haben jetzt ein gemein⸗ ſchaftliches Reiſehandbuch; er vergißt das ſeine mit ver⸗ dächtiger Regelmäßigkeit, und da ſtecken ſie nun die Köpfe zuſammen in das Buch, um Rom zu ſtudiren. Eigentlich wundere ich mich, daß Herr von Malwitz noch nicht auf dieſe Form der Annäherung verfallen iſt, er ſcheint auch ſelbſt den Mangel zu fühlen. Er verfehlt nie, dringend dem Holländer ſeinen Bädeker anzubieten, den dieſer jedes Mal ebenſo dringend, unter Hinweis auf Tantchens Gſell⸗ Fels, zurückweiſt. Ich wollte ja aber von der Wolkonski ſprechen. Zwiſchen den Steinklümpchen der erwähnten Alleen findeſt Du, um bunte Reihe zu machen, zahlreiche Feigencactuſſe. Alle ſind wurmſtichig und vermorſcht und geberden ſich in ihrer wilden Steifheit, mit ihrer Elephantenhaut, als wollten ſie auch etwas Antikes vorſtellen. Und wie lächer⸗ lich ſich ein Blatt an das andere ſetzt, als hätte eins dem anderen einen Naſenſtüber verſetzt, der dann plötzlich ver⸗ ſteinert oder verblechert wäre. Botaniſche Mißbildungen ſind's, die an Größenwahn leiden, durchaus ein Baum ſein wollen, und es doch nur zu einem grotesken, knorrigen Gewächs bringen. 35 3* Der Beſitzer der Villa iſt entſchieden von einer Scherbenmanie beſeſſen. Ein antiker Kopf mit dem üb⸗ lichen Zubehör von Naſe, Ohr u. ſ. w. würde ihm gar keinen Spaß machen. Das einzig Ganze in dieſem Villen⸗ garten ſind die Foreſtieri (remden), die aus dieſen ſteinernen Bischens Begeiſterung ſchöpfen. „Wie gut iſt man doch daran,“ ſagte Tantchen „daß man noch ſo leidlich ganz iſt. „Das kann ich von mir nicht ſagen,“ entgegnete der Holländer, „mir fehlt, um ganz zu ſein, die beſſere Hälfte. Tante Friedel wurde dunkelroth und klappte ſo ſchnell den Bädeker zu, daß einer ſeiner Finger darin blieb. Natürlich benutzte auch mein Verehrer die günſtige Gelegenheit, Anſpielungen auf ſein zerriſſenes Herz zu machen, z. B. wünſchte er, daß ſein armes Herz auch eine marmorne Antiquität wäre, da es doch ſtückweis brechen müßte u. ſ. w. Auf einem der ſchmalſten Wege des Gartens trafen wir mit den engliſchen Neuvermählten zuſammen. Die Alte hatte gerade noch ſo viel Zeit, um ihren Herzaller⸗ liebſten mit ihrem Sonnenſchirm vor unſerm Anblick zu ſchützen. Wir treffen das Ehepaar überall. Augenſcheinlich forſcht der galante Greis unſeren Ausflügen nach und dirigirt ſein Weib dann an den betreffenden Ort, während dieſes hinwiederum zu glauben ſcheint, daß wir den Spuren ihres Gatten nachgehen. Sobald ſie unſerer anſichtig wird, macht ſie den ausgiebigſten Gebrauch von dem halben Kopf, den ſie größer iſt als ich, indem ſie mich durch Blicke von oben herab ecraſirt. Unſere beiden Herren 36 ignoriren den Engländer in oſtentativer Weiſe, der Holländer nämlich, weil er denkt, ſeine Huldigungen gelten Tantchen, und der Baron, weil er ſie auf meine Rechnung ſetzt. In Bezug auf die Wolkonski will ich noch nachtragen, daß der eigentliche Garten nur aus Brenneſſeln und Bohnenſtangen beſteht, und daß die paar Berge in der Ferne den Kohl auch nicht fett machen. Am anderen Tag waren wir in der Villa Medici, und obwohl wir vor unſeren Cavalieren den Ausflug ge⸗ heim gehalten hatten, waren ſie doch da. Der Portier ſteckt dahinter, ſie haben ihn beſtochen; der holt uns die Droſchken und weiß, wohin wir fahren. Natürlich fehlen auch in dieſem Garten zerbrochene Sarkophage, eiſige Marmorbänke, naſenloſe Köpfe, Geſtrüpp und ſchattenloſe Pinien nicht. Im vorderen Theil des Gartens giebt's allerdings keine Pinien, nur ganz niedrige Bäume, deren Wipfel in einander fließen und dämmerig düſtre ſchmale Alleen bilden, Alleen wie grüne Kerkerzellen. Nun ſollte man doch wenigſtens von dieſen Bäumen erwarten, daß ſie Myrthen, Lorbeern oder Oleander wären — nein — Buchsbäume ſind's! mögen die ſich noch ſo lorbeerartig ſtrecken, Buchsbaum bleibt Buchsbaum. Kein Zwitſchern eines Vogels — Grabesſtille — nichts als Schimmel und Buchsbaum. „Ein Aufenthalt für Nachtvögel und letzte Acte eines Trauerſpiels,“ ſagte der Baron. Da ausnahmsweiſe der Holländer nichts dagegen hatte, behauptete Tantchen, daß die letzten Acte ihr gerade die liebſten wären, und nachdem ich bemerkt hatte, daß dieſer feuchte Dämmer ungeſund ſein 37 müſſe, ſchlug der Baron vor, uns den Eichenhain mit dem berühmten Belvedere aufſchließen zu laſſen. Nach Hinterlegung eines zweiten Trinkgeldes öffnete ſich uns der Eichenhain. So verkrüppelte Baumſtämme habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht geſehen. Als ſtürzten ſie alle, hilfeſchreiend, in wilder Flucht durchein⸗ ander, ſo ſehen ſie aus, was Tantchen aber nicht abhielt, zu declamiren: „Heraus in eure Schatten, rege Wipfel. Willſt Du mit mir wetten, daß unter zehn Menſchen, die dieſen Hain betreten, neun ſich dieſes Citats ſchuldig machen: „Da ſind ſie!“ rief plötzlich der Holländer und brach mit Tantchen in ein dichtes Lorbeergebüſch ein, während Herr von Malwitz mich in eine Seitenallee zog. Ich hatte aber noch Zeit, zu ſehen, wie die Alte unverſehens dem Alten triumphirend um den Hals fiel, worüber er vor Schreck wie angewurzelt ſtehen blieb, und ihm die Kußfinger, die er mir zuwerfen wollte, in der Hand ſtecken blieben. Bis zum Belvedere ſind wir gar nicht vorgedrungen. Ein Ziegenbock ſtand vor der Treppe, die empor führte; ſchneeweiß war er — eine raffinirte Koketterie — wahr⸗ ſcheinlich ſollte er dem Hain etwas Verzaubertes, Mytho⸗ logiſches geben, oder kommt in der Mythologie kein weißer Ziegenbock vor? Sollte ich ihn mit der Hirſchkuh der Genovefa verwechſeln? Darauf kommt's ja nicht an. Tante Friedel fürchtete ſich vor den Hörnern des Thieres und wollte umkehren. Die Herren erklärten den Ziegenbock für unſchädlich. „Mag ſein,“ meinte Tante, „aber wer ſetzt ſich bei Tiſch gern neben Jemand, der einen geladenen Revolver in der Taſche hat? Ich nicht. So ein Ding kann losgehen. Und dieſer Ziegenbock iſt doch nur ein 38. unvernünftiges Thier und hat ſeinen Revolver immer bet ſich.“ Die Muſik vom monte pincio nebenan klang zu uns herüber. Meine feige Anverwandte zog es plötzlich unaufhaltſam der Muſik nach, und die Klügere — ich nämlich — gab nach. Der pincio, der wäre ja nun ſo weit ganz nett — mit der Rouſſeau⸗Inſel freilich, beſonders zur Zeit der Eisbahn, iſt er nicht zu vergleichen — aber er iſt zu klein, eine wahre Tretmühle, in der man ſich immer im Kreiſe dreht zwiſchen einem Gewimmel von Geiſtlichen, die durch die Mannigfaltigkeit ihrer Tonſuren und Gewänder, ihres Colorits, ihrer Sprache und Phyſiognomie allerdings eine recht bunte Staffage für dieſen Spazierort abgeben, den einzigen in Rom, der zu Fuß zu erreichen iſt. Die rothen Prieſter — es ſind Deutſche — nehmen ſich am beſten zwiſchen den grünen Büſchen aus. Im Allgemeinen glaube ich nicht, daß das Cölibat dieſer Geiſtlichen der Schönheits⸗ entwickelung des Menſchengeſchlechts Abbruch thun wird. Die meiſten ſind häßlich, haben einen ſchlechten Teint, plumpe Füße und gehen einem ſelten aus dem Wege. Der Tante Friedel wäre neulich auf dem pincio beinah ein Abenteuer begegnet. Wir waren zufällig allein an dem Tage, und Tantchen hatte ſich, während ich weiter⸗ ging, auf einer Bank niedergelaſſen. Bald aber kam ſie athemlos hinter mir hergelaufen. „Unerhört,“ ſchrie ſie mir von Weitem entgegen, „ein Geiſtlicher! Erſt iſt er immer um meine Bank herumgeſchlichen, Blicke hat er mir zugeworfen, um eine Gaskrone anzuzünden, und dann hat er mich angeſprochen — ſo zudringlich!“ Da kam er heran, ein abgezehrter ältlicher Herr mit kleinen ſtechenden Augen. 39 Er wendete ſich jetzt an mich, er ſprach franzöſiſch, ich verſtand ſein Murmeln nicht, die Eloquenz aber, mit der er ſeine zerriſſenen Schuhe unter der Soutane hervorſtreckte, war nur zu verſtändlich. Er bettelte. Das Abenteuer endete zu Tantchens Beſchämung mit dem Baarverluſt einer Mark. Findeſt Du es nicht komiſch, daß die Friedel mit ihren 40 Jahren noch an die Möglichkeit eines Abenteuers glaubt? Ich habe ſie daraufhin genauer beſichtigt, und ich geſtehe, ihr friſches rothbäckiges Geſicht mit den braunen lebhaften Augen und das ſchwarze volle Haar haben mich etwas ſtutzig gemacht. Am Ende muß ich doch ein Auge auf ſie und den Van haben. Willſt Du noch mehr von dem pincio wiſſen? Lehnt man ſich über die niedrige Mauer, die ihn einſchließt, und blickt auf die Landſtraße, ſo ſieht man gewöhnlich ganze Heerden kohlſchwarzer Schweine vorübertreiben — ich mag gar keinen Schinken mehr eſſen — manchmal ſind's auch Büffel, faſt immer aber iſt es etwas Gefährliches, oder etwas, was — nicht duftet. Vom monte pincio ſteigſt Du nieder zur piazza del popolo und vor der porta (Thor) del popolo, am Anfang der via flaminia, da ſteht eine leibhaftige Pferde⸗ eiſenbahn, die Dich zur ponte molle führt. Via flaminia! Gott, wie hiſtoriſch, wie immens intereſſant klingt das! Und was für eine Straße iſt es! Eine gräßliche, ſchmutzige, proletarierhafte Gaſſe, alle fünf Schritt eine Schänke, das Pflaſter mit Abfällen von Ge⸗ müſe und Obſt bedeckt, Frachtwagen, unermeßlicher Staub, 40 wüſter Lärm, armſelige Häuſer und überall Haufen von Proletariern, die müßig umherſtehen und — ſpucken. Vor einigen Tagen waren wir mit dieſer Tramway nach ponte molle gefahren und von da weiter gewandert nach aqua acetosa, was wir doch unſerem Goethe ſchuldig waren, deſſen Lieblingsſpaziergang bekanntlich dieſer Sauer⸗ brunnen war. Der nicht allzu breite Weg war einſam an dieſem Tage. Auf der einen Seite der Tiber, auf der anderen hohe, dichte Hecken. Unterwegs erzählte ich der Tante von der armen jungen Engländerin, die im vorigen Jahr dieſen Weg geritten war; vor einer Heerde Schweine ſcheute plötzlich das Pferd, ging durch und Roß und Reiterin fanden in der Tiber ein Grab. Kaum war ich in meiner Erzählung bei dem Wort „Schwein“ angelangt, da wirbelte Staub auf — näher und näher kam's — eine unabſehbare Heerde dieſer haſſens⸗ werthen Unthiere, und keinen Weg der Rettung — keinen. Ich hatte nur die Wahl: in die Tiber — über die Dornen⸗ hecke — oder mitten durch den ſchwarzen Graus. „Eher in den Tod, als da mitten durch,“ ſagte ich zu Tante. Zum Beſinnen war keine Zeit, ſchon grunzte es uns um die Ohren. Ich entdecke eine kleine Oeffnung in der Hecke und mit der Rieſenkraft der höchſten Angſt erweitere ich die Oeffnung mit meinen Händen, werfe mich platt auf den Boden und krieche auf allen Vieren durch die Oeffnung, und im nächſten Augenblick ſtehe ich hochaufathmend auf einem ſchweinefreien Stoppelfeld. Nicht aber ſo viel Zeit blieb mir, um ein Dankgebet zu ſprechen; eins der Unge⸗ heuer hatte die Oeffnung geſchnuppert, ein ſchwarzer Kop 41 zwängte ſich durch die Breſche, das Uebrige folgte, und ge⸗ müthlich trottete das freche Thier auf mich zu. Herz⸗ zerreißend muß der Schrei geweſen ſein, der mir in der Kehle ſtecken blieb. Ich ſtürzte fort über Hecken und Ge⸗ ſtrüpp, fiel hin, ſtand wieder auf, immer weiter, bis mir auf gedrangem Weg ein Räuber den Weg verſperrte. Ex trug das maleriſche Campagnolencoſtüm, ein ſehr hübſches und ziemlich neues. Ich ſchwöre Dir, ich weiß nicht wieſo, aber ich fürchtete mich nicht, obgleich der Bandit die Augen etwas rollte. Wir fixirten uns einen Augenblick ſchweigend. „Que domanda?“ („Was wünſchen Sie?“) fragte ich endlich. „La borsa o la vita!“ („Die Börſe oder das Leben! antwortete er wie aus einem Luſtſpiel heraus. Ich gab ihm mein Portemonnaie, empfand aber einige Unruhe, da nur zwei Lire darin waren. Er zählte das Geld langſam, dann fixirten wir uns wieder einen Moment ſchweigend, er war offenbar betroffen von meiner Gelaſſen⸗ heit. Darauf begann er die Augen wie Feuerkugeln zu rollen, zog aus ſeiner neuen rothen Schärpe ein ſehr blank⸗ geputztes Meſſer und ſagte: „non basta!“ („Nicht genug! Unwillkürlich ſchrie ich auf. Wie auf ein Stichwort öffnete ſich das Gebüſch; Jemand entriß ihm Dolch und Portemonnaie, und Jemand warf ihn zu Boden. Daß mein Retter der Baron war, haſt Du ſicher errathen. Inzwiſchen war der Räuber entflohen, und Tantchen mit dem Van, die meinen Schrei gehört, kamen herbeige⸗ laufen. Ich erzählte mein Abenteuer. „Merkwürdig, meinte der Hollender, „wie der Bandit dem jungen Mann aus dem Marmorgeſchäft bei uns nebenan glich; Sie wiſſen, 42 Herr Baron, mit dem Sie heut Nachmittag geſprochen haben.“ — „Bewahre,“ ſagte Herr von Malwitz, „keine Spur.“ Die beiden Herren tauſchten während dieſes Dialogs feindſelige Blicke aus. Es iſt klar, Holland will Mecklen⸗ burg bei uns discretiren. Sonderbar bleibt es allerdings, wie oft der Baron mich rettet. Wie kamen die Herren nach ponte molle? Diesmal habe ich Tantchen im Verdacht des Verraths. Ein ſpätes Herz, das ſich im vierzigſten Jahr entdeckt! Das wird Egon beluſtigen. Die nächſte Woche gehört den Muſeen und Gallerien. — Du lieber Gott! Leb wohl! Marie. Alſo, lieber Ernſt, die Gallerien und Muſeen! Die Begeiſterung der Fremden dafür — glaube mir — Schwindel, naiver oder bewußter, und ich will Dir gleich von vorn⸗ herein meine Schlußmeinung ſagen: Dieſe Gallerien ſind kein Kunſtgenuß, ſondern eine Strapaze. Vom Anſchauen der Deckengemälde bekommt man Kopfſchmerzen, von den ſteinernen Fußböden kalte Füße, und das Ganze iſt ein Local für Erkältung. Tantchen weiß ein Lied davon zu ſingen. Vor dem Apoll vom Belvedere, wo es fürchter⸗ lich zog, hat ſie ſich eine dicke Backe geholt. Der Van fand, daß ſie ihr ſehr gut ſtehe, und ſeitdem will ſie immer wieder in den Vatikan, wahrſcheinlich um auch die andere Backe dieſem Zuſtand unnatürlicher Geſchwollenheit aus⸗ zuſetzen. Viele dieſer Bilder ſind nichts weiter als erloſchene Farben und ein Name. Ob die Farben in's Bräunliche, Bläuliche oder Grünliche verblichen ſind, das kann mir ja 43 ganz gleich ſein. So ein gelbbraunes Gemengſel z. B. wie die Schlacht von Wouvermann, welchem ſeeliſchen Be⸗ dürfniß kommt ſie entgegen? Und nun gar die altchriſt⸗ liche Kunſt! Die Geſichter dieſer Madonnen und Heiligen — Holz, die Blumen — Papier, Himmel — Lackfarbe, Glieder — Leder, Locken — Hobelſpähne, Ausdruck — Weihnachtsſchaf. Etliche dieſer Madonnen ſehen wie Gänſe⸗ mädchen aus, andere ſtellen vergilbte, ausgewaſchene Mütter dar, die irgend etwas Unkenntliches, was ein Baby ſein ſoll, an ihr, hinter complicirten Faltenwürfen gedachtes Herz drücken. Auf den meiſten dieſer Bilder: Wunden und Blut, knöcherne Greiſe, Leichname und etwas Ge⸗ picktes, Gebratenes oder Geſchundenes; unwillkürlich hält man ſich die Ohren zu, es iſt wie ein einziger, großer Schrei. Auch der Baron ſchüttelte den Kopf und meinte, hier würden die Gallerien zur Morgue, und wir hielten Todtenſchau. Das opponirende Holland wies begütigend auf den Ausdruck himmliſcher Wehmuth in den Köpfen der Ge⸗ marterten, und da ich doch auch manchmal etwas ſagen muß, erlaubte ich mir dieſe Wehmuth ſchläfrig zu finden, wie unter dem Einfluß einer Morphiumſpritze hervorge⸗ bracht. Herr von Malwitz lächelte mir beifällig zu, als wäre ich geiſtreich geweſen, und ſagte: auf allen dieſen Bildern gäbe es Himmel, Hölle oder Fegefeuer, nur für die Erde wäre kein Raum, und ſie wäre doch die Haupt⸗ ſache, wenigſtens für ihn, da dieſer Weltkörper die Ehre hätte, von mir bewohnt zu ſein. — Fade, nicht wahr? Es ärgert mich, daß er mich zuweilen an Egon erinnert, 44 er hat auch ſo etwas Berliniſches. Und Egon, den liebe ich, den Mecklenburger aber — gar nicht. Da gefällſt Du mir noch hunderttauſendmal beſſer. Wärſt Du nur nicht gar ſo unberliniſch! Es grüßt Dich ſchönſtens Marie. Lieber, guter Ernſt! Du denkſt gewiß, daß ich aus Eigenſinn, aus Seelen⸗ trotz mich erhabenen Eindrücken verſchließe. Du irrſt. Siehſt Du, geſtern z. B. da habe ich mich auf einen Stein in's Coloſſeum geſetzt. Tantchen mußte auf die entgegen⸗ geſetzte Seite rücken, ſo daß ich ſie gar nicht ſehen konnte. Und da habe ich ganz corinnahaft, mit Notizbuch und Bleiſtift in der Hand, die Schatten der Vergangenheit her⸗ aufbeſchworen. Iſt es meine Schuld, daß mir nicht der kleinſte Gladiator erſchienen iſt, und auch ſonſt gar nichts, was eine Toga trägt oder eine imperatorenhafte Viſage hat. Soll ich mich darum grämen? Ich finde es gar nicht ſo bezaubernd, wenn man ſich ſo recht lebendig vor⸗ ſtellt: dort iſt das Thor, durch das die Beſtien in die Arena ſtürzten, hier die Stelle, wo ſie etliche weißgekleidete Jungfrauen in Stücke riſſen; dort drüben wurden aus der Tiefe die zerfetzten Leichname an's Licht geſchleift — da hinten — vorüber, vorüber, wie es in Gedichten heißt, wenn dem Dichter der Athem ausgeht. Danken wir doch Gott, daß heute im Coloſſeum an Stelle der wilden Thiere die Foreſtieri getreten ſind, die doch wenigſtens zum großen Theil zahm ſind. Tantchen hatte in der Arena keine Ruhe. Die Steine waren ihr zu kalt, auch behauptete ſie, es raſchle und 45 kniſtere hinter ihr, und einen centnerſchweren Stein hatte ſie im Verdacht, einen unwiderſtehlichen Drang zu fühlen, ihr auf den Kopf zu fallen. Sie wollte durchaus in die palatiniſchen Ausgrabungen. Da doch für mein Notizbuch nicht der kleinſte Gedankenſchnitzel abfiel, that ich ihr den Willen. Als wir aber bei den erſten Mauerreſten den Van und Herrn von Malwitz trafen, wußte ich, warum ihr die Steine zu kalt geweſen waren. Wir waren kaum einige Minuten umhergewandert, als Herr von Malwitz rief: „Da ſind ſie!“ Und richtig, da ſaßen die Neuvermählten auf einem antiken Stein, er mit einer Zeitung auf den Knieen. Die Alte brauchte diesmal ihren Sonnenſchirm ſelbſt und fand im Augenblick keine andere Abwehr gegen uns als die Times, in die ſie den Geliebten förmlich einwickelte, ſo daß nur ſeine Haar⸗ und Stiefelſpitzen daraus hervorlugten. Wir bemerkten auch, daß er die Ohren voller Baumwolle hatte, zweifellos ihr Werk, ſie wittert überall Sirenen. Tantchen war bald ganz in ihren Gſell⸗Fels mit dem dazu gehörigen Holländer vertieft, und mir blieb nichts übrig, als meine Gedanken mit Herrn von Malwitz aus⸗ zutauſchen, welche Procedur ich mit den Worten einleitete: „Was ſind Ruinen?“ — „Nicht wahr,“ antwortete er lebhaft, „Sie haben ganz recht. Soll ich eine Greiſin be⸗ wundern, weil ich in ihren Zügen die Spuren ehemaliger Schönheit finde? Der Verfall von Schönheit erregt höchſtens ein energiſcheres und achtungsvolleres Mitleid, als wenn etwas ganz Vulgäres zerſtört wird.“ Hat er nicht Recht, lieber Freund? Ich geſtehe, mir gefällt auch ein ganzes Hans mit vergoldeten Ledertapeten, Renaiſſancemöbeln und türkiſchen Teppichen viel beſſer, als 46 ein ſo bröckliges Stückchen Palaſt mit Unkraut, Schimmel und giftigen Spinnen möblirt. Wie hübſch iſt doch unſer Salon in der Regentenſtraße. Wenn ich daran denke — Wehmuth ſchleicht mir in's Herz hinein. Brennt denn der neue Kamin ordentlich! Ich hatte ihn mir ſo leidenſchaft⸗ lich gewünſcht. Erinnerſt Du Dich noch, wie ich ſo ahnungs⸗ los am heiligen Abend in's Weihnachtszimmer trat? Zwei Tage war es für mich geſperrt geweſen. Flammen ſchlagen mir entgegen. „Feuer! Feuer!“ ſchrie ich entſetzt, und Du, Du lachſt wie ein Kind und rufſt: „Feuer im Kamin! Und da tanzte ich wie eine Wilde einen Freudentanz um das Feuer herum. Konnteſt Du mir wohl je einen Wunſch abſchlagen! Du biſt ein ſchöner Pädagoge, und Du allein biſt ſchuld, wenn ich ſo ſelbſtſüchtig geworden bin. Als Kind hatte ich einen ganz guten Charakter. Ja, wovon ſprach ich doch gleich? Richtig, von einem der ſieben Hügel Roms, vom Palatin. Herr von Malwitz meinte, die Ruinen könnten uns aber doch eine Lehre geben, ſie ſollten uns ſein, was den Alten die Mumien bedeuteten, die man bei ihren Gaſtmählern in Abbildungen herumreichte: eine Aufforderung, in vollen Zügen aus dem Becher der Freude zu trinken. „Und was mich betrifft,“ fügte er hinzu, „ich trinke, trinke, und bin doch durſtig, immer durſtiger . . . Aha, dachte ich, jetzt holt er ihn ſich — den Korb nämlich. Er wollte meine Hand ergreifen, ich zog aber vor, damit eine grüngoldene Eidechſe zu greifen und über ihre graziöſen Windungen eine Lache aufzuſchlagen. Mir war aber nicht ganz wohl dabei. Sollte er mich ernſthaft 47 lieben? Er hatte an dem Tage noch nichts Geiſtreiches geſagt, und ich nahm mir vor: entſchlüpft vor Sonnen⸗ untergang kein bon mot, kein Funke von Eſprit dem Zaun ſeiner Zähne, ſo kündige ich ihm den Ciceronedienſt und verſchwinde aus ſeinem Geſichtskreiſe. Indem ich dieſen Vorſatz faßte, wandte ſich der Holländer zu Herrn von Malwitz. „Fragten Sie nicht eben, was Ruinen ſeien: „Ich habe mir die Frage ſchon ſelbſt beantwortet, antwortete ſchnell der Baron, „Stoppelfelder der Weltge⸗ ſchichte ſind's. Da war's ja, das Aperqu, das mir meine Gemüths⸗ ruhe wiedergab. Der Holländer wollte lieber anſtatt Stoppelfelder Schatten ſagen, die die Menſchheit hinter ſich wirft. Und Tantchen, die jetzt allzeit poetiſche, liſpelte etwas von „Oden in Stein“ und hielt es für ſehr verdienſtlich, das morſche Geſtein mit hiſtoriſchem Geiſt zu erfüllen. Hiſtoriſcher Geiſt in Rom! Wo in jede Fuge des Alterthums ſich ſchmarotzerhaft das neueſte, modernſte Leben eingeniſtet. Der Holländer citirt z. B. aus ſeinem Gſell⸗Fels: „Hier der tarpejiſche Felſen wo Brutus ſeine Söhne hinabſtürzen ließ“ — und ich blicke ein paar Fuß tief in eine ſchmierige Gaſſe hinab. „Hier iſt Marcellus in's Theater gegangen,“ und ich ſehe in einen alten Käſe⸗ laden und in eine ſchwarzverrußte Schmiede. „Hier hat Diocletian gebadet,“ und ich klettere eine hölzerne Treppe empor, die zu einem Bildhauer⸗Atelier führt, mit der Aus⸗ ſicht auf einen unſauberen Schuppen, in dem Wagen ſtehen, faules Stroh liegt und — mauches Andere. 48 „Hier iſt das Schlafgemach des Titus,“ und ich ſtehe in einem viereckigen, ſchlüpfrigen Kaſten, an den Wänden einige lebhafte, ſchimmelige Farbenkleckſe. Siehſt Du, ich kann mich nun einmal nicht für alte Steine und abgetretene Treppen, für unterirdiſche Keller⸗ löcher, Trinkgelder und Finſterniſſe — weiter ſind die Ruinen doch nichts — begeiſtern. Dagegen fühlte ich mich neulich auf dem Palatin recht berliniſch angeheimelt. Ein Herr mit einem Knaben wanderte mit uns durch das Geſtein. Der Knabe ſprang luſtig voraus, blieb dann ſtehen und fragte: „Papa, darf ich mir hier auch etwas ausbuddeln: Uebrigens, ſo ganz reſultatlos verlaufen meine Ruinen⸗ wanderungen doch nicht. Wenn gerade kein Aufſeher in der Nähe iſt, belecke ich die umherliegenden Marmorſtücke. Behalten ſie nach dieſer Procedur ihre weißlichgraue Farbe, ſo werfe ich ſie fort, ſie ſind dann eben gemeine, unbrauch⸗ bare Steine. Nehmen Sie aber unter der naiven Be⸗ feuchtung eine rothe Farbe an, ſo habe ich ein Stück werthvollen marmora rossa erwiſcht, und keine Spur von Ehrlichkeit hindert mich, das Stück in die Taſche zu ſtecken und unter Hinzufügung einer Eidechſe einen Briefbeſchwerer daraus arbeiten zu laſſen. Dieſes Verfahren hat mich ein Schriftſteller aus Elbing gelehrt, der auf dieſe Weiſe ſeinen ganzen Bekanntenkreis mit köſtlichen Geſchenken verſorgt. Tantchen leckt ſelten mit: ihr poetiſcher Zuſtand läßt das nicht zu. Degegen pflückt ſie auf allen ſieben Hügeln Roms Blumen, und führt dabei den Namen Floras im Munde und raiſonnirt auf den Berliner Thiergarten, wo man nicht das kleinſte Gänſeblümchen unter 6 Mark Strafe H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 4 49 pflücken darf. Täglich kommt ſie mit einem großen Strauß heim, nachher iſt der Strauß aber ganz klein; ich wette, ſie theilt ihn mit dem Holländer. Ich habe mit Niemandem etwas zu theilen. Egon, den ich liebe, der iſt ja nicht da. Haſt Du eigentlich Blumen gern? Es blühen hier wunder⸗ bare Anemonen. Ich hätte Luſt Dir welche zu ſchicken. Deine treue Freundin Marie. Ja, lieber Freund, wir genießen Rom in vollen Zügen wir ſchlucken hiſtoriſchen Staub. Bald fahren wir durch die große Gräberſtraße — ein bröckelnder Bau neben dem andern, Stein an Stein, bald kriechen wir durch irgend welche Thermen, wieder Steine; wir ſteigen in die Kata⸗ komben — Steine, nichts als Steine. Zuweilen iſt mir, als legten ſie ſich ſchwer auf meine Bruſt, Grabſteine, und begrüben etwas in mir. Ach, lieber Sokrates, die Marie in der via sistina iſt nur noch der Schatten der Marie aus der Regentenſtraße 13. Tantchen aber, die gedeiht unter dieſen — wie ſie ſagt — „himmliſchen Ruinen“ wie ein Alpenveilchen unter Felſenriffen. In die obſcurſten Winkel und abſurdeſten Löcher dringt ſie muthig vorwärts, ſteckteſt Du nur Deine Naſenſpitze hinein, ſo riefeſt Du entſetzt: „Nachbarin, Euer Fläſchchen Eau de Cologne! Apropos Fläſchchen: dabei fällt mir ein, was Egon mir von dem Baron Vörlitz ſchreibt — Du haſt wohl auch ſeine Todesanzeige in der Zeitung geleſen. Der hatte nur eine Leidenſchaft: Burgunder. Seine ganze Lebens⸗ aufgabe war, ſeinen Körper ſo zu dreſſiren, daß er möglich 50 viel Burgunder in ſich aufzunehmen im Stande war. Da hat er kürzlich eine Ohnmacht. Die Aerzte ſehen darin den Vorboten einen Schlaganfalls und verbieten ihm den Burgunder bis auf den letzten Tropfen. sWas thut mein Baron? Er ſchickt allen ſeinen Freunden eine Karte mit p. p. c. und ſchießt ſich todt. Egon findet das genial. Du auch? Ich finde die Geſchichte zu animaliſch, und ich würde mich nie wegen weißer Rüben, die ich leiden⸗ ſchaftlich gern eſſe, todtſchießen. Hier, wo die Zeit ſo mit Jahrtauſenden um ſich wirft, kommt es Einem ganz abſurd vor, ihr in's Handwerk zu pfuſchen, wie Tantchen ſagen würde, den Parzen die Scheere aus der Hand zu winden. Tantchens Seelenzuſtand iſt nämlich wieder um einige Grade geſtiegen. Sie hat die Berlinerin völlig abgeſtreift und iſt jetzt ganz mythologiſch durchſetzt. Die wiſſenſchaftliche Bildung ihrer Backfiſchjahre kommt zum Durchbruch, ſie mißbraucht die Namen aller Götter und lieſt Leſſings Laokoon mit Cellobegleitung. Haſt Du gewußt, daß die Tante eine ſo leidenſchaft⸗ liche Patriotin iſt, complicirt durch Vorliebe für's Militär? Neulich fand hier vor der Kirche del Gesu eine prunkvolle Proceſſion ſtatt. Die Augen einer dichtgedrängten Menge hingen an dem Schauſpiel. Mit einem Mal läuft eine Bewegung durch die Maſſe, tauſende von Köpfchen drehen ſich um, Alles ſtürzt von dem Platz in die engen Straßen mit einem Hurrahgeſchrei: „i prussiani, i prussiani; Und richtig, fürbaß ſchritten durch die Straße drei Berliner Küraſſier⸗Lieutenants in ihrer Galauniform, mit dem ſilbernen Adler auf den blinkenden Helmen. Aus Läden und Cafés liefen die Leute in die Gaſſe, von den Zimmern 4* 51 an's Fenſter, und ihre Kindesaugen hingen an den blanken Barbaren des Nordens wie an einem Wunder. Tantchen glühte von Patriotismus bis in die Finger⸗ ſpitzen. „Ich bin auch eine Preußin,“ jubelte ſie in die Menge hinein, und wer weiß, ob ſie nicht dem längſten Küraſſier um den Hals gefallen wäre, wenn der Holländer nicht gar ſo ängſtlich ſein Hälschen gerungen hätte. Ich habe gar keinen Patriotismus mehr. Selbſt mein vielgeliebtes Berlin verblaßt in der Erinnerung, und auch all die Berliner, die mir ſo ſehr gefallen haben. Rom aber — das iſt eine merkwürdige Stadt. Egon ſchreibt ſehr oft, wöchentlich einen Brief, oder ſind es zwei? Ich bin ſo verwirrt. Alles iſt hier ſo ver⸗ gangen, und doch ſo ewig, ſo zwecklos, ſo univerſell und erdrückend. Die Ruinenhaftigkeit ſteckt an. In der all⸗ gemeinen Zerbröckelung zerbröckelt auch etwas in mir. Wo? was? ich weiß es ſelber nicht. Man wandelt nicht ungeſtraft unter Ruinen. Uebrigens Deine alten Baudenkmäler, inſoweit ſie ſich auf römiſche Baureſte beziehen, intereſſiren mich jetzt einigermaßen. Schicke mir doch das Manuſcript. Lebe wohl! Marie. Lieber Freund! Du haſt an Tantchen depeſchirt, weil ich acht Tage über die feſtgeſetzte Zeit nicht geſchrieben habe. Ob ich krank bin? Nein, ich bin nicht krank. Ich weiß nur nicht, was ich Dir ſchreiben ſoll. Das heißt, ich bin doch leidend — eine Gemüthsmigräne habe ich und einen Kamin, der 52 raucht; die treiben mich immer wieder in die Villengärten, in die Ruinen, und immer ärgerlicher komme ich nach Hauſe zurück. Dieſem koloſſalen Verfall gegenüber, wie zwerghaft nichtig erſcheint mir Alles, was ich denke und gedacht habe, was ich thue und gethan habe. Ich bin ruinenkrank. Was ſoll ich, Dummbart, denn hier auf klaſſiſchem Boden? Der immenſe Gegenſatz zwiſchen mir und Rom deprimirt mich, macht mich nervös. Ein um⸗ gekehrter Robinſon Cruſoe, bin ich aus meiner geiſtigen Uncultur hierher in eine Atmoſphäre deſtillirteſten Geiſtes verſchlagen, und ich ſehe mich umſonſt nach einem Freitag um, um mich zurecht zu finden. Du wärſt ſo ein ganz paſſabler Freitag, auch könnteſt Du, Adler, mich Mücke auf Deinen Flügeln mit emportragen. Denke Dir, ich habe hiſtoriſche Träume. Neulich er⸗ ſchien mir im Traum ein römiſcher Kaiſer, ich glaube es war Caligula. Das Scheuſal wollte mich als Brandfackel in's Jenſeits befördern, wegen Untreue meinerſeits. Ich erwachte ſchaudernd, und den ganzen Tag über war mir ſcheiterhaufenmäßig zu Muth. Biſt Du böſe auf mich, Sokrates? ſehr böſe? Ich hätte es gern. Warum haſt Du damals nicht wuthge⸗ ſchäumt! Das wäre eine Erleichterung für mein Gewiſſen. Freilich — ach Gott — was liegt denn überhaupt an mir! Ich fühle mich ſo bei Seite gedrängt, in den Hinter⸗ grund geſchoben, etwas Anderes, Beſſeres, Größeres tritt in den Vordergrund. Was? ich weiß es nicht recht zu definiren: etwas Allgemeines: Natur, Kunſt, Schönheit, das Univer⸗ ſum, die Ewigkeit. — Mein Sinn für Humor iſt mir auch abhanden gekommen. Ich kann über Egons Briefe 53 nicht mehr lachen. Aber natürlich liebe ich ihn, ich liebe ihn noch immer. Lebe wohl, Sokrates. Wer doch ſo weiſe wäre wie Du! Ich möchte ſo ſehr gern wiſſen, ob Du böſe auf mich biſt! Marie. Lieber Ernſt! Weißt Du, worüber ich mich wundere? Daß ſich der Baron noch keinen Korb geholt hat; ich hatte ſchon ein ſo liebenswürdiges und geiſtreiches „Nein“ in Bereitſchaft. Ob er mich vielleicht für eine Erbin gehalten hat? Tantchens Erbin natürlich, und ob ihm jetzt, durch den liebenden Holländer, meine pecuniäre Zukunft in Frage geſtellt ſcheint? — Ein häßlicher Verdacht. Die Sache iſt ganz einfach. Er merkt, daß er nicht auf Gegenliebe ſtößt. Seit einigen Tagen iſt er auffallend unruhig. Er weicht mir aus. Indeſſen waren wir doch geſtern zuſammen in der Villa Ludoviſi, wo er nicht nur kein geiſtreiches, ſondern überhaupt kein Wort ſprach. Er blickte nur düſter und ſchwieg ſchwermüthig. Erſt als wir am Ausgang des Parks ſtanden, ſagte er: „Ich gehe fort.“ „Nach Neapel? „Nein, nur in ein anderes Hotel, wozu noch länger ... Bei „länger“ brach er kurz ab, ergriff, ehe ich's ver⸗ hindern konnte, meine Hand und drückte ſie an ſeine, bei Gott, feuchten Augen. Gut, daß ich mir ihm gegenüber nichts vorzuwerfen habe. Es iſt mir lieb, daß er geht. Ich werde recht einſam ſein, das will ich auch. Ich brauche keine Menſchen; ſie gefallen Einem ja doch 54 immer weniger, je näher man ſie kennen lernt. Daß die Menſchen nicht anders ſind, als ſie ſind, macht das Daſein nicht vergnügter. Ich bin auch nicht anders, gehöre auch zur Maſſe. Du freilich, Du gehörſt zu den Auserwählten, und wenn Du nicht gerade berufsmäßig in Hinterindien beſchäftigt biſt, wohnſt Du in der Nähe der Sterne, und von da oben ſchauſt Du auf uns Geſindel herab und lächelſt wohlwollend ironiſch. Ja, Du biſt hochmüthig, hochmüthig biſt Du. Herr Gott, rede ich einen Unſinn! Lebe wohl! Zu Deiner Höhe hinauf grüßt Dich aus dem Staube da unten Deine Marie. Freund! Sokrates! Ich ſchäme mich ja wie ein Pudel Wie bringe ich es über die Lippen! Der Baron — erſt wollte ich Dir die ganze Geſchichte verſchweigen. Aber nein — Unrecht heiſcht Sühne. Haarklein ſollſt Du Alles er⸗ fahren. Lache nur, lache über mich! Ich habe ja auch oft über Dich gelacht, weißt Du noch, zuletzt über Deinen neuen Ueberrock, der eine ſo komiſche gelbbraune Farbe hatte. Um fünf Uhr hatte er mir noch ein Veilchenſträußchen in die Hand gedrückt, mit einem Blick von brunnentieſer Melancholie. Am Abend wollte er die Penſion verlaſſen. Eine Viertelſtunde vor dem Diner trete ich in den Salon, wo ſich um dieſe Zeit die ganze Geſellſchaft zu verſammeln pflegt; ſie war faſt vollzählig. Zwei neue Ankömmlinge erregen die Aufmerkſamkeit, eine ſtattliche Dame von etwr 40 Jahren mit ihrer erwachſenen Tochter, die ſehr blond und ſehr hübſch iſt, und mich lebhaft an Jemand erinnert, 55 ich weiß nicht gleich an wen. Auch die Mutter kommt mir bekannt vor. In der That trat ſie gleich auf mich zu, und — denke Dir meinen Schrecken — redete mich mit „Frau Profeſſorin“ an. „Frau Profeſſorin, Sie hier? Das iſt ja charmant. Sie erinnerte mich, daß wir uns in Berlin in einer Geſellſchaft beim Geheimrath Pätow getroffen hätten, ein einziges Mal — o ſtrafbares Gedächtniß — fragte mich nach meinem Herrn Gemahl, für den ſie immer eine giganteske Verehrung gehabt, erzählte mir, daß ſie ihren Mann überraſcht habe, der ſie erſt einen Tag ſpäter er⸗ wartet hätte, und was ich hier triebe? Ob ich durchge⸗ brannt ſei, oder an Huſten, an Malerei oder an Welt⸗ ſchmerz litte? Und das Alles redete ſie mit überlauter burſchikoſer Ungenirtheit, ein Ton, in den manche Ariſto⸗ kratinnen verfallen, wenn ſie über andere Mittel, ſich von den Plebejern zu unterſcheiden, nicht verfügen. Ich ſtand wie auf Kohlen. Ich fühlte Aller Blicke auf mir ruhen. Da ging die Thür hinter uns auf, die Dame wandte ſich um und rief lebhaft: „Kurt, denke Dir, ich treffe hier eine liebenswürdige Bekannte aus Berlin.“ Und Kurt — iſt mein Baron. Kreideweiß iſt er anzuſehen, ſeine Augen blicken verſtört in's Leere, und er iſt im Begriff, die Flucht zu ergreifen. „Bleibe doch,“ ruft ihm die Gattin zu, „ich will Dich der Frau Profeſſor Delmar vorſtellen.“ Sie unterbricht ſich aber ſofort. „Was fällt mir nur ein, Ihr müßt Euch ja täglich in der Penſion geſehen haben. Und ich wette,“ fuhr ſie zu mir gewendet fort, „mein Kurt hat Ihnen den Hof gemacht, er iſt ein Schlingel, aber Ge⸗ ſchmack hat er.“ Die Züge dieſes Schlingels hatten ſich 56 unter den Worten ſeiner Gattin wie mit einem Zauber⸗ ſchlage verwandelt. Er ſchien um einen Kopf zu wachſen, ſein ganzes Geſicht war von einer Roſengluth der Ver⸗ gnügtheit übergoſſen. Seine Damen hatten ſich einem jungen Italiener zu⸗ gewendet, und er trat raſch, lachenden Auges, mit an⸗ muthiger Sicherheit auf mich zu. „Sind Sie mir böſe,“ ſagte er, daß ich Ihren * Scherz mit meinem Scherz beantwortet habe: „Bewahre,“ antwortete ich und ſuchte in meinen Ton ſo viel verächtliche Indifferenz wie möglich zu legen. Sie ſind ein recht paſſabler Schauſpieler.“ „Meine Rolle war auch gar zu leicht,“ fuhr er fort „ich ſpielte, was ich fühlte, das heißt nicht ganz, ich fühlte tauſend Mal mehr; was ich ſpielte, war nur ein zahmes Präludium zu dem Allegro, das in mir ſtürmte. Er ging den ganzen Abend nicht von meiner Seite; und zu meinem Schrecken ſah ich, wie ganz verändert zum Böſen er ſich mir gegenüber zeigte. Er war koloſſal flott geworden. Keine ſinnige Anſpielung mehr auf ſein krankes Herz, kein ſentimentales Lächeln, kein beredtes Schweigen. Im Gegentheil, er gab mir zu verſtehen, daß wir ſo eine Art Auguren wären, die, wenn ſie zuſammen kommen, heimlich lachen über den Aberglauben der Anderen, Aber⸗ glauben in Bezug auf Moral. Ich verſtand, was das Alles ſagen wollte: Eine ver⸗ heirathete Frau ohne ihren Mann! Was ſucht ſie in Rom? Abenteuer. Eccomi! Sie findet nichts Beſſeres. Ich wagte nicht, ihn ſchroff zurückzuweiſen, jetzt, da 57 ſeine Frau angekommen. Was würden die Engländerinnen dazu geſagt haben! Am Abend dieſes fatalen Tages fand ich auf meinem Zimmer — keinen Veilchenſtrauß, ſtatt deſſen ein Rieſen⸗ bouquet von Roſen und Orangenblüthen, ſie dufteten be⸗ täubend. Ich erſäufte ſie in Tantchens Waſchſchüſſel, wo⸗ rüber ſie ſehr böſe war. Zum erſten Mal hatten wir einen kleinen lebhaften Wortwechſel, und ich fürchte faſt, ich habe ihr den Van vorgeworfen, dem ich doch eigentlich ſehr wohl will, wenn auch nur wegen der männlichen Giftblicke, die er mit dem Baron austauſcht. Ich erklärte Tantchen, daß ich am andern Tag die Penſion verlaſſen wolle. Es ſtellte ſich heraus, daß wir eine Woche voraus bezahlt hatten. Wir mußten bleiben. Glaubſt Du, daß es dieſer zärtlichen Verwandten leid that? Bewahre. Sie ſummte ſtill vergnügt ein Lied vor ſich hin und dachte dabei aller Wahrſcheinlichkeit nach an den Cellomann. An dem ganzen unangenehmen Abenteuer biſt Du ſchuld, Du Unweiſer — Du gar nicht Sokrates. Wie konnteſt Du mich auch ſo allein und ſchutzlos in die Welt ſchicken! Alte Damen, die ſich in Holländer verlieben, ſind kein Schutz, ich waſche meine Hände in Unſchuld, mein ſchlechter Ruf komme über Dich! Ich bin ſo wild, ſo wild! Ein ganzer Hexenſabbath iſt in mir los, ich reite noch auf den Blocksberg. Und dann bin ich auch wieder ſo zahm, daß ich am liebſten in ein Kloſter ginge; es giebt ja hier genug. Wer weiß, ob Du mich jemals wieder⸗ ſiehſt. Man kann nicht wiſſen was geſchieht, und ob wir überhaupt noch geſchieden werden. Heute roth, morgen 58 todt. Heut ein Palaſt, morgen eine Ruine. Ich bin zwar noch keine Ruine, aber doch wie eine Wohnung, die ausgeräumt iſt für einen Umzug, es iſt aber noch keine neue Wohnung da. Lebe wohl, ich lebe gar nicht wohl. Marie. Häßlichſter Mann! Da haben wir's! Ich bin verfehmt! In die Acht erklärt! Ich ſtehe am Pranger! Alle wiſſen jetzt, daß ich verheirathet bin. Natürlich legt man meiner unſchuldigen Myſtification die abſcheulichſten Motive unter. Man wagt es mich ſchlecht zu behandeln. Das hätteſt Du nie ge⸗ duldet! Wenn ich in den Salon trete, unterbrechen die Damen ihr Geſpräch, und ich höre gewöhnlich noch das Wort: Shoking! Will ich mich in die Unterhaltung miſchen, ſo lieſt man lieber oder macht ſich Notizen in's Tagebuch, oder zählt die Stiche an der Stickerei. Und von meinem Fauteuil, den ſie bis dahin reſpectirt hatten, haben ſie jetzt auch Beſitz ergriffen. Celeſte, wenn ſie in mein Zimmer tritt, ſingt oder kaut und frühſtückt mir ungenirt in's Geſicht, und ihr Pietro, der mir einſt Sclave war, und nur ehrerbietig zu mir aufſchielte, der ſchielt jetzt ver⸗ liebt zu mir nieder, und läßt ſich von dem Juan a. D. als postillon d'amour gebrauchen, indem er mir in ſeinem Auftrag beim Dejeuner eine gelbe, und beim Diner eine rothe Roſe zuſteckt, und die angetraute Greiſin des Alten lorgnettirt die Roſen und mich mit ungeſchminkteſter Bosheit. Die fromme Padrona (Wirthin) hat mir bei Tiſch einen ſchwerhörigen Geiſtlichen aus Java zum Nachbarn 59 gegeben, wahrſcheinlich mit der Weiſung mich zur Buße anzuhalten. Als der aber zum erſten Mal die laſterhaften Sitten unſerer Zeit in den Mund nahm, da unterbrach ich ihn in dem correcteſten Engliſch: „Mein Herr, ich verſtehe kein Wort engliſch,“ worauf ihm die laſterhaften Sitten im Halſe ſtecken blieben, für immer, will ich hoffen. Mir iſt zu Muth wie einem Schulmädchen, das auf der Strafbank ſitzt. Ich gehe nun gar nicht mehr in den Salon, hauptſächlich des Barons wegen. Es empört mich, erfüllt mich mit tiefſter Beſchämung, wenn er ſo nach⸗ läſſig ſeinen Arm um meine Stuhllehne legt, oder mir flüſternd — er ſoll nicht flüſtern — eine pikante Anekdote erzählt; ich will keine pikanten Anekdoten hören. Und ſeine Glutblicke machen mir den Eindruck, als rauche es im Zimmer, und ich möchte alle Fenſter öffnen. Ein ſolcher Liebhaber kann einem ſchließlich die Liebe überhaupt verleiden. Ob doch am Ende Freundſchaft mehr werth iſt als Liebe? Es kommt mir zuweilen vor, als wüchſen einem bei der Liebe die Empfindungen für irgend einen Gegenſtand wie Kraut und Rüben wild durch ein⸗ ander, und nicht der Gegenſtand, ſondern die Liebe wäre dabei die Hauptſache, bei der Freundſchaft aber iſt es der Freund. Und kann man nicht auch dem Freunde herzlich gut ſein? über alle Maßen gut ſein? Weißt Du, mir kommt ein Gedanke: ich bin vielleicht gar nicht ſo oberflächlich, wie Du immer gedacht haſt. Gedacht haſt Du es, leugne nicht. Ich bin Dein Kanarien⸗ vögelchen geweſen, das luſtig in Deine Arbeit hineinpipſte und Dich amüſirte, voila tout. Wie feilſt und arbeiteſt Du nicht an Deinen wiſſen⸗ 60 ſchaftlichen Büchern! das kleinſte Detail führſt Du auf's ſorgfältigſte aus. Die Menſchen aber, die zu Dir gehören, die überläßt Du ſich ſelbſt, ihrer ſogenannten Natur. Wenn ſie in's Kraut ſchießen — immerzn! Dich geht's nichts an. Und doch — ſind nicht die Menſchen ſo gut wie die Pflanzen der Veredelung fähig? Glaubſt Du, daß Dummheit heilbar iſt? Ich möchte einen Eid darauf leiſten, daß alles Böſe, was ich gethan, nur von meiner Dumm⸗ heit hergekommen iſt. Ich treibe mich jetzt in der Dämmerung viel auf dem pincio umher, was ſehr ungeſund ſein ſoll, wegen der Fieberluft. Es geſchähe Dir recht, wenn ich an der malaria in ein frühes Grab ſänke, oder, wenn ich ohne Führer in die Katakomben ſtiege, in dem Gewirr der düſtern Gänge umkäme und die Erinnerung meines grauſen Endes den Reſt Deiner Tage vergiftete. Mit Gift im Herzen. Deine bittere Marie. Ich habe dieſen Brief zwei Tage liegen laſſen; es ſchien mir unrecht, damit vielleicht einen Stachel in Dein ſanftes Herz zu drücken. Am Ende biſt Du ja doch unſchuldig an meinem Abenteuer. Es iſt mir lieb, daß ich's that. Inzwiſchen iſt eine Wendung zum beſſeren eingetreten. Der Baron iſt mit Frau und Tochter nach Neapel abgereiſt. Ich habe ihn fortgegrault. Wie ich's angeſtellt habe? ſchlau. Ich hatte ihm ſo beiläufig er⸗ zählt, daß in meiner Familie häufig Geiſtesſtörungen vor⸗ gekommen wären. Darauf klagte ich, ſobald er ſich mir näherte, über beklemmenden Kopfſchmerz, und wenn er dann 61 mit mir ſprach und ſeine Rede zu Ende geredet hatte, ſo fragte ich ihn: „Was ſagten Sie?“ und ſah ihn geiſtes⸗ verloren an. Als ich zum dritten Mal fragte: Was ſagten Sie? da kündigte er mir ſeine Abreiſe nach Neapel an, und gewiß iſt er mit dem tröſtlichen Bewußtſein geſchieden, daß ich um ſeinetwillen am Rande einer Geiſtesſtörung nachtwandle. Das engliſche Ehepaar iſt den Mecklenburgern auf den Fuß gefolgt, weil man — wie mir Celeſte mit lächender Bosheit anvertraute — mit gewiſſen Leuten nicht länger in einer Penſion bleiben wollte. In der Penſion ſcheint der Holländer eine tapfere Lanze für mich eingelegt zu haben, ich weiß nicht genau, was er der Beſtie Verleumdung zur Befriedigung in den Rachen geworfen hat. Theils hat er, glaube ich, mit ſeinem Cello geſtrikt, das für die muſikaliſchen Genüſſe der Penſion unent⸗ behrlich iſt, theils ſcheint er Dich als einen ausgezeichneten Gelehrten fabelhaft herausgeſtrichen zu haben; er hat Dir auch die Abſicht untergelegt, mich binnen kurzem in eigner Perſon von Rom abholen zu wollen — ſo zu lügen! Die ganze Penſion ſieht Dir nun mit Spanung entgegen. Der Holländer iſt ein guter Menſch, ich habe es immer gewußt. Tantchen geht mit Symptomen heftiger Rührung umher, und das Geſtändniß ihrer heimlichen Verlobung mit dem Van ſchwebt ihr beſtändig auf den Lippen, das herbe Bewußtſein ihrer 40 Jahre aber drängt es zurück. Sie kann ſich das Geſtändniß ſparen; ich bin längſt au fait. Das wäre ja nun alles ganz ſchön, und doch . . der acute Aerger bei mir iſt einer chroniſchen Trübſeligkeit 62 gewichen. Ich bin blaß und müde, und habe gar keine Luſt mehr zum Leben. Wie lange wird's dauern, und die Grübchen in meinen Wangen ſind lange, lange Falten. Lebe wohl. Ich komme mir wie eine verlaſſene Ariadne vor. Freilich, ein kleines Hülfsverb unterſcheidet mich von dieſer mythologiſchen Dame: ich bin nicht, — ich habe verlaſſen. Ob ich wie die andere Ariadne einen Faden finden werde, der mich aus dem Labyrinth meiner Gefühle nach Hauſe leitet? Nach Hauſe? Ich habe ja kein „Zuhauſe“ mehr. Lebe wohl. Weißt Du, in meiner Mißvergnügtheit iſt der Türken⸗ laden an der piazza barberina mein einziges Vergnügen. Ich handle Teppiche ein. Erſchrick nicht; nur ganz kleine, die lächerlich billig ſind, freilich auch ein bischen verſchliſſen und zerriſſen, aber von einer Farbenpracht, ſage ich Dir, wahre Regenbogen oder Diamanten in Wolle. In Gedanken bringe ich ſie immer in unſerm Salon unter. Einen legen wir auf unſere Truhe, und einen andern vor den Kamin. Ich freue mich ſchon auf den Effect — aber nein — ich vergeſſe ja — was vergäße ich denn nicht! Lebe wohl, lebe endlich wohl! Deine Marie. Aber Ernſt, Menſch, träume ich denn? Iſt das wirk⸗ lich! Ich kann von meinem Erſtaunen noch gar nicht zu mir kommen. Das haſt Du gethan, Du — Du Sokra :. . aber nein, Sokrates ſage ich doch nicht. Du haſt wohl Angſt gehabt, ich könnte Dich eines Tages mit einem halben Dutzend ſchäbiger Türkenteppiche in der Regenten⸗ ſtraße überfallen? Da wollteſt Du vorbeugen. Du haſt 63 es ſo gut gemeint, unendlich gut, die Geſchichte hat aber doch einen Haken, ich möchte mich daran aufhängen. Der Effect unſerer erſten Begegnung war ſenſationell. Höre: Ich ſchrieb Dir ſchon, daß man in der Penſion mildere Saiten mit mir aufgezogen hat. Geſtern forderte man mich auf, an einer Reihe lebender Bilder theilzunehmen, die eine junge Engländerin arrangirte. Ich ſträubte mich anfangs, gab aber ſchließlich den Bitten des liebenswürdigen Mädchens nach. Coſtüme für ganze Figuren waren nicht aufzutreiben. Die praktiſche Engländerin wußte ſich zu helfen und ſtellte nur ſolche Bilder, wo Schlafende oder Todte auf Chaiſelongnes, die ebenſo gut Ruhebetten wie Särge vorſtellen konnten, unterzubringen waren. Ueber die uncoſtümirten Partien der dargeſtellten Julia, Schnee⸗ wittchen, Dornröschen wurde eine verhüllende rothe Bett⸗ decke gelegt, die Köpfe aber richtete man durch phantaſtiſche Kränze, aufgelöſtes Haar, weiße Schleier und geſchloſſene Augenlider ebenſo billig wie poetiſch her. Beim letzten Bilde „Rothkäppchen“ nahm man von der Chaiſelongue Ab⸗ ſtand. Ich hatte bereits zwei Scheintodte agirt und dachte auf meinen Lorbeern zu ruhen. Niemand wollte in dem letzten Bild den Wolf vorſtellen. Schließlich gab ich mich dazu her. Für das Fell des Wolfes hatten ſämmtliche Engländerinnen ihre Pelzkragen hergeliehen, und da dieſe Pelzkragen die verſchiedenſten Farbennüancen aufwieſen, ſo erregte ich als zoologiſche Curioſität beim Aufziehen des Vorhanges allgemeines Entzücken. Die Pelze rochen ſo merkwürdig, ich konnte nicht gleich darauf kommen, wonach, mir kribbelte es davon in der Naſe. Da bemerke ich unter meiner ſchweren Garderobe, 64 daß unter den Zuſchauern etwas vorgeht; ein Hin⸗ und Herſchieben, ein bewegtes Flüſtern, und plötzlich höre ich Celeſten, die ſeitwärts hinter dem Vorhang ſteht, ganz deutlich ſagen: „il marito, il signore professore 6 arri- vato“. (Der Profeſſor, ihr Mann iſt angekommen.) „Alſo doch!“ dachte ich bei mir. Ich wunderte mich eigentlich kaum, daß Du gekommen warſt, Du wußteſt ja, wie elend mir zu Muthe war. Ich war ſo aufgeregt, daß mich unter all den Pelzen fröſtelte. So ſollteſt Du mich wiederſehen! Auf allen Vieren — als Wolf! Es geſchah mir recht; war ich doch als Wolf in dem frommen Stall Deiner Häuslichkeit einge⸗ drungen. Nun aber war mir gar nicht wölfiſch zu Muth, ſondern ganz lammfromm, und ich fürchtete mich vor Dir. Ich nahm mir vor, Dir Alles zu vergeſſen, Dir nichts mehr nachzutragen. Und während ſo in meiner Seele die ſanfteſten und weichſten Gefühle ſich immer mehr aus⸗ breiteten, kribbelte es immer ſtärker in meiner Naſe, und ich mußte all meine Körper⸗ und Geiſteskraft zuſammen⸗ nehmen, um nicht zu nieſen. Der Vorhang fiel, wurde aber auf ſtürmiſches Verlangen ſogleich wieder aufgezogen⸗ Meine Ungeduld wuchs, das Kribbeln auch. Ich konnte nicht mehr, und ich nieſte los: Abſchi, abſchi, abſchi! drei⸗ viermal hintereinander. Alles lachte. Ich ſprang aus dem Bild heraus; ich wollte die Pelze abſchütteln, kam aber damit nicht zuſtande. Da faſſen zwei Hände die meinigen. „Ernſt,“ ruſe ich, Sokrates, ich weiß nicht, ob ich dabei lachte oder weinte, die Hülle ſinkt, und vor mir ſteht — Egon. Abſchi — abſchi — abſchi; ich nieſe, mieſe, immerzu, ohne Pauſe. H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 65 5 Ich lache, Egon lacht, die ganze Penſion lacht, ein unauslöſchliches Gelächter. Das war ein tolles, luſtiges Wiederſehen, das übrigens, wie ſich ſpäter herausſtellte, auf Celeſtes Rechnung kam; die rachedurſtige Seele hatte Pfeffer in die Pelze geſtreut. Als die Wogen der Luſtigkeit ſich etwas gelegt hatten, nahm mich Tantchen bei Seite. Sie war außer ſich, ſie begreift nicht, wie Du Egon herſchicken konnteſt; mein Ruf, ſchon etwas leck, müßte ja dabei Schiffbruch leiden. Egon wäre ſchon ſeit einer Stunde da; ſie hätte lange mit ihm berathſchlagt, und ſie wären Beide übereingekommen — es bliebe ja nichts anderes übrig — und da ich ja doch auf dem Punkt ſtände, Egon mit Deiner Bewilligung zu heirathen — und die ganze Penſion hielte ihn bereits für meinen Profeſſor — wir ließen es dabei, Egon ſollte für meinen Mann gelten. Ginge ich nicht darauf ein, ſo müßten wir uns ſofort durch ein fingirtes Telegramm abrufen laſſen. Wir könnten dann keine Stunde länger in der Penſion bleiben, obgleich wir 14 Tage voraus bezahlt hätten und ſie nicht wüßte, woher ſie das Reiſegeld nehmen ſollte. Von dem zurück⸗ bleibenden Van aber, den jeder zwiſchen den Zeilen leſen konnte, ſagte ſie kein Wort. Ich war ſo geknickt, daß ich kaum eine Antwort gab, ich nieſte nur und nickte. Du haſt mir dieſe Suppe eingebrockt und ich muß ſie aufeſſen. Das iſt der Haken, von dem ich ſprach. Von Egon iſt es unverzeihlich, daß er eingewilligt hat. Mir iſt zu Muthe, als wäre der Baron noch gar nicht abgereiſt. Wie dieſe Atmoſphäre der Lüge mir wider⸗ ſteht. Ich wage keinem Menſchen mehr in's Geſicht zu 66 ſehen. Und das kann ich vollends nicht hören, daß ſie ihn „Herr Profeſſor“ nennen. Der gute Egon — Pro⸗ feſſor! Ein lieber Lieutenant, der ſeinen Abſchied genommen hat, und ab und zu, wenn ſeine Badereiſen im Sommer und ſeine Wintervergnügungen in Berlin es ihm geſtatten auf ſein Gut reiſt, um ein paar Worte über das Wetter mit ſeinem Pächter zu wechſeln. Aeußerlich finde ich ihn verändert, nicht zum Vortheil; ſeine Augen ſind in Berlin viel ſchöner als in Rom, wo alle Welt ſeine Augen hat. Aber natürlich, ich liebe ihn noch immer, das verſteht ſich von ſelbſt. Hätte er mir nicht Deinen Brief gezeigt, ich würde nicht geglaubt haben, daß Du ihn herſchickſt. „Gehen Sie nach Rom, Marie erwartet Sie. Ich danke Dir, danke Dir tauſend Mal, daß Du ihn geſchickt haſt, er iſt ein lieber Menſch und ſo friſch und vergnügt. Er iſt für mich Berlin in Rom. Natürlich wird ſeine Gegenwart den wohlthätigſten Einfluß auf mein Gemüth haben, ich merke es ſchon. Wir wollen uns aber auch amüſiren und luſtig ſein und ausgelaſſen! In die Oſterien wollen wir gehen und Marſala trinken, und tanzen wollen wir auf den Veillonen (Carnevalsbällen), ich bin ja das Atom, das in der Sonne tanzt. Was meinſt Du, ob ich als Bajadere auf den Maskenball gehe? Ich werde Egon Rom zeigen. Ich kenne ja das melancholiſche Neſt in⸗ und auswendig. Hätte ich nur nicht Kopfſchmerzen, ſo würde ich noch viel luſtiger ſein. Marie. Ich glaube doch, daß Du ſehr böſe auf mich biſt. 67 5* Lieber Freund! Müßte ich nicht in Glückſeligkeit ſchwimmen? Ich ſchwimme ja auch oder ich ſchwämme vielmehr, wenn mein Kopf nicht ſo müde wäre; zuweilen iſt mir, als hinge er ganz loſe an einem Fädchen, und dann wieder ſitzt er mir wie eine ſchwere Laſt auf den Schultern. Die Leute ſagen, es wäre die römiſche Frühlingsluft, und warnen mich vor dem Fieber. Eine unbeſtimmte Angſt beklemmt mich, ſo eine Art Seelen⸗Aſthma, vielleicht iſt's auch eine wirkliche körperliche Athemnoth. Ich halte mich jetzt viel mit Egon in den römiſchen Cafés auf; er meint, da lerne man Land und Leute am beſten kennen. Hätte ich nur etwas mehr Intereſſe an den Leuten. Die ſchwarzen, feurigen, teller⸗ großen Augen der Italiener fangen an mir langweilig zu werden, und ich ſehne mich manchmal förmlich nach hellen, deutſchen Augen, und wären ſie auch noch ſo klein und waſſerblau dazu. Was haſt Du eigentlich für Augen? Graue, grüne oder gelbliche? Ich kann mich nicht darauf beſinnen, Deine Augen gehen mir im Kopfe herum. Tantchen mit ihrem Van und dem Bädeker ſind natür⸗ lich immer bei unſeren Ausflügen dabei; ſie nehmen aber wenig Notiz von uns; nur wirft der Holländer zuweilen lange moraliſche und mißbilligende Blicke auf Egon, ich vermuthe, Tantchen hat ihn in's Vertrauen gezogen. Ich habe Egon geſagt, daß, bis ich von Dir ge⸗ ſchieden wäre, er mich nur als Couſine betrachten dürfe, oder wenn ihm das lieber wäre, als Landsmännin. Das ſind wir doch Deiner märchenhaften Güte ſchuldig. Es gefällt ihm nicht, es thut mir leid, aber ich kann's nicht ändern. Mir gefällt es; es ſcheint, daß ich ſehr viel 68 Talent zur Couſine habe, und als liebevolle Verwandte beſtrebe ich mich nach Kräften für Egons Vergnügen und Fortbildung zu ſorgen. Wir ſchwelgen in Natur und Kunſt. Geſtern Nachmittag waren wir im Coloſſeum. „Wunderhübſch,“ ſagte er, als wir in die Arena traten, „nur ein Bischen viel Unkraut, hier müßte unſere Berliner Feuerwehr einmal acht Tage lang aufräumen.“ Ich opponirte. Ich habe jetzt immer eine Oppoſitionsluſt, die beinahe krankhaft iſt. Wie kannſt Du, ſagte ich, dieſe durchgeiſtigten Brenneſſeln, dieſe geläuterten Kuhblumen, dieſes ganze farbenglühende Geſchlinge, das ſich in dythi⸗ rambiſcher Luſt um das Geſtein ſchlingt, Unkraut nennen, dann wäre ja die ganze Botanik Unkraut. Ich weiß nicht recht, war das wirklich meine Meinung, oder dachte ich: Das oder etwas Aehnliches würdeſt Du ihm geantwortet haben. Der Baron — Egon wollte ich ſagen — beant⸗ wortete meine Lobrede mit einem Compliment: Unter meinen Sonnenaugen verwandelten ſich die einfältigſten Gänſeblümchen in die gefüllteſten Tauſendſchönchen und dergleichen. Die Kraft dieſer Sonnenaugen ſchien ſich aber an den Treppen der Ruinen zu brechen, denn die nannte er morſche glitſchrige Steinklumpen, die von Feuchtigkeit trieften. „Sie triefen von Poeſie,“ antwortete ich gereizt. „Sei nicht böſe, Couſinchen,“ ſagte er lachend, „mir fehlt nun einmal der „esprit de l'escalier“'. Er reißt Witze im Coloſſeum! Das muß ich ihm abgewöhnen. Die Sonne ſank hinter den Albaner Bergen und er fragte mich, ob er rauchen dürfe. Und er rauchte und 69 erzählte mir dabei die pikante Geſchichte von Frau von Rüdesdorf, Du weißt, die naive junge Frau, deren Mann mit einer Dame der Halbwelt in die weite Welt ging, das heißt nach Italien. Drei Monate ſpäter erzählte Frau von Rüdesdorf ganz beſeligt aller Welt, daß ihr lieber Mann, von Reue gefoltert, in ganz zerknirſchtem Zuſtand zu ihr zurückgekehrt ſei. Alle Welt wußte aber, daß ſeine Circe, abgekühlt durch ſeinen Geiz und ſeinen Stock⸗ ſchnupfen, ihm den Stuhl vor die Thür geſetzt hatte. Egon erzählte die Geſchichten ganz in ſeiner alten charmanten Art, nur kommen ſie mir in den römiſchen Ruinen und Hainen deplacirt vor, wie der Wurſt⸗ und Käſeladen in dem herrlichen alten Marcellustheater. Als die Geſchichte zu Ende war, fühlte ich mich nicht wohl, eine brennende Sehnſucht nach Einſamkeit überkam mich. Ich bat Egon, einen Wagen zu holen, lehnte jede Be⸗ gleitung ab und verſprach, mich pünktlich zum Diner in der trattoria Falcone einzufinden. Kaum aber war ich mit meinem Wagen aus Egons Geſichtskreis, ſo lohnte ich den Kutſcher ab und ſtürzte mich in das Menſchen⸗ gewühl. Was ich wollte, was ich ſuchte, ich weiß es ſelbſt nicht. Erſt als ich Abends im Bette lag, da fiel mir ein, was ich geſucht hatte — Rom. Ich glaubte, den Weg nach Hauſe finden zu können; bald aber wußte ich nicht mehr, wo ich war. Ich gerieth in enge ſchmutzige Gaſſen. Ich kam an einem breiten Thorweg vorüber; Gemüſe wurden darin feilgeboten; im Hintergrund neigte ſich eine armſelige Madonna unter Glas und Rahmen über Kohlſtrünke und Zwiebeln; eine ewige Lampe brannte unter dem Bilde und warf einen myſtiſchen Schein auf 70 den Grünkram und das dunkle Gebälk. Ein altes Weib kämmte „an der Wand lehnend, ſein langes graues Haar. Ein paar Schritte weiter ſah ich in einen engen ſchwarzen Flur; er endete mit einem Bretterzaune, dahinter war eine Grotte von wüſtem Geſtein; ein uralter ver⸗ witterter Gott, unkenntlich vor grünem Schimmel, ſtand in der Grotte, die feinen Fäden des Venushaares fielen wirr wie grüne Haarſträhnen über das Götterhaupt. Waſſertropfen rieſelten langſam darauf nieder, und durch die Tropfen glänzte die Sonne. Ich ging weiter und ſah in einen kleinen unſauberen Hof. Eine niedrige, blendend weiße Mauer ſchloß ihn ab; jenſeits der Mauer, hoch empor ragten zwei einſame Pinien; leuchtend klar hoben ſie ſich vom tiefblauen Himmel ab und wirkten in dieſer Gaſſe voll wüſten Lärms wie ein Choral, der kreiſchende Blechinſtrumente übertönt. Es folgte mir Jemand; wie gejagt lief ich weiter; ich kam in immer engere ödere Gaſſen. Einmal ſtand ich plötzlich vor einem Palaſt. Voll herrlichen Gleichmaßes fügte ſich Fenſter an Fenſter, Säule an Säule. Die Fenſter aber hatten zerbrochene Scheiben, elende Kinder lehnten ihre ſtruppigen Köpfe hinaus; die verfallene Ein⸗ gangsthür hing in ihren Angeln wie eine zerbrochene Harfe. Die Schritte des Verfolgers trieben mich weiter. An unheimlichen Winkeln kam ich vorbei, wo unverſehens eine ſchwärzliche Treppe emporſtieg, düſter wie Schaffotſtufen, man ſah nicht, wohin ſie führte. An dem Vorſprung eines armſeligen Hauſes hatte ſich Kalk und Mörtel abgelöſt, eine antike Säule brach hervor, wie eine Lilie aus wildem Geſtrüpp. Es wurde 71 dämmerig, und ich wanderte weiter wie im Traum, und merkwvürdig — ich empfand keine Furcht. Einmal gerieth ich in eine Sackgaſſe: zwiſchen hohen Kirchenmauern war ich wie gefangen; dichtes Gras wucherte aus dem Boden; unter einer Laterne hing ein vergilbtes Heiligenbild; davor, auf den harten Steinen, kniete ein Bettler. Ich trat in die Kirche: flimmernde Kerzen, Weihrauch⸗ duft, uralte Moſaikbilder in dämmernden Niſchen, eine murmelnde knieende Menge. Beklemmender Geruch von Staub und Weihrauch trieben mich wieder hinaus. In der Dämmerung ſchritt ich durch einen langen gewölbten Gang; zwei ſchlanke Signoras in ſchwarzem Sammet wandelten vor mir her; römiſche Krieger in wallenden weißen Mänteln ſchritten an ihnen vorüber. In dunklen Ecken ſtanden Bettler und ſangen ihre einförmige Litanei. Ein Kind mit Veilchenſträußen lief den ſchönen Damen nach. Ich blickte in Gewölbe, tief, gewaltig und ſchwarz wie die Werkſtätten von Cyklopen. Durch die offene Hausthür eines verwitterten Gemäuers ſah ich Säulenreihen, die in erhabenen Rhythmen aufſtiegen, als führten ſie zu einem Tempel. Was war denn das Alles? War das Rom? Was hatte ich denn bisher geſehen? Mit einem Mal wurde es mir klar, alle dieſe Häuſer ſind Palimpſeſte, wo unter vulgärem Kalk und Mörtel uralte Zauberſprüche zu leſen ſind. Habe ich in früheren Briefen Rom ſchmutzig und proſaiſch gefunden — bitte, radire es aus. Mir war es bei dieſer Wanderung, als vernähme ich ein wunderſames 72 Concert, bei dem volle Orgelklänge ſich mit den wehmüthig kläglichen Tönen der Pifferaris miſchten. Wie konnte ich Rom nur proſaiſch finden. Die Stadt hat einen immenſen künſtleriſchen Inſtinct. Die alten Mauern und die Veilchen, die weißen Mäntel und die antiken Säulen, Unrath und Lumpen, Götterbilder und rieſelnde Cascaden, alles weiß ſie zu einem Geſammtbild zu fügen von großer träumeriſcher und berauſchender Harmonie. Mein Verfolger hatte mich nicht aus den Augen ge⸗ laſſen; es war ein hübſcher junger Mann, ziemlich an⸗ ſtändig gekleidet. „Was wollen Sie?“ fuhr ich ihn in ebenſo grobem wie fließendem Italieniſch an. Ich hätte es mir denken können. Er ſtreckte die Hand aus. Ich gab ihm ein Geldſtück, und fragte ihn, ob er mich in die trattoria Falcone führen wolle? Blitzſchnell verwandelte ſich mein Bettler in einen Cavalier; ich würde mich kaum gewundert haben, wenn er mir ſeinen Arm geboten hätte. Auf das Verbindlichſte erklärte er ſich bereit, nannte mir unterwegs die Namen aller Straßen, und vor der Thür des Reſtaurants verneigte er ſich tief und ſagte: „che simpatica signorina!“ Ich wollte ihm noch ein Trinkgeld geben; er lehnte es aber mit dem graciöſen Stolz eines Hidalgo ab. Und dann aß ich mit den Anderen mein Beefſteak, meine Gedanken aber ſchweiften abſeits, und wir waren Alle einſilbig, bis ich die Verpflichtung fühlte, die Con⸗ verſation wieder etwas zu beleben. Ich fragte Egon, was für einen Eindruck ihm die Stadt mache? 73 „O einen charmanten,“ antwortete er; „ich lerne auch hier etwas, und lege den Grund zu reformatoriſchen Ideen, für die ich in Berlin Propaganda machen werde. „Zum Beiſpiel?“ fragte ich. „Zum Beiſpiel die Regenſchirme der römiſchen Kutſcher, antwortete er. „Bei uns, wo es neun Monate im Jahre regnet, erhalten ſich die Kutſcher nur durch Schnaps über Waſſer, hier, wenn ausnahmsweiſe ein Tropfen vom Himmel fällt — was doch ein Segen für den ungewaſchenen Zu⸗ ſtand der Roſſelenker ſein ſollte — entfalten ſie ihre rieſigen Schirme, die ſo bequem neben dem Kutſchbock angebracht ſind und ſich wie ein Dach über ſie ſpannen.“ Hätteſt Du Egon für ſo praktiſch gehalten? Niemand erhob Widerſpruch. Es kam aber zu keiner Unterhaltung mehr, und als Tantchen ſagte: „Wir wollen gehen,“ gingen wir Alle gern. Egon findet, daß ich nicht mehr ſo liebens⸗ würdig bin wie früher. Er hat gewiß recht. Ich fühle es ſelbſt. Ich entberliniſire mich. Morgen wollen wir in die Villengärten. Lebe wohl. Biſt Du noch immer in Hieroglyphen verliebt? Ein richtiger Berliner biſt Du auch nie geweſen, Du haſt immer etwas Togahaftes gehabt, ſo ein Gemiſch von Berlin, Rom und Hinterindien. Ich bin auch nicht mehr Berlinerin und auch nicht Römerin. Ich ſchwebe in der Luft — ein leerer Ballon. Wo werde ich niedergehen? Vielleicht falle ich in's Weltmeer und hinterlaſſe keine Spur in keines Menſchen Herzen. Marie. 74 Mein lieber Ernſt! Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich habe plötzlich eine Leidenſchaft für die Einſamkeit, beſonders gegen Sonnen⸗ untergang ergreift mich dieſer Hang, und ich ſpinne oft Intriguen, um ihm zu fröhnen. Du brauchſt aber darum nicht zu denken, daß ich Egon nicht mehr lieb habe, ich habe ihn ſehr lieb, natürlich liebe ich ihn, würde ich mich denn ſonſt um ſeinetwillen von Dir ſcheiden laſſen? — haſt Du mir doch nichts zu Leide gethan — im Gegentheil. Es verdrießt mich nur, daß Egon italieniſche Schablonen⸗ augen hat. In ſeinem Weſen freilich, da iſt und bleibt er Berliner Vollblut. Wir ſind jetzt immer verſchiedener Meinung. Wir ſtreiten viel. Das kommt von der Frühlingsluft, alle paar Tage weht Scirocco. Wir waren wieder in der Villa Wolkonski. Die Roſen blühten ſchon. So weit das Auge reichte, nichts als Roſen. Volle Guirlanden zogen ſich von Baum zu Baum, ſie umſchlangen die Stämme, wuchſen über die Krone hinaus, bis weit in den Aether hinein; ſie glühten und blühten in vollen, leidenſchaftlichen Büſchen, ſie be⸗ deckten alle Gebäude und die hochragende römiſche Urmauer die mitten im Garten ſteht, ſie kletterten an den Treppen empor und krochen am Boden entlang — ſo viel Roſen als wäre der jüngſte Tag für die Roſen angebrochen, und alle, die je geblüht, wären wieder auferſtanden. Die ganze Natur duftete nach Hochzeit und Liebe, Alles war wie trunken von Roſenduft, und ich ſah und träumte und ſehnte mich und ganz „zerfloſſen in Wehmuth und in Luſt“, warf ich Egon eine Roſe zu, eine glühend rothe, er ſteckte ſie in's Knopfloch, küßte mir die Hand und fragte, ob er eine 75 Cigarrette rauchen dürfe. Und er rauchte, und lobte die ſchönen Pinien und Cypreſſen im Garten, gab aber doch einer deutſchen Buche oder Linde den Vorzug, nicht nur, wie er ſagte, ihres wirthſchaftlichen Nutzens wegen — bei den Cypreſſen fiele natürlich das gute Schweinefutter der Buchnüſſe fort, und von dem heilſamen und billigen Thee, den die Linden lieferten, könne ja bei den Pinien keine Rede ſein. — Er zog die deutſchen Bäume auch in poetiſcher Hinſicht vor. Er fand, es gäbe nichts An⸗ heimelnderes, als im Schatten einer breitblättrigen Buche — bei einer Landparthie etwa — zu lagern, und darunter von friſch gepflückten Kräutern eine Maibowle zu brauen, beim Zwitſchern der Vögel und Damen. Die römiſchen Bäume nannte er ungenießbare Ariſtokraten, die ſich ab⸗ lehnend gegen die Menſchen verhielten und nichts thäten, als ihre Naſen hochmüthig in den Aether ſtrecken. Ich gab ihm zu, daß ich mir allerdings eine Mai⸗ bowle mit zwitſchernden Backfiſchen nicht gut unter einer Cypreſſe denken könne, entſchuldigte aber die Bäume damit, daß ſie einen anderen Beruf hätten. „Welchen?“ fragte er. „Sich vom tiefblauen Himmel maleriſch abzuheben, ſagte ich, „unter ihren Kronen marmorne Götterbilder ſitzen zu laſſen. Es ſind ſo ganz katholiſche Bäume, und ſie kommen mir in ihrer unnahbaren Keuſchheit immer wie Wegweiſer zum Himmel vor, grüne Altarkerzen, die aufwärts flammen. Solchen Eindruck, dachte ich, würden ſie Dir ungefähr gemacht haben. „Ich kenne nur einen Wegweiſer zum Himmel,“ ſagte er, „das iſt die Liebe.“ Und er plauderte weiter über 76 dieſen Gegenſtand. Ich war zerſtreut, und unwillkürlich kamen mir die Worte über die Lippen: „Was ſagen Sie, Herr Baron?“ Ich erſchrak darüber. Wie kann ich Egon nur mit Herrn von Mallwitz verwechſeln! Es iſt mir ſchon einige Male paſſirt. Wir ſtiegen auf das flache Dach der Villa und ſahen hinüber in die Berge; ein leichter Schleier von Dunſt um⸗ hüllte ſie. Wie aus der Luft geboren, aus Duft gewoben, bildeten ſie leichte Silhouetten und ſchimmerten in zarteſtem Perlmutterglanz. „Hier wollen wir die Sonne untergehen ſehen!“ rief Tantchen begeiſtert aus. Ich ſetzte es aber durch, daß wir zu dieſem Zweck in die Villa Medici fuhren. Ich hatte meinen Plan. Ich mag keine Sonnenuntergänge mit Cigarrettenrauch. Als wir die erſten düſteren Alleen jenes Gartens be⸗ traten, erwähnte Tantchen, daß ich dieſen Theil des Gartens ein grünes Gefängniß genannt hatte. Egon fand es ſehr richtig und ſetzte hinzu: „Und wir wollen es auch zu einem fidelen machen.“ Dieſer Egon, er iſt ja ſo nett, ſo ſehr nett, aber immer auf berliniſch. War ich denn da⸗ mals blind! Heut erſchien mir das Gefängniß wie ein Tempel. Sahen denn die Anderen nicht, daß die Sonnen⸗ ſtrahlen durch das dämmernd dichte Grün wie gemalte Kirchenfenſter wirkten? In dem myſtiſchen Schweigen ſieht man ſich unwillkürlich nach dem weihrauchumdufteten Dreifuß und den Sibyllen um. Der Holländer, als hätte er meine Gedanken errathen, bemerkte: „Orakelhaft ſchön, würde der Baron geſagt haben.“ Der gute Van genirt ſich auf eigene Hand geiſtreich zu ſein. 77 „Rauche nur,“ ſagte ich zu Egon, ehe er noch ge⸗ fragt hatte, „ich will mich inzwiſchen verſtecken, und ich wette, Du findeſt mich nicht.“ „Ich wette, ich finde Dich,“ ſagte er lachend, „und wärſt Du am Ende der Welt.“ „Vedremo,“ ſagte ich, lief fort, rief den Gärtner, der den Schlüſſel zu dem Eichenhain mit dem berühmten Belvedere hat, und gab dem Cerberus ein rieſiges Trink⸗ geld, damit er Niemand mehr in den Eichenhain einlaſſen ſollte. Er nickte verſtändnißvoll und verſchwand. Die Thür des Haines nämlich kann von Innen Jeder ſelbſt öffnen; von Außen muß ſie aufgeſchloſſen werden. Ich ſetzte mich auf das flache Dach des Gemäuers, das den Hain von dem übrigen Garten trennt, und durch die ſchönſten Pinien Roms erblickte ich die herrlichen Umriſſe des Gebirges. Unter mir, in ſeinem Atelier, ſang ein Bildhauer zu den Meißelſchlägen. Ich lehnte an eine Marmorgruppe, Amor, Pſyche küſſend. Die Drei kamen herbei und ſahen mich auf dem Dache ſitzen. Ich rief ihnen zu, ſie möchten nur den Gärtner ſuchen und ſich den Hain aufſchließen laſſen. Langſam wandelte ich durch die Allee, die zu dem Belvedere führt; nie habe ich Stimmungsvolleres geſehen als dieſen Hain bei untergehender Sonne. Eine alte breite Treppe führt empor zu dem Belvedere. Auf den oberen Stufen iſt das Dickicht von Lorbeern und Oleander ſo dicht, daß man nicht ſieht, wohin die Treppe führt. Man ahnt da⸗ hinter ein geheimnißvoll Göttliches. Geiſtliche in weißen Gewänderen kamen die Treppe langſam herab. Das machte die Täuſchung, als wäre 78 da oben ein Tempel, vollkommen. Rothe Sonnenſtrahlen ſpielten wie Glorienſchein auf ihren Gewändern. Ich empfand ein Gemiſch vou poetiſchem Entzücken und olympiſcher Andacht. Ganz himmelfahrtsmäßig, ſo mit Engelsköpfen um mich herum, war mir zu Muth, als hieße ich gar nicht mehr Marie, ſondern Maria. Heilige Schauer flutheten in mir auf und ab, und ich hätte gern ein paar Heilige gehabt, mich anzubeten. Ich kenne wohl einen Heiligen, der aber hat ſeine Götter in — Hinter⸗ indien, oder iſt es Vorderindien? Das Belvedere ſelbſt iſt ein unerhebliches kleines Ge⸗ mäuer, aber der Blick in die Landſchaft! als träumte man einen hiſtoriſchen Traum: die röthlich ſchimmernden uralten Mauern, zur Seite der ſich weit hinſtreckende Pinienwald, dahinter die Berge in zartvioletten, träumeriſchen Linien Die Sonne ſank tiefer, und die Berge, die in der Villa Wolkonski Blumenglocken glichen, zart, als könnte ein Wind⸗ hauch ſie verwehen, ſie erſchienen jetzt tief ſchwarzblau wie Glocken von Erz, düſter und drohend, und die Campagna ſchmiegte ſich in zarten grünlichen Wellen ihnen an. Ich ſtand da, trunken von dem Anblick — da mit einem Mal wurde ich in's irdiſche Sein zurückgerufen. Es roch nach — Kaffee, intenſiv nach Kaffee. Wo kam der Geruch her? Wahrſcheinlich aus dem benachbarten Kloſter trinita di monte. Die Nonnen tranken Kaffee. Ich ſog den Duft in langen Zügen ein, und mein thörichtes Herz ſchwoll von Heimathsgefühlen. Unſer heimathlicher Kaffeetiſch in dem gemüthlichen Erker ſtieg in meinem Geiſte auf. Ich ſah durch das bunte Glasfenſter das goldene Licht auf die 79 ſtilgerechte Decke fallen, weißt Du noch, ich hatte ſie Dir zum Geburtstag gearbeitet, und Du neckteſt mich damit, daß ich Dir immer Wirthſchaftsgegenſtände ſchenkte, und drohteſt mir zu meinem Geburtstag mit einem Raſirmeſſer. Und der Majolikateller mit den kleinen Kuchen, die Du ſo gern ißt, der ſtieg auch in meinem Geiſt empor. Du haſt immer behauptet, daß ich den Engel darauf viel zu knusprig braun gemalt hätte. Das wird ein ſchöner Kaffee ſein, den ſie Dir jetzt zu trinken geben! Du armer Ernſt; Und unſer Kaffeetiſch, und der zauberhafte Hain, die Marmorbilder, Deine hellen Augen und der dünne Kaffee, das Alles floß ineinander und kam mir ſo rührend vor und ſo wehmüthig und ſo erhaben — ich mußte ein Bischen weinen. Ich ſtieg die Treppe hinab. Unheimlich düſter war jetzt der Hain. Inmitten des Weges ſtand unbeweglich der weiße Ziegenbock. Ein letzter verirrter Sonnenſtrahl glänzte auf ſeinem Kopf. All die wahnſinnig verkrümmten Eichen ſchienen Daphnen im Augenblick der Verwandlung, wo noch in jedem Stamm und jedem Zweig der wilde Schreck der Verwandlung und die Angſt der Verfolgung zittert. Lautloſe Stille. Ich bin ſonſt ſo furchtſam. An jedem andern Ort, z. B. an der Ronſſeau⸗Inſel im Thier⸗ garten, hätte ich mich um dieſe Zeit, allein mit der myſtiſchen Ziege, halb todt gefürchtet. Hier war alles ſo weit, weit von aller Proſa des Lebens, ſo übernatürlich, traumbildartig, wie eine Erzählung Homers. Furcht wäre mir lächerlich vorgekommen. Ich traf die Andern vor der Thür, noch immer den 80 Gärtner ſuchend; ſie waren böſe auf mich. Auf dem Heimweg ſagte Egon; „Marie, liebſt Du mich nicht mehr: Ich antwortete nicht, ich wußte nicht, was ich ant⸗ worten ſollte. Ich weiß nicht, ob ich ihn noch liebe. Mein Herz iſt auch ein Palimpſeſt wie die Häuſers Roms. Es iſt etwas darunter und etwas darüber geſchrieben; ich weiß nicht, welches die rechte Schrift iſt. Wer hilft mir ſie leſen? Du weißt ja, daß ich nicht einmal mäßig gut geſchriebene Briefe leſen konnte, Du mußteſt ſie immer mir vorleſen. Ja — damals! Palimpſeſte entziffern — ich? Ach Gott! Marie. Lieber Freund! Ich fahre fort, Egon eine brave Couſine zu ſein. Wir haben zuſammen die Thermen und die palatiniſchen Ausgrabungen beſichtigt. Weißt Du das Neuſte? Ich bin verzaubert. Ich bin nicht mehr ich. Ich ſehe, was ich nie geſehen, ich fühle, was ich nie gefühlt. Irre ich mich, oder habe ich wirklich vor kaum zwei Monaten die Freude an den römiſchen Trümmern für affectirte Ruinen⸗ ſentimentalität erklärt? Wie konnte ich! In einer Art nervöſer Aufregung wandere ich jetzt durch die hiſtoriſche Wildniß der Kaiſerpaläſte, wo Alles wieder eins geworden iſt mit der Natur, und die Zerſtörung wie etwas künſtleriſch Gewolltes erſcheint; ich ſehe, daß die Pracht der Kaiſer⸗ paläſte verſunken — in den Trümmern aber eine neue Welt der Schönheit aufgegangen iſt. Die Zerſtörung er⸗ weckt hier keine Trauer, keine Wehmuth, ſie erweckt eine Melancholie, die ſtill und groß und ſelbſtlos iſt. H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 81 6 Dieſe ungeheuren Gewölbe, dieſe geſprungenen Mauern, die gigantiſchen Höhlen voll purpurner Finſterniß, die grandioſen Bogenfenſter — ſie ſind feſt wie Marmor. Wunderſam durchgeiſtigt ſteigen die koloſſalen Maſſen frei und kühn empor — verklärte Felſen. Sie ſtrecken ſich hin wie Rieſenſarkophage, in denen die Weltgeſchichte ruht. Wenn die Sonne hell auf das Geſtein fällt, ſo ſchimmert es zuweilen weiß wie Schnee, ſo ſilbern uralt. Gelbe Blumen fallen wie goldene Locken über die Steine. Ueber offenen Rieſenportalen leuchtet der tiefblaue Himmel. In der Treppe auf einem düſteren Gange iſt eine Stufe ausgebrochen. Durch die Oeffnung ſieht man in der Ferne eine Säule, von Sonnenglanz übergoſſen. Von einem lichtloſen Bogengang rieſelt leiſer Staub nieder. Der Gang endet mit einem grünen Hügel. Eine marmorne Nymphe ſitzt davor, friſch und duftig, als lebe ſie von ihrer Schönheit ein ewiges Leben. Leiſe gleitet der Wind über die Gräſer des Hügels, ſie zittern im grüngoldenen Schimmer über die ſteinerne Göttin; ſonſt Alles marmor⸗ ſtill und marmorſchön. Die Nymphe hat keinen Kopf, aber das Haar wallt ihr um den ſüßen Leib. „Dieſe ſchöne Nymphe,“ ſagt Egon, „erinnert mich an das häßliche, aber ſchön gewachſene Fräulein von Strecker.“ „Wieſo?“ fragte ich. „Wenn man ſie köpfte, wäre ſie auch ſehr ſchön. Und wie er das ſagte, ſah er — ſchrecklich aber wahr — dem Pietro ähnlich, es kam mir ſogar ſo vor, als ſchielte er. Ich eilte fort von ihm, zu einer Stelle 82 der Ausgrabungen, wo ſich zwiſchen den gewaltigen Pfeilern eines Gewölbes ein Blick in die Landſchaft öffnet, über Gärten hinweg bis an die blauen Albanerberge. Es iſt mir in Rom aufgefallen, wie die Natur hier oft nur als Folie für die architektoniſchen Wunder er⸗ ſcheint. Sie zeigt ſich als das Liebliche und Vergängliche, und die Säulen und die Trümmer ſtehen in der Land⸗ ſchaft als etwas Gewaltiges, Ewiges und ergreifen uns wie eine Sophokleiſche Tragödie. Egon fand Alles ſchön und intereſſant, nur die vielen unterirdiſchen Gelaſſe flößten ihm Bedenken ein. „Die reinen Abruzzen für den Banditen,“ ſagte er. Der immer begütigende Holländer milderte die Abruzzen in Aſyle für Obdachloſe. Er iſt wirklich ein lieber Menſch, der Egon. Alles findet er ſchön und intereſſant, er raucht überall und iſt ungemein praktiſch, und würde an die Sehenswürdigkeiten noch viel mehr Witze knüpfen, wenn ich, bei der Annährerung dieſer Gefahr, nicht immer warnend den Finger erhöbe. Wir ſind auch wieder ganz herzlich mit einander, wenigſtens ſo lange ich vergnügt bin, in den Cafés z. B., in den Trattorien, auf dem pincio, wenn Concert iſt, bei den Spazierfahrten in den borgheſiſchen Gärten u. ſ w. Immer bin ich natürlich nicht vergnügt, ja, wenn ich aufrichtig ſein ſoll, ich bin es eigentlich recht ſelten. Findeſt Du nicht auch, daß die höchſte Schönheit einen melancholiſch macht wie das tiefſte Leid? in der phyſiſchen Welt erregt ja auch die heißeſte Gluth und die eiſigſte Kälte dieſelbe Empfindung. Alles iſt hier wie eine Offenbarung, davor kommt nichts Kleines und Alltägliches auf, z. B. der Gedanke: wie laſſe 6* 83 ich mir mein kupferfarbenes Plüſchkleid machen? der mich in Berlin intenſiv intereſſiren würde, hier — einfach lächerlich. In weite Fernen ſchweift mein Blick, hinter mir, vor mir. Nur wie fernes Meeresbrauſen dringen die Töne des Menſchengewühls an mein Ohr, und ich fühle mich ganz als Atom, aber nicht als eins, das in der Sonne tanzt, nein, als ein Atom, das ſich in dem großen univerſellen Staub auflöſt. Ich begreife jetzt kaum, wie ich Dich mit dem Krimskrams meiner Filigrangefühlchen behelligen konnte. Oft denke ich an den Blick, den Du mir damals zuwarfſt. „Du gleichſt dem Geiſt, den Du begreiffſt, nicht mir,“ das wollteſt Du ſagen, nicht? Nun biſt Du froh, daß Du mich los geworden. Du haſt mich abgeſchüttelt wie etwas Fremdes. In Deinem Studirzimmer, da verkehrteſt Du mehr oder weniger mit Göttern, und ich ſubalterne Dame riß Dich alle Augenblicke aus Deinen Himmeln. Gewiß, ich nahm mich neben Dir aus wie eine Anekdote Egons im Coloſſeum. Weißt Du, das erſte Verſehen unſerer Ehe war, daß ich Dich ſchon kannte, als ich noch ein Kind war. Ich war an Dich gewöhnt, ehe ich Dich verſtehen konnte, und nahm Dich hin, wie das liebe Brot, als etwas Alltägliches. An dem großen Kurfürſten auf der langen Brücke, der doch ein eminentes Kunſtwerk ſein ſoll, bin ich auch immer vorübergegangen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, weil ich ihn eben von Kindesbeinen an kannte, während ich hier in Rom drauf und dran bin, die unbekannteſten und mittelmäßigſten Torſos anzuſtaunen. Es iſt bald Mitternacht. Ein Nachtſchwärmer ſingt 84 ſchon wieder unter meinem Fenſter: „la donna 6 mobile. Wie Hohn klingt's herauf. Gute Nacht! Marie Lieber Ernſt! Wir hatten eine Fahrt in die Campagna verabredet. Egon, der beim Geſandten zum Diner geladen war, hatte zur feſtgeſetzten Stunde ſeine Toilette nicht beendigt. Ich wollte nicht warten, wir fuhren fort, und ich hinterließ, daß wir uns im Gaſthaus bei ſder ponte nomentana treffen wollten. Vor dem Gaſthaus ſtiegen wir aus und wanderten in die Campagna hinaus. Ich war ſchon früher in der Campagna geweſen, ohne daß ſie mir einen beſonderen Eindruck hinterlaſſen hätte. Damals war ich wohl nicht in der richtigen Stimmung, nun war ich's. Die römiſchen Ueberreſte in der Campagna ſtehen da, als hätte die Natur ſelbſt ſie hervorgebracht, und man muß ſie bewundern wie das geſtirnte Firmament, wie das Meer oder das Gebirge. Phantaſtiſchen Rieſenblumen gleich wachſen ſie aus der Landſchaft. Mitunter ſind es nur ein paar verwitterte Steine, über die ſich die Krone einer Pinie wölbt. Ein ander Mal erhebt ſich groß und herrlich eine Mauer, und wir glauben mein Märchenland voll ver⸗ ſteinerter Viſionen zu ſchauen. Wenn wir in Deutſchland an ſchöne Gegenden denken, ſo verbinden wir damit vorzugsweiſe den Begriff „grün“, Wälder, Wieſen und blinkende Waſſer ſchweben uns vor. Die römiſche Campagna zeigt auf den erſten Blick nichts als öde, bräunliche Gründe und Hügel. Hier und dort ragt eine einſame Pinie oder Cypreſſe 50 empor, ein Hirt lehnt daran, und ſeine Lämmerheerde bildet einen ſilbernen Streif auf der bräunlichen Fläche. Schwerfällig wälzt der melancholiſche Tiber ſeine trüben Waſſer durch die Landſchaft und über die Götterbilder die noch in ſeiner Tiefe ruhen; man kann an das todte Meer dabei denken, ſo ſtumm und einſam ſind die Ufer. Die deutſche Landſchaft ſcheint um der Menſchen willen da zu ſein, die römiſche um ihrer ſelbſt willen. Die deutſche iſt voll Gemüth und Romantik, voll ſinniger Wehmuth, phantaſtiſcher Wildheit oder naiver Friſche. Die Campagna iſt ſchön wie eine griechiſche Statue: ſie trägt den Charakter der Einſamkeit, einer grandioſen, ergreifenden Monotonie, mitunter iſt ſie todesſtill, dann hat ſie etwas Banges, Verhaltenes, und wer dann ihres giftigen Athems denkt, dem mag ſie wie der Kopf der Meduſa erſcheinen, tödtlich ſchön. In die Campagna geht man wie in eine Gallerie. Jeder Stein hat hier eine künſtleriſche Miſſion. In deutſcher Landſchaft rauſchen die Bäume willkürlich, die Natur iſt wie ſich ſelbſt überlaſſen; oft finden wir neben Kargheit eine Ueberſtürzung von Effecten, überall tragiſche, ſchauer⸗ liche oder anmuthige Motive dicht nebeneinander. Haſtig und oft leidenſchaftlich läßt ſie alles drüber und drunter wachſen. Ihre Schönheit hat etwas Urſprüngliches, In⸗ ſtinctives. Die Campagna iſt ganz durchgeiſtigt. Da iſt Ruhe, reine architektoniſche Schönheit, edelſtes Maß, nichts Vages, Verſchwommenes oder Ueberſtürztes. So viel ich mich erinnere, habe ich früher nie von 86 Landſchaften geträumt. Von der Campagna träumte ich letzte Nacht. Zwiſchen den Hügeln ſah ich Sarkophage ſtehen, und durch die epheuumrankten Bogen der Waſſerleitung mar⸗ morne Götter ſchreiten. Ungeheure Vaſen ſah ich aus den Gründen wie Blumen hervorwachſen, aus den Kelchen aber blühten die Sibyllen Michel Angelos empor, und von den Lippen der heiligen Weiber tönte ein Requiem. Was dieſer ſchweigſamen Natur Leben giebt, iſt das Licht. Könnte ich Dir doch von dieſem Zauberſpiel der Farben eine Vorſtellung geben! von dieſem wunderſamen tiefen. und zarten Violet, das wie Purpur wirkt, und wie ein Lobgeſang der Engel ſich auf die Erde niederſenkt, von dieſer Roſengluth, die Nähe und Ferne überzieht und Tief⸗ ſinn und unausſprechliche Heiterkeit athmet. Nein, wir im Norden haben keine Ahnung von der Gluth und Lauterkeit dieſer Farben, von ihrem weichen Feuer und ihrer verklärten Pracht. Himmel und Erde gehören hier mehr zuſammen als bei uns. Deutſche Wälder verdecken den Himmel, die ſcharf⸗ gezeichneten Pinien und Cypreſſen laſſen ihn in durchſichtiger Klarheit ſchärfer hervortreten. Es war geſtern in dieſer Beleuchtung etwas ſeliges. Die Farben glühten, als ob der Genius der Liebe ſelber die Luft mit ſeiner Fackel entzündet. Wie trunken von ihrer eigenen Schönheit ſchmiegten ſie ſich wollüſtig an den irdiſchen Boden, als gälte es eine Vermählungsfeier zwiſchen Himmel und Erde. Wahrhaftig, ich glaube, es blinkte mir eine Thräne der Begeiſterung im Auge. Gerade in dieſem Moment 87 kam Jemand durch die Bogen der Waſſerleitung geſchritten. Er blieb in der magiſchen Beleuchtung ſtehen. Der Jemand trug einen Frack und eine weiße Cravatte, auf dem Kopf einen Cylinder und im Auge das Monocle. So präſen⸗ tirte ſich — Egon, unter der grandioſen Mauer, wo ich eben von Sibyllen und Sarkophagen geträumt. O Gott, war der Anblick komiſch! faſt grotesk. Ich lachte laut auf, und als er mir die Hand reichte, lachte ich noch immer, wie ich ſeit den Pfefferpelzen nicht mehr gelacht hatte, und unter dem Lachen wurde es mir plötzlich ſonnenklar: ich liebte Egon nicht! Ein Gefühl unendlicher Befreiung kam über mich; nein, ich liebe ihn nicht mehr, gar nicht mehr — keine Spur. Wie mich dieſes Bewußtſein mit reinem Frohſinn erfüllte! Was war das nur geweſen — dieſe Liebe? Man ſagt, in jedem Hauſe ſei ein Skelet, ſo hat wohl auch jede Seele einen Kobold, der ab und zu nächt⸗ licherweile ein bischen ſpukt, wenn aber der Hahn kräht, macht er ſich aus dem Staube. Jetzt weiß ich's, dieſe Liebe war nichts als ein Schnaderhüpfl meines Gemüths, vor der großen Symphonie Roms ſind die kindiſchen Juchzer verklungen. Sage, Ernſt, muß ich ihn denn nun heirathen, weil ich's ihm verſprochen habe? Sage ja, ſage was Du willſt, ich thu's doch nicht. In Berlin konnte ich Egon lieben, in Rom — nein. Niemals wieder kann ich ſo ganz, ſo aus Herzensgrund Berlinerin werden. Von Roms Geiſt habe ich „einen Hauch verſpürt“. O Ernſt, Dich verehre ich — Du - Lebe wohl! Marie. 88 Liebſter Freund! Mein Seelenbarometer ſteht auf veränderlich. Antike Heiterkeit und moderne Schwermuth wechſeln in mir. Jeden Tag erlebe ich etwas Bedeutendes. Egon iſt trübe ge⸗ ſtimmt. Seine Witze ſtehen auf dem Ausſterbeetat. Ich rede ihm ein, das Fieber ſei bei ihm im Anzuge, und er müſſe auf acht Tage nach Capri gehen. Er will nicht. Wir waren wieder in den Gallerien. Habe ich in früheren Briefen Schlechtes über die Bilder geſagt, radire es aus. Was für eine Wonne iſt es, allmählich ſehen zu lernen. Wo ich anfangs nur blutige Leiber, drapirte Glieder oder kalten Marmor ſah, da ſehe ich jetzt Götter, ich ſehe Madonnen, ich ſehe Märtyrer. Einmal ſah ich auch vor den Fresken des Rafael einen Malerjüngling ſtehen, ein ſchwarz und weiß carirtes Plaid um die Schultern drapirt, blonde Mähne, blaue be⸗ geiſterte Augen, keine Manſchetten. „Ein Berliner,“ ſagte mir mein Inſtinct; die Ahnung wurde zur Gewißheit als der Jüngling unverſehens in begeiſtertem Berliniſch ausrief: „Rafael, Du warſt doch ein großer Knopp! Während wir im Lateran an den zahlloſen Kaiſer⸗ köpfen vorübergingen und Egon Converſation machte — er erzählt noch immer pikante Liebesgeſchichten, bei denen man am Schluß „tableau“ ſagen muß — fiel mir ein: „Was iſt denn eigentlich Liebe? Titus und Claudius und alle die Kaiſer mit und ohne Naſen, ſie haben geliebt, und ſind nun alle todt ſeit Jahrtauſenden. Wenn doch das Ende von Allem — Aſche iſt . . .¹ „Du denkſt ja ſchon wieder,“ unterbrach mich Egon vorwurfsvoll. Ich entſchuldigte mich mit dem Scirocco, 89 der gerade wehte. Egon freilich, der, ja der ſitzt auf den Trümmern von Rom und raucht Cigarretten. Wir ſchlenderten weiter durch das Muſeum, ziemlich gleichgiltig. Ich habe noch nicht viel Sinn für Sculptur. Ich ging an einer Statue, nur halb hinblickend, vor⸗ über. Da war mir plötzlich als ſchritte mir die Marmor⸗ geſtalt nach. Ohne daß ich mir deſſen bewußt war, hatte ſie mir einen Eindruck gemacht Ich kehrte um, und lange lange ſtand ich vor dem Sophokles. In einem Moment begriff ich die Kraft und Größe der Sculptur. Nicht der Zeus des Phidias, nicht die Juno Ludoviſi hatten mich bewegt wie dieſer Sophokles. Er iſt mehr als ein Kunſtwerk. Das iſt gemeißelte Tugend, eine ethiſche That. In dieſem Antlitz, groß und ſüß, einfach und erhaben, in dieſer ganz durchgeiſtigten, edelſten Geſtalt iſt eine hinreißende Beredtſamkeit: ein, Bergpredigt voll unendlich tiefer, milder Weisheit. Ich hatte eine Empfindung, wie ſie einem wohl auf Bergeshöhen überkommt, wenn man den Sternen nah iſt, die Bruſt ſich weitet und der Blick groß und frei wird. Ein geiſtiges Ozon ſtrömt von dem Bildwerk aus. Nein, nicht Alles wird Aſche! Vor dem Sophokles begriff ich, daß es Gedanken giebt und Empfindungen und Thaten, die ewig ſind und um deretwillen das Leben ſchön iſt und reich, und zu leben eine Wonne. Der Sophokles iſt ſchön, und Du biſt häßlich, und doch iſt eine Aehn⸗ lichkeit zwiſchen euch im Ausdruck des Geſichts. Es iſt doch gewiß wahr, daß die Geſichter wie die Menſchen werden. „Was ſagt Dir dieſer Sophokles?“ fragte ich Egon. 90 „Daß er hoch beglückt iſt,“ antwortete er, „Dir ſo ſehr zu gefallen, und daß es ſein dringendſter Wunſch iſt, als allerliebſte kleine Tanagrafigur auf Deinem Schreibtiſch zu thronen, was ich aber vielleicht aus Eiferſucht nicht zugeben möchte.“ Ich bat Egon, mich allein zu laſſen. Er ging wider⸗ willig in den nächſten Saal. Leute kamen ab und zu, ſonſt wäre ich niedergekniet vor dem Sophokles und hätte ſeine Füße mit Thränen be⸗ netzt. Ach Ernſt, Du weißt nicht was es heißt, wenn man ſich ſelber verhaßt wird. Ja, ich haſſe mich! Wie armſelig, armſelig bin ich! Wie kindiſch, wie leichtſinnig bin ich in das Unrecht hineingetaumelt, nicht klüger als das Inſect, das ſich im Lichtſchein verbrennt. Und daß ich ihn, um den ich Dich verließ, nicht einmal geliebt habe! wie ſchmachvoll! ſchmachvoll! Ich kannte Dich nicht! Da ich Rom erkenne, erkenne ich auch Dich, oder habe ich erſt Dich erkannt und dann Rom — ich weiß es nicht. Als ich Dich heirathete, hatte ich Dich lieb, recht lieb, o ja, hochachtungsvoll er⸗ gebenſt hätte ich unter meine Gefühle ſchreiben können, und jetzt — Alles zu ſpät! Ach Ernſt, was iſt denn leben! Der Sophokles hat gelebt, und Du und Deinesgleichen, Ihr lebt. Ich und meinesgleichen aber, wir vegetiren nur. Ihr ſeid die eigentlichen Menſchen, und wir Schmarotzer ſaugen an Eurem Mark. Bäte ich Dich, mir zu verzeihen, o ja, ja, Du würdeſt es thun, wie Du dem erſten Beſten verzeihen würdeſt in Deiner ſtarken Milde. Seinem Weib verzeihen aber heißt es wieder lieben. Und das kannſt Du nicht. Zu ſpät! Marie. 91 Ernſt, lieber Ernſt! Wir werden uns nicht wiederſehen — nie. Das Fieber raſt in mir, ich ſterbe daran. Den Baron — Egon wollte ich ſagen — habe ich halb mit Gewalt nach Capri geſchickt. Er weiß, daß Alles zu Ende iſt; es wird ſein Herz nicht brechen. Er hat in der letzten Zeit Reſpect vor mir bekommen, das kann er nicht vertragen. Die Tante iſt auch ſeit geſtern fort, nach Albano. Sie läßt ſich dort mit dem Holländer trauen. Den ganzen Tag über habe ich zu Bett gelegen. Jetzt bin ich aufgeſtanden, weil ich Dir ſchreiben will. Ich muß! ich will Abſchied von Dir nehmen. Sie ſagen, ich habe mich erkältet. Nein, es iſt etwas anderes, was mich verzehrt. Geſtern, oder war es vor acht Tagen, ich weiß nicht mehr, kam es in mir zum Ausbruch. Wir waren in St. Peter, um die Lamentationen und das Miſerere ſingen zu hören. Es iſt ja Oſtern. Während der Lamentationen verſank ich in vage Träumereien. Von der Kuppel ſtrahlte die Sonne, unten im Schiff war ſchon Dämmerung. Hoch oben in einer Loggia wurden die Lichter angezündet. Die Kerzen ſchimmerten bleich durch den dämmernd goldnen Sonnenduft, der von der Rieſenwölbung niederſchwebte. Ein traumhaftes Stillleben athmete durch die weiten Räume, und in meinem Halbſchlaf war es mir, als lauſchte ich einem Duett zwiſchen Unkenrufen und Nachtigallentönen. Plötzlich fuhr ich auf. Was war das? Das Miſerere begann. Hätte ich gefragt: „Wo bin ich?“ und hätte man mir geantwortet: Im Himmel, ich würde mich nicht gewun⸗ dert haben. 92 Das Miſerere hat mich bis zum Wahnſinn erſchüttert. Aus weiter Ferne ſchienen anfangs dieſe Töne heranzu⸗ ſchweben, ein Glockenläuten hoch oben an der Burg des Herrn. Ich glaubte das ſäuſelnde Rauſchen von den Fittigen der Seraphim zu hören, und ihre heiligen Thränen in der eigenen Bruſt zu fühlen. Tödtliche Süßigkeit durchdrang mich ganz, und ein namenloſes Weh, das ſich allmählich in Seeligkeit auf⸗ löſte. Ja, Tod und Auflöſung iſt in dieſer Muſik und zu⸗ gleich die Ahnung der Auferſtehung. Hätte ſich nach den letzten verklingenden Tönen ein Kloſter vor mir aufgethan, in das Kloſter wäre ich gegangen, und die Thüren hätte ich feſt, feſt hinter mir geſchloſſen. Ich hätte mich geißeln mögen und knien auf harten Steinen und die Hände hätte ich wund ringen mögen. Ja — eine Büßende bin ich — ein Tannhäuſer — aber mein Stecken wird nicht grünen — nie. Grünen und blühen wird es nur noch auf meinem Grabhügel. Sterben, ohne Dich noch einmal geſehen zu haben! Nur einmal noch möchte ich meine Lippen auf Deine Hände drücken und Dir ſagen: Ich liebe Dich! Ja, ich liebe Dich, nicht wieder, nicht von Neuem — nein — ich liebe Dich zum erſten Mal, mit einer reinen, ſtarken Liebe und einer brennenden Sehnſucht nach Dir im Herzen. Ich kann die Feder nicht mehr halten, es wird dämmerig — dann kommt die Nacht — die Nacht und, Du wirſt nicht an mich denken, wenn ich geſtorben bin. Oder — wirſt Du's doch? Ach thu's, Du Lieber — ich denke nichts als Dich. Marie. 93 O liebe, liebe Tante Friedel! Laß Dich umarmen! Laß Dich küſſen! Nun verſtehe ich das zärtliche Lächeln mit dem Du von mir Abſchied nahmſt und mich in meiner bitteren Herzensnoth allein ließeſt. Und ich konnte Dich auch nur einen Augenblick für eins jener liebloſen Scheuſale halten, die man am beſten in die Wolfsſchlucht wirft. Du wußteſt ja Alles, und wie es kommen würde. Zwei Tage lag ich ſehr krank am Fieber, ich glaubte zu ſterben. Am dritten Tage war ich fieberfrei. Es hielt mich nicht im Bett Ich ſtand auf und zog mich an: ein weißes Kleid. Ich ſah mich in dem Spiegel, mein Geſicht war ſo wie das Kleid, ich mußte an Mignon denken. Und ſchwach war ich wie ein Kind. Ich wollte aber doch in die Villa Medici, ſie iſt ja nur fünf Minuten entfernt. Ich ließ mich von der Tochter des Portiers hinführen und ſchickte ſie am Eingange des Eichenhains fort. Dann ſchlich ich bis an die Marmorſitze in die Mitte des Hains. Ich nahm den Hut ab und lehnte meinen müden Kopf an einen Baum⸗ ſtamm. Lautlos ſtill war es. Ueber den Erdboden zitterten Sonnenſtrahlen. Ich dachte an Ernſt, an das, was ich gethan, an das, was nun werden ſollte. Ich ſchluchzte auf. Ein Ruf wie aus weiter Ferne kam: Marie! Näher kam er: Marie! Marie! Ich zitterte. Hatte ich eine Hallu⸗ cination? Ich ſah nicht auf, ich ſah mich nicht um, ich hielt den Athem an, ich wußte — jetzt würde etwas kommen, etwas Unerhörtes, Wunderſchönes! Und es kam — Er! Ich lag in ſeinen Armen und weinte, weinte ſüße unaufhörliche Thränen. Ich erwartete den Tod und das Leben iſt gekom⸗ men. Ich bin wie berauſcht, ich werde nie wieder nüchtern 94 werden. Ich will's auch nicht. Ueberall quellende Liebe und Frühling, Orangenblüthen, Sonne und Roſen. O Du heiliger, heiliger Hain, ja es giebt ein Glück, ein Glück, und ich habe es, ich halte es. In Rom habe ich ihn gefunden. O, Du ewige, heilige Stadt! Und er hat gewußt, daß ich ihn da finden würde, darum hat er mich ja hingeſchickt. Ihr werdet mich gut verſpotten, Du und Dein Van! Einen Beinamen werdet Ihr, mir anhängen: Frau Tannhäuſer. Immerzu. Ich komme Euch zuvor. Ich unterzeichne mich ſelber als Deine bußfertige und ach! ſo glückſelige Nichte Frau Tannhäuſer. 95 Sterben im Leben. H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 7 Der Glanz eines ſchönen Sommernachmittags ruhte auf einer lieblichen Landſchaft Mitteldeutſchlands. Die würzreiche Luft wehte auch über die Felder und Wieſen des Ritterguts Arenſee, ſie wehte über Park und Schloß und drang durch die geöffneten Fenſter in einen Salon von ſteifer Pracht, in dem ſich zwei junge Damen befanden. Die eine ältere — ſie mochte achtundzwanzig Jahr alt ſein — ſchwarzhaarig, mit hellen graugrünen Augen unter ſtarken dunklen Brauen, ſaß am Fenſter mit einer Handarbeit. Die Arbeit ruhte läſſig in ihrem Schoß, ihr Blick war dem Park zugewendet, haftete aber an keinem Gegenſtand, ſondern hatte den ſtarren Ausdruck eines Menſchen, der in ſich hineingrübelt. Ihr einfaches Kleid von ſchwarzer Wolle, die Art, wie ſie ihr Haar in einem Netze barg, das alles zeigte, vielleicht mit zu viel Abſicht, ihre Geringſchätzung gegen irgend welche Wirkung ihrer Perſon. Sie hatte ſchöne, energiſche, etwas ſtrenge Züge. Das einzig Jugendliche in dem jungen Geſicht waren die vollen rothen Lippen, die einen eigenthümlichen Contraſt zu den abwärtsgezogenen Mundwinkeln bildeten und der Phyſio⸗ 7* gnomie ein zugleich ſtolzes und leidenſchaftliches Gepräge gaben, ein allzu ſtolzes für eine — Geſellſchafterin. Die andere Dame, Sibilla von Heeren, die Gattin des Guts⸗ beſitzers, ſaß vor ihrem Schreibtiſch. Wie ſie ſich über den Tiſch beugte, ſah man nur das feine Profil und die zarte Hand, mit der ſie das volle aſchblonde Haar, das ein Wind⸗ zug ihr ab und zu über das Geſicht wehte, zurückſtrich. Sie ſchrieb eifrig. Ohne von dem Papier aufzuſehen, fragte ſie nach einer Weile: „Biſt Du noch da, Eliſabeth! Die Gefragte lachte ſtatt der Antwort. Es war ein kurz abgebrochenes, trockenes Lachen, das ihr eigenthüm⸗ lich war. Frau von Heeren ſchrieb weiter. Nach einer längeren Pauſe fragte ſie wieder: „Weißt Du nicht, ob mein Mann noch auf den Feldern iſt? „Ich habe ihn vor einer Viertelſtunde ins Schloß gehen ſehen.“ Sibilla legte die Feder ans der Hand und wendete ſich nach Eliſabeth um. Sie zeigte ein liebliches Geſicht, nicht von regelmäßiger Schönheit; nur die Augen hatten einen märchenhaften Reiz: große Sterne von reinſtem Blau, ſie ſchwammen in dem bläulichen Augapfel, ohne die unteren Augenlider zu berühren. Lange bräunliche Wimper gaben dem Geſicht den Ausdruck holder Kindlichkeit. Mit nieder⸗ geſchlagenen Augen glich ſie einer Madonna. In den offenen Augen aber, den irrenden, ſuchenden Sternen, ſchien eine zärtliche Frage zu liegen. Unwillkürlich fiel einem ein, daß dieſe Augen in der Leidenſchaft bacchantiſch blicken könnten. Jetzt aber, indem Sibilla die Bücher auf dem Schreib⸗ tiſch zurückſchob, blickten ſie melancholiſch, und ſie ſagte 100 mißmuthig: „Da muß ich meine Arbeiten verſchließen gerade als thäte ich etwas Unerlaubtes.“ „Du thuſt auch etwas Unerlaubtes. Alles, was die Welt mißbilligt, iſt unerlaubt. Und nun gar Herr von Herren! Du kennſt ſeine Abneigung gegen ſchriftſtellernde Frauen. Träumſt Du etwa von Lorbeeren? Frauenlorbeer — Brennneſſeln. Wem erweiſeſt Du einen Dienſt mit Deinen Schreibereien? „Wem? Mir, Eliſabeth. Ich muß etwas thun ſonſt — ich hänge ſo leicht trüben Gedanken nach.“ „Natürlich,“ ſagte Eliſabeth trocken. „Jetzt aber,“ fuhr Sibilla fort, „wittere ich Morgen⸗ luft. Seit meiner Verheirathung habe ich immer wie ein Vogel im Käfig gelebt. Mit meiner Feder habe ich mir den Käfig geöffnet, und der Vogel — ich weiß es ſelbſt am beſten, es iſt nur ein ganz gewöhnlicher kleiner Hänf⸗ ling, aber er kann doch fliegen, hoch in die Luft, und all das Herrliche, wovon er in ſeinem Käfig geträumt, das ſieht er nun . . . „Aus der Vogelperſpective,“ unterbrach ſie Eliſabeth. „Wenn nur deine Heldinnen nicht immer ſo ſchauderhaft melancholiſch wären.“ „Laſſe ich ſie am Schluß nicht immer glücklich werden? Ich habe nun doch Weſen, an deren Glück ich mich freue.“ „Und die Krankenpflege unter den Dorfleuten, der Du Dich ſeit kurzem ſo aufopfernd unterziehſt?““ Es lag etwas Lauerndes in dem Blick, mit dem Eliſabeth Sibilla fixirte. Eine helle Röthe flog über das Geſicht der jungen Frau. „Du haſt recht, das iſt noch eine viel, viel größere 101 Befriedigung, ein wirkliches Glück, das ich ſchaffe — für andere. Das Schreiben bleibt doch nur ein erdichtetes — für mich.“ Eliſabeth fragte ſie, ob es wahr wäre, was die Leute erzählten, daß ſie die kranken Kinder in ihren Armen um⸗ hertrüge? „Nur das kleine Gretchen Feldmann,“ antwortete Sibilla, als ob ſie ſich entſchuldigen müſſe, „Du weißt, die Holzſchlägers⸗Tochter. Ich habe das Kind lieb, vielleicht nur, weil es an einem Tage geboren wurde mit meinem armen Knaben, und wenn ich es an meinem Herzen halte, iſt mir immer, als erwieſe ich damit dem Ge⸗ ſtorbenen etwas Liebes. Um ſeinetwillen auch be⸗ ſchäftige ich mich mit ärztlichen Dingen, damit ich helfen kann, wenn der Arzt einmal nicht zur Stelle iſt. — Weißt Du, Eliſabeth,“ fuhr ſie lebhaft, mit aufleuchtendem Blick fort, „ich kann ſchon eine Wunde regelrecht verbinden, ich weiß viele Mittel gegen das Fieber, ich verſtehe die Temperatur zu meſſen, ich werde noch viel mehr lernen, und . . . Sie erröthete wieder, hielt inne, und ihre Stimme hatte den früheren trüben Klang, als ſie fortfuhr: „Aber der Tag iſt ſo lang. Ich darf meinen Kranken nur einen kleinen Theil meiner Zeit widmen. Ich habe eine Bitte an dich, Eliſabeth.“ Sie ſtand auf und kam auf Eliſabeth zu. Ihre Be⸗ wegungen waren elfenhaft, geräuſchlos. Sie war kaum mittelgroß. Sie hatte eine Abneigung gegen alles Dunkle, und kleidete ſich immer nur in lichte Farben. Schmuck trug ſie ſelten, ſtets aber friſche Blumen, die ſie nach ihrer Laune und ihrer Gemüthsſtimmung wechſelte. Die 102 ſtarken mattblonden Flechten pflegte ſie kranzartig um den Kopf zu legen. Als ſie jetzt mit kindlicher Herzlichkeit ſich an Eliſabeth ſchmiegte und ſchmeichelnd ihre Wange an die der Freundin legte, bildete ihre Lichtgeſtalt einen reizenden Contraſt zu der ernſten Erſcheinung der anderen. Eliſabeth erſchrak faſt vor der Schönheit dieſer Augen, die bittend zu ihr aufblickten. „Was willſt Du von mir, Sibilla: „Du biſt ſo klug, Eliſabeth, viel, viel klüger als ich. Sprich Du mit ihm. Wenn Du ihn überreden könnteſt ... Sie konnte den Satz nicht beenden. Herr von Heeren trat ein: eine ſtattliche Erſcheinung, voll Kraft und Würde. Sibilla ſchrak zuſammen. Herr von Heeren hielt einen Brief in der Hand und reichte ihn Sibilla. „Von Deinem Bruder. Er meldet uns ſeinen Beſuch an.“ Ein Ausruf der Freude kam von Sibillas Lippen. Sie hatte den Bruder ſeit drei Jahren nicht geſehen. Sie trat mit dem Brief ans Fenſter, um beſſer leſen zu können. Eliſabeth fragte mit ihrem trockenen Lachen die Schloß⸗ herrin, ob ſie auch Champagner genug im Keller habe, ſie kenne ja die Leidenſchaft ihres Bruders. Sibilla antwortete mit ſanftem Vorwurf: „Wir haben Alle unſere Fehler, Eliſabeth.“ Herr von Heeren war an den Schreibtiſch getreten und blätterte mechaniſch in den Büchern, die darauf lagen. „Bei Deinem Bruder,“ ſagte er, „iſt der ganze Menſch mouſſirend. Iſt der Schaum verflogen, was bleibt? Bodenſatz.“ „Das iſt ungerecht,“ vertheidigte ihn Sibilla gekränkt. 103 „Felix iſt ein ausgezeichneter Advokat. Und daß er ſo luſtig iſt — Luſtigkeit iſt doch kein Fehler. „Wenn etwa Champagner luſtig macht, ſo ſollten die „Wenn etwa Champagner luſtig macht, ſo ſollten die alte Philoſophen. „Erfahrungen machen alt,“ ſagte Eliſabeth ſcharf. Herr von Heeren ſchien von Eliſabeths Worten un⸗ angenehm berührt. Er ſah aufmerkſam in das Heft auf dem Schreibtiſch und fragte, was das für ein Manuſkript ſei? Sibilla hatte inzwiſchen den Brief zu Ende geleſen und trat jetzt ſchnell an den Schreibtiſch heran. „O, es iſt nichts, ich überſetze eine engliſche Novelle⸗ Wir treiben engliſch zuſammen, ich und Eliſabeth. „So.“ — Er war beim Blättern an die letzte Seite des Manuſkripts gekommen und las jetzt laut: „Ihr Leben war geweſen wie der Geſang eines Vogels, wie das Verrieſeln der Welle im Meer, es hatte keine Spur hinter⸗ laſſen. Solange ſie lebte, ſproßten ihr nur Dornen, ihre Aſche ruht nnter Blumen. „Die Aermſte,“ ſpottete Herr von Heeren, kläglich, recht kläglich! Und der Verfaſſer oder die Verfaſſerin dieſer Novelle: Sibilla wurde blaß und roth. Die Lüge war ihrer Natur von Grund aus zuwider. „Es iſt nicht wahr, was ich Dir geſagt habe. Ich ſelbſt habe die kleine Novelle geſchrieben. Ich weiß, Du möchteſt nicht, daß ich ſchreibe, es macht mir aber ſo viel Freude, und ich thue Niemand damit etwas zu Leide. „Die Novelle iſt ſehr moraliſch,“ warf Eliſabeth da⸗ zwiſchen. „Die Böſewichter werden alle entlarvt, und 104 die Tugend erhält zum Lohn einen glitzernden Heiligen⸗ ſchein: Utopien in Blüthe.“ „Und ich habe ſo viel Zeit, ſo ſehr viel.“ „Die Du nicht ſchlechter anwenden kannſt als mit dieſer geſchmackloſen Form der Handarbeit. Nächſtens wirſt Du durchs Land reiſen und Vorträge über Frauen⸗ rechte halten. Eine Frau, die mit einem Bändchen Alpen⸗ roſen' oder „Harfenklängen' niederkommt, iſt lächerlich. Eine Frau, die ihren Namen — nein, nicht ihren Namen, den Namen ihres Gatten — der Verunglimpfung jedes beliebigen Skribenten preisgiebt, iſt unwürdig. Ich ver⸗ biete Dir die Unwürdigkeit und Geſchmackloſigkeit. In meinem Hauſe iſt kein Raum für eine Corinna.“ Er drückte die Blätter in ſeiner Hand zuſammen. „Ich er⸗ laube mir, dieſe Keime Deiner zukünftigen Lorbeeren in meinem Papierkorbe zu erſticken. Eine dunkle Röthe flog über Sibillas zartes Antlitz. „Gieb her, gieb mir die Blätter.“ Er gab ſie ihr. Sie trat an's Fenſter, zerriß ſie, ließ ſie langſam und ſtückweis hinausflattern und ſah ihnen nach, bis ſie zu Boden fielen. Ein Blatt flatterte in's Zimmer zurück. „Hier!“ Er reichte es ihr. Sie zerriß es ein wenig heftiger als die anderen und ² fragte dann mit zitternden Lippen: „Biſt Du zufrieden: „Du haſt gethan, was ſelbſtverſtändlich war. Ob wir unſere Pflicht gern oder ungern thun, ſie muß gethan werden.. Sibilla lächelte mit trüber Reſignation und ſagte. 105 „Alſo früheſtens am Sonnabend kommt Felix? Und heute iſt erſt Montag. „Es wird Dir bis dahin an Geſellſchaft nicht fehlen. Deine geiſtreiche Freundin, die Baronin Heiden, hat ſich für heut Nachmittag anmelden laſſen. „Sie iſt nicht meine Freundin.“ „Das iſt mir lieb zu hören. Eine gefliſſentlich geiſt⸗ reiche Frau wirkt auf mich ſo komiſch wie ein Mann, der ſich ſchminkt.“ „So bin ich wenigſtens nicht komiſch. „Du — nein.“ Herr von Heeren ging hinaus. Sibilla ſtand am offenen Fenſter, ſchlang die Hände um das Fenſterkreuz und lehnte die Stirn auf die Hände. Mit geſchloſſenen Augen ſog ſie die Sommerluft ein und verſuchte ſich zu beruhigen. Allmählich gelang es ihr. War denn dieſer kleine Zwiſt der Mühe werth, ſich ſo aufzuregen? Nein, gewiß nicht. Ob dieſe Novelle ge⸗ ſchrieben wurde oder nicht, was lag daran! Sie hielt ſich nicht für ein beſonderes Schriftſtellertalent. Es war nicht das — etwas anderes — ihr ganzes freudenloſes, leeres Leben auf dem einſamen Landſitz. Im Winter hielt ſich ihr Gatte monatelang als Reichstagsmitglied in Berlin auf. Sie blieb immer daheim. Ihr Leben lief wie ein Uhrwerk ab. Sie ſtand auf, kleidete ſich an, nahm ihre regelmäßigen Mahlzeiten ein und ging ſpazieren. Sie las auch viel, Romane, gute und ſchlechte, wie der Buchhändler ſie lieferte. Der Salon hatte Möbel von ſchwarzem Eben⸗ holz und himmelblaue Polſter, nirgends feſſelte ein Farben⸗ reiz Auge und Phantaſie. Das einzige Kunſtwerk in dem 106 großen Raume war eine Büſte des Brutus, die auf einer Sänle in einer Niſche ſtand. Wenn Sibilla nicht las, dann träumte ſie in der Hängematte im Park oder auf dem Lehnſtuhl am Fenſter. Abends verfolgte ſie ungeduldig die Zeiger der Uhr, bis ſie auf zehn wieſen. Dann war wieder ein Tag vorüber, ſie durfte ſchlafen. Schlafen und träumen, das ſchien ihr das einzig Ge⸗ nußreiche in dieſer Welt. Wie ſie ſo über ihr Leben hin⸗ träumte, trugen ihre Gedanken und Erinnerungen ſie in ihre Heimat zurück, nach München in das Haus ihrer Mutter. Sie war die Tochter eines reichen Fabrikherrn, Arnold Wilt, der früh geſtorben war. Die Wittwe lebte mit ihren beiden Kindern Sibilla und Felix in einer Vor⸗ ſtadt Münchens in einem ſchönen Hauſe mit großem Garten. Sibillas Kindheit war dahingefloſſen wie ein klarer Bach zwiſchen blumigen Wieſen, etwas ſeicht, aber reich an Sonnenlicht und Duft, ohne ein Wölkchen am Horizont; ſie war von der Mutter, dem Bruder, von Jedermann, der in ihre Nähe kam, geliebt und verzogen worden. Sie war ein ſanftes, träumeriſches Kind, eine ſanfte, träumeriſche Jungfrau geweſen; zärtlich von Gemüth, mit lebhafter Phantaſie, haltlos von Charakter, eine jener Erſcheinungen voll ſchwebender Lieblichkeit, die wie Muſik auf uns wirken. Sibilla ſah wohl, daß die Mutter — eine Frau, die nur mit dem Herzen und nur für ihre Familie lebte — leidenſchaftlicher an dem Bruder hing als an ihr ſelbſt. Sie fand das natürlich. Felix war ſo glänzend begabt, ſie ſelbſt war dem tollen, übermüthigen Knaben innig zu⸗ 107 gethan. Sie war noch ein kleines Mädchen, als Eliſabeth ins Haus kam, die Tochter eines Werkmeiſters ihres Vaters der, wie man ihr ſagte, bei der Aufſtellung einer neuen Maſchine verunglückt war. Seine Frau war einige Jahre ſpäter aus Kummer geſtorben, und Frau Wilt fühlte ſich verpflichtet, die Waiſe in ihrem Hauſe erziehen zu laſſen. Eliſabeth war in Unglück und Jammer aufgewachſen, und ihre trotzige Verſchloſſenheit erſchien deshalb natürlich. Sie ſchloß ſich Niemandem an; ſelbſt dem liebkoſenden Weſen Sibillas gegenüber, die es nicht ertrug, daß Jemand ihr gleichgiltig begegnete, verhielt ſie ſich wenigſtens paſſiv, und das zärtliche Kind konnte die Vorſtellung nicht los werden, als hätte ſie der Gefährtin etwas zu Leide gethan, und ſie wußte doch nicht, was. Kaum war Eliſabeths Erziehung vollendet, ſo nahm ſie in Norddeutſchland, auf dem Lande, eine Stelle als Erzieherin an, und erſt nach der Verheirathung Sibillas kehrte ſie in das Haus ihrer Beſchützerin als Geſellſchafterin zurück. Sibilla war faſt ſchon erwachſen, als zum erſten Mal ein Schatten über ihre ſonnige Heimat zog — ein Schatten, der ihre Mutter tief, ſie nur leicht berührte. Felix war leichtſinnig geworden. Er brauchte Geld, und immer Geld. Wieder und wieder mußten große Summen für ihn abgeſchickt werden, Einſchränkungen im Haushalt wurden eingeführt, unter denen Sibilla keines⸗ wegs litt. Sie wußte nicht, daß ſie etwas entbehrte während die Mutter ſich abhärmte. Dann trat eine längere Pauſe ein, in welcher Felix nur Gutes von ſich hören ließ. Seine Examina beſtand er glänzend. Eines Tages aber kam ein Brief, der die Mutter auf's Krankenlager 108 warf. Felix wollte Advocat werden. Sein Scharfſinn, ſeine Beredſamkeit eröffneten ihm die glänzendſten Aus⸗ ſichten. Aber er hatte Schulden in Höhe von ſechzig⸗ tauſend Mark, die bezahlt werden mußten. Von Wechſel⸗ klagen bedroht, war ihm ſeine Laufbahn verſchloſſen; es handelte ſich für ihn um Sein oder Nichtſein. Felix war ſtolz, genußſüchtig, nicht geſchaffen Wider⸗ wärtigkeiten zu ertragen. Das Wort Selbſtmord ſprach er nicht aus, aber es war in ſeinem Brief zwiſchen den Zeilen zu leſen. Die Summe war zu groß. Frau Wilt konnte nicht helfen. Alles, was von ihrem Vermögen veräußerlich war, hatte ſie bereits für ihn hingegeben. Die Grundſtücke, die ſie beſaß, waren laut Teſtament des verſtorbenen Gatten unveräußerlich. Es blieb nur Sibillas Mitgift, welche die Summe von des Bruders Schulden überſtieg. Umſonſt wünſchte die Schweſter leidenſchaftlich ihm zu helfen. Sie erfuhr, daß ſie vor ihrem ein⸗ undzwanzigſten Jahre kein Verfügungsrecht über ihr Ver⸗ mögen beſaß, und daß ſelbſt im Fall ihrer Verheirathung ihre Mitgift dem Gatten gehöre. In wenigen Monaten ergraute das Haar der Mutter, ihre Geſtalt beugte ſich, ſie kränkelte. Wie war es nur gekommen, daß eines Tages Herr von Heeren im Hauſe von Sibillas Mutter erſchien? Es mußte ein geheimnißvoller Grund geweſen ſein. Was wollte er? So oft Sibilla ſpäter danach fragte, die Mutter blieb ihr immer die Antwort darauf ſchuldig. Gleich am erſten Tage hatte Herr von Heeren eine lange und geheime Unterredung mit Frau Wilt gehabt. Er kam dann öfter, und zuletzt täglich. Er warb um die 109 Tochter, und Sibilla las in den Augen der Mutter, wie ſehr ſie dieſe Verbindung wünſche. Das ſtrenge reſervirte Weſen Heerens mißfiel dem Mädchen nicht, nur ſchüchterte er ſie ein, ſie war in ſeiner Gegenwart ſtiller und ernſter, als es in ihrer Natur lag, und oft ruhten ihre Augen ängſtlich forſchend auf ſeinem Geſicht. Wenn ſie ihn heirathete, ob er zu Gunſten des Bruders auf ihre Mit⸗ gift verzichten würde? „Was fehlt Ihrer Mutter?“ fragte er eines Tages Sibilla, als Frau Wilt eine ſchmerzliche Erregung vor ihm nicht hatte verbergen können. „Sie grämt ſich zu Tode,“ antwortete Sibilla, und ſie ſagte ihm Alles, auch ihren Kummer darüber, daß ſie dem Bruder mit ihrem Vermögen nicht helfen dürfe. Als Antwort darauf fragte er ſie mit einfacher Würde, ob ſie ſein Weib werden wolle, ihre Mitgift ſtände alsdann Felix zur Verfügung. Freudig, voll herzlicher Dankbarkeit, willigte Sibilla ein. Unendliches Glück ſtrahlte aus den Augen der Mutter. Das Gefühl, ein Opfer gebracht zu haben, kam Sibilla kaum zum Bewußtſein. Ein Mädchen müſſe ſich ja doch einmal verheirathen, ſo ſagte alle Welt. Und Georg von Heeren war ein Mann, auf deſſen Charakter man Häuſer bauen könne, das ſagte ebenfalls alle Welt, auch die Mutter. Freilich wurde ihr Dankbarkeitsgefühl gegen Herrn von Heeren etwas herabgeſtimmt, als ſie hörte, daß er das Geld dem Bruder nur als Darlehn gegeben. Er hatte ſich einen Schuldſchein darüber ausſtellen laſſen, weil er, wie er ſich Frau Wilt gegenüber ausſprach, kein 110 Recht habe, ſeine etwaigen Kinder ihres rechtmäßigen Erbes zu berauben. Sechs Jahre waren ſeitdem verfloſſen. Felix hatte erfüllt, was er verſprochen. Er war einer der erſten Advokaten Berlins geworden. Sein Beruf hatte ihn mit gewiſſen frivolen und ausgelaſſenen Kreiſen der Ariſtokratie zuſammengeführt, in denen er als geiſtreicher Cauſeur eine hervorragende Rolle ſpielte, eine Rolle, die ihn zur Fort⸗ ſetzung ſeiner verſchwenderiſchen Lebensweiſe gewiſſermaßen zwang. Darin lag der Grund, daß er trotz ſeiner enormen Einnahmen und trotz der Erbſchaft, die ihm nach dem Tode der Mutter zufiel, bis jetzt nicht im Stande geweſen war, ſeine Schuld an Herrn von Heeren zurückzuzahlen. Frau Wilt, deren Lebenskräfte der Kummer um Felix gebrochen, hatte nur noch drei Jahre gelebt. Alljährlich war Sibilla einmal nach München gekommen, um ſie zu beſuchen. Wehmüthig bemerkte die Mutter die Veränderung im Weſen der Tochter. Aus dem blühend heiteren Mädchen war eine ſtille, ernſte Frau geworden. Doch ſah die Mutter darin keinen Grund zu wirklicher Beunruhigung. Im erſten Jahr hatte ſich Sibilla in München leidend gefühlt, weil ſie guter Hoffnung war. Als ſie ein Jahr ſpäter zum Beſuche der Mutter wiederkam, war das Kindchen ſchon geſtorben, und die junge Frau hatte lange und tief um die begrabene Hoffnung getrauert. Es wird ein Erſatz für das geſtorbene kommen, dachte die Mutter, und Sibilla wird wieder aufblühen. Mit dieſer Hoffnung im Herzen ſtarb ſie. Der Gedanke, daß Sibilla in der Ehe unglücklich ſein könne, war ihr nie ge⸗ kommen. War ſich doch Sibilla ſelbſt deſſen kaum bewußt! 111 Die junge Frau war mit dem herzlichen Willen, Georg zu lieben, in die Ehe getreten. Ihre erſten, ſchüchternen Verſuche, ſich ihm zärtlich anzuſchmiegen, hatte er entweder ignorirt oder nicht verſtanden. Er hielt ſie in Entfernung wie eine Untergebene, der man keine Vertraulichkeit ge⸗ ſtattet, weil ſie ſich ſonſt zu viel herausnehmen könnte. Selbſt in Stunden der Zärtlichkeit behandelte er ſie wie ein Paſcha, der ſeiner Favoritin das Taſchentuch zuge⸗ worfen hat. Ihre zarte feinfühlige Natur lehnte ſich innerlich gegen dieſe Art der Liebe auf. Sie ſuchte ſich ihm ſo viel als möglich zu entziehen, ohne daß ſie gewagt hätte, das Joch ganz abzuſchütteln. Georg von Heeren war hart und energiſch von Natur, er wollte ehern ſein. Ein Ereigniß ſeiner Jünglingsjahre hatte die Härte ſeines Weſens noch geſteigert. Kaum zwanzigjährig war er in die Netze einer Circe gerathen und in dieſem Verhältniß faſt zu Grunde gegangen. Schon war die Piſtole geladen, die ihm und der treuloſen Ge⸗ liebten den Tod bringen ſollte, als ihn die Dazwiſchen⸗ kunft eines Freundes rettete. Mit der Rückkehr des Be⸗ wußtſeins deſſen, was er gewollt, war die Reue gekommen, und ſeine Scham war grenzenlos. Verachtung des weib⸗ lichen Geſchlechtes war die Folge dieſes tragiſchen Abenteuers. Jahrelang wich er den Frauen aus. Er hatte ſein Temperament gezügelt, und als endlich der natürliche Hang des Mannes ihn wieder mit Frauen zuſammenführte, hatte er in dieſen Verhältniſſen gleichgültige Geringſchätzung zur Schau ge⸗ tragen. Die Ehe hielt er für nothwendig, ja für eine Ver⸗ pflichtung der Geſellſchaft gegenüber. In Sibilla glaubte 112 er die ſchöne, gefügige und unbedeutende Frau gefunden zu haben, deren er bedurfte, um eine Familie zu gründen: er ſah in ihr eine anmuthige Repräſentantin für ſein Haus, eine pflichtgetreue Mutter ſeiner Kinder, und für ſich ſelbſt — das Weib ſchlechthin. Seit einer Reihe von Jahren war er der Vertreter ſeines Kreiſes im Reichstag. Streng conſervativ, kämpfte er, unbeirrt von den Tagesſtrömungen, mit Muth und Ausdauer für ſeine Ueberzeugung. Bald galt er für einen der einflußreichſten Parlamentarier. Er ſprach ſelten im Reichstag, that er es aber, ſo war ſeine Rede markig, voll concentrirter Sarkasmen, ohne einen Schimmer von Gemüthsbewegung. Seine Partei ſah in ihm den künftigen Miniſter. Es zu werden, war das Ziel ſeines Ehrgeizes. Einen Theil ſeines parlamentariſchen Weſens über⸗ trug er auf ſein Haus. Niemals waren zwiſchen ihm und Sibilla heftige Worte gewechſelt worden, obwohl er An⸗ fällen von Jähzorn unterworfen war. Sich in einen Streit mit der zarten kleinen Frau einzulaſſen, hätte er für lächerlich und unmännlich gehalten. Er that ſeinen Willen kund, ihr Gehorſam war ſelbſtverſtändlich; daß ſich ihre natürliche Schüchternheit bis zur furchtſamen Unter⸗ würfigkeit ihm gegenüber geſteigert hatte, beſtärkte ihn in dem Glauben an ihre abſolute Inferiorität. Seit einiger Zeit jedoch hatte Sibilla Stunden der Auflehnung gegen Georg, gegen ihr Schickſal, gegen ſich ſelbſt, gegen ihre Träumereien in der Hängematte, gegen das unabläſſige Leſen, welches ſie erſchlaffte. Bis vor kurzem waren es immer nur Phanaſiegeſtaltten geweſen, tan denen ihr zärtliches Gemüth in ihren wachen Träumen H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 113 ſich aufrankte. Es erſchreckte ſie, daß jetzt ab und zu Menſchen, die ſie kannte, an die Stelle der Phantaſiege⸗ bilde traten. Oft ſah ſie ſich mitten aus ihren Viſionen heraus erſchreckt um, als hätte jemand ihre Träume hinter ihrer weißen Stirne belauſchen können. Um dieſen Lockungen der Phantaſie zu entfliehen, hatte ſie angefangen zu ſchreiben und ſich der Kranken⸗ pflege der armen Dörfler zu unterziehen. Bei der langen Wanderung ihrer Gedanken durch ver⸗ gangene Tage ſchweiften Sibillas Blicke von ungefähr über den Park; plötzlich verſchwand der träumeriſche Ausdruck aus ihrem Geſicht, und ihre Aufmerkſamkeit richtete ſich auf eine Gruppe im Park, auf einen jungen Mann, der einer alten Frau — offenbar einer Arbeiterin, die im Park beſchäftigt war — Rathſchläge zu ertheilen oder ſie zu tröſten ſchien. Eliſabeth, die Sibilla beobachtet hatte, entging der Wechſel in ihren Zügen nicht. Sie trat zu ihr ans Fenſter und folgte ihren Blicken. „Ah, unſer Doctor! wahrſcheinlich auf dem Wege zu uns; die Alte hält ihn auf. „Er wollte mir Nachricht von Gretchen bringen. Glücklicherweiſe tritt das Nervenfieber bei ihr nur leicht auf,“ verſetzte Sibilla. „Nicht wahr, ein intereſſanter junger Mann, unſer Deutſchruſſe?“ fragte Eliſabeth. „Der Typus eines echten Jünglings,“ meinte Sibilla. „Mit einem edlen, aber äußerſt mageren Profil, ſpöttelte Eliſabeth. Im übrigen fand ſie, daß bartloſe Männer immer etwas von Schauſpielern hätten, und der 114 junge Arzt ſpeciell ſähe wie ein Schauſpieler für Mortimer⸗ rollen aus, mit ſeiner Byronlocke über der Stirn und ſeinen melodramatiſchen Augen, die ſo feurig auflodern und ſo wehmüthig verglimmen konnten. „Alles in allem genommen,“ ſchloß ſie ihre Charakteriſtik, „halte ich dieſen holden Wütherich für einen verkappten Nihiliſten. „Wie,“ fuhr Sibilla erſchrocken auf, „Du glaubſt ... „Natürlich, ein Ruſſe im Ausland iſt immer Nihiliſt; ich werde Herrn von Heeren vor ihm warnen. „Das wirſt Du nicht,“ ſagte Sibilla, aus deren Geſicht alle Farbe entwichen war, „Du wirſt einen Un⸗ glücklichen nicht noch unglücklicher machen wollen. Eliſabeth horchte auf. „Ein Unglücklicher? wieſo? Sibilla ſchwankte einen Augenblick, was ſie antworten ſollte. Ihre Wahrheitsliebe, ihr weicher vertrauender Sinn ſiegte über die Rückſichten, die ihr vielleicht Verſchwiegen⸗ heit geboten hätten. „Ich habe ſo ungern ein Geheimniß vor Dir, Eliſabeth. Ich will Dir alles ſagen; Du wärſt ja die letzte, den Unglücklichen zu verrathen. Ich weiß nicht, ob ich Dir einmal erzählt habe, daß Felix und Oswald Normann, Freunde wurden infolge einer Vertheidigungsrede meines Bruders für einen Socialiſten. Die Rede begeiſterte Herrn Normann, der damals in Berlin ſtudirte. Nach Beendigung ſeiner Studien war er nach Petersburg zurück⸗ gekehrt, er wurde in einen Nihiliſtenproceß verwickelt, man verbannte ihn nach Sibirien. Drei Jahre war er dort . .. „Wie kam er davon: „Er floh. Nichts als das nackte Leben konnte er 8* 115 retten. Ohne alle Hilfsmittel kam er nach Berlin und ſuchte Felix auf. Damals — Du erinnerſt Dich vielleicht war unſer guter alter Kreisarzt bettlägerig geworden. Mein Gatte war mehr als je politiſch in Anſpruch ge⸗ nommen und beauftragte Felix, ihm zur Stellvertretung für einige Wochen oder Monate einen tüchtigen jungen Arzt zu ſchicken. Felix, froh, dem Freund, durch den er ſich in Berlin zu compromittiren fürchtete, eine Zufluchts⸗ ſtätte bieten zu können, ſchickte ihn hierher. Meinem Manne ſchrieb er, der junge Rnſſe halte ſich ſeiner Studien wegen einige Jahre in Deutſchland auf, und würde für die Gelegenheit, ſeine Kenntniſſe praktiſch zu erproben, ſehr dankbar ſein. Mir aber hat Felix die Wahrheit ge⸗ ſchrieben.“ „Natürlich, er kannte Deinen ſchwärmeriſchen Sinn und wußte, daß Du Dich mehr für einen politiſchen Märtyrer als für einen regelrechten Medicus intereſſiren würdeſt.“ „Das war es nicht. Er dachte wohl, daß ich ver⸗ mitteln, ausgleichen könnte, falls ſein Freund etwas Un⸗ bedachtes vorbrächte. Er war auch der Meinung, daß die Vertretung den jungen Ruſſen hier nur ganz kurze Zeit feſthalten werde. Wer konnte den Tod des Kreis⸗ arztes vorausahnen? Sechs Monate lebt Oswald Nor⸗ mann nun ſchon in dieſer zweiten Verbannung hier, und ich wünſche aufrichtig um ſeinetwillen, daß ſie bald vor⸗ über ſein möchte.“ „Ich wünſche es auch, um ſo mehr, als Herr von Heeren eine inſtinctive Abneigung gegen ihn zu haben ſcheint. Die hochmüthige Art des Ruſſen, ſein Aufflammen 116 im Geſpräch ſind ihm zuwider. Wenn er auch keine Ahnung von der Rolle hat, die er in Rußland geſpielt, glaube mir, er erräth in ihm den Nihiliſten. Ein Diener meldete Herrn Doctor Normann. Ein junger Mann von ſchmächtiger Geſtalt, ſtolz und ſicher in ſeiner Haltung, trat ein. Er kam, um Frau von Heeren mitzutheilen, daß die kleine Typhuskranke außer Gefahr ſei, und er dankte ihr für die werkthätige Liebe, die ſie dem Kinde bewieſen. Sibilla lehnte beſcheiden ihren Antheil an der Ge⸗ neſung ab. „Wie wenig konnte ich thun. Sie aber haben Nächte bei dem Kinde gewacht. „Es war nothwendig,“ ſagte er einfach. Er habe der Kleinen jetzt erlaubt zu leſen. Sie verlange nach dem Märchenbuch, das die Fee von Arenſee ihr verſprochen. Sibilla ſtand auf, das Buch zu holen. Als Eliſabeth aber ein lebhaftes Geſpräch mit dem jungen Manne begann, blieb ſie in der Thür ſtehen und hörte zu. „Glauben Sie wirklich,“ ſagte Eliſabeth, „daß Sie dem ſchwachen Geſchöpfchen damit, daß Sie es am Leben erhielten, einen Dienſt erwieſen haben? Diejenigen, für die der Tiſch des Lebens doch nicht gedeckt wird, thäten beſſer, jung zu ſterben. „Noch immer Peſſimiſtin, Fräulein Eliſabeth: entgegnete der junge Arzt; „die Peſſimiſten ſind wie die Kinder, die den Tiſch ſchlagen, an dem ſie ſich geſtoßen haben!“ „Das ſagen Sie, der Sie in Sibirien drei Jahre 117 Zeit gehabt haben, über die vollkommenſte aller Welten nachzudenken? Oswald ſah peinlich überraſcht zu Sibilla hinüber. Sibilla antwortete ſeinem Blicke: „Eliſabeth iſt im Vertrauen; ich bin nicht ſicherer, als ſie es iſt. „Dann iſt es eine Wohlthat für mich, einen Menſchen mehr zu wiſſen, vor dem man die Larve abthun darf. „Ich habe darüber nachgedacht,“ wandte er ſich zu Eliſabeth, und ich habe gefunden, der größte Vorzug der Welt iſt, daß ſie der Vervollkommnung fähig iſt. „Und Sie ſind in voller Arbeit, die Brachfelder unſerer heutigen Cultur mit dem Samen Ihrer nihiliſtiſchen Ideen zu befruchten. Oder wurden Sie etwa unſchuldig nach Sibirieu verbannt? „Ja, unſchuldig. Noch war mir die That verſagt. Ich habe nur ausgeſprochen, was ich dachte. „Sie haben ſich alſo um den Hals geredet! Schade! bei Ihrer Begabung! Sie hätten es zum Hofmedicus bringen können. Iſt es denn ſo ſchwer, mit geſchloſſenen Lippen zu denken? „Unmöglich iſt es. Die Gluth im Schoß der Erde ſprudelt mit Naturgewalt hervor als heißer Quell, ſo brach die lodernde Entrüſtung unſere Lippen.“ „Und alles Eis Sibiriens ſcheint Sie nicht gekühlt zu haben? Sibilla in ihrer ſchüchternen Art hatte bisher nie ge⸗ wagt, mit Oswald Normann über ſeine Vergangenheit zu ſprechen. Es ſchimmerte feucht in ihren Augen, als ſie ihn jetzt fragte, ob er viel auf ſeiner Flucht gelitten habe. 118 „Uebermenſchliches,“ antwortete er, „aber ich litt nicht allein. Wir waren unſrer dreißig. Ich hatte ſie überredet, mit mir zu fliehen. Sie waren mir Brüder geworden — alle. Nur drei von uns kamen nach Deutſch⸗ land. Die anderen — verſcharrt auf der Steppe — wo? Die Raben wiſſen es. Ich, der Todtengräber, habe ihnen die Augen zugedrückt, allen, allen. Und dieſe Augen, ſtarr, gebrochen, dieſe Lippen, weit offen, ſie ſind überall wo ich bin. Sie gehören zu mir, die Todten. Und eines Tages werden ſie mit mir kämpfen wie die Geiſter jener mythiſchen Helden, und ich — ich werde unverwundbar ſein.“ Während er ſprach, war eine lodernde Flamme in ſeinen Augen; ſie blickten an Sibilla vorbei, wie in weite Ferne hinaus. In dem abgemagerten bleichen Geſicht wirkten dieſe Augen um ſo mächtiger. Selbſt Eliſabeth fühlte ſich einen Augenblick hingeriſſen. „Ich verſtehe Sie — den flammenden Haß, der Ihre Bruſt erfüllen muß,“ ſagte ſie. „Ja, Haß, ein heiliger Haß, der ein Funke iſt jenes göttlichen Zorns, der Sodom und Gomorrha zerſtörte, ein Haß, der wie eine Sturmfluth alle Dämme bricht . . . Eliſabeth, deren Spottluſt wieder zur Geltung kam, unterbrach ihn: „Und dieſe Sturmfluth hat ſie hierher ver⸗ ſchlagen als — Dorfarzt. Eine merkwürdige Situation für einen zukünftigen Danton.“ Oswalds Blicke waren zu Sibilla zurückgekehrt mit einem ſtillen Glühen, und er ſagte ſanft: „Auch hier in meiner beſcheidenen Stellung bin ich im Dienſte leidender Mitgeſchöpfe. Wer nur eine der Quellen verſtopft, aus denen die Thränenſtröme . . . 119 Eliſabeth unterbrach ihn abermals: „Vom Auge der Menſchheit rinnen — ja, der leiſtet ſo viel wie das Kind, das die Hand ins Meer ſtreckt und die Tropfen durch ſeine Finger gleiten läßt; ſie fallen immer wieder in's Meer, die Tropfen. Sie und Ihresgleichen, Sie ſpielen die Titanen.“ „Wir wollen auch den Himmel ſtürmen und die herrſchenden Götter ſtürzen. „Und Sie glauben an einen Sieg? „Ich glaube daran; die mythiſchen Titanen unterlagen. weil ſie gegen die wahren Götter kämpften. Wir bekämpfen einen falſchen Gott, jenen Götzen mit dem Meduſenhaupt, vor deſſen Starrblick der natürliche Menſch zu einem Auto⸗ maten eingeſchrumpft iſt, jenen Monopolgott, aus deſſen Allmacht Kirche und Geſellſchaft ihre Privilegien herleiten. Wir müſſen ſiegen, die Naturgeſetze ſind für uns. Unwillkürlich war Sibilla von der Thür her immer näher zu ihm herangekommen. Ihre Blicke hatten mit Begeiſterung an ſeinen Lippen gehangen, und ihre ſonſt ſchwache, leicht verſchleierte Stimme klang ſtark und voll, als ſie ſagte: „Ich glaube an Sie.“ Gleich darauf aber erſchrack ſie über ſich ſelbſt. Es entſtand eine Pauſe. Sibilla blickte zu Boden und fühlte durch die geſenkten Augenlider die Intenſität ſeines Blickes. Eliſabeth machte durch eine Frage der peinlichen Pauſe ein Ende. „Wie lange wird denn Ihr Interregnum hier dauern: „Ich fürchte nicht lange mehr. Am liebſten ginge ich nach Sibirien zurück, wohin verbannte Freunde mich rufen, ihnen den Weg zur Freiheit zu zeigen. Sibilla erbebte leiſe. „Unmöglich,“ ſagte ſie raſch. 120 „Sie ſelbſt ſind ja krank infolge jener ſchrecklichen Ent⸗ behrungen.“ „Darum verwehren es mir die Männer, die meine Wegweiſer ſind. Sie ſchicken mich in die Schweiz, meine Geſundheit wieder herzuſtellen. Ob ich ihnen gehorchen werde — ich weiß es noch nicht. „Und doch wäre es die glücklichſte Chance für Sie, meinte Eliſabeth, „ſich jenem gefährlichen Treiben zu ent⸗ ziehen.“ „Auf Ihr Herz, Fräulein Eliſabeth, iſt nicht der Feuertropfen des Mitleids gefallen, jenes großen Mitleids für die Menſchen, aus dem der heiligſte aller Kriege ent⸗ brennt. Nur ein blindes Werkzeug, nur eine Waffe zu ſein in dieſem Heereszug iſt ein großes Geſchick; davor erblaßt Liebe und Leidenſchaft zu einem einzelnen, wie eine Harfe übertönt wird von einem tauſendſtimmigen Choral. — Und doch, zuweilen wünſche ich,“ fuhr er leiſer fort, und ſein Kopf neigte ſich, als wolle er Sibillas Blick ver⸗ meiden, „ich dürfte hier bleiben — immer, ein ganzes Leben. Ueber dieſem kleinen Fleck Erde weht ein Hauch des Para⸗ dieſes . . . „Ich will jetzt das Buch holen,“ ſagte Sibilla ſchnell und ging hinaus. Als ſie fort war, nahm Oswald ein Album zur Hand, das auf einem Seitentiſchchen lag, und blätterte darin. Nur halb hörte er auf das, was Eliſabeth ſprach. „Sie haben es leicht, ein Idealiſt ſein,“ ſagte ſie. „Wir Frauen .. „Haben Sie kein Herz für Ihre Mitmenſchen? unterbrach er ſie; „zu helfen und zu tröſten giebt es immer. 121 „Pflanzen, die man zertreten hat,“ entgegnete ſie, „wachſen nicht wieder; Herzen, auf die man getreten — auch nicht.“ „Ich habe kein Recht in das Geheimniß Ihres Lebens zu dringen, aber Ihr Gemüth iſt krank. Können Sie hier nicht geſunden, Fräulein Eliſabeth, ich habe Ihnen ſchon oftmals von einer Colonie geſprochen, die in Südamerika unter dem weichen Himmel Columbiens ſich bildet. Wandern Sie hinaus auf jene jungfräuliche Erde, Sie werden dort neue Wurzeln ſchlagen. Und wer weiß — vielleicht eines Tages — folge ich Ihnen. „Es klingt verlockend, aber ich habe noch hier in der Alten Welt eine Miſſion zu erfüllen. Oswald ſah ſie verwundert an. „Sehen Sie, da wundern Sie ſich ſchon, daß ich nur ein etwas pathetiſches Wort in den Mund nehme. Sie, als Mann, dürfen ein Feuerbrand ſein, ein Apoſtel, Sie dürfen, wenn Sie Talent dazu haben, als Märtyrer ſterben mit dem Bewußtſein, daß Ihr Evangelium Jünger findet, die es in die Welt hinaustragen. Ich aber, oder vielmehr die Frauen, die auch in die Schickſalsräder greifen möchten, damit ſie von ihnen nicht zermalmt werden — ſie rufen, ſie klagen, aber ihre Stimme verhallt — echolos. Und hätten wir die Weisheit eines Sokrates, die Beredſamkeit eines Cicero, was brächte es uns ein? Spott! Man iſt ja ſo witzig und ſo dankbar für eine Zielſcheibe des Spottes, beſonders wenn ſie — ungefährlich iſt. Oswald hörte ihr voll Theilnahme zu, er hätte ſich gern für dieſe herbe ſtarke Natur intereſſirt. Er wollte ihr etwas entgegnen, beendete aber ſeinen Satz nicht. Er 122 fühlte, daß er ſie nicht mit einer landläufigen Phraſe ab⸗ fertigen dürfe, und eine ernſthafte Widerlegung fiel ihm nicht ein, obgleich er ihre Denkweiſe nicht für berechtigt hielt. Sie ſchien auch keine Antwort zu erwarten. „Ich ſagte eine Miſſion,“ fuhr ſie in ihren Gedanken⸗ gang vertieft fort, „ich will ein noch pathetiſcheres Wort hinzufügen: eine Miſſion der Rache. Was wollen Sie mit Ihren politiſchen, radikalen Beſtrebungen? Rache — für alle, deren Exiſtenzen man gebrochen. Der Unterſchied zwiſchen uns iſt gering. Sie wollen eine Rache en gros, ich als Frau beſcheide mich mit einer Rache en detail an einem einzelnen. Unſer Zweck iſt mindeſtens wahl⸗ verwandt.“ Sie erhob ſich von dem Fauteuil, auf dem ſie ge⸗ ſeſſen, und ging unruhig mit gekreuzten Armen durchs Zimmer. Oswalds Blicke folgten ihr mit einer Art ernſter Neu⸗ gier. Er bewunderte die beinahe klaſſiſche Grazie, mit der ſie den kleinen Kopf auf dem ſchlanken Halſe trug. Unter den ſtarken, dunklen Brauen hatten die ſeltſam hellen Augen ein ſprühendes Licht, und jetzt in der Erregung nahmen ſie einen zugleich wilden und ſcheuen Ausdruck an. Sie ſteht nicht an ihrem Platz, dachte er, das Blut einer Heroine fließt durch die Adern einer Geſellſchafterin. Er fühlte ſich unbehaglich ihr gegenüber, ſie war für ihn wie ein Spiegel, in dem er die eigenen Beſtrebungen in unſchöner Verkürzung ſah. Eliſabeth war im Auf⸗ und Abſchreiten ruhiger ge⸗ worden und blieb jetzt vor ihm ſtehen; eine wehmüthige Bitterkeit zuckte um ihre Lippen, als ſie ſagte: 123 auf dem Meere treiben. Sturm und Windſtille bringen „Wir ſind wie die Schiffe, die ohne Steuer und Segel uns gleichermaßen Gefahr. Meine Gefahr iſt der Sturm, die Gefahr Sibillas — die Windſtille. Bei dem Namen Sibillas nahmen Oswalds Züge einen geſpannten Ausdruck an: „Welche Gefahr könnte Frau von Heeren drohen? „Sie iſt krank. „Wie? „Nicht ernſtlich gerade. Früher litt ſie unter einer trüben Reſignation, unter einer träumeriſchen Indolenz; jetzt iſt ſie oft fieberhaft erregt. Seit einiger Zeit iſt eine nervöſe Unruhe über ſie gekommen, ſie irrt umher, als ob ſie etwas erwartete, etwas erſehnte, vielleicht erſehnt ſie nur, daß überhaupt irgend eine lebendige Bewegung in ihr Leben träte. Wenn ein Pferdehuf ſich von fern hören läßt, lauſcht ſie, und ſie wird mißmuthig, wenn er auf der Land⸗ ſtraße verhallt. Mir ſcheint, die Einſamkeit zehrt an ihr. Oswald bemerkte nicht den forſchend liſtigen Blick Eliſabeths, der auf ihm ruhte; ſeine Augen hafteten am Boden und er ſagte tonlos, nur um etwas zu ſagen: „Warum verkehrt Frau von Heeren nicht mit den Guts⸗ nachbaren? „Nachbaren — ja, aber weiter ſind ſie nichts. Leute, die ein halb bäuriſches Leben führen und die alle zu⸗ ſammen in ihren Schränken nicht ein Dutzend Bücher auf⸗ zuweiſen haben.“ „Frau von Heiden macht eine Ausnahme.“ „Gewiß. Sie iſt eine vollendete Weltdame. Was will ſie nur hier? Kein Menſch begreift, wie ihr auf ein⸗ 124 mal die Caprice gekommen iſt, den Sommer auf ihrem Gut zuzubringen, wo ſie ſich ſeit ihrer Verheirathung nicht mehr hat ſehen laſſen. Um Buße zu thun? Höchſt un⸗ wahrſcheinlich, ſie hatalle ihre Berliner Toiletten mitgebracht. „Sie legt für Frau von Heeren eine ganz beſondere Sympathie an den Tag. „Ja, aber Sybilla erwidert ſie faſt mit Abneigung, trotzdem ihr Bruder Felix, der die Baronin von Berlin her kennt, mit einem faſt compromittirenden Enthuſiasmus über ſie geſchrieben hat. „Ich begreife Frau von Heerens Antipathie . Sibilla trat mit dem Buche in der Hand wieder ein. Sie hatte nicht, wie ſie vorgab, das Buch ſuchen müſſen, ſie hatte die Erregung, von der ſie ſich vorhin fortgeriſſen fühlte, erſt bemeiſtern wollen. Sie wollte nun wiſſen, wovon man ſo lebhaft ge⸗ ſprochen hätte. „Ueber die Weisheit der Vorſehung,“ antwortete Eliſabeth, „die uns jede nutzbringende Thätigkeit verſchließt. „Nicht jede.“ Und in der ſchwärmeriſchen Art, die ihr eigen war, ſchilderte Sibilla die innere Befriedigung, die ſie der Krankenpflege verdanke. Dann wandte ſie ſich zu Oswald: „Wenn Sie uns verlaſſen werden, Herr Nor⸗ mann, und es wird ja in nicht allzu langer Zeit ſein, dann werde ich in Ihrem Sinne fortwirken. Die ganze Land⸗ ſchaft ſoll Ihres Geiſtes einen Hauch verſpüren'. Ich bin Ihre Schülerin, eine dankbare und, nicht wahr, auch keine ganz ungeſchickte? Sie reichte ihm die Hand, die er in tiefer Bewegung an ſeine Lippen zog. 125 Die Thür ging auf. Herr von Heeren, mit einer Zeitung in der Hand, trat ein. Ein dunkler Blick aus ſeinen Augen ſtreifte die Gruppe. Er kam um des Arztes willen. Einer der Knechte hatte ſich bei einem Fall ſchein⸗ bar ſchwer verletzt. Sibilla war ganz Mitleiden und bat den Arzt, ihr ſpäter über den Fall zu berichten. Sie wollte Leinwand und was ſonſt etwa gebraucht würde, herbeiſchaffen. „Fräulein Eliſabeth wird das Nöthige beſorgen,“ ſagte Herr von Heeren. Eliſabeth und der Arzt verließen das Zimmer. Herr von Heeren blieb, in der Zeitung leſend, mitten im Zimmer ſtehen. Sibillas ſchüchterne Frage nach der Art des Unglücksfalles, der den Arbeiter betroffen, ſchien er zu überhören. Nach einer Weile fragte er, immer noch mit den Augen in der Zeitung: „Du triffſt mit Herrn Norman häufig bei den Kranken zuſammen? „Nicht ſehr häufig. Warum fragſt Du danach? „Und er pflegt Dich dann bis zum Eingang des Parkes zu begleiten? „Zuweilen. Er giebt mir Rathſchläge über die Be⸗ handlung der Kranken. Seitdem er hier iſt, hat ſich der Geſundheitszuſtand im Dorfe verbeſſert. Er iſt ein treff⸗ licher Arzt. Ich habe übrigens Grund zu glauben, daß er ſich für Eliſabeth intereſſirt. Herr von Heeren faltete das Zeitungsblatt langſam und ſorgfältig zuſammen, und ſein kalter, ſtrenger Blick traf Sibilla, als er fortfuhr: „Der Ruf einer Frau iſt wie das Blatt einer Lilie, ein Hauch befleckt ihn. 126 „Wie? — Beziehungen wie die zwiſchen mir und Herrn Normann, die nur den reinen Zweck des Wohlthuns haben, wären einer Mißdeutung fähig: „Man hat ſie bereits mißdeutet. „Herr von Heeren ſagte die Unwahrheit. Niemand hatte einen Verdacht ausgeſprochen. In der Regel pflegte er ſeine Willensäußerungen nicht zu motiviren. Daß er jetzt, halb unwillkürlich, auf dem Umweg einer Unwahrheit ſeinen Zweck erreichen wollte, verletzte ihn in ſeinem ſtolzen Selbſtbewußtſein und gab ſeiner Sprache noch herbere Accente, als ihm ſonſt eigen waren. „Ich geſtehe,“ fuhr er fort, „ich denke etwas ſkeptiſch über ideale Intereſſen zwiſchen jungen Leuten verſchiedenen Geſchlechts, wenn der Altersunterſchied weniger als zwanzig Jahre und die geographiſche Diſtanz nicht mehr als eine halbe Stunde Wegs beträgt. Ich traue dieſem Ruſſen nicht. Ich fürchte, Dein Bruder hat ſich von ihm düpiren laſſen und wir beherbergen einen Nihiliſten. Sibilla blickte zur Seite, ihre plötzliche Bläſſe ent⸗ ging ihm. „Bei dieſen radikalen Heißſpornen iſt die Idealität gewöhnlich nichts als das Exſudat eines krankhaften Größen⸗ wahns. Und man verkehrt nicht ungeſtraft mit Menſchen die ſtets bereit ſind, ihr ſouveränes Ich über Sitten und Geſetze zu ſtellen.“ „Wie kann die edle und reine Geſinnung Normanns etwas gemein haben mit verbrecheriſchen Zwecken: „Kehricht, wenn der Mond darauf ſcheint, kann auch poetiſch wirken. Tönende Phraſen ſind für Unverſtändige zuweilen eine Art Mondſcheinbeleuchtung und glorifiziren 127 ſelbſt ein Verbrechen. — Uebrigens,“ ſetzte er hinzu, „habe ich bereits für die Neubeſetzung der Kreisarztſtelle die nöthigen Schritte gethan. Wir werden binnen kurzem von der mindeſtens verdächtigen Perſönlichkeit dieſes Deutſchruſſen befreit ſein. Bis dahin wirſt Du nicht mehr in die Bauern⸗ häuſer gehen.“ „Und meine armen Kranken?“ ſtammelte Sibilla und ihre Lippen zitterten. Herr von Heeren machte eine un⸗ geduldige Bewegung, und ſie ſagte verſchüchtert: „Wenn Du es nicht willſt, gut — gut. Ich werde für meine Hilfsleiſtungen Normanns Vermittelung in Anſpruch nehmen.“ Sie war an das andere Ende des Zimmers gegangen, wo ſie ſich nervös mit den Büchern auf dem Tiſch zu ſchaffen machte. „Das wirſt Du nicht. Ich wünſche Herrn Normann nur dann bei uns zu ſehen, wenn ſeine Anweſenheit als Arzt nöthig iſt. Mein Sekretär wird Dein Almoſenier ſein. Ich werde Dein Ausgabebudget für die Armen er⸗ höhen. Sie ſollen bei dem neuen Arrangement nicht zu kurz kommen. Merke es Dir, ich dulde auf meiner Ehre nicht den leiſeſten Schatten . . . Eliſabeth trat wieder ein und ſetzte ſich an's Fenſter zu ihrem Strickrahmen. „Wer, wie ich, eine maßgebende Stimme bei der Ge⸗ ſetzgebung des Landes hat,“ fuhr Herr von Heeren fort, „ſoll in ſeinem Hauſe . . . Eliſabeth unterbrach ihn: „Eine Muſterwirthſchaft etabliren, in der Ehe, in den Ställen, in der Brennerei u. ſ. w. „Siebemühen ſichwiedergeiſtreich zuſein, mein Fräulein. 128 „Und begehe damit ein Plagiat an den Männern nicht wahr? Herr von Heeren unterdrückte eine ſcharfe Antwort, die ihm auf den Lippen ſchwebte. Sibilla hatte ſchon früher mit Erſtaunen bemerkt, daß ihr Gatte ſelbſt die herausforderndſten Spötteleien Eliſabeths duldete, und allmählich war ſie, auf Grund ihrer Beobachtungen, zu dem Schluß gelangt, daß er in Eliſabeth eine Unglückliche, und zugleich die Frau, welche in abſoluter Abhängigkeit von ihm lebte, ſchonte. Die Gegenwart Eliſabeths gab ihr immer einigen Muth dem Gatten gegenüber. So ſagte ſie auch jetzt in einem etwas gereizteren Ton als vorher: „Du haſt mir verboten zu ſchreiben, ich ſchreibe nicht mehr. Du verbieteſt mir, zu den Armen und Kranken zu gehen, ich werde zu Hauſe bleiben. Aber, mein Gott, was ſoll ich denn thun? was: „Was jede andere verſtändige Frau auch thut. „Ja, was thun andere Frauen, ich weiß es nicht recht. „Nichts,“ warf Eliſabeth mit ihrem kurzen Lachen dazwiſchen. „Aber es kann nicht ein jeder nichts thun. „So ſei doch artig,“ rief ihr die Geſellſchafterin zu. „Iß Deinen Braten, ſetze Dich an den Kamin, lies Romane, trinke Thee, ziehe Dich, wenn es kalt iſt, warm an, damit Du keinen Schnupfen kriegſt, und ſtöre Deinen Mann nicht bei der Arbeit; erfreue und erfriſche ihn dagegen in ſeinen Mußeſtunden durch die Anbetung ſeines ſouveränen Männerthums. H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 129 9 Herr von Heeren zuckte mitleidig die Achſeln und war im Begriff, das Zimmer zu verlaſſen, hörte aber noch, wie Sibilla zu Eliſabeth ſagte: „Ich werde die Jungfer abſchaffen und mir meine Kleider ſelber anfertigen. Ich werde auch einige Zimmer ſelbſt aufräumen, das ſoll ſo geſund ſein.“ „Du wirſt die Jungfer behalten und die Zimmer nicht aufräumen,“ ſagte Herr von Heeren mit ruhiger Kälte. „Du wirſt Dich in keiner Weiſe beſchäftigen, die Deiner und meiner Stellung nicht ziemt. Muſicire, zeichne, ich habe nichts dagegen. Du biſt ja jahrelang in dieſen Künſten unterrichtet worden.“ „Freilich,“ ſpöttelte Eliſabeth, „wir haben den ganzen Olymp nach Gips zu Papier gebracht. „Oder beſchäftige Dich mit altdeutſcher Stickerei, das iſt ja die neueſte Mode. Uebrigens, das ſind Eure An⸗ gelegenheiten, in die ich mich nicht miſche. Damit ging er. Sibilla war heftig erregt. Eliſabeth hatte ſie niemals ſo geſehen. Die junge Frau ging zum Flügel und öffnete ihn. „Haſt Du's gehört, Eliſabeth,“ ſagte ſie mit ſo viel Ironie, als ſie in ihre ſanfte, ein wenig ſingende Stimme legen konnte, „ich darf Muſik machen. Sie ſpielte. Sie hatte keine muſikaliſche Begabung. Sie ſpielte ohne Tact und ohne Rhythmus wilde Tänze; Eliſabeth hielt ſich die Ohren zu. Mit einer häßlichen Diſſonanz brach Sibilla plötzlich ab. „Merkwürdig,“ ſagte ſie, „daß wir immer das thun dürfen, wozu wir gar keine Luſt und gar kein Talent haben. 130 „Zeichne lieber, das macht weniger Lärm.“ Eliſabeth reichte ihr das eigene Skizzenbuch. „Ja, zeichnen wir. Den Brutus will ich zeichnen. Eliſabeth mußte ihr helfen, die Säule, auf der die Büſte ſtand, ins rechte Licht zu rücken. „Ich zeichne ſie im Profil, das iſt die leichteſte An⸗ ſicht.“ Sie zeichnete eine halbe Stunde mit ſcheinbarem Eifer. Eliſabeth ſuchte ſie zu ermuthigen. „Du hatteſt immer im Zeichnen eine glänzende Cenſur.“ „Weil ich den armen Lehrer nicht zum Narren hielt wie ihr. Ich habe auch vielleicht Talent. Wenn nur die Köpfe keine Naſen hätten! Die waren immer meine Achilles⸗ ferſe — ich konnte die Naſen nicht treffen — ich kann es auch jetzt nicht — und dieſer Brutus — ſieh nur — wie er meinem Gatten ähnlich iſt.“ Sie ſprang auf. „Nein ich zeichne nicht, es iſt eine Läſterung der Kunſt. Was hat er denn noch erlaubt? Ich hab's vergeſſen, ja — richtig — altdeutſche Stickerei. Borge mir Deine Stickerei, Eliſabeth.“ Als Eliſabeth ihr ſchweigend den Rahmen gereicht hatte, fragte ſie: „Iſt die Stickerei auch altdeutſch? Alt⸗ deutſch hat er erlaubt. Ich will morgen ein Kiſſen an⸗ fangen und es ihm zu ſeinem Geburtstag ſchenken. Das iſt doch ein Lebenszweck, es giebt ſo merkwürdige Lebens⸗ zwecke. Haſt Du noch rothe Seide? Ich will alles in roth ſticken, damit es recht luſtig ausſieht.“ Eliſabetb hatte keine rothe Seide. Sibilla warf die Stickerei fort. „Da haben wir's.“ Sie ſprang wieder auf, ging zum Fenſter, athmete aus tiefer Bruſt die milde 9* 131 Luft und ſagte ſchwermüthig: „Wir hätten uns niemals heirathen ſollen. „Hat man Dich etwa gezwungen? „Nein. Sie ſagten ja alle, auch meine Mutter, das wäre ein Menſch, auf deſſen Charakter man Häuſer bauen könne.“ „O gewiß,“ meinte Eliſabeth, „er hat vortreffliche Eigenſchaften — auswärts. Vielleicht liegen auch in der tiefſten Tiefe ſeines Inneren Goldkörner; es iſt aber eine ſolche Dornenhecke von Charakter darum gewachſen, es muß ſchon ein Schatzgräber kommen, um den Schatz zu heben.“ „Warum hat er mich nur geheirathet? Weißt Du es, Eliſabeth? Er kann mich nicht geliebt haben.“ „Doch, er hat die ſtille Frauenſeele in dir geliebt, die ihm ſeine Freiheit und ſein Herrſcherthum garantirte. Und haſt Du nicht wirklich eine glänzende Partie gemacht: Was für eine Rolle ſpielt Herr von Heeren im Reichstag! Iſt er nicht die Pflichttreue und die Gewiſſenhaftigkeit in Perſon? O, ein wahrer Brutus! Nur gut, daß ſein Sohn . . . „Erinnere mich nicht an das Kind! „Es war noch ſo klein, als es ſtarb.“ „Mein armes Kind! ſo klein, kaum ſechs Monate alt, und mußte ſterben — ſterben.“ Sibilla ſchauderte in ſich zuſammen und ſagte dumpf: „Weil er es ge⸗ wollt hat.“ Eliſabeth hörte die Worte. „Wie — er? Was ſagſt Du! 132 „Ich habe nie davon geſprochen. Ich wollte es vergeſſen. Ich kann nicht. „Ich verſtehe Dich nicht. Er, ſagſt Du . .. Sibilla trat nahe an Eliſabeth heran, ſie ſprach fieberhaft haſtig, in abgebrochenen Sätzen: „Ja, er hat es getödtet. Es war plötzlich erkrankt. Er war zum Arzt gefahren. Unterwegs traf ihn ein Bote mit einer Depeſche von der Regierung. Seine Pflicht gebot ihm, ſofort zu antworten — das ſagte er ſpäter. Die Exiſtenz des Miniſteriums hing von ſeiner Depeſche ab, und er — er that ſeine Pflicht. Er fuhr zuerſt zur Eiſenbahnſtation; es war ja nur eine kleine Stunde der Verzögerung — er ſagte ſo — eine kleine Stunde. Nur leider, nach einer kleinen Stunde traf er den Arzt nicht mehr, und als er nach vielen Stunden kam, war mein Kind — todt. Und ſeitdem habe ich viel gegrübelt über das Wort „Pflicht', und ſeitdem — ſeitdem . . . es iſt doch gut, daß wir keine Kinder haben, den Brutus habe ich ſchon in der Schule gehaßt. „Wie Deinen Gatten: „Haſſe ich ihn? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, wenn er in meine Nähe kommt, iſts, als ginge eine Kälte von ihm aus, vor der Alles in mir erſtarrt. „Vielleicht iſt ſeine Kälte nur gefrorene Leidenſchaft, wer weiß! Eliſabeth blickte voll Theilnahme auf Sibilla, die wieder am Fenſter ſtand, mit großen, offenen Augen, als wenn ſie in weite Fernen hinausſpähte. „Du warſt ein ſo glückliches Kind, Sibilla, und nun . . 133 damals — es geht nicht. Siehſt Du, Eliſabeth, es giebt „Ich gebe mir ſo viel Mühe, wieder zu ſein wie Menſchen, die haben eine grenzenloſe Sehnſucht nach fremden Ländern, und ſie können doch nicht reiſen, weil ſie kein Geld haben, oder aus anderen Gründen. So ſehne ich mich nach Empfindungen, tiefen, ſtarken, die ich nicht kenne, und ich weiß doch, ſie ſind da. Warum ſind ſie nicht für mich? Oft ſchlinge ich im Park meine Arme um die Baumſtämme und drücke mein klopfendes Herz an die harte Rinde, und ich warte, ich lauſche, als müſſe ſich irgend etwas begeben, etwas Wunderbares, Süßes . . . „Schöne Phantaſien für eine verheiratete Frau! „Sieh nur in den Park hinunter, die geraden Alleen, alle ſo hübſch mit röthlichem Kies beſtreut, und die Bäume, wie accurat ſie verſchnitten ſind, alles ſo korrekt, nirgend ein phantaſtiſches Geſträuch, eine dämmrige Laube — ganz wie er, kein Stückchen urſprünglicher Natur darf gegen ſeinen Willen aufkommen.“ Sie trat vom Fenſter zurück und legte ſich auf die Chaiſelongue am Kamin, faltete die Hände über dem Kopf und ſah trübe ſinnend zur Decke empor. „Ich will ſchlafen; ich wünſchte, man könnte Alles verſchlafen. Alles wäre beſſer als dieſes Einerlei, dieſe unabſehbaren Tage, von denen der eine wie der andere ausſieht. Soll ſo mein ganzes Leben dahingehen, in dieſem tödtlichen Gleichmaß, einſam, unfruchtbar . . . „Als ob Du eine Ausnahme wärſt! Sibilla ſchloß die Augen. Nach einer Weile fing ſie wieder an, wie aus dem Schlafe heraus zu ſprechen: „Oft iſt mir, als träumte ich nur, daß ich verheirathet 134 bin, und im Traum freue ich mich auf das Erwachen, Und dann wieder iſt mir, als hörte ich in der Ferne eine traumhafte Muſik, wunderſame Melodien, voll wilder Sehnſucht — ich horche, ich warte — ſie ſoll näher kommen, ſie kommt nicht! Ach, ich bin ſo einſam, Eliſabeth — ſo einſam, wenn ich Dich nicht hätte! Sie wendete ihr Geſicht dem Kamin zu. Eliſabeth ſah an der Bewegung ihrer Glieder, daß ſie leiſe weinte. Mit einem Herzen voll Haß gegen die vom Geſchick begünſtigte Sibilla war Eliſabeth nach Arenſee gekommen, aber an dem weichen Liebreiz dieſes poetiſchen Geſchöpfes war ihr Haß geſchmolzen. Um ſo freier und eifriger ver⸗ folgte ſie nun einen Plan, den ihr die Verhältniſſe in Arenſee faſt aufgedrängt hatten. Sibilla gab von dieſem Tage an jede Thätigkeit auf. Sie las nicht einmal mehr. Sie lag wieder ſtundenlang in der Hängematte und wehrte ihren Träumen nicht, welche Geſtalt ſie auch annehmen mochten. Es war ein leiden⸗ ſchaftliches Träumen. Oswald war einige Mal gekommen und abgewieſen worden, ebenſo Frau von Heiden. Als die letzere trotzdem wiederkam, mußte Sibilla ſie empfangen. Die Baronin war eine üppige Brünette von fünf⸗ unddreißig Jahren, voll heiterer Anmuth, ein wenig ge⸗ ſchminkt, ſehr elegant, mit einem pikanten Geſicht ohne beſonders hübſch zu ſein. Immer und überall bemerkt zu werden, ſelbſt unter den Allerſchönſten, gehörte zu ihren Lebenszwecken. In der richtigen Erkenntniß von der Un⸗ zulänglichkeit ihrer perſönlichen Reize für dieſen Zweck, re⸗ quirirte ſie die Hilfstruppen der Garderobe, und nach 135 vielen Studien und einigen mißglückten Verſuchen hatte ſie reüſſirt. Sie wirkte, wo ſie ſich blicken ließ, ſenſationell. Heute trug ſie ein lichtroſa Koſtüm von elegantem Sommer⸗ ſtoff, dazu ein ſchwarzes Federbarett, lange ſchwarze Hand⸗ ſchuhe, ſchwarze Schuhe und Strümpfe. Sie umarmte die junge Frau lebhaft und machte ihr Vorwürfe, daß ſie ſich Unwohlſeins wegen vor ihr habe verleugnen laſſen. Mein Gott, wozu habe man denn ſeine Freunde? Haupt⸗ ſächlich doch als Heilmittel: die luſtigen gegen Kopfſchmerzen die langweiligen gegen Schlafloſigkeit. Sibilla lächelte mit matter Höflichkeit. „Lächeln Sie doch nicht ſo ſeufzerhaft. Sie haben eine Gemüthsart wie in Mondſchein getaucht. Sie brauchen Sonne, inwendige Sonne, damit es in den Eispolregionen Ihres Herzens endlich einmal Sommer werde. Mit einem ſchwachen Verſuch, ihren kühlen Empfang wieder gut zu machen, erwiderte Sibilla, daß es ihr nicht an Sonne fehle, ſolange die Frau Baronin da ſei. Frau von Heiden ſchien erſt jetzt Eliſabeth zu be⸗ merken. „Ah, Fräulein Eleonore!“ Sie ſprach den Namen, der eine abſichtliche Verwechſelung war, mit einem drolligen Pathos, jeden Buchſtaben betonend, aus. „Sie ſind auch da? Guten Tag. Wie weit ſind Sie denn mit ihrer Stickerei? — Uebrigens,“ wendete ſie ſich, ohne Eliſabeths Antwort abzuwarten, wieder zu Sibilla, „ich bin halb verſchmachtet, wenn Sie mir eine Erfriſchung gönnen wollten.“ Eliſabeth ſtand auf. 1361 „Aber keine Limonade, bitte, etwas Kräftiges Selterwaſſer mit Cognak etwa. Eliſabeth ging hinaus. „Ich habe uns das ſtelzenhafte Fräulein nur aus dem Wege räumen wollen,“ ſagte die Baronin lachend. „Wie können Sie nur dieſe Geſellſchafterin mit den Allüren einer entthronten Herzogin um ſich dulden? Sie hat entſchieden den böſen Blick, einen Blick wie eine Warnungs⸗ tafel mit der Aufſchrift: Vorſicht. „Sie thun ihr Unrecht,“ entgegnete Sibilla. „Sie iſt wohl ſtolz und verſchloſſen, aber klug und auch gut. Nicht allein das Verſprechen, ſie nie zu verlaſſen, das ich meiner geliebten Mutter gegeben habe, bindet mich an ſie. Sie iſt mir werth, mag auch die Bitterkeit und Herbigkeit ihrer Lebensauffaſſung auf andere abſtoßend wirken. Zu⸗ weilen denke ich, daß ſie ein Geheimniß in ſich verſchließt. Die Baronin fuhr lebhaft auf: „Was — jung, hübſch ⁴ Bitterkeit — ein Geheimniß! Wo iſt der Mann! „Sie meinen . . . „Natürlich, eine unglückliche Liebe! Hat ihr in München Jemand den Hof gemacht“ „Nein, ich wüßte nicht. „War ſie, ehe ſie München verließ, viel mit Felix, Ihrem Bruder, zuſammen: „Ich erinnere mich nicht genau, ich war noch nicht erwachſen, es iſt wohl möglich. „Ich bin orientirt. „Sie glauben . . . „Es unterliegt gar keinem Zweifel. Felix, wenn er will, reüſſirt, und er will — meiſtens. Wollen Sie mir 137 freie Hand geben, dieſer geharniſchten alten Jungfer eine Stelle als Geſellſchafterin zu verſchaffen? mir eine Vertraute geworden. Wenn ſie fortginge, wäre „O bitte, nein, ich habe mich an ſie gewöhnt, ſie iſt eine große Lücke in meinem Leben. „Sie brauchen eine theilnehmende Seele, natürlich, Sie ſind ja verheirathet.“ „Was wollen Sie damit ſagen? „Ich bin eine erfahrene Frau, leider um zehn Jahr erfahrener als Sie. Sie dürfen ſchon Vertrauen zu mir faſſen. Liegt der Grund Ihrer Melancholie in der Ver⸗ gangenheit? Sibilla machte unwillkürlich eine verneinende Be⸗ wegung. „Alſo in der Gegenwart. Sie ſind nicht glücklich? „Muß man denn glücklich ſein?“ ſagte Sibilla und ſah mit trübem Lächeln vor ſich hin. „Freilich, liebes Kind. Wir ſind doch nicht etwa auf die Welt gekommen, um uns peu à peu aus dem Leben herauszugrämen! Kluge Frauen pflegen im allge⸗ meinen nicht in ihre Karten ſehen zu laſſen; zu meinen Gepflogenheiten gehört es gerade auch nicht. Mit Ihnen aber will ich aufrichtig ſein. Ich habe es mir in den Kopf geſetzt, Sie von Ihrem Trübſinn zu heilen. Sie und Herr von Heeren paſſen nicht zuſammen, das iſt ſonnenklar. Sibilla wollte etwas ſagen. „Bitte, ſtürzen Sie ſich nicht in die Unkoſten irgend welcher conventionellen Lüge. Ich würde Ihnen doch nicht glauben. Aber Ihre Verheirathung iſt leider Thatſache, ſie läßt ſich nicht rückgängig machen. 138 Sibillas Kopf neigte ſich. Sie wußte es ja, es ließ ſich nicht rückgängig machen. „Alſo . . .“ Die Baronin hielt inne, Sibilla ſah ſie fragend, faſt neugierig an. „Paſſen Sie ſich den Ver⸗ hältniſſen an.“ „Ich verſtehe Sie nicht, Frau Baronin. „Hören Sie eine Epiſode aus meinem Leben.“ Sie hatte den einen ihrer Handſchuhe ausgezogen, und während ſie ſprach, liebäugelte ſie mit dem Farbenſpiel ihrer Brillant⸗ ringe. „Ich hatte aus Neigung geheirathet, machte aber bald nach meiner Hochzeit die Entdeckung, daß nach dieſer Neigung keine Nachfrage war und daß ich für meinen theuren Fritz keinen anderen Werth hatte als den eines Schlüſſels zu meinem Geldſchrank. Ich erfuhr, daß ſein Bedarf an Liebe gedeckt ſei — im Cirkus. Eine ſolche Erfahrung wiegt ſchwer. Man ſtürzt aus allen Himmeln auf die harte Erde. Der Fall zieht eine Verhärtung unſeres Gewiſſens oder Gemüths, oder wie man es nennen will, nach ſich. Mein guter Fritz hatte darauf gerechnet, daß ich in einem hübſch decorirten Salon ſtill und tugend⸗ haft vegetiren würde, zufrieden mit dem Glück ſeine pekuniäre Vorſehung zu ſein. Er hatte ſich verrechnet. Ein glücklicher Zufall — der Zufall kommt einer klugen Frau immer zu Hilfe — ſetzte mich in Kenntniß von — von irgend etwas, an deſſen Geheimhalten ihm viel lag. Mit dieſem „irgend etwas' bewies ich ihm, daß ich nicht eine Sache und am allerwenigſten ſeine Sache ſei, ſondern ein für den Lebensgenuß ganz beſonders qualifizirtes Weſen. Ich gehöre nicht zu den armen Vögelchen, die ſich in einem moraliſchen Netz fangen laſſen, um darin 139 hilflos zu verzappeln. Ich zerriß es, und ich lebe im goldenen Licht der Freiheit. Mein Fritz war anfangs etwas erſtaunt, ſah aber ſchließlich ein, daß er nicht zu kurz dabei kam. Seitdem leben wir in ſchönſter Harmonie. Wir haben uns eben den Verhältniſſen angepaßt. „Sie meinen? Ich verſtehe Sie noch immer nicht . . . Die Baronin bat ſich eine Cigarette aus, zog ein Taburet an ihren Fauteuil und legte ihre kleinen Füße darauf. „Ich will Ihnen volles Vertrauen ſchenken. Ihr Bruder und ich: zwei Seelen und ein Gedanke u. ſ. w. Im Winter in Berlin ſehen wir uns täglich. Der Sommer bietet für unſere Freundſchaft manche Schwierig⸗ keit. Um ſeinetwillen bin ich hierher gekommen — ver⸗ ſtehen Sie jetzt¹ „Ich wage es nicht. Mein Gott — ich habe wohl in Romanen geleſen . . . daß aber in Wirklichkeit . . Sie ſind ja verheirathet — „Verheirathet? kaum. Kann ich dafür, daß meine Eltern ſich in der Wahl meines Gatten geirrt habenk Liebe iſt doch nun einmal, wie alle Welt behauptet, unſer Beruf; ich komme alſo nur einer Berufsverpflichtung nach, wenn ich unter allen Umſtänden liebe, ſelbſt wenn dieſe Umſtände wenig Chancen bieten für ſittliche Vervoll⸗ kommnung.“ „Sie betrachten die Ehe als eine Aſſekuranz gegen⸗ ſeitigen . . . „Glücks,“ unterbrach die Baronin ſie ſchnell, „ja wohl. 140 „Ein Glück auf Koſten Ihres Gewiſſens „Ich ſchlafe vortrefflich. Es iſt wahr, alle Welt bewundert weibliche Tugend — pflichtſchuldigſt. Die Liebe aber, die wir in den Herzen der Männer, und die Erfolge, die wir in der Geſellſchaft erringen, ſtehen in einem intimeren Zuſammenhang mit der Abnahme als mit der Zunahme unſerer Tugenden. Ich gebe zu, in unſerer moraliſchen Welt iſt manches aus den Fugen. Iſt es etwa meine Schuld? Soll ich etwa in den Riß ſpringen? Ich habe nicht das geringſte Talent zu einem Curtius. Sie lachte, als ſie die ängſtliche Verwunderung in Sibillas Zügen las. „Liebe Unſchuld! Wenn Sie wüßten, — ach wenm Sie wüßten! — Das Leben iſt ſo ſchön, warum wollen Sie es zu einem Gefängniß machen: Sibillas Augen hingen mit banger Spannung an dem Geſicht der Baronin, als ſie ſchüchtern die Worte herausbrachte: „Sie denken an die Möglichkeit der Schei⸗ dung, die das Gefängniß der Ehe öffner; würden Sie mir zu einer Scheidung rathen! „Warum nicht gar! Man läßt ſich nicht von einem Manne ſcheiden, der eine Stellung in der Welt einnimmt wie der Ihrige.“ Der Cynismus dieſer Anſchauung berührte Sibilla wie ein Schlag. Unwillkürlich rückte ſie ſo weit als möglich von der Baronin fort, in die äußerſte Ecke des Diwans. „Warum haben Sie mir Ihr Vertrauen ge⸗ ſchenkt? Es war nicht recht. Ich wünſchte, Sie hätten es nicht gethan,“ ſagte ſie. 141 Schweſter ſind und weil Sie mir leid thun. Wenn ich „Ich ſchenke Ihnen mein Vertrauen, weil ſie Felix einen Menſchen ſehe, der wie eine Flamme iſt, die man zugedeckt hat, zuckt es mir immer in den Fingerſpitzen, den Deckel aufzuheben. Ehen, ſagt man, werden im Himmel geſchloſſen. Glauben Sie es nicht, nur vor ganz ſimplen Standesbeamten.“ Sibilla ertrug das Geſpräch nicht länger; ſie bat die Baronin von etwas Anderem zu ſprechen. „Zum Beiſpiel von dem jungen Ruſſen,“ ſagte Frau von Heiden nicht ohne Malice. Sie ſah den Roſenſchein, der bei ihrer Frage über Sibillens Geſicht flog. Als ſie endlich ging, lachte ſie in ſich hinein und dachte: Ueber's Jahr, meine Kleine, werden wir unſere moraliſche Ekſtaſen ſelbſt belächeln, und dem Bären von Gatten gönne ich's von Herzen. Die frivolen Reden der Baronin hatten, wenn ſie auch keinen tieferen Eindruck in ihrer Seele zurückließen, Sibillas Unruhe vermehrt. Der Schleier von einer Welt, die ſie bis jetzt nicht kannte, war gelüftet worden. Sie wußte, die Baronin ſpielte in Berlin eine hervorragende Rolle. Es nahm alſo Niemand Anſtoß an ihrer Art zu leben. Wie war das möglich! Sie begriff es nicht. Den armen Felix hatte ſie in ihre Netze gezogen und nun dachte ſie vielleicht an Oswald. Sie ſollte es nur verſuchen. Der war rein und ſtark. Seit Tagen quälte Sibilla etwas: Was mußte der edle junge Mann von ihr denken? Gewiß recht Ungünſtiges. Sie hatte die Krankenpflege aufgegeben ohne ein Wort der Erklärung. Die armen 142 Kranken! Thränen traten ihr in die Augen, wenn ſie an Gretchen dachte, das vergebens die Armchen nach ihr aus⸗ ſtrecken würde. Sie empfand in der Erinnerung lebhafter als je vorher, daß der Troſt und die Hilfe, die wir anderen bringen, zugleich der eigenen Seelennoth abhilft. Daß ſie nicht krank war, mußte Oswald wiſſen, man hätte ihn ſonſt als Arzt rufen laſſen. Ihr Schweigen kam ihr hart, unnatürlich vor. Ja, ſie wollte ihm ſagen, ihr Gatte habe ihr die Krankenpflege verboten, weil er die Anſteckung für ſie fürchte. Sie wußte, Oswald Normann kam faſt täglich in's Schloß, um nach dem verunglückten Arbeiter zu ſehen, ſie wußte auch, daß er meiſt den Weg durch den Park wählte, der die Strecke verkürzte. Unweit von ihrer Hänge⸗ matte mußte er vorbei. An zwei Vormittagen wartete ſie vergebens auf ihn. Auch am dritten Vormittag war er nicht gekommen. Am Nachmittag lag ſie wieder in der Hängematte. Sie blickte durch das Laubwerk empor in ein Stück tiefblauen Himmels. Das gleichmäßige Summen und Surren der Inſekten, das Flüſtern des Laubes unter den gleitenden Sonnenſtrahlen, der Schlag eines Finken in der Ferne, das Duften von Blumen und Gräſern, das Alles ſchmolz zuſammen zu einer weichen, friedſeligen Harmonie. Sie fühlte ſich in der Natur, die ſie umgab, auch nur wie ein Ton, ein Farbenſchimmer. Der ſchmachtende narkotiſche Zauber umſpann ſie und hielt ſie in träumeriſcher Indolenz gefangen. Sie athmete Roſenduft, die Roſen aber ſah ſie nicht, ſie blühten irgend⸗ wo hinter dem Gebüſch. 143 Augen; plötzlich war es ihr, als dränge ein Sonnenſtrahl Die lauen Lüfte machten ſie müde. Sie ſchloß die durch ihre geſchloſſenen Lider. Mühſam öffnete ſie die Augen. Oswald ſtand am Eingange des Gebüſches, und ihre Blicke trafen ſich in einem aufleuchtenden Strahl. Sie winkte ihm, er reichte ihr die Hand, und ſie ließ ſich aus der Hängematte nieder. Oswalds Haltung hatte Stolz und Sicherheit verloren. Er ſah müde und krank aus, er huſtete ab und zu und ſprach haſtig und nervös, Daß er in Ungnade gefallen ſei — gut — warum er aber die Hilfsbedürftigen, die Kranken, in ſeinen Sturz geriſſen, den Zuſammenhang verſtehe er nicht, da er doch unmöglich annehmen könne, die Krankenpflege ſei für die gnädige Frau nur ein Zeitvertreib geweſen, deſſen ſie überdrüſſig ge⸗ worden ſei. Sibilla antwortete nicht gleich. Er trat näher zu ihr heran und betrachtete ſie aufmerkſam, „Mein Gott, wie ſind Sie bleich!“ ſagte er. „Ich habe eine heftige Gemüthsbewegung gehabt. Nicht freiwillig habe ich meine Beſuche im Dorf eingeſtellt. Ich darf unſere Kranken nicht mehr ſehen. „Sie dürfen nicht? Wer verbietet es Ihnen! „Mein Gatte. „Warum? „Warum? Er fürchtet . .“ Sie wollte ſagen: Er fürchtet die Anſteckung für mich, und unwillkürlich, gegen ihren Willen, ſagte ſie: „Er fürchtet Sie. „Wie? Verſtehe ich recht? „Die alte Geſchichte von den böſen Zungen. Wir dürfen uns nicht mehr ſehen, nicht im Dorf und nicht im 144 Schloß, nur wenn ich krank werde, das heißt, ernſthaft krank, dann darf ich Sie rufen laſſen. Wenn ich geſtorben bin, dürfen Sie mir auch den Todtenſchein ausſtellen. Oswald ſah ſie ſtarr an, als verſtände er kaum, was ſie ſagte. Er fuhr mit der Hand über die Stirn. Kalte Schweißtropfen ſtanden darauf. Er rang nach Athem, endlich ſtammelte er: „Sie nicht mehr ſehen — un⸗ möglich! Seine leidenſchaftliche Gebärde erſchreckte Sibilla, und ſie ſagte beklommen, von ihm weggewandt; „Die armen Kranken, es thut mir leid, ſo ſehr leid. Was hilft's! Leben Sie wohl, Herr Normann — auf lange“ — ſie reichte ihm die Hand — „hoffentlich auf ſehr lange, denn Sie möchten doch nicht, daß ich krank würde,“ ſetzte ſie mit dem ſchwachen Verſuch zu ſcherzen, hinzu. Er preßte ihre zarte Hand feſt in ſeinen beiden Händen. „Sibilla!“ ſchrie er auf mit dem Ausdruck voller Leidenſchaft. Ein tödtlicher Schreck durchſchauerte ſie. Was war das? Vergebens ſuchte ſie ihre Hand aus der ſeinen zu befreien. Er ſchöpfte tief Athem und ſagte, ſeine Stimme und ſeine Leidenſchaft dämpfend: „Ich liebe Sie, Sibilla! Es iſt über mich gekommen wie eine Offenbarung, ſüß und vernichtend. Sie nicht mehr ſehen und nicht mehr ſein, iſt eins für mich. Ich liebe Sie rettungslos, bis zum Wahnſinn!“ Er gab ihre Hand frei, kniete nieder und küßte in⸗ brünſtig den Saum ihres Gewandes. Sie wich langſam von ihm zurück, weiter und weiter, 10 H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 145 die Blicke wie abweſend. Dann plötzlich ſchien ihr das volle Bewußtſein zu kommen von dem, was geſchehen, und ſie eilte davon, fliehend, athemlos, wie ein gehetztes Wild, ohne einen Laut. Oswald machte einen Schritt, um ihr zu folgen, blieb aber dann ſtehen. Er ſah ihr flammenden Blickes nach und flüſterte in ſich hinein: „Und Du gehörſt mir doch! Sibilla lief faſt mechaniſch, ohne einen Gedanken, ohne ein Gefühl, ſie lief durch den Park, die Treppe hinauf, ſie kam in ihr Zimmer und ſchloß von allen Seiten die Thüren ab. Erſt als die Kühle des geſchloſſenen Raumes ſie umfing, kam ſie allmählich zu ſich. Sie ſetzte ſich in dem hinterſten Winkel des Zimmers auf einen Seſſel, als wollte ſie ſich vor ſich ſelbſt und dem da draußen verbergen. Was war geſchehen? Etwas Köſtliches? Berauſchendes? — Nein, etwas Schreckliches. Das hatte er gewagt! das! Ihre kleinen Hände ballten ſich, doch gleich löſten ſich wieder die Finger. Ein Lächeln, ein vages, leiſes, verzücktes trat auf ihre Lippen. Geliebt! geliebt! das war die Melodie, die ſie gehört, erſt von fern, dann nahe. Was ſoll ſie thun? Ihr iſt, als müſſe ſie um Hilfe rufen, aber wen? wen? Sie hält es auf dem Seſſel nicht lange aus; ſie ſpringt auf und lehnt das brennende Geſicht an den kalten Ofen, es zu kühlen, und dann wieder geht ſie haſtig im Zimmer auf und ab und verſucht zu dämpfen, was in ihr glüht. Sie will nachdenken, ruhig, kühl. „Ich liebe Sie rettungslos, bis zum Wahnſinn!“ Immer und immer tönt es in ihrem Herzen wieder. Sie hält ſich die Ohren zu, als drängen die Worte von außen an ſie heran. Sie beginnt die Wanderung durch das Zimmer 146 von Neuem. Was ſoll ſie thun? Nach einer Weile bleibt ſie mitten im Zimmer ſtehen. Sie hebt die Stirn, ihr Auge wird klar. Mit einem ſchnellen Entſchluß reißt ſie die Thür nach dem Korridor auf und ruft hinüber: „Georg! Georg!“ Ja, an ſeiner Seite iſt ihr Platz, an ſein Herz will ſie ſich retten. — Und wenn er keins hätte!? Sie kann es nicht glauben. Hat ſie denn je⸗ mals von Herzen zu Herzen mit ihm geſprochen? — Nein. — Sie will ihm das ihrige ganz zu eigen geben, das ſeine wird antworten. Alles will ſie vergeſſen, Alles, auch das Kind. Warum ſollte Georg ſie nicht lieben, da Oswald ſie doch ſo ſehr liebt — zu ſehr . . . Da iſt wieder das viſionäre Lächeln auf ihren Lippen und ſie flüſtert vor ſich hin: „Rettungslos, bis zum Wahnſinn!“ Mußte ſie denn Georg rufen? Sie bereut faſt, daß ſie es gethan. Kann ſie ſich nicht ſelber ſchützen? Vielleicht hat er den Ruf nicht gehört. Sie eilt an die Thür, um ſie wieder zu ſchließen; Georg tritt ihr entgegen. Er hat wie gewöhnlich die Zeitung und einen Bleiſtift in der Hand, und ohne von der Zeitung aufzuſehen, fragt er, was geſchehen, warum ſie ſo laut gerufen. Sie iſt verwirrt, ſie findet die Worte nicht. „Habe ich Dich gerufen? wirklich: „Möglich, daß ich mich geirrt habe.“ Er wendet ſich zum Gehen. „Bleibe — ja, ich rief Dich. Ich war eingeſchlafen, mir träumte — etwas Schreckliches, ich war in Gefahr, da rief ich nach Dir; nur eine Gefahr im Traume, und doch dachte ich gleich daran, daß nur Du mir helfen könnteſt, nur Du. Habe ich nicht Recht: 10* 147 daß Du meiner Hilfe gar nicht bedarfſt. „Gewiß,“ ſagt er ruhig, „es iſt mir aber doch lieber, Als er ſich anſchickt, das Zimmer zuverlaſſen, legt Sibilla ihre Hand auf ſeinen Arm und ſagt ſchmeichelnd und liebens⸗ würdig: „Ich erlaube nicht, daß Du gehſt. Da Du einmal hier biſt, bleibe bei mir. Schenke mir nur eine Viertelſtunde. Georg ſieht nach der Uhr. „Eine Viertelſtunde — es ſei. Du weißt, ich bin jetzt gerade mit Arbeiten über⸗ bürdet, ich habe mich für die Herbſtſeſſion vorzubereiten. Er macht keine Miene ſich zu ſetzen. „Du mußt Dich aber ſetzen, nicht ſo ungeduldig ſein wie ſonſt.“ Er will ſich in einem Fauteuil am Fenſter niederlaſſen. „Nein, dorthin nicht.“ Sie rückt den Stuhl weiter in's Zimmer hinein, ſo daß er von da nicht in den Park hinausſehen kann. Sie ſchließt das Fenſter und zieht den hellen ſeidenen Vorhang zu. Von Neuem iſt ſie verwirrt und ſucht nach Worten. Georg lieſt und ſpricht zwiſchendurch. „Nun, was iſt's denn? Eine Toilettenangelegenheit: ein Deficit? ein Conflict mit den Dienſtboten? Ich habe Dir nun einmal Audienz gegeben, ſprich doch! Sibilla klammert ſich ſchüchtern und ängſtlich an die Lehne ſeines Fauteuils. „Nein, ich wollte Dir etwas Anderes ſagen — aber bitte, werde nicht böſe — ſagen wollte ich Dir, daß daß ich nicht glücklich bin. — Gewiß, es iſt nicht Deine Schuld,“ fuhr ſie noch ſanfter, und wie beſchwichtigend die Hand auf ſeine Schulter legend, fort, „wenigſtens nicht ganz Deine Schuld. Ich bin recht unglücklich, Georg. 148 Herr von Heeren ſieht über die Stuhllehne fort mit ernſthafter Verwunderung zu ihr auf. „Unglücklich? Was fehlt Dir? Biſt Du krank? Schmeichelnd beugt ſich Sibilla zu ihm nieder. „Du ſollſt mein Arzt ſein, Georg — Du. Willſt Du aber ein guter Arzt ſein, ſo mußt Du geduldig an⸗ hören, was die Kranke klagt. „Ich höre geduldig.“ Er macht einen Bleiſtiftſtrich an den Rand der Zeitung. „Zuerſt — lege die Zeitung fort.“ Sie nimmt ſie ihm ſacht aus der Hand und legt ſie auf einen Nebentiſch. „So. — Du mußt aber nicht böſe werden. Siehſt Du, Georg, ich möchte mehr Freiheit haben, nur ein klein wenig mehr Freiheit. „Ich verſtehe Dich nicht. Haſt Du nicht jede Freiheit, deren eine Frau bedarf! „Welche Freiheit? Zu athmen, zu eſſen und zu trinken, ſpazieren zu gehen und Toilette zu machen? „Ah ſo — Deine Novellen — ich verſtehe.“ Er lächelt mit leichtem Spott. „Ich kann Deinetwillen meine Grundſätze nicht ändern. Arme kleine Corinna!“ Unwill⸗ kürlich greift er wieder nach der Zeitung. „Es iſt ja gut ſo, lieber Freund. Ich dachte nicht an die Novellen. Aber Du hätteſt ſie mir nicht verbieten ſollen. Wenn wir nicht denken, nicht thun dürfen, was wir ſo gern möchten, dann träumen wir ſo viel. Du glaubſt nicht, wie das die Seele verdirbt — das Träumen. Ich ängſtige mich, ich könnte einmal etwas Unrechtes thun, etwas ſo Unrechtes, das nicht wieder gut zu machen wäre. 149 der Gatte; ihr Beruf iſt — Liebe. Darüber iſt nichts; „Phraſen! Der Lebenszweck des Weibes iſt die Familie, was ſie ſonſt noch treiben mag, iſt darunter. Sie kann es entbehren.“ „Für Dich ſoll ich leben! Aber Du weißt ja kaum, daß ich da bin. Wenn ich heute ſtürbe, es würde für Dich ſein, als verhallte das Zwitſchern eines Vogels im Gebüſch. Wenn ich morgens aufſtehe, frage ich mich: Was thue ich heute? Und ich weiß es nicht. Wenn ich mich niederlege, frage ich mich: Was haſt Du gethan? Nichts — immer nichts; nichts für mich, nichts für Andere. Und ich möchte ſo gern viel ſein — viel für Dich Georg, für Dich. Sie hatte ihre Schüchternheit überwunden und blickte ihm voll, mit leuchtenden Augen ins Geſicht. „Kleine Sirene,“ antwortete er mit wohlwollendem Lächeln, das hilft Dir alles nichts, ich bin ein vorſichtiger Odyſſeus und brauche mir nicht einmal die Ohren mit Baumwolle zu verſtopfen. Du willſt etwas, ich weiß nur noch nicht was. Heraus mit der Sprache! „Georg!“ Der Ausruf kam ſchmerzlich von Sibillas Lippen. Sie hatte das Geſicht mit den Händen bedeckt. Er zog ihr freundlich die Hände fort. „Ich meine es gut mit Dir. Du biſt meine liebe kleine lyriſche Lerche. Alſo, Du möchteſt für mich etwas ſchaffen, etwas leiſten. Soll ich mir etwas zum Geburts⸗ tag wünſchen? etwas Geſticktes oder Gemaltes¹ Der liebenswürdige, wenn auch tändelnde Ton, in dem er ſprach, gab ihr wieder Muth. Sie ſchob einen niedrigen Seſſel zu ihm hin und ſetzte ſich faſt zu ſeinen Füßen. 150 „Sieh, lieber Freund, ich kenne Dich ſo wenig. Du biſt mir fremd wie am erſten Tage unſerer Ehe. Ich kann kein Herz zu einem fremden Manne faſſen. Alle ſagen, Du wärſt ſo gut und ſprächſt ſo klug; ſprich auch zu mir, ſage mir, was Du denkſt, zeige mir, was Du fühlſt. Ich bin verheirathet, aber ich habe keinen Gatten. Lächle nicht, es thut mir weh. Ich weiß es ja, ich bin unwiſſend und nicht gerade klug. Ich will von Dir lernen, ich will werden, wie Du mich haben willſt. Sage nur, wie willſt Du mich haben? Es giebt ſo viele glückliche Menſchen; warum ſollen wir nicht auch glücklich ſein? Sie blickte zu ihm auf; unwillkürlich legte er die Hand über die ſehnſüchtigen Augenſterne, als ob ihr Blick ihm unbehaglich wäre. „Ich bin glücklich. Ich habe eine ſanfte kleine Frau, die mir ſympathiſch iſt. Und Du . .“ Sie hatte ſeine Hand fortgezogen, und wieder verwirrte ihn die ſuchende Zärtlichkeit ihres Auges. „Du haſt romantiſche Augen. Wäre ich ein Othello, Du gäbſt eine hübſche Desdemona ab. „Nicht nur die Othellos behandeln ihre Frauen hart, entgegnete ſie ſo leiſe, daß er es überhörte. „Du lieſt zu viel, mein Kind; in Deiner Phantaſie geht allerlei üppiger Unſinn um. Es ſcheint, in jeder Frau bricht immer aufs Neue die alte Eva⸗Neugierde durch; glücklicherweiſe findet ſie nicht immer einen Adam. Er ſtrich ihr liebkoſend mit der Hand über das weiche Haar und ſah dabei nach der Uhr. „Alſo fort mit den Grillen aus dem hübſchen Köpfchen! Uebrigens, die Viertel⸗ ſtunde iſt vorüber . . . Er ſtand auf. Sibilla nahm ihm mit einiger Heftig⸗ 151 keit abermals die Zeitung aus der Hand und legte ſie auf den Tiſch. hübſch? Du haſt mich ja doch nicht lieb. „Bin ich hübſch? wirklich hübſch? Wozu bin ich „Mit der treuen Neigung des Gatten. Genügt Dir das nicht? „Nein.“ Sie ſchmiegte ſich in ſeine Arme. Ihr ſchwärmeriſches Auge ſuchte das ſeine. Ihr Herz ſchlug raſch, feurig. Die Vorſtellung der reinen, ſelbſtloſen, pſtichtgetreuen Liebe, mit der ſie dem Gatten ſich hingeben wollte, wirkte auf ſie wie die Liebe ſelber. „Nein,“ wiederholte ſie. „Ich will, daß Du mich ſehr liebſt, ſehr, ſo ſehr, wie ich Dich liebe. Ja, Georg, ich liebe Dich!“ Sie ſchlang die Arme um ſeinen Hals und küßte ihn. Ein Schauer durchrieſelte ihn; etwas Inbrünſtiges, Heißes packte ihn; er athmete den Duft ihres Haares, und un⸗ willkürlich ſchloſſen ſich ſeine Arme feſter um die bebende Geſtalt. Im nächſten Augenblick aber fuhr er zurück. Das waren dieſelben üppigen Schauer, die ihn damals jener Verworfenen zu eigen gegeben; gerade ſo berauſchten ihn ihre Blicke, ihr Kuß, ja ihre Worte! es war daſſelbe, daſſelbe! Er löſte ihre Arme von ſeinem Hals. Sie ahnte nicht, was in ihm vorging. Es war ein zärtliches Flehen in ihrer Stimme, als ſie ihn bat: „Nicht wahr, Georg, Du läßt mich nicht mehr abſeits von Dir ſtehen. Du läßt mich nicht wieder allein den langen, langen Winter? Nimm mich mit nach Berlin, Georg! Nimm mich mit! Und wie ein Vögelchen, das Schutz ſucht, barg ſie 152 ihr Köpfchen an ſeiner Bruſt. Ihre letzten Worte gaben ihm ſeine ganze Faſſung wieder. Das alſo war es; darum ſpielte ſie die Comödie, und er hätte ſich faſt wie ein Narr in's Garn locken laſſen. Jetzt war er wieder er, Georg von Heeren, der Charakter von Granit. Er trat von Sibilla zurück und ſagte kalt: „Du ſpielſt Comödie. Du willſt nach Berlin. Die Saiſon mit ihren Bällen und Theatern lockt Dich. Ich verſtehe Dich. Eine furchtbare Veränderung ging in ihren Zügen vor. Sie antwortete keine Silbe; da er ſich ihr aber wieder nähern wollte, ſtreckte ſie die Hand abwehrend gegen ihn aus. Das reizte ihn. „Da ich Dich durchſchaue, läßt Du die Maske der Zärtlichkeit fallen. Ich fürchte, kleine Sibilla, Du biſt auf dem beſten Wege, die große Zahl der ſogenannten femmes incomprises zu vermehren. Du willſt mehr Freiheit? Wozu? Um ſie zu mißbrauchen. Frauen, die denken, denken ſchlecht. Nur in der Stille des Hauſes gedeihen weibliche Tugenden. Die Frau gleicht der Nachtigall, die am ſchönſten ſingt, wenn es ſtill und dunkel iſt. „Und darum ſticht man ihr auch die Augen aus, damit ſie noch ſchöner ſingen ſoll,“ ſagte ſie dumpf. „Spiele nicht die Romanheldin. Jeder Menſch muß in ſeiner eigenen Haut bleiben, auch wenn ſie ihm nicht gefällt; ſo kann er auch aus der Geſellſchaftsordnung nicht heraus, die in ſeinem Lande maßgebend iſt. Komm, ſetz Dich her zu mir. Ich will Dir eine Fabel erzählen, die Nutzanwendung magſt Du ſelber machen. Sie ſetzte ſich nicht zu ihm, ſondern blieb am anderen Ende des Zimmers am Kamin ſtehen. 153 Er erzählte: „Es war ein kleines Mädchen, ein ver⸗ drießliches und begehrliches Ding; dem war es nicht recht, daß es immer auf zwei Beinen gehen mußte und weder in den Lüften fliegen, noch unter dem Waſſer ſchwimmen, noch mit Hirſch und Reh im Walde um die Wette laufen konnte. Das Mädchen leiſtete eines Tages einem Weſen, das zaubern konnte, einen Dienſt und durfte dafür drei Wünſche thun. Ich möchte ein Adler ſein! rief ſie, und flugs ward ſie zum Adler. Nun durfte ſie alle Herrlich⸗ keiten des Himmels und der Erde ſchauen; die Tiefe des Meeres aber blieb ihr verſchloſſen. Das nagte an ihr und ſie wünſchte ein Fiſch zu ſein. Und ſie ward ein Fiſch. Einen ganzen Tag lang freute ſie ſich der Pracht auf dem Meeresgrund. Bald aber beneidete ſie wieder, was da kreucht und fleucht auf Erden und unter dem Himmel, und ſie ſprach zu ihrer Fee: „Mache mich zu einem Geſchöpf, das zugleich fliegeu, ſchwimmen und laufen kann. — „Dein Wunſch iſt erfüllt,“ ſprach die Fee und verſchwand für immer. Und das Mädchen konnte zugleich fliegen, ſchwimmen, laufen, aber — wie? Sie war zur Gans geworden.“ Ein einziger Laut, — ein Seufzer oder ein Schrei, entrang ſich Sibillas Bruſt. „Siehſt Du ein, daß ich recht habe?“ fragte Herr von Heeren. Ihr Ausſehen und ihr Schweigen berührten ihn peinlich. „Ja,“ ſagte ſie mit Anſtrengung und mit zuckenden Lippen. „Du haſt recht. Ich bin — ja“ — ſie brachte das Wort nicht heraus — „alles, was Du willſt. Geh jetzt, ich 154 habe Dich ſchon zu lange zurückgehalten.“ Und mit einer eigenthümlichen Heftigkeit wiederholte ſie: „Geh! geh! Herr von Heeren nahm ſeine Zeitungen zuſammen. „In Zukunft alſo, liebe Kleine, lies keine Romane mehr. — „Uebrigens,“ fügte er halb ſcherzend hinzu, „ich werde nicht vergeſſen, wie ſehr Du mich liebſt.“ Er küßte ſie flüchtig auf die Wange und ging. Sibilla blieb wie betäubt zurück. Faſt ohne zu wiſſen, was ſie that, rieb ſie heftig die Wange, die er geküßt, als wollte ſie ein häßliches Mal tilgen. Sie hatte gelogen, ja! Ein Ekel gegen ſich ſelbſt krampfte ihr Herz zuſammen. Von ungefähr fiel ihr Blick in den Spiegel. Sie ſah todtenblaß aus, ſie ſchien um zehn Jahre gealtert. Sie erſchrak vor ſich ſelbſt. Scheu um ſich blickend, verließ ſie das Zimmer und ſuchte draußen im Parke ihre Hänge⸗ matte auf. Herr von Heeren war in ſein Zimmer gegangen. Er wollte die Zeitung zu Ende leſen. Nach einer Weile merkt er, daß er nicht mehr weiß, was er lieſt. Er iſt erregt, zu ſeiner eigenen Verwunderung. Mein Gott, warum? Sibillas wegen etwa? Sein Gedächtniß hat die Worte feſtgehalten, die ſie geſprochen. Merkwürdig, ſie iſt nicht ſo beſchränkt, wie er geglaubt hat. Aber ſind nicht alle Frauen beſchränkt? unfähig, die Tragwveite wirklicher Lebens⸗ fragen zu faſſen, z. B. ſeine politiſche Miſſion? Aber Sibilla iſt zarter und hilfloſer als andere. Die Fabel war in der That verletzend, er hätte ſie beſſer für ſich be⸗ halten. Eine Art Mitleid für ſie kommt über ihn. Er hört wieder ihr liebliches Flehen, er ſieht ihn wieder, den Blick, ſo leuchtend in weicher Zärtlichkeit. Ja, entſchieden, 155 er war zu hart. Es war ungroßmüthig von ihm, dem ſtarken Mann, daß er das zarte Weſen mit bitterer Ironie kränkte. Er vergiebt ſich nichts, wenn er ihr einige be⸗ gütigende Worte ſagt. Lebhaft, faſt haſtig öffnet er die Thür zu ihrem Zimmer. Sie iſt nicht mehr da. Langſam geht er zurück. Allmählich wird er wieder kalt. Es iſt beſſer ſo; es thut nicht gut, den Frauen gegenüber ein Unrecht einzugeſtehen, ſie bauen darauf weiter. Die ganze Sache iſt auch nicht der Mühe werth. Wer wird Frauen au sérieux nehmen! Ein Sturm in einem Glaſe Waſſer! Er nimmt ſich vor, in den nächſten Tagen Sibilla freundlicher zu begegnen, heut Abend noch. Am Abend aber hat er keine Gelegenheit dazu, auch in der nächſten Zeit nicht. Sibilla fühlt ſich krank, ſie ſchläft in Eliſabeths Zimmer. Was fällt ihr ein? Will ſie ihn ſtrafen? Er zuckt ſpöttiſch die Achſeln; er bedarf des Weibes nicht. Er vertieft ſich in die Ausarbeitung einer Rede über den Kulturkampf. Sibilla iſt vergeſſen. In der That, es war ein Sturm in Sibilla, während ſie in der Hängematte lag — ein Sturm, der all ihr Denken und Empfinden durcheinander rüttelte, an die Ober⸗ fläche brachte, was verborgen auf dem Grunde geruht, und zerſtörte, was bis dahin Lebensbedingung für ſie war: die ſanfte Unterwürfigkeit unter ihr Schickſal. Es war eine Revolution. Ein Fieber ſchüttelte ſie, wenn ſie an die tödliche Beleidigung dachte, die ihr Gatte ihr mit der Fabel zugefügt, und all ihre leidenſchaftlichen Thränen kühlten nicht die brennende Scham im Herzen. Die Abneigung gegen ihn ſteigerte ſich in dieſer Stunde bis zu einem un⸗ austilgbaren Widerwillen, faſt bis zum Haß. Daß eine 156 Zeit war, wo ſie ſeine herzloſe Liebe geduldet, vergab ſie ihm am wenigſten. Sie ſah plötzlich ihr ganzes Leben als das, was es geweſen war: im mütterlichen Hauſe ein heiteres, in der Ehe ein dumpfes Vegetiren. Man hatte ſie darben laſſen an Seele und Geiſt. Und nun kam ein Heißhunger nach Exiſtenz über ſie, ein verzehrender, leiden⸗ ſchaftlicher. Und ſie brauchte nur die Hand auszuſtrecken — nein, niemals ſollte das geſchehen! Aber — was nun: was nun? — Sie rang die Hände. Ein Hoffnungsſtrahl fiel in ihre Seele: Felix! Heute abend würde er kommen. Er hatte ſie lieb, er war Oswalds Freund, er war Advocat, ein ſcharfſinniger Advokat. Zum erſtenmal trat mit völliger Klarheit der Wunſch und die Vorſtellung einer Scheidung in ihre Seele. Es war nur eine ſchwache Hoffnung, aber ſie klammerte ſich daran mit allen Faſern ihres Weſens. Sie ſprang aus der Hängematte und lief kreuz und quer, in wilder Aufregung durch den Park. Die regelrecht ge⸗ ſchnittenen Taxushecken, der rothe Kies auf allen Wegen, die ſymmetriſch abgezirkelten Blumenbeete mit den rothen, blauen und gelben Blumen, in ihren harten Contraſten dem Auge ſo mißfällig, das alles widerte ſie an; wenn ſie das nicht mehr zu ſehen brauchte und ihren Gatten auch nicht, nnd wenn . . . Sie blieb ſtehen und lehnte müde den Kopf an einen Baumſtamm. Das viſionäre zärtliche Lächeln war wieder auf ihren Lippen, in ihrem Herzen die traumſelige Wonne und das Jünglingsantlitz mit dem brennenden Blick: „Ich liebe Dich rettungslos, bis zum Wahnſinn!“ Und ſie ſpann die goldenen Traumfäden weiter und weiter. Eine Krähe flog mit heiſerem Gekrächz aus dem 157 Baum über ſie weg. Sie ſchrak empor und fuhr mit der Hand über die Stirn. Sie wußte, Herr von Heeren würde niemals in die Scheidung willigen. Sibilla war feſt entſchloſſen, in Zukunft jede Be⸗ gegnung mit Oswald zu vermeiden. Herr von Heeren ſelbſt gab den Anlaß ihres Wiederſehens. An einem Nach⸗ mittag ſah er vom Fenſter ſeines Arbeitscabinetts in den Park hinaus. Ein ſchwarzer Schatten an einem Baum⸗ ſtamm erregte ſeine Aufmerkſamkeit. Er nahm ein Per⸗ ſpectiv und erkannte Oswald Normann, deſſen Augen an einem Fenſter des Salons hafteten. Es war das Fenſter, an dem Eliſabeth zu ſitzen pflegte. So hatte Sibilla doch wohl Recht und des jungen Arztes Intereſſe galt der Ge⸗ ſellſchafterin. Daß ſich die beiden gleichartigen Menſchen zuſammengefunden — nichts war natürlicher und ihm war es beſonders wünſchenswerth. Wenn der Ruſſe in der nächſten Zeit Arenſee verließ, ſo konnte ſie ihm folgen. Er kehrte zu ſeiner Arbeit zurück; ſo oft aber in der nächſten Stunde ſeine Blicke über den Park ſchweiften, immer begegneten ſie dem Schatten, der unbeweglich an ſeinem Platze verharrte. Herr von Heeren konnte ſchließlich eine vage Unruhe nicht bemeiſtern. Er ſtand auf, und Zeitung und Bleiſtift wie immer in der Hand behaltend. lenkte er ſeine Schritte dem Salon zu. Leiſe öffnet er die Thür; Eliſabeth iſt nicht da. Sibilla ſitzt auf dem Platz der Freundin mit einem Buch in der Hand. Sie ſchläft. Alſo doch Sibilla, die ſchlafende Sibilla, iſt das Ziel jener zudringlichen Augen. Er verſenkt ſich in den Anblick der Schlafenden und vergißt darüber Oswald. Wie iſt ſie ſchön! Die bräunlich goldenen Wimpern werfen 158 einen Schatten auf die zarte Wange. Eine rührende Lieb⸗ lichkeit, ein Zug madonnenhafter Schmerzensſeligkeit iſt über das Antlitz ausgegoſſen. Der Mund iſt ein wenig geöffnet, die Lippen bewegen ſich hin und wieder wie in flüſternder Liebkoſung. Herr von Heeren athmet tief, und unwillkürlich beugt er ſich zu ihr nieder; rechtzeitig aber fällt ihm ein, daß der da draußen jeder ſeiner Bewegungen folgen kann. Eine heiße Wuth ſteigt in ihm auf. Er klingelt dem Diener, öffnet, ehe derſelbe eintritt, die Thür und giebt ihm leiſe den Auftrag, Herrn Doktor Normann zu ſich zu be⸗ ſcheiden. Er bezeichnet ihm die Stelle, wo er zu finden iſt. Dann ſchüttelt er unſanft Sibillas Arm. Wie ſie die Augen öffnet, trifft ihn ein Blick ſchwärmeriſcher Zärtlichkeit. Sie erkennt den Gatten, und ihre Züge ver⸗ wandeln ſich. Sie ſieht ihn fragend und verwundert an. Er will nicht, daß ſie am offenen Fenſter ſchlafe. Um ihre Mundwinkel zuckt es geringſchätzig, ſie will das Zimmer verlaſſen. „Bleib!“ herrſcht er ſie an. Oswald tritt ein; er ſieht Sibilla und verliert ſeine Faſſung. Herr von Heeren erwidert ſeinen Gruß mit einem kaum merklichen Kopfnicken. „Ich habe Sie rufen laſſen, Herr Doctor Normann, um Ihnem eine Mittheilung zu machen, die ſie gern hören werden. In ſpäteſtens vierzehn Tagen trifft der neue Kreisarzt hier ein. Wir haben Ihnen dann nur noch zu danken, daß Sie ſich herabgelaſſen auf Ihrem hohen Flug, die kleinen Dorfmiſeren hier zu ſtreifen und zu mildern. 159 Sibilla ſah, wie ſchreckhaft bleich der junge Arzt wurde. Er huſtete ein paar Mal hohl auf, ehe er ſprechen konnte. Die verletzende Form, in der Herr von Heeren ihm die Mittheilung machte, hatte er gar nicht bemerkt. Er hatte nur das eine gehört, daß er fort müſſe. Er ſtotterte einen verwirrten Dank, für die Gaſtfreundſchaft, die man ihm, dem Ausländer, gewährt, und dafür, daß man ihm Gelegenheit geboten, einiges Gute zu thun. Er wußte offenbar kaum, was er that und ſprach. Zum Ab⸗ ſchied reichte er dem Gutsherrn die Hand. Georg von Heeren ſchien es nicht zu ſehen, er rührte ſich nicht. Eine Blutwelle ſchoß Oswald ins Geſicht, er mußte den vor⸗ geſtreckten Arm fallen laſſen, er rang nach Selbſtbeherrſchung. Ohne ſich einen Augenblick zu beſinnen, trat Sibilla ſchnell zu dem jungen Mann heran und ſtreckte ihm mit warmer Herzlichkeit ihre beiden Hände entgegen: „Wir werden Sie alle vermiſſen, Herr Normann, alle; Sie haben das Beſte gethan was ein Menſch thun kann. Ich danke Ihnen! ich danke Ihnen! Oswald richtete ſich hoch auf; mit feſtem Druck be⸗ hielt er einen Augenblick Sibillas Hand in der ſeinen. Als er zur Thür hinausging, war ſein Ausdruck ſtrahlend, und doch taumelte er faſt. Sibilla kam einem etwaigen Zornesausbruch ihres Gatten zuvor. „Du haſt Herrn Normann tödlich beleidigt, mit voller Abſicht; warum, weiß ich nicht, ich will es auch nicht wiſſen. Ich habe verſucht, Deiner Härte die Spitze ab⸗ zubrechen.“ Merkwürdigerweiſe fühlte Herr von Heeren keinen 160 Zorn gegen Sibilla. Seinen Zweck — Oswalds Herab⸗ ſetzung vor ihr — glaubte er erreicht zu haben. „Ja,“ antwortete er, „ich verachte dieſe elenden Saiſon⸗ titanen, die ihre frevelhaften Leidenſchaften mit einem philoſophiſchen Purpur bekleiden; reißt man ihnen aber den miſerabeln Flitterſtaat vom Leibe, ſo kommt ihr nackter Egoismus zum Vorſchein. Ueber Geſetz und Sitte ſtellt ſich nur der Wahnſinn oder das Verbrechen.“ Nach einer Pauſe fuhr er ruhiger in einem verſöhnlichen Tone fort: „Ich bin geneigt, Dir Deine ſeltſame Handlungsweiſe zu verzeihen. Bin ich mir doch ſelbſt eines Unrechtes Dir gegenüber bewußt. Die Fabel neulich hat Dich verletzt. „Es kann wohl ſein. Ich habe es vergeſſen. Als ſie gehen will, hält er ſie abermals zurück: „Bleib!“ Sie ſieht ihn kühl und ruhig an und geht doch. Die Zeit iſt vorüber, wo ſein Wille für ſie Geſetz war. Er ſieht ihr nach und lächelt überlegen. Was, die kleine Grille meint wohl gar, daß ihr Gezirp ihn erſchrecke? Sein Lächeln verſchwindet aber gleich wieder, und die Spitze ſeines Bleiſtifts zerbricht unter der Hand, die ſich ballt. Will ſie ſich etwa in einen Kampf mit ihm ein⸗ laſſen? Sibilla mit ihm! Er nimmt ſich vor, die Beſiegte mild zu behandeln; Blut wird nicht dabei fließen, am wenigſten ſein Herzblut. Es bleibt aber eine gewiſſe Spannung in ſeinem Gemüth zurück, die ihn in ſeinen politiſchen Arbeiten ſtört. Am Abend dieſes Tages kam Felix an, von allen herzlich bewillkommnet. Er erwiderte aufs lebhafteſte Sibillas Liebkoſungen; dennoch fühlte ſie ſich enttäuſcht. H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 11 161 Zu gleichmäßig vertheilte er ſeine Liebes⸗ und Freund⸗ ſchaftsbezeigungen an alle. Auch Herrn von Heeren bewies er die entgegenkommendſte Liebenswürdigkeit. Für Eliſabeths eigenartige Schönheit zeigte er die offenſte Bewunderung. Früher, in München, wenn er ſeine Mutter beſuchte, waren ſeine Begegnungen mit ihr immer nur ganz flüchtige ge⸗ weſen. Sibilla fand, daß ſeinem Weſen die wahre Herzlich⸗ keit fehle, er that und ſprach alles nur ſo obenhin, nichts ſchien er ernſthaft zu nehmen, am wenigſten ſich ſelbſt. Sibilla hatte recht. Felix hatte längſt mit jeder idealiſtiſchen Regung ge⸗ brochen. Er gehörte zu den lachenden Philoſophen, bei denen Skepticismus und Optimismus zuſammenfallen. Alle Mängel, die der Welt anhaften, hielt er für unab⸗ änderliche, ewige, und er bemühte ſich, dieſer unzulänglichen Welt die beſten Seiten abzugewinnen, und er gewann ſie ihr ab. Sein ganzes Weſen war in ſchillernde Heiterkeit getaucht. Etwaigen Schwierigkeiten oder unangenehmen Vorfällen begegnete er mit einer ſeiner Lieblingsmaximen: Es wird ſich Alles finden. Vorſichtig ging er allen Situationen aus dem Wege, die ſein Herz engagiren oder ſein Gewiſſen belaſten konnten. Er war ein Gentleman und unfähig, andere abſichtlich zu verletzen; nur durften dieſe anderen nicht verlangen, daß er ſich ihretwegen eine Beſchränkung auferlege. Wer Felix Wilt kennen lernte, wußte von ſeiner äußeren Erſcheinung kaum etwas zu ſagen. Er war ſo voll ſprühenden Lebens, voll geiſtreichen Humors, daß man garnicht dazu kam, ſeine Züge zu definiren. In 162 ſeinem äußeren Verhalten zu Frau von Heiden zeigte er ſich durchaus correkt. Ein feineres äſthetiſches Gefühl be⸗ wahrte ihn vor der Verletzung der Form. Georg von Heeren ſchien ſich aufrichtig der Anweſen⸗ heit ſeines Schwagers zu freuen. Daß ſeine Gemüths⸗ ruhe durch Sibilla beeinträchtigt war, geſtand er ſich zwar nicht zu; es war aber doch der Fall, und er erwartete nun durch Felix Vermittlung eine freundliche und ver⸗ ſönliche Wendung in ſeinen Beziehungen zu ihr. Das Leben in Arenſee gewann mit der Ankunft des jungen Advokaten eine durchaus andere Phyſiognomie und bot ein Bild fröhlichen, unſtäten Treibens, bei dem Aus⸗ flüge zu Wagenund Pferde, Champagner, Waſſerfahrten u. ſ. w. an der Tagesordnung waren. Was von Perſonen auf den benachbarten Gütern nur irgend acceptabel war, wurde zur Theilnahme entboten. Frau von Heiden ſchien anfangs die Aufmerkſamkeiten, die Felix Eliſabeth erwies, übel zu nehmen. Er ließ ſich aber nicht den leiſeſten Zwang auferlegen, ja er ſchien ſo⸗ gar ein Vergnügen daran zu finden, ſie zu reizen. Die Baronin trug ſich mit Racheplänen, amüſanten natürlich. Nachdem ſie Oswald Normann — Sibillas wegen — aus der anzulegenden Collektion ihrer Verehrer geſtrichen hatte, verfiel ſie auf Georg von Heeren, der ganz entgegen ſeiner ſonſtigen zurückgezogenen und arbeitſamen Lebens⸗ weiſe ſich nicht ſelten den Vergnügungspartien anſchloß. Ueberhaupt reichten, nach Frau von Heidens Meinung, zwei Menſchen für eine zarte Liaiſſon nicht aus. Es be⸗ durfte immer einiger Nebenperſonen, um ein Liebesdrama 11* 163 mit allen ſeinen kleinen Eiferſüchteleien, Capricen, Intriguen, Verſöhnungen u. ſ. w. wirkſam in Scene zu ſetzen. Tag um Tag⸗ verging, und Sibilla kam nicht zu einem vertraulichen Beiſammenſein mit ihrem Bruder, in deſſen Händen ſie die Entſcheidung ihres Geſchickes glaubte. Das Verhältniß des Advocaten zu Oswald Normann war ein eigenthümliches. Er ſprach und verkehrte mit ihm in der alten freundſchaftlichen Weiſe, nur war ſeiner Art eine leichte Nuance von Ironie beigemiſcht. Er vermied auch mit ihm allein zu ſein. Sie hatten ſich nichts zu ſagen; Oswald war in Felix Augen ein zügelloſer Thor, der ſich ſelbſt ſeine Exiſtenz untergrub. Wenn man ihn, was nicht zu umgehen war, zu den Ausflügen einlud, mied Sibilla ängſtlich ſeine Nähe. Er hielt ſich zu Eliſabeth. mit ihr ernſthafte Geſpräche führend, die Felix mit ſcherz⸗ haften und geiſtreichen Aperqus zu unterbrechen liebte. Die Baronin revanchirte ſich indem ſie Georg von Heeren Netze ſtellte. Eitle Mühe! Sie diente Georg nur zur Folie für Sibilla. Er ſah ſeit ſeiner Verheirathung zum erſten Mal Sibilla in einem größeren Kreiſe von Frauen, und er fand, daß ſie dabei wie ein Stern unter Irrlichtern erſchien. Zugleich aber fühlte er, daß ſie ihm ferner und ferner rückte; er ſchien auf ſie wie ein abſtoßender Magnet zu wirken. Kam er zufällig in ihre Nähe, ſo ſchwand ſie von der Stelle hinweg, unmerklich für die Anderen, er aber ſah es. Immer war ſie da, wo er nicht war. An einem Sonntag warfür den Nachmittag eine Waſſer⸗ fahrt verabredet worden. Felix hatte bei der Baronin dinirt, und man wollte ſich in dem kleinen tempelartigen Pavillon am Ende des Parkes treffen. 164 Vor der feſtgeſetzten Zeit ſchritten Sibilla und Eliſabeth. Arm in Arm, den Hügel hinan, auf dem der Pavillon ſtand, ein rothes Dach, das von vier Säulen getragen wurde. Sibilla hatte der Freundin heute das häßliche Netz fort⸗ geſchmeichelt und ihr das Haar in breiten glänzenden Flechten im Nacken mit einem goldenen Pfeil zuſammen⸗ geſteckt; die Roſe aber, mit der ſie das Haar ſchmücken wollte, hatte Eliſabeth abgewehrt. Sie freuten ſich beide der Einſamkeit da oben; zwiſchen den Säulen hindurch ſahen ſie weit in die Gegend hinaus, über Wieſen und Felder, bis ferne Höhenzüge den Blick begrenzten. Die Bienen ſummten um das ſäuſelnde Laub unter ihnen. Vom Dorf her läuteten Glocken; gedämpft kam der Klang herauf zugleich mit dem Duft friſchgemähten Heu's. Eine weiche elegiſche Andacht fluthete in der Luft. Die Stimmung theilte ſich den beiden Frauen mit. „Ueber allen Wipfeln iſt Ruh,“ ſagte unwillkürlich Sibilla. „Die Wipfel ſind unſchuldig daran,“ meinte Eliſabeth „es müßte heißen: fernab von allen Menſchen iſt Ruh. Ich habe immer die Empfindung, als wären wir im Sommer beſſer als im Winter, weil wir da mehr mit der Natur verkehren. Aus einem Heubündel weht uns mehr Moral entgegen als aus den compakteſten Pflichtlehren eines Herrn von Heeren.“ „Nicht wahr?“ ſagte Sibilla mit einem Ausdruck naiver Ueberzeugung in Ton und Blick. „In Deinem: Nicht wahr? liegt die ganze Geſchichte Deiner Ehe. So unglücklich biſt Du, Sibilla: „Ach ja. 165 will es. Du ſollſt Oswald Normanns Weib werden! „Du wenigſtens ſollſt glücklich werden, Sibilla, ich im nächſten Augenblick aber barg ſie ihr Geſicht an Eliſabeths Von Purpurröthe übergoſſen, ſprang Sibilla auf; Bruſt und ſchluchzend ſtammelte ſie: „Georg wird nie in die Scheidung willigen. „Zwinge ihn.“ Erſchrocken richtete Sibilla ihr thränenüberſtrömtes Geſicht auf. „Wie denn? „Gründe finden ſich. Im äußerſten Fall, im aller⸗ äußerſten . . . nie würde Georg von Heeren einen Flecken auf ſeiner Ehre dulden — und — es könnte Fälle geben, wo eine Scheidung für ihn .. „Was meinſt Du? „Du findeſt es wohl ſelbſt; wo nicht, ich helfe Dir. Ich denke aber, das Aeußerſte wird nicht nöthig ſein. Nicht jedes Menſchen Schickſal erfordert eine gewaltſame Löſung,“ fügte ſie düſterblickend hinzu. Sibilla umſchlang ſie: „Eliſabeth Du Liebe, immer denkſt Du an mich, die ſo voll von Egoismus nicht an Dich denkt. Du willſt mich ja aber nicht zur Freundin Du hätteſt mir ſonſt ſchon längſt vertraut, was Dich ſo elend macht.“ Eliſabeth lächelte geringſchätzig und zuckte die Achſeln. „Ich weiß es aber doch; wenn Du mir auch nicht ſagſt, wen Du — unglücklich liebſt. Eliſabeth küßte Sibilla auf die Stirn und antwortete ſanft: „Und wenn es wäre, wozu darüber reden! Sibilla legte ihren Mund dicht ans Ohr der Freundin und flüſterte: „Und wenn ich wüßte, wer es iſt: 166 Eliſabeth fuhr zurück: „Du? Dur „Ja, ich! Und wer ſagt Dir, daß Deine Liebe gar ſo hoffnungslos iſt, wenn ſie es auch war? Menſchen und Verhältniſſe ändern ſich, wer weiß, ob ich Dir nicht helfen könnte? Eliſabeth ſtarrte ſie an, als hätte ſie nicht recht ge⸗ hört. Das kurze häßliche Lachen kam von ihren Lippen, und ſie wiederholte nur: „Du? Dur „Ich weiß, in dem Medaillon, das Du immer am Halſe trägſt, wenn Du es auch noch ſo heimlich unter dem Kleide birgſt, ich habe es doch geſehen, in dem Medaillon iſt ſein Bild. Zeige es mir, Eliſabeth! „In dem Medaillon iſt kein Bild. Unwillkürlich taſtete Eliſabeth nach dem Medaillon, das ſie auf der Bruſt zu tragen pflegte. Plötzlich ſtieß ſie einen Laut des Schreckens aus. „Was haſt Du: „Mein Medaillon — es iſt nicht da — ich kann es nicht finden!“ Sie taſtete angſtvoll am Halſe herum. Ihre Züge trugen faſt den Ausdruck des Entſetzens. „Wie ſehr Du erſchrocken biſt! So viel liegt Dir daran, daß Niemand das Bild ſieht? „Das Bild?“ ſtieß Eliſabeth in höchſter Erregung heraus. „Als ob es ſich um ein Bild handelte! Gift iſt in dem Medaillon! „Gift —“ wiederholte Sibilla mechaniſch; ſie wußte nicht, was ſie davon denken ſollte. „Ja, Gift! Wenn es jemand fände — wenn . Sie ſchlug die Hände vor das Geſicht. 167 „Was wollteſt Du denn mit dem Gift „Mit ſo wahnſinniger Mühe und Ausdauer hatte ich es „Was ich damit wollte!“ Eliſabeth lachte grell auf. mir verſchafft, und als ich es in Händen hatte, — war meine Todesluſt verrauſcht.“ Eliſabeths Erregung theilte ſich Sibilla mit. Beide ſuchten eifrig am Boden nach dem Medaillon. Dabei ſah Sibilla, daß Felix und die Baronin die Allee heraufkamen. „Das Band wird geriſſen ſein, und das Medaillon ſteckt noch irgendwo in Deinem Kleide,“ tröſtete Sibilla die Freundin. Eliſabeth athmete auf. Das war ja möglich. Sie wollte ſchnell den Pavillon verlaſſen, um ſich in ihrem Zimmer umzukleiden. Felix trat ihnen entgegen. Die Baronin wartete unten am Fuß des Hügels. Er wunderte ſich, die Damen ſo erregt zu finden. „Eliſabeth hat etwas verloren. „Etwas nur?“ ſagte Felix in ſeiner leichten, halb ſcherzenden Weiſe, „und ſie darf es ſuchen, und wird es finden. Ich aber, ich habe ſoviel verloren, ich weiß, wo es zu finden iſt, und ich darf es nicht einmal ſuchen. „Was haſt Du denn verloren?“ fragte Sibilla naiv. „Erſtens all' die Jahre, in denen ich Fräulein Eliſabeth nicht geſehen habe, und zweitens alle möglichen Tugenden, die ich ſämmtlich bei Fräulein Eliſabeth wiederfinden würde, wenn ſie mir geſtatten wollte . .. „Sie irren,“ unterbrach ihn Eliſabeth; „Sie würden bei mir Tugenden weder ſuchen noch finden. Das Gute ſucht man in anderen erſt dann, wenn man es in ſich ſelbſt ſchon gefunden hat. 168 „Es iſt auch in ihm, wenn auch nur als Funken unter der Aſche,“ meinte Sibilla lächelnd. „Da hören Sie es. Bitte, Fräulein Eliſabeth, über⸗ nehmen Sie die Rolle des Blaſebalgs. „Ein andermal, jetzt habe ich keine Zeit. Die Baronin rief von unten, man ſollte ſich beeilen. Während ſie den Hügel hinabſchritten, kämpfte Eli⸗ ſabeth einen kurzen Kampf mit ſich, ob ſie Felix von dem verlorenen Medaillon ſprechen ſolle. Die Furcht, daß das Gift für den, der es fände ein Unglück herbeiführen könne, entſchied ſie für die Mittheilung. Felix erſchrack über das, was ſie ihm vertraute. Er faßte die Angelegen⸗ heit, ganz gegen ſeine ſonſtige Gewohnheit, ſehr ernſt auf und verſprach Alles aufzubieten, um das Medaillon wieder herbeizuſchaffen. Frau von Heiden blickte, als die drei unten ankamen, verſtimmt auf Eliſabeth, die ihr viel zu intereſſant und zu bedeutend ausſah. Sie ſelbſt war wieder mit Raffinement in einen weichen weißen, durchſichtigen Stoff gehüllt. Um den Hals und um die Arme wurde das Gewand durch eine Einfaſſung von ſchwarzem Sammet abgeſchloſſen. Von ſchwarzem Sammet war auch der Gürtel, der die faltige Taille zuſammenhielt. Das weiße Hütchen hatte die luftige Zartheit des Kleides, Schleier und Sonnenſchirm aber waren von einem feurigen Roth, deſſen Reflex den oberen Theil ihrer Geſtalt mit Roſenſchimmer überhauchte. Eliſabeth wollte ſchnell an ihr vorüber, wurde aber von der Anſprache der Baronin aufgehalten: „Immer in ſchwarzer Wolle, ſtolze Eleonora? Sie erinnern beſtändig an etwas Begrabenes. Was haben Sie denn begraben! 169 ſagte das nicht ohne boshafte Abſicht. „Meine Jugend; ich bin alt, gnädige Frau.“ Sie ſchnell man in gewiſſen Kreiſen altert. Wir ſind eben „Es iſt merkwürdig,“ antwortete die Baronin, „wie jung, ſo lange uns die Anderen für jung halten. Ihr allzu ſtattliches Leibesmaß iſt wohl daran ſchuld, daß Sie wie die Mutter der Niobiden ausſehen.“ Sie betonte das Wort „Mutter“. „Glücklicherweiſe werden die Niobiden nur von Pfeilen getroffen aus Apollos Köcher, für gewöhnliche Sterbliche ſind ſie unverwundbar. Felix amüſirte ſich köſtlich bei dem Wortgefecht, während Frau von Heiden nur mühſam ihre vornehme Haltung bewahrte. „Wollen Sie, kriegeriſche Jungfrau,“ wandte ſie ſich zu Eliſabeth, „die Güte haben, den Schlüſſel zum Boote zu holen? Soviel ich weiß, hält ihn Herr von Heeren im Verſchluß, und bringen Sie auch gleich den Hausherrn ſelber mit, wir warten hier auf ihn. Eliſabeth zögerte einen Augenblick, dem Befehl zu ge⸗ horchen. Es widerſtand aber ihrem Stolz, eine Scene herbeizuführen, und ſo ging ſie ohne ein Wort der Er⸗ widerung. Kaum war ſie außer Hörweite, ſo theilte die Baronin Sibilla mit, daß ſie für Eliſabeth eine ausgezeichnete Stellung als Geſellſchafterin einer heranwachſenden Tochter und Repräſentantin des Hauſes bei der alten Excellenz Wildungen ausfindig gemacht habe. Sie würde es gerade⸗ zu für unverantwortlich halten, eine ſolche Stellung bei einem Wittwer auszuſchlagen. Wäre dieſe ſchwarzwollene 170 Antigone ſo ſchlau, wie ſie lang ſei, ſo könne ſie bei dem Handel „Frau Excellenz“ werden. Sie, die Baronin, hätte ſchon mit Herrn von Heeren, dem die Dame auch im höchſten Grade antipathiſch ſei, darüber Rückſprache ge⸗ nommen, und er ſei mit ihr einverſtanden. Sibilla lehnte das Anerbieten für ihre Freundin ent⸗ ſchieden ab, ſie könne nur wiederholen, was ſie ſchon ein⸗ mal geſagt habe, Eliſabeth ſei ihr unentbehrlich. Felix überhäufte die Baronin mit Spötteleien. Er erklärte ihr Intereſſe an Eliſabeths zukünftiger Excellenz⸗ ſchaft für eine feige Liſt, um ſich mühelos einer Dame zu entledigen, deren Schönheit ihr Concurrenz mache. Frau von Heiden begriff nicht, wie ihm dieſe ge⸗ harniſchte alte Jungfer gefallen könne. Felix fand, daß Eliſabeth Raſſe, Temperament habe: er bewundere ſie aufrichtig. „Unbeſchadet der Hochachtung, die ſie verdient, ermahnte Sibilla. „Bewunderung und Hochachtung ſind Vorzimmer der Liebe, aber man hält ſich nicht gern lange darin auf, ſagte er. „O, ſind wir ſchon ſo weit?“ meinte die Baronin Ich räume das Feld.“ Sie wandte ſich zum Gehen. „Uebrigens ich will milde ſein und gebe Ihnen zehn Minuten bis zum Eintritt der Reue; die Zeit werde ich benutzen, um Herrn von Heeren entgegenzugehen. Sollte die Reue während dieſer Zeit nicht eintreten, ſo verurtheile ich Sie zu vier Wochen „Taſſo“ an der Seite dieſer langweiligen und langbeinigen Eleonore.“ Eine heitere Melodie trällernd verſchwand ſie zwiſchen den Bäumen. 171 Sibilla hielt ihn zurück. Felix machte einige Schritte, um ihr zu folgen. „Haſt Du ſie denn ernſthaft lieb? „Was verſtehſt Du unter ernſthaft! „Wie Du Eliſabeth lieb haben könnteſt, lieb haben müßteſt.“ „Dieſes Marmorherz: „Das doch nicht zeigen kann, wie warm es für einen Taugenichts ſchlägt, der Du biſt. „Für mich? Eliſabeth?“ Er lachte wieder, aber es kam nicht ganz von Herzen. Er fragte Sibilla, ob ſie im Ernſt geſprochen? Sie nickte. Er wehrte die Vorſtellungen, die ſich ihm aufdrängen wollten, ab und ſagte leichthin: „Und wenn es wäre — es iſt zu ſpät für mich. Freilich, ſie wäre die einzige, mit der eine Ehe mir nicht ſo entſetzlich überflüſſig und un⸗ natürlich vorkommen würde. Er ſah nach der Uhr und wunderte ſich, daß die kleine Baronin noch nicht zurück ſei. „Ich merke, Du magſt nicht gern mit mir allein ſein, ſagte Sibilla; „ich aber, Felix, möchte ſo gern mit Dir reden, es liegt mir etwas ſchwer auf der Seele, recht ſchwer.“ Sie ſeufzte tief. Er ſeufzte auch — ſcherzhaft nur. Er nannte ſie ſeinen kleinen Jeremias und forderte ſie auf da er ihr doch nicht mehr entrinnen könne, ihre Harfen in die Weiden zu hängen und zu klagen. Sie ſei natürlich unglücklich? Sibilla bejahte mit einer traurigen Kopfbewegung. 172 „Unnatürlich unglücklich,“ verbeſſerte er ſich, ein Zu⸗ ſtand, den er abſolut nicht begreife, und der auf einer voll⸗ ſtändigen Verkennung unſerer irdiſchen Beſtimmung beruhe. Er hatte ſich behaglich auf der Bank ausgeſtreckt, und während er mit ſeinem Stocke Karikaturen in den Sand zeichnete, ſetzte er der Schweſter auseinander, daß er unter unglücklichen Frauen im Allgemeinen ſolche verſtände, die ein dringendes Bedürfniß fühlten, getröſtet zu werden. „Welchen Troſt meinſt Du? Ich bin ſchlecht ver⸗ heirathet, Felix.“ Er fand im Gegentheil, daß ſie gut verheirathet ſei. Georg von Heeren ſei von unantaſtbarem Charakter, reich, und obendrein ſähe er noch außerordentlich gut aus. Sie ſei anſpruchsvoll, wenn ihr das nicht genüge. „Und wenn zwiſchen mir und meinem Gatten Gleich⸗ gültigkeit iſt? „Nun: „Nein, nicht Gleichgültigkeit — Abneigung, und meine Abneigung iſt unbeſieglich, grenzenlos. „Und grundlos.“ „Und hätte Georg alle Tugenden der Welt, und wäre er ſchön wie Apollo und ich könnte ihn nicht lieben — ich würde elend ſein nnd nichts wollen und nichts denken als fort von ihm, fort. Man ſagt, die Liebe ſei ein Geheimniß, ein ſüßes; ſo iſt auch die Abneigung ein Geheimniß, ein bitteres, unenträthſelbares. Ich kann ſo nicht weiterleben. Rathe mir, Felix, hilf mir. Was ſoll ich thunk Er lächelte zweideutig. Er ſollte ihr rathen, er? Jeder Andere würde beſſer dazu taugen. Ein Bruder, 173 meinte er, ſei, inſoweit er Bruder, von obligatoriſcher Moralität, ein wahrer Cato, und in dieſer Qualität könne er ihr nur das eine rathen; Geduld nnd Schweigen. Und nebenbei allenfalls — ach ſo, nein — er war ja Bruder. Leidenſchaftlich bewegt erhob ſich Sibilla von der Bank. Geduld und Schweigen! Sie hatte ſchon ſo viel Ge⸗ duld gehabt, ſie hatte ſchon ſo lange geſchwiegen. Wer und was war ſie denn? Nichts ſolle ihr ganzes Daſein ſein, nichts als Elend, unfruchtbares Elend? ein Sterben im Leben? Ihr zartes Geſicht nahm einen Ausdruck energiſcher Entſchloſſenheit an. „Felix, ich will von meinem Manne geſchieden ſein! „Tatata, warum nicht gar! Eine geſchiedene Frau — unmögliche Poſition. Eine Wittwe — à la bonne heure! Die Wittwenſchaft iſt zuweilen eine bonne fortune für eine Frau, der die — Trauer gut ſteht. Uebrigens, ſoweit ich meinen Schwager kenne, läßt der ſich unter keinen Umſtänden ſcheiden. Es giebt für Euch keinen Scheidungsgrund. „Doch, doch, ich weiß einen: ich verlaſſe das Haus meines Gatten.“ „So eine kleine hübſche Frau will einen ſo großen häßlichen Scandal provociren? Muß es denn durchaus geſchieden ſein, ſo ſcheide Dich innerhalb der vier Wände von Deinem Manne. Wo willſt Du auch hin: „Zu Dir. Du biſt mein natürlicher Beſchützer. Ich entwaffne dadurch die Verleumdung. Lieber Felix . . Felix lachte. „Zu mir? in eine Junggeſellenwohnung, wo — alle Welt aus⸗ und eingeht? Eine Schweſter — unmöglich! 174 „Du willſt nicht? nicht? „Nimm doch die Sache nicht tragiſch. Kennſt Du CCyprienne“ von Sardou? — Vertrage Dich mit Deinem Gatten. Im vollen Ernſt, er verdient es. „Man hat mich mit einem gewiſſen Herrn von Heeren verheirathet, aber ich habe keinen Gatten. Aber einen Bruder habe ich, oder habe ich ihn nicht? — nicht Felix? Dem jungen Advocaten war unbehaglich zu Muthe, indeſſen verlor er ſeine Gemüthsruhe nicht. „Gut, komm zu mir. Vor der Welt nehme ich da⸗ durch die Verantwortlichkeit für Deine Handlungsweiſe auf mich und ergreife Partei gegen Georg von Heeren. Er iſt nicht der Mann, das zu dulden. Er ſchießt vortreff⸗ lich — ich auch. Nur leider, ich bin ihm ſechzigtauſend Mark ſchuldig. Man darf allenfalls ſeine Schulden nicht bezahlen, aber den Gläubiger umbringen — unmöglich! Alſo er mich. Ich geſtehe gern, ich habe eine Antipathie gegen das Todtſein, beſonders wenn es mich betrifft. Iſt es aber zu Deinem Glück erforderlich . . . „Nein, nein, nein! Alſo nicht. Ich denke nicht mehr daran.“ Sibilla war verſtört. Felix begriff nicht, warum ſie durchaus die Heroine ſpielen wolle; ihrer Natur entſpräche doch vielmehr das naiv⸗ſentimentale, gerade dasjenige Fach, in welchem hübſche junge Frauen die meiſten Chancen hätten, ihren eigentlichen Beruf zu erfüllen. „Unſer eigentlicher Beruf! Liebe, nicht wahr Liebe? unterbrach ihn Sibilla heftig, „ach Gott, ich weiß es ja, natürlich Liebe. 175 Pauſe.“ Felix nickte: „Ja wohl, Liebe, alles Uebrige iſt Er war aufgeſtanden; er ſuchte ſich des ſteigenden Mitgefühls für ſeine Schweſter zu erwehren und gab ſich alle Mühe, ſie durch Liebkoſungen und Scherze zu erheitern. Ihre krankhaften Vorſtellungen nannte er Motten im Ge⸗ müth, die man mit einem wenig bon sens herausklopfen müſſe. Er wurde in ſeinen flachen Tröſtungen durch die Stimme der Baronin unterbrochen, die am Eingang der Allee mit Oswald erſchien und ſchon von weitem rief⸗ „Iſt Herr von Heeren noch nicht hier? Ich habe ihn nicht mehr im Schloß angetroffen, man hat mir geſagt, daß er ſich mit der Niobide bereits auf den Weg gemacht habe.“ Sie waren jetzt zu den Geſchwiſtern herangekommen. Oswald grüßte Sibilla mit zurückhaltendem Ernſt. „Anſtatt des Hausherrn,“ ſagte Frau von Heiden „bringe ich den Wegelagerer hier, den ich, tiefſinnig in das Anſchauen einer Waſſerlilie verſunken, aufgegriffen habe, wie er eben im Begriff war, einen Monolog zu halten aus Verzweiflung darüber, daß man ihn zu der Waſſerfahrt nicht eingeladen hat — ſo behauptet er. Ich empfehle ihn Eurer Gaſtfreundſchaft. „Oswald weiß, daß er immer willkommen iſt,“ ſagte Felix. „O gewiß,“ beſtätigte Sibilla kalt. Sie begann zwiſchen den Beeten auf und ab zu gehen und Blumen zu pflücken. Oswald ſtand von fern und ſah ihr ſchweigend zu. 176 „Wie ſteht's mit der Reue?“ wandte ſich die Baronin an Felix. „Bei irgend einem immens vernünftigen Volke gilt die Reue für eine Todſünde. Ich bin auch immens ver⸗ nünftig. Der Mangel an Reue ſchließt aber die Verſöhnung nicht aus. Verſöhnungen gehören zu meinen Lieblingsbe⸗ ſchäftigungen. Sie ſind unter den Seelenſtimmungen, was der Champagner unter den Weinen iſt, prickelnd und von einem Aroma . . . Er küßte ihr die Hand, ſie ſchlug ihn mit dem Fächer und zog ihn etwas abſeits. „Wo iſt Fräulein Eliſabeth?“ fragte nach eine Weile Oswald. „Ich hätte ſie gern geſprochen, als Arzt. „Iſt Eliſabeth krank?“ fragte Felix, der ſich eben mit der Baronin in eine Nebenallee verlieren wollte, jetzt aber ſtillſtand. „Ich bin nicht recht klar über ihren Zuſtand,“ ant⸗ wortete Oswald, „jedenfalls liegt nichts Ernſthaftes vor. Vielleicht iſt ihr Gemüth kränker als ihr Körper. „Was?“ fuhr Frau von Heiden auf, „dieſe Walküre zu Fuß hat auch Gemüth? und noch dazu ein krankes? was auf gut deutſch heißt: eine unglückliche Liebe: „Das glaube ich kaum,“ meinte Sibilla; „mir ſcheint, wen auch Eliſabeth liebte, er müßte ihre Liebe erwidern. „Der Betreffende könnte ja ſchon anderweitig ge⸗ bunden ſein,“ warf Felix leicht hin. „Verheirathet?“ fragte die Baronin. „Oder etwas Aehnliches. Die Baronin ſetzte ſich ſchmollend auf eine Bank, die in einiger Entfernung ſtand. Felix folgte ihr. Sie ſprach 12 H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 177 in ihn hinein, und die beiden hörten nur ab und zu auf das Geſpräch der anderen. „Eliſabeth,“ ſagte Sibilla hart — ſie ſagte es für ¹ Oswald — „iſt einer verbrecheriſchen Neigung unfähig. „Verbrecheriſch?“ fuhr Oswald auf; „kaum giebt es ein Wort, mit dem ſoviel Mißbrauch getrieben wird. Eine wahre und echte Liebe kann niemals verbrecheriſch ſein. Verbrecheriſch aber iſt jede Beziehung zwiſchen Mann und Weib, wenn ſie der Natur Gewalt anthut, mögen auch Geſetz und Sitte ihren falſchen Heiligenſchein darum ge⸗ woben haben.“ „Oho!“ rief Felix dazwiſchen, „taſte mir die Sitte nicht an, die Flagge, unter der ein Schmuggel blüht, den wir alle nicht entbehren können. Oswald würdigte Felix keiner Antwort; nur an Sibilla hingen ſeine Augen, als er fortfuhr: „Sitte! Was heute für unantaſtbar gilt, wird ſpäteren Zeiten ein Hohn ſein. Kühne, freie Menſchen anticipiren die Zukunft; die Zukunft ſteht immer über der Gegenwart.“ Blumen pflückend und ſie zu einem Strauße zuſammen⸗ fügend, blieb Sibilla bald ſtehen, bald ging ſie weiter, während ſie ſprach: „Soll das heißen, wir dürfen unſerer Leidenſchaft folgen, wohin ſie uns auch immer reißt? Giebt es keine Pflichten? keine Pflichten der Treue, keine der Entſagung: „Laſſen Sie den Krüppel entſagen oder den Greis. Von der Jugend fordere man keine Entſagung. Tödte Dein Herz im Intereſſe der Moral! ſagt heute die Geſell⸗ ſchaft. Warum ſoll ſie morgen nicht ſagen: Oeffne Dein Gehirn und laß Dich trepaniren im Intereſſe der Wiſſen⸗ 178 ſchaft! Steht die Wiſſenſchaft tiefer als die Moral, und darf man die Herzen eher brechen als die Köpfe: „Bravo!“ klatſchte die Baronin. „Orthodoxe Tugend iſt wie raffinirte Koketterie beinah' ein Laſter. „Laſſen Sie ſich mit dieſem Heißſporn in keine Dis⸗ cuſſion ein,“ warnte Felix. „Er geht wieder einmal auf Stelzen, um den Staub, den wir aufwirbeln, nicht zu athmen. Nimm Dich in Acht, Oswald, wer auf Stelzen geht, fällt leichter, und dann tiefer als wir andern. Felix wunderte ſich, daß Oswald ſeine Aeußerungen regelmäßig zu überhören ſchien. Frau von Heiden flüſterte ihm etwas in's Ohr, Oswald und Sibilla betreffend. Felix ſah ſehr erſtaunt aus, dann plötzlich lächelte er verſtändniß⸗ voll. Sie erhoben ſich beide von der Bank und entfernten ſich geräuſchlos weiter und weiter, bis ſie aus dem Geſichts⸗ kreis der Zurückbleibenden verſchwunden waren. Oswald und Sibilla waren zu erregt, um es zu bemerken. Oswalds Züge nahmen allmählich wieder jenen welt⸗ entrückten Ausdruck eines Apoſtels an. Hoch und ſtolz richtete ſich ſeine Geſtalt auf, als er weiter ſprach: „Menſchen, die um eines äußerlichen Zwanges willen, die für ein Nichts, bloß weil es erkannt iſt, das Höchſte, eine reine tiefe Liebe hingeben, ſind Gladiatoren der Tugend. Die Geſellſchaft iſt ihr Cäſar. Sie huldigen ihm mit einer Todeswunde im Herzen — ſterbend. „Nicht Gladiatoren. Schlecht verheirathete Frauen haben nur die Wahl, Märtyrerinnen der Tugend zu ſein oder — Verworfene,“ entgegnete Sibilla. „Sibilla, halten Sie wirklich Ihren anerzogenen Aber⸗ glauben für Tugend: 179 12* von Jugend auf eingeprägt hat, die ein heiliges Vermächtniß „Kein Aberglaube. Wie? alle Lehren, die man uns von Jahrtauſenden ſind, ſollten falſch ſein? Aber ſie haben Wurzel in unſeren Herzen geſchlagen, ſie ſind verwachſen mit allen Faſern unſeres Seins, und müßten wir ſie her⸗ ausreißen, unſer Lebensblut flöſſe mit. Mit feuriger Energie und loderndem Blick antwortete Oswald: „Das Abſurdeſte kann man uns als Wahrheit und als Pflicht einprägen. Ich verachte die Sitten, Regeln und wahnſinnigen Gelübde, mit denen eine korrumpirte Geſellſchaft ihre Opfer an harte Geſetzestafeln ſchmiedet. Ich frage nicht den Pöbel oder frühere Jahrhunderte oder todte Buchſtaben, was recht iſt. Für mich giebt es keine höhere Inſtanz als meine eigene, durch Wiſſen und Denken geläuterte Vernunft. Die Anderen ſollen denken wie ich, nicht ich wie ſie. Die Ehe iſt nur da berechtigt, wo ſie überflüſſig iſt. Wenn ich ein Weib mit ganzer Seele liebe und ſie liebt mich, ſo gehört ſie mir und ich gehöre ihr. Sibilla pflückte keine Blumen mehr, ſie drückte die gepflückten krampfhaft in der Hand zuſammen. „Nein,“ rief ſie, „das iſt nicht wahr, das kann nicht ſein. Selbſt eine ſchlechte Ehe dürfen wir nicht in den Staub ziehen. Wer wollte ein Chriſtusbild entweihen, weil es roh gezimmert und widrig bemalt iſt? Selbſt in ſeiner Verzerrung bleibt es noch immer das Symbol von etwas Herrlichem und Reinem. „So zwingt uns die ſchlechte Ehe in den Staub. Sie iſt ein Seelenmord. Wer ſich daraus nicht rettet, iſt Hehler einer Todſünde. 180 Zu viel Gefühle ſtürmten auf Sibilla ein. Erſchöpft ſank ſie auf die Bank, den Kopf matt zurücklehnend. „Mein Gott,“ flüſterte ſie in ſich hinein, „wo iſt die Wahrheit, wo: Die Blumen, eine nach der anderen, waren ihrer Hand entfallen; Oswald hob, vor ihr niederkniend, die Blumen auf und kniend reichte er ſie ihr. Leidenſchaft zitterte in ſeiner gedämpften Stimme. „Wo? Fragen Sie Ihr Herz, Sibilla! Ihr Herz! Die Stimme der Natur iſt gewaltig wie die Stimme Gottes auf dem Sinai. Liebe zerſtört in einem Tage mehr Vor⸗ urtheile als die Vernunft in hundert Jahren. Was ſagt Ihr Herz: „Mein Herz — es ſagt nein! es weiß nichts von Ihnen!“ Sie rief die Worte laut, als läge ihr ſelbſt daran, ſie zu hören. Er war aufgeſprungen und taumelte einen Schritt zurück. Ein hohler Huſten rang ſich aus ſeiner Bruſt, auf die er die Hand preßte. Sibilla bemerkte erſt jetzt, daß Felix und die Baronin nicht mehr da waren. Sie erſchrak darüber; eilig wollte ſie fort. In einiger Entfernung von Oswald blieb ſie ſtehen. „Ich weiß nun, wie Sie denken. Ich möchte nie wieder mit Ihnen zuſammentreffen. „Nie, nie wieder,“ ſagte er heiſer, ohne ſie anzuſehen. Wie elend er ausſah! Ihr Herz blutete. Sie trat wieder zu ihm heran und reichte ihm die Hand: „Wir wollen nicht im Groll ſcheiden. Er wehrte ſanft die Hand ab und ſagte: „Geben Sie mir nicht die Hand. Warum mir den 181 Abſchied erſchweren? Sprechen Sie nicht. Blicken Sie nicht zu mir her. Laſſen Sie mich gehen. Sie ſprach aber doch, leiſe und eindringlich: „Gehen Sie nach dem Süden, werden Sie geſund, um Ihrer Freunde, Ihres Volkes willen. Er lächelte mit troſtloſer Melancholie. „Mein Weg führt nordwärts — nach Sibirien. Ich bin entſchieden. Wohl den Elenden dort, daß es Nacht in meinem Herzen wird. Alles Licht iſt nun hier“ — er berührte mit der Hand die Stirn. Wieder brannte die fanatiſche Flamme in ſeinen Augen — er war nicht mehr bei Sibilla. „Und wenn Ihre Kräfte nicht ausreichen, und ſie werden nicht ausreichen,“ flüſterte Sibilla mit halb ge⸗ brochener Stimme. „Sie werden ausreichen, weil ich es will. Nicht eher bricht mein Leib, als bis jener Feſſeln gebrochen ſind. Dann — immerhin.“ Ohne nach ihr hinzublicken, ging er. Sie ſah ihm nach, ſtarren Blickes, bis er entſchwand. Von fern hörte ſie ſein hohles Huſten. Sie fühlte einen großen phyſiſchen Schmerz am Herzen, und der Schmerz preßte ihr den Schrei aus: „Oswald! Oswald! Im nächſten Augenblick war er an ihrer Seite. Er zog ihre beiden Hände an ſein Herz, und wie ein ſeliges Schluchzen kam es aus ſeiner Bruſt: „Du liebſt mich! „Ja, ich liebe Sie, Oswald,“ ſagte Sibilla mit tiefem Ernſt. Er ſtammelte nur immer wieder ihren Namen: „Sibilla! Sibilla! 182 Sie fühlte auf ihren Händen ſeine Thränen. „Sie weinen! „Vor Seligkeit! „Das jja' trennt uns ebenſo, als hätte ich „nein geſagt.“ „Trennt uns? wie? Du willſt zurück in Dein elendes Leben? „In mein elendes Leben? Aber es iſt nicht mehr elend, nie mehr. Und dürfte ich Sie nicht mehr wieder⸗ ſehen, Oswald, mir bliebe meine Liebe und die Ihre, und hätte ich nichts als den Schmerz um Sie und die Sehn⸗ ſucht nach Ihnen, es wäre immer noch Glück. „Von Schmerz ſprichſt Du, und unſere Liebe lebt, lebt ein glühendes Leben. Sibilla, Liebe iſt ja das Frühlings⸗ lied aller Kreatur! Ahnſt Du denn nicht, was für Selig⸗ keiten ein Menſchenherz faſſen kann! Was wollen wir denn? Uns — uns ſelbſt, ſonſt nichts — nichts! Mir gehörſt Du, mir folgſt Du, mir — mir . . . „Jawohl, Ihnen und der Schmach, die ich hinter mir laſſen würde. „Sibilla, nie hat eine gemeine Regung mich befleckt, und Du — ich weiß es, Deine Seele war bisher ein unentweihter Tempel, und nun plötzlich, was uns mit ſüßer Gewalt zueinander zwingt, ſoll verworfen ſein und nichtswürdig! O Blödſinn! Blödſinn! Du mußt es fühlen, Du mußt es wiſſen: eins iſt unſere Liebe mit allem, was die Erde Hohes hat und Reines und Seliges! Warum glaubſt Du, was andere Dir ſagen? Glaube Dir, Dir allein!“ Was er ſagte, ſchien ihr ſo unwiderleglich und doch 183 nicht gut, ſo wunderſüß und doch ſo dämoniſch falſch. Sie war unfähig zu denken. Sie trank ſeine Worte, weil ſie durſtig war, wie der Verſchmachtende auch das trübſte Waſſer trinkt. Sie konnte ihre Blicke aus den ſeinen nicht löſen und ſagte unſicher und ſchüchtern: „Oswald, ich will Alles verſuchen, damit mein Gatte in die Scheidung willigt.“ „Er wird niemals darein willigen. Brich mit Allem. was bis jetzt war. Folge Deiner ſüßen Natur. Alles Halbe trägt den Keim des Todes in ſich. Habe den Muth, glücklich zu ſein. Komm, Geliebte! Heißgeliebte, komm! Ob Du gehſt, ob Du bleibſt, Deinem Gatten brichſt Du täglich die Treue, denn Du liebſt mich, wie ich Dich liebe, und ich liebe Dich grenzenlos — ewig! — Komm — komm!“ Er zog ſie langſam fort, ihr Kopf ruhte an ſeiner Schulter, ſie ſchloß die Augen und hatte die Empfindung. als ob ein Traum ſie in ein wonniges Gefilde trüge, und zugleich die Angſt, daß ſie bald aus dem Traum erwachen müſſe. Der Gottesdienſt im Dorfe war zu Ende, die Glocken läuteten wieder. Sie fuhr aus ihrer Traum⸗ ſeligkeit auf. „Was läuten die Glocken? „Für die Frommen. „So läuten ſie ſonſt nicht, ſo durchdringend wie ein Hammer, der auf meine Bruſt fällt. Für mich läuten ſie, Oswald. Das ſind die Glocken — ſo läuteten ſie, als ich meinem Gatten Treue ſchwur, ſie läuteten, als man meine Mutter zu Grabe trug. Folgte ich Dir, Oswald, ich könnte nicht mehr an das Grab meiner Mutter. Arme 184 Mutter!“ Sie neigte den Kopf tief herab, als horche ſie auf etwas, das aus dem Schoß der Erde käme. „Mein Herz lügt, es lügt! Die ehernen Zungen da ſind wahr. Läutet Glocken, läutet fort, immerzu, daß ich ſeine Stimme nicht höre! Du haſt eine ſo liebe, ſo bös verlockende Stimme, Oswald!“ Er preßte mit einer verzweifelnden Gebärde die Hände an die Stirn. „Geh', geh' zu Deinem Gatten,“ rief er, „beichte ihm, wirf Dich an ſeine Bruſt, ertrage es, ihm zu gehören, und ernte den Lohn, eine Inſchrift auf Deinem Leichenſtein: Hier ruht eine tugendhafte Frau! Das Eis Sibiriens erkältet nicht mehr als die ſtarre, falſche Tugend eines Weibes! Er wandte ſich von ihr fort; ſie rief ihn, und noch einmal kehrte er um. „So komm! komm!“ Und er flüſterte ihr zu: „Ich bereite Alles vor zur Flucht. Du kennſt das Häuschen dicht am Kirchhof, die alte Kräuterſammlerin wohnt darin, ſie iſt mir ergeben auf Tod und Leben. Dorthin komm! Sie wird nichts fragen und Dir nichts ſagen. Sie wird mich rufen.“ Sibilla ſchauerte in ſich zuſammen; in der Ferne ließen ſich jetzt Stimmen hören. „Felix und die Baronin kommen zurück, ſie holen uns! Gehen Sie — gehen Sie, Oswald! Er preßte ihre Hände an ſeine Augen, an ſein Herz. an ſeine Lippen, und ſie ſagte faſt freudig: „Mein Gatte wird in die Scheidung willigen. Ich werde Worte finden, verzweifelnde und flehende, oder Gründe, 185 oder ſonſt etwas — ich werde ihn zwingen, daß er ſich ſcheiden läßt!¹ Sie ſtanden noch einen Augenblick Hand in Hand und Auge in Auge, dann lief Sibilla den Hügel hinauf zum Tempelchen, und Oswald wandte ſich ſchnellen, elaſti⸗ ſchen Schrittes dem Ausgang des Parkes zu. Sibilla kauerte ſich oben auf der Bank zuſammen. Wenn die anderen kämen, ſie ſollten ſie nicht ſehen. Sie wollte allein ſein mit ihren wilden und zärtlichen Gedanken. Plötzlich kam ihr die Vorſtellung, daß ſie ihn vielleicht nie wiederſehen würde, nie. Sie ſtürzte nach der Stelle im Tempelchen, von der aus man die lange Allee nach dem Ausgang des Parkes überſehen konnte. In demſelben Augenblick hörte ſie eilige Schritte heraufkommen. Sie blieb ſtehen. Keuchend erſchien die Baronin oben, und noch ganz athemlos redete ſie auf Sibilla ein. Sie habe ſich auf ein paar Minuten von Felix frei gemacht. Oswald Normann ſei eben, ohne ſie zu ſehen, an ihr vorbeigeraſt, und da habe ſie gewußt, ſie würde Sibilla allein treffen, ein Moment, auf den ſie ſchon den ganzen Nachmittag lauere. Sie habe eine Gefälligkeit von ihr zu erbitten. Sie reichte ihr ein Medaillon hin. Das Medaillon gehöre der Eleonore, Sibilla möchte die Liebenswürdigkeit haben, es ihr zuzu⸗ ſtellen, ſie könnte vielleicht vorgeben, es irgendwo gefunden zu haben. Auf die Frage Sibillas, ob ſie die Baronin, es gefunden habe, antwortete ſie: „Gefunden gerade nicht, ich habe es mir verſchafft; wozu giebt es Kammerjungfern! Es wäre mir aber unan⸗ genehm, wenn die Schwarzwollene erführe, daß ich die Hand dabei im Spiele habe; ſie könnte ſich am Ende einbilden, 186 ich wäre eiferſüchtig auf ſie. Ich rechne auf Ihre Discretion. Es iſt auch gar kein Bild in dem Medaillon, nichts als ein Papierchen, wahrſcheilich mit einer Locke, intereſſirt mich gar. Nicht wahr, Sie thun mir den Gefallen: Sibilla nickte zerſtreut; ſie ſteckte mechaniſch das Medaillon in die Taſche, ihre Gedanken waren weit fort. Im Begriff zu gehen, ſagte die Baronin noch: „Apropos, aus der Kahnfahrt wird nichts; der Himmel bewölkt ſich, auch iſt es ſchon zu ſpät geworden. Felix wird mich nach Hauſe begleiten. Schade, daß ich bei der Enttäuſchung das lange Geſicht der verliebten Brunhilde nicht mitgenießen kann. Sie kommt eben mit Ihrem Gatten die Allee her⸗ auf; ich muß mich beeilen, ſonſt laufe ich ihnen gerade in die Arme. Ihnen wird ja auch an der Fahrt nichts liegen, Sie — Glückliche!“ Und damit ſchwebte ſie, graziös mit dem feurigen Sonnenſchirm winkend, bergab. Solange ſie da war, hatte Sibilla nichts gedacht, als daß ſie nun Oswald nicht mehr ſehen würde. Jetzt ſtürzte ſie dem Ausblick zu; ein Gebüſch hinderte ſie. Voll Zorn gegen das Hinderniß, riß ſie das verworrene Gezweig mit ihren Händen auseinander, ſo daß die Dornen ihre Finger verletzten. Eliſabeth, die unten im Geſpräch mit Herrn von Heeren langſam herankam, blickte bei dem Geräuſch der kniſternden Zweige auf und gewahrte Sibilla. Es blitzte in ihren Augen auf. Sie brach plötzlich das gleichgültige Geſpräch mit ihrem Begleiter ab und ſchien über etwas zu ſinnen. Herr von Heeren wollte an dem Hügel vorbei, dem See zugehen, wo er die andern ihrer wartend ver⸗ muthete. Eliſabeth gab vor, erſchöpft zu ſein. Sie ſetzte 187 ſich auf die Bank und forderte ihn auf, weiter zu gehen. Höflich erbot er ſich, zu warten, bis ſie ausgeruht habe: Eliſabeth wußte, daß man da oben jedes Wort hören würde, daß hier unten geſprochen wurde. „Ich möchte noch einmal auf den Vorſchlag zurück⸗ kommen,“ ſagte ſie, „den Sie mir vorhin machten. Sie glauben wirklich, daß ich die geeignete Perſönlichkeit für die Stellung bei Excellenz Wildungen bin: „Ich hätte ſie Ihnen nicht angeboten, wenn ich nicht davon überzeugt wäre. Ich werde es nie an ernſter Sorg⸗ falt fehlen laſſen, wo es ſich um Ihr Wohl handelt. „Sie ſind ſehr gütig, ſo merkwürdig gütig, wie etwa ein Menſch, der einen Todtſchlag begangen hat und hinter⸗ her für ein anſtändiges Begräbniß ſorgt. „Ich liebe die Scenen nicht, Fräulein Eliſabeth. „Und ich nicht den Decorationswechſel.“ „Sie wiſſen ſelbſt am beſten, daß Ihre Bitterkeit ungerecht iſt. Ich habe gehandelt, wie ich handeln mußte.“ „Ach Gott, ja! Da Sie fürchteten, Ihre unbefleckte Ehre könnte Schiffbruch leiden, warfen Sie als Ballaſt die Liebe und das Glück eines hergelaufenen Mädchens über Bord.“ „Was geſchehen, iſt unabänderlich. Ich begreife aber. daß es für uns beide peinlich ſein muß, unter einem Dach zu leben.“ „Für mich nicht. Ich habe eine rechte Freude an Ihrem ehelichen Glück. Sie lieben ja Sibilla? Nicht? „Wie es meine Pflicht iſt. „Wie Sie mich geliebt haben; „Anders. 188 „Und wenn Sie jetzt frei wären, würden Sie handeln wie damals: „Wer weiß! „Sie ſagen das, weil Sie wiſſen, daß Sie niemals frei ſein werden. „Wer kann in die Zukunft blicken. „Sie könnten ſich ſcheiden laſſen, Sibilla könnte ſterben? „Der Himmel verhüte es! Gottes Rathſchlüſſe ſind unerforſchlich. Sibilla hatte jedes Wort gehört. In den erſten Minuten hielten ſie Staunen und Schrecken feſtgebannt, dann ſtürzte ſie herab, und als ſie todtenbleichen Geſichts unten ſtand, konnte ſie im erſten Augenblick keine Worte finden. Eliſabeth ſchien beſtürzt: „Du warſt da oben, Du haſt gehört . . .“ rief ſie. Georg ſah finſter drein. „Habe ich denn recht gehört,“ ſtammelte Sibilla; „Ihr wolltet — Ihr möchtet . . . ich wäre todt! „Du haſt grundfalſch gehört!“ ſagte Georg mit Heftigkeit. „Ja, ich fühl's, ich bin krank — ich werde ſterben — freut Euch doch! Seit einigen Minuten der pochende hämmernde Schmerz hier . . .“ Sie preßte die Hand auf das Herz und ſchwankte. Eliſabeth näherte ſich ſchnell, ſie zu unterſtützen, Sibilla ſtieß ſie heftig zurück. „Komm mir nicht nah — Du — die Geliebte meines Gatten! 189 Herrn von Heeren?! Was für ein Recht habe ich Dir Eliſabeth lachte laut auf. „Ich die Geliebte des gegeben, mich zu beſchimpfen? Ich ſeine Geliebte! „Nicht ſeine Geliebte? Was warſt Du denn? „Seine Braut. „Seine Braut! ſeine Braut!“ wiederholte Sibilla langſam. „Wann denn? Wie war das? Sprich doch! Wann? „Meine Brautſchaft fiel mit meiner kurzen Gouver⸗ nantenlaufbahn zuſammen. Wir lernten uns auf dem Gute meiner — Herrſchaft kennen.“ Sibilla preßte die Hände an die Schläfe. „Und dann kam er in unſer Haus, als Du nicht da warſt . .. ich verſtehe nicht . . . „Herr von Heeren kam zu Euch um meinetwillen. Er hatte eine Unterredung mit Deiner Mutter. Darauf kündigte er mir die Verlobung auf, in einem Brief, der ganz von ſeiner Ehre triefte, und ein Jahr ſpäter biſt Du ſeine Gattin geworden. In Sibillas Augen ſtanden Thränen. Liebevoll ſchmiegte ſie ſich an Eliſabeth. „Man ſchickte mich dann aus meiner Stellung fort wegen unverbeſſerlichen laſterhaften Hanges zur Schwer⸗ muth! Ich wußte nicht wohin. Ich mußte zu Deiner Mutter zurück. „Aber mein Gott, warum verließ er Dich, warumr „Warum ſollte er mich nicht verlaſſen? Habe ich denn ein Recht auf einen Bräutigam? ein Recht auf Ehe? ein Recht auf Exiſtenz? Ich, ein namenloſes Ge⸗ ſchöpf. 190 Sibilla wandte ſich Georg zu, der äußerlich ruhig, aber voll inneren Unmuths ſeinen Stock in den Erdboden ſtieß. „Warum thateſt Du's: „Weil ich mußte. Du haſt mir einfach zu glauben. Ich habe kein Recht, zu ſagen, was Eliſabeth verſchweigt. „Sage es mir, ſage es mir, Eliſabeth!“ bat Sibilla. Eine ſchmerzliche Ironie malte ſich in den Zügen der Geſellſchafterin, als ſie antwortete: „Gern! Der Zu⸗ fall hat Dir verrathen, was Du wahrſcheinlich ſonſt nie erfahren hätteſt. Ich bin nicht Barbarin genug, um die Gaſtfreundſchaft zu verrathen, und nicht Eris genug, um den Zankapfel in eine — muſterhafte Ehe zu ſchleudern. Und doch wäre ich am erſten gerade Dir Vertrauen ſchuldig. Du biſt ja meine nächſte Verwandte. Sibilla ſtarrte ſie verwundert und fragend an. „Die Schweſter Deines Vaters war meine Mutter. Es iſt eine einfache Geſchichte. Es kommt allerdings eine Art Todtſchlag darin vor, aber es handelte ſich dabei nur um einen ganz obſkuren Menſchen, einen Werkmeiſter. Der Werkmeiſter war mein Vater. Er ſoll brav und ſchön und ſehr klug geweſen ſein. Als ob darauf etwas ankäme! Du merkſt wohl, daß die beiden, mein Vater und meine Mutter, ſich lieb hatten, viel zu lieb; ſie konnten nicht zueinander kommen, das Waſſer der Vorurtheile war viel zu tief. Er hatte es ſich aber in ſeinen ſtarren Proletarierkopf geſetzt, meine Mutter zu heirathen. Die Familie ſagte nein. Sie wollten die Einwilligung er⸗ zwingen und gingen miteinander davon. Die Familie ſagte nein. Ich wurde geboren — immer noch nein. 191 Meine Mutter hatte noch zwei Jahre bis ſie mündig wurde, dann wäre ſie ſein Weib geworden. O, die Familie war vorſichtig! Der Fabrikherr, unſer Groß⸗ vater, natürlich ein ehrenwerther Mann, gehörte zum Geſchlecht der Brutuſſe, die, wenn ſie von einem mörde⸗ riſchen Pflichtparoxysmus befallen werden, ihre Kinder opfern. Alle Anſtrengungen meines Vaters, ſich eine Exiſtenz zu verſchaffen, ſcheiterten an der Verfolgung des großväterlichen Brutus. Kaum hatte er irgendwo Fuß gefaßt, ſo vertrieb ihn ein Brandbrief ſeines früheren Prinzipals aus der mühſam errungenen Stellung. In Noth und Elend brachten meine Eltern zwei Jahre zu. Er ſah Weib und Kind hungern. Seine Kraft brach. Er ſtarb — unſäglich grauſames Schickſal! — er ſtarb wenige Wochen ehe meine Mutter mündig wurde. Die Mutter zog er nach in ſein frühes Grab. Sie ſtarb nicht gleich, nur allmählich. Ich wurde darüber zwölf Jahre alt. Und ſterbend legte ſie auf meine junge Seele die ungeheure Laſt ihres Schmerzes. Das Kläglichſte, daß ſie nicht verheirathet geweſen, konnte ſie mir nicht ſagen, weil ich es nicht verſtanden hätte.“ Sibilla ſchluchzte laut: „Und ich habe nichts davon gewußt, nichts! „Es krähte auch kein Hahn danach. Und doch, Sibilla — ſo voll blühender Triebkraft iſt ein junges Herz — es kam ein Tag, wo ich Alles vergaß; das war, als ich liebte, leidenſchaftlich liebte den Mann, der mich verließ. Du weißt nun, warum.“ Georg fühlte quälend das Peinliche und Wider⸗ 192 wärtige ſeiner Situation, dennoch gelang es ihm, als er das Wort nahm, Ruhe und Würde zu bewahren. „Die natürliche Tochter des Werkmeiſters konnte nicht meine Gattin werden. Jede Geſellſchaftsklaſſe hat ihre beſonderen geſchriebenen oder ungeſchriebenen Geſetze, denen ſie ſich unterwerfen muß. Eliſabeth lachte bitter auf. „Was ich für eine verblen⸗ dete Mutter hatte! Sie ſchlug den alten wüſten Geldſack, den ihr die Familie zur Ehe beſtimmt, aus. Sie wußte viel⸗ leicht nicht, was ſie damit ausſchlug: einen Ehrenplatz in der menſchlichen Geſellſchaft. Sie folgte aus Liebe einem trefflichen Mann und — trug ein Brandmal davon. Sibilla, merk' es Dir: was die Welt empfiehlt und lobt, iſt meiſt etwas Schmähliches; was ſie verdammt, iſt gut. Willſt Du wiſſen, warum es ſo iſt? Du ſollſt ſein, wie ſie Alle ſind — gemein.“ Sibilla hing an Eliſabeths Hals. „Wie namenlos unglücklich mußt Du geweſen ſein, meine Eliſabeth! „Laß ſein, es iſt vorbei. „Und Du haſt Dich nicht gewehrt? Du haſt nicht gekämpft um Dein Recht: „Ich! ein Mädchen! Womit? Das Pathos iſt aus der Mode, ſonſt hätte ich vielleicht einen Fluch über Herrn von Heeren ausgeſprochen; er iſt aber kein roman⸗ tiſches Gemüth, und Shakeſpeare⸗Tiraden hätten ſchwerlich bei ihm Erfolg gehabt. So habe ich mich begnügt mit dem frommen Wunſch, daß ſeine eigene Ehre . .. Sie ließ die leidenſchaftlich erhobene Stimme wieder ſinken, barg das auffunkelnde Auge unter den Lidern und wandte ſich liebevoll Sibilla zu. H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 193 13 „Nach dieſer Generalbeichte muß ich nun doch fort von Dir, Sibilla. Nur ein paar Tage noch laß mich bleiben.“ Statt der Antwort küßte Sibilla die Freundin. Eliſabeth wehrte ſie ab. „Küſſe mich nicht, Du reine Seele! Wer weiß, ob Du nicht einen Judas küſſeſt. Sie machte ſich von ihr los und eilte auf dem Wege nach dem Schloſſe zurück. Sibilla folgte ihr langſam. Georg blieb an ihrer Seite. Beide wußten, was ſie einander ſagen wollten: er — Verſöhnliches, ſie — ewig Trennendes, und Beide ſannen darüber, wie ſie die Worte am beſten wählten. Er wollte das Verſöhnliche nicht zu weich vorbringen, ſie das Unverſöhnliche nicht zu hart. So gingen ſie ſchweigend nebeneinander her. Erſt als ſie in den Salon getreten waren und Sibilla ſich müde in ihren Lehnſtuhl geſchmiegt hatte, während er an der Säule des Brutus lehnte, wurde das Schweigen von ihm gebrochen. „Es iſt die Art der Frauen,“ begann er mit affectirter Ruhe, „die Schuld des Schickſals auf einen einzelnen ab⸗ zuwälzen. Eliſabeths Maßloſigkeit hatte mich ſchon damals abgeſtoßen und würde mich immer abſtoßen. Wäre ſelbſt ihre Geburt fleckenlos und wäre ich frei, ſie würde niemals meine Gattin werden. Die Worte, die Dich ſo ſehr ge⸗ kränkt haben, ſprach ich aus Mitleid für das unglückliche Mädchen.“ Sibillas weichverſchleierte Stimme klang noch ſanfter als ſonſt, als ſie antwortete: „Georg, ich bin auch un⸗ glücklich. Habe auch Mitleid mit mir. Ich glaube ja, 194 daß Du meinen Tod nicht wünſcheſt, und doch, wäre ich nicht — es wäre Dir lieber. „Du lebſt in Einbildungen, Sibilla. Laß uns einfach und vernünftig miteinander reden. „Ja, ganz einfach und vernünftig,“ ſagte ſie, „Georg es giebt ein ſo einfaches Mittel für Dich, frei zu werden. Laß unſere Ehe trennen. Zwiſchen uns iſt keine andere Gemeinſchaft mehr als die gegenſeitiger Abneigung. Warum wollen wir feindlich von einander ſcheiden! Es iſt ja nicht unſere Schuld, nicht Deine und nicht meine, daß wir uns nicht lieben können. Laß unſere Ehe trennen, ich bitte Dich herzlich darum.“ Georgs Züge drückten Erſchrecken, Zorn und Gering⸗ ſchätzung aus. „Eine Scheidung!“ fuhr er auf. „Höre ich recht? Du denkſt an Scheidung, weil ich ein uneheliches Mädchen nicht zu meiner Gattin machen konnte? Das iſt einfach lächerlich, lächerlich in den Augen aller Welt! „Du haſt wohl Recht. Das Gelächter der Welt iſt immer die Antwort auf die Thränen der Frau. Laß ſie nur lachen, ich bitte Dich doch, Georg; wie einer um ſein Leben bittet, ſo bitte ich Dich: laß' Dich ſcheiden. Die Natur ſelbſt . . . Er unterbrach ſie mit Härte: „Kommt mir nicht mit Eurer Natur! Natürlich, wie das Gute iſt auch das Böſe. Eine Krankheit iſt auch natürlich. Wir athmen ſie mit der Luft, wir nehmen ſie mit der Nahrung in uns auf und doch muß ſie aus unſerem Körper heraus, wenn wir leben ſollen. Und Du biſt krank. Ich habe niemals eine Pflicht gegen Dich verletzt. Du biſt freiwillig mein Weib geworden, Du wirſt es bleiben. 195 13* Freiwillig? Wußte ich denn, was die Ehe iſt? Ich war ein Kind, als man mich Dir gab! Ich bin nacht⸗ wandelnd in die Ehe getaumelt, ich habe genug geſchlafen und geträumt! Ich bin erwacht und will hinaus aus dieſem häßlichen Traum, zurück ins Leben! Ich will, ich will von Dir geſchieden ſein! „Ich aber will nicht. Ich ſtehe im öffentlichen Leben, Geſetze zu bringen, nicht ſie zu zerſtören. Das Auge der Nation iſt über mir. Ein ſo häßlicher „lecken wie eine Scheidung würde mich zwingen, mein Mandat niederzulegen und damit die Thätigkeit, die der Inhalt meines Lebens iſt. Und das Alles ſollte geſchehen um der nervöſen Ueber⸗ ſchwenglichkeit eines Weibes willen — nein, nicht eines Weibes, eines verſtandloſen Kindes . . . „Das bin ich nicht! Siehſt Du denn nicht, daß mein Herz todkrank iſt? Darum will ich geſchieden ſein, ich muß — muß fort von Dir!“ Sie hatte ſich aus dem Lehnſtuhl erhoben, ihm die gefalteten Hände entgegenſtreckend, kam ſie auf ihn zu. Die ſchweren blonden Flechten waren von ihrem Kopf gefallen und hingen am Rücken nieder. So hold und kindlich ſah ſie aus mit den Augen, die in Thränen ſchimmerten, viel zu liebreizend, um eine Scheidung zu er⸗ trotzen von dem Manne, der ſich immer tiefer von dieſem Liebreiz ergriffen fühlte. Ein unſinniges Verlangen erfaßte Georg, ihr die Thränen aus den Augen zu küſſen, ſie an ſein Herz zu ziehen und ihr zu ſagen: Sei ruhig, ſei ruhig, ich liebe Dich ja! Er bezwang ſich. Nie wieder wollte er unter die Herrſchaft eines Weibes gerathen. Er ſah fort von 196 ihr, in den Park hinaus, als er ihr antwortete: „Eine ſo grundloſe Scheidung, wie Du ſie verlangſt, wäre eine Verneinung der Ehe Genug des Böſen geſchieht. Mag es im Verborgenen geſchehen. Weh einer Zeit, wo es ſich frech an's Licht des Tages wagt! Selbſt eine ſchlechte Ehe ſoll nicht getrennt werden. Sie iſt wie ein Neſſusgewand, Du kannſt es abreißen, aber das Fleiſch geht mit in Stücke. Das läuternde Gefühl der Pflichterfüllung giebt ſelbſt einer liebeloſen Ehe Weihe. „Pflichterfüllung! Können Pflicht und Entehrung zuſammenfallen? Die Erfüllung von Pflichten, die einen reinen Sinn mit Schauder erfüllt, kann nicht gut ſein. Die Frau, die das geheime Weh einer unglücklichen Ehe fortſchleppt durchs ganze Leben, ſie mag der Welt ehrbar erſcheinen, dem eigenen Bewußtſein wird ſie zur — Dirne. Mein Gott, mein Gott, ſind wir denn um der Ehe willen geſchaffen, iſt ſie nicht vielmehr um unſertwillen da¹ Ihre Worte trafen ihn grauſam. Leidenſchaftliche Erbitterung gewann die Oberhand in ihm. Noch gelang es ſeiner ſtarken Willenskraft, darüber Herr zu werden als er antwortete: „Um unſertwillen — ja; damit die Geſellſchaft in reiner Geſittung ſich entfalte, nicht aber damit jeder Einzelne, der ſeinen kindiſchen Paradieſestraum in ihr nicht verwirklicht findet, daran rüttele. Das iſt das Unglück, daß ihr Frauen den Irrlichtertanz Eurer Sinne für ein unveräußerliches Menſchenrecht haltet und in blindem Zerſtörungstrieb an die Heiligthümer der Cultur Eure Hand legt. Ihr findet aber eine Schranke an dem Manne, der nach Begriffen handelt und nach Grundſätzen. „Was ſollen mir denn Worte und Begriffe und Grund⸗ 197 ſätze? Sie tödten mich! und ich will leben. Eliſabeth haſt Du Deinen Grundſätzen geopfert, ihre Mutter, ihr Vater ſind Grundſätzen geopfert worden; ſollen ſie auch mein Herz brechen? „Vergiß nicht, auch ich habe damals mein Herz einer ſittlichen Ueberzeugung geopfert. Der Einzelne hat immer Unrecht, die Geſellſchaft hat Recht. Wenn Du alle Ver⸗ nunft mißachteſt, ſo beuge Dich wenigſtens wie wir alle vor den Geſetzen, die heilig ſind. Sibillas Erregung ſteigerte ſich. „Warum heilig: Wer hat ſie gemacht? Irrende Männer. Sie machen uns zu Enterbten der Natur. Dieſe Geſetze ſind grauſam, uns feindlich. Iſt es nicht genug an dem Unheil, das ohne ſie die Welt erfüllt! Warum macht ihr Geſetz und Sitte zu Complicen eines erbarmungsloſen Geſchicks! Mein Gefühl verwirft ſie, mein Herz ſagt nein! und jeder Bluts⸗ tropfen in mir ſchreit: nein — nein — nein! „Ich ſtreite niemals mit Frauen.“ Georg ſagte das beinah mechaniſch. Er war verwirrt, wie geblendet. Aus ihren herbſten Worten ſchlug der Ton ihrer Stimme wie Muſik an ſein Ohr. Das war nicht mehr ſeine ſanfte, unterwürfige Gattin, das war ein wunderſchönes, leiden⸗ ſchaftliches Weib, das allmählig ganz von ihm Beſitz nahm, ein Weib, das ihm gehörte. „Wie ſchön Du auch biſt, ſagte er mit fliegendem Athem, „ich habe das Recht, Dir zu befehlen, Du haſt zu gehorchen. „Heißt gehorchen zur Vernunft ſagen: Verlöſche! zum Herzen: Poche nicht! zu den Sinnen: Schlaft!? Iſt das Weib denn nichts als ein lebendiger Schatten, den die Schöpfung wirft: 198 „Genug, übergenug der Worte! Ich verweigere ein⸗ für allemal die Scheidung!“ Er ſagte die letzten Worte faſt feurig wie eine Liebeserklärung. „Das kann Dein letztes Wort nicht ſein. „Es iſt mein letztes. Sibilla verſtand ihren Gatten nicht. Hätte ſie ver⸗ ſtanden, daß weit mehr noch als die Rückſicht auf ſeine Ehre die erwachte Liebe zu ihr ſeiner Weigerung die leiden⸗ ſchaftliche Schärfe gab, und hätte er es über ſich vermocht, ihr einfach und ehrlich zu ſagen, was er fühlte, vielleicht würde beider Schickſal eine andere Wendung genommen haben. Sibilla aber hatte ſich innerlich ſo vollſtändig von ihrem Gatten losgelöſt, daß er für ſie nichts mehr als eine Schranke war, die ſie vor ihrem Glück aufgerichtet fand, und er ſah in der Hingabe an das Weib den dämoniſchen Trieb, der ihn ſchon einmal an den Rand des Abgrunds geführt hatte. Noch einmal fragte ſie: „Kann nichts Dich bewegen: „Nichts!“ „So verlaſſe ich Dein Haus. „Um mit Gewalt zurückgebracht zu werden. „Mit Gewalt wie der geflüchtete Sklave. So iſt die Ehe ein Götzenbild, das ſich von lebendigen Herzen nährt: Georg antwortete nicht, er hatte kaum gehört, was ſie ſagte. Er blickte ſie nur an. Einer der blonden Zöpfe ruhte auf ihrer Bruſt; er hatte ſich an der Spitze gelöſt, und die goldig ſchimmernde Locke hielt ſeinen Blick wie mit einem Zauber feſt. Dieſe goldene Locke auf ihrer Bruſt zu küſſen, trieb ihn ein unſinniges Verlangen. Und daß er das nicht durfte — und ſie war doch ſein Weib 199 — was war das für ein Widerſinn. Er wollte der Fascinirung ſeiner Sinne nicht unterliegen und ging der Thür zu. Gedanken, ſchnell wie Pfeile, ſchoſſen durch Sibillas Kopf. Was hatte Eliſabeth geſagt? Es giebt Fälle, wo eine Scheidung für ihn zur Pflicht würde. Mit einem Mal wußte ſie, was Eliſabeth gemeint hatte. Sie ſtellte ſich gegen die Thür. „Warte — warte;“ Noch einen Augenblick kämpfte ſie mit ſich, dann war ſie entſchloſſen. „Nichts kann Dich bewegen? „Nichts! „Doch etwas! Um meinetwillen willſt Du Dich nicht ſcheiden laſſen, ſo thu es um — Deinetwillen! Du mußt es thun — mußt es .. Sie ſprach athemlos, und ihre Augen irrten unſtät in ihren Kreiſen. „Ich verſtehe Dich nicht! „Jage mich fort! Ich verdiene nicht, Deine Gattin zu ſein — ich — ich . . . Georg ſtarrte ſie ſprachlos an. Die Adern an ſeinen Schläfen ſchwollen an. „Warum willſt Du mich nicht verſtehen? Es iſt ſo furchtbar ſchwer, es zu ſagen .. . Ich habe einen Geliebten! Heftig und trotzig und zugleich zaghaft ſtieß ſie die Worte hervor. „Du haſt . . . „Ja, einen Geliebten! Du kannſt mir nicht verzeihen, Du darfſt es nicht — ich will es auch nicht! Jage mich fort! 200 Sie war in den Lehnſtuhl zurückgeſunken und kauerte ſich darin zuſammen, den Kopf im Polſter bergend, als erwarte ſie einen Schlag. Sie bebte am ganzen Körper. Georg beobachtete ſie ſcharf, ein faſt freudiges Lächeln flog über ſeine Züge. Er beugte fich zu ihr nieder, nahm ihren Kopf in ſeine beiden Hände, und wandte ihn ſo, daß ſie ihm in die Augen ſehen mußte. Flammende Röthe übergoß ihr Geſicht; mit kalter Entſchloſſenheit wollte ſie ſeinen Blick erwidern und ſenkte ihn doch verſchüchtert. Er wußte genug. „Du haſt gelogen. Warum ſpielſt Du dieſe un⸗ würdige Comödie: Sibilla war müde und gebrochen. „Ich haſſe die Lüge und muß doch immer wieder lügen. So war nun alles verloren. Nein, noch nicht! Noch einmal raffte ſie ſich auf. Sie trat dicht an Georg heran, ihre kleinen Hände ballten ſich, als wollte ſie in dieſen Druck all ihre Energie concentriren, und ihre Stimme wurde klar und ſicher. „Und bin ich nicht untreu, wie Du es denkſt, untreu bin ich doch; Ich bin ein Weib. Ihr ſagt ja, Liebe ſei unſere Beſtimmung, und ich — liebe; ja — ich liebe — aber nicht Dich. Ich liebe Oswald Normann — ihn liebe ich.“ Ihre Arme ſanken ſchlaff herab. Georg von Heeren, die Gegenwart, alles verſank vor ihr. Oswald ſtand vor ihrem inneren Auge. Um ihre Lippen ſpielte ein ſehn⸗ ſüchtiges Lächeln. In dieſem Augenblick glitt ein rother Sonnenſtrahl, der das Gewölk durchbrach, ins Zimmer und tauchte ihren Kopf wie in einen Glorienſchein. 201 Ein furchtbarer Jähzorn ſtieg in ihm auf, als er ſie ſo ſchön ſah, ein Jähzorn, gegen den er vergebens an⸗ kämpfte. Ein grauſames Verlangen ergriff ihn, dieſes Antlitz, dieſen Liebreiz zu zerſtören, der einem Anderen galt, eine zügelloſe Begierde, ihr Entzücken in Schmerz zu verwandeln, das Lächeln in einen Schrei. Er ſtürzte auf ſie zu nnd griff nach ihren Händen; ſie barg ſie auf dem Rücken, und ſeine taſtenden, zuckenden Finger legten ſich unwillkürlich um ihren zarten Hals und umſpannten ihn krampfhaft. Sie gab einen gurgelnden Laut von ſich. Entſetzt glitten ſeine Hände von ihrem Hals nieder, und er riß die holde Geſtalt an ſich, als wollte er ſie zerdrücken. Erſt als er ſah, daß ſie einer Ohnmacht nahe war, ließ er ſie frei. Scham und Zorn, daß er ſich ſoweit vergeſſen konnte, erfüllten ihn. Er ging haſtig im Zimmer auf und ab und rang nach Faſſung. Sie fühlte nichts als Widerwillen gegen ihn. Nach einer Pauſe, als Georg wieder Herr ſeiner ſelbſt zu ſein glaubte, ſagte er: „Ich bedarf der Erholung ich bin krank; ich leide an Anfällen von Schwindel, meine Heftigkeit eben iſt darauf zurückzuführen. Ich will reiſen ... „Reiſen? Auf lange?“ fragte ſie in höchſter Spannung. „Ja, mit Dir.“ „Niemals!“ Sie ſtreckte mit einer Geberde unver⸗ hohlenen Abſcheues die Hand gegen ihn aus. Die Gebärde entfeſſelte von Neuem ſeine Wuth, und mit erſtickter Stimme ſagte er langſam und drohend: „Es giebt Aſyle, wo man Gemüthskranke feſthält in ihren Pflichten — gegen ihren Willen.“ Und ſchnell, als wollte er ſich ſelber entfliehen, verließ er das Zimmer. 202 Sibilla hatte die Bedeutung ſeiner Worte nicht ge⸗ faßt. „Es giebt Aſyle, wo man Gemüthskranke . . . murmelte ſie vor ſich hin. Mit einem Mal verſtand ſie, daß er ein Irrenhaus gemeint hatte. Ein Schrei, ein Hilfruf entrang ſich ihrer gequälten Bruſt: „Oswald! Oswald!“ Eliſabeth hörte in ihrem Zimmer den Ruf. Sie eilte herbei. Sibilla warf ſich in ihre Arme. Sie ſagte ihr Alles, was zwiſchen Georg und ihr vorgefallen war. So erfüllte ſich nun, was Eliſabeth herbeigewünſcht hatte. Sie zweifelte nicht daran: früher oder ſpäter mußte Sibilla ihrer Leidenſchaft verfallen; Georg von Heeren aber. geſchieden oder nicht, ſeiner Ehre haftete fortan — nach ſeiner Auffaſſung — ein Makel an, ärger, viel ärger, als hätte er ein uneheliches Mädchen zu ſeiner Gattin gemacht. Warum blieb die Genugthuung, die ſie ſich von dem befriedigten Rachegefühl verſprochen, aus? Ihr war nicht wohl zu Muth. Dieſe Löſung, zum theil ihr Werk, war ſie nicht zu gewaltſam für das zitternde, ſchluchzende Ge⸗ ſchöpf, das ſie in den Armen hielt und das ſie allmählich zu lieben begann, in demſelben Maße, wie ihr Georg von Heeren gleichgültiger wnrde? Sie tröſtete die Weinende, ſo gut ſie konnte; ſie ſuchte ſie zu überzeugen, daß die Androhuug des Irren⸗ hauſes nichts als ein leeres, im Jähzorn ausgeſtoßenes Wort geweſen ſei. Am Abend vor dem Schlafengehen fand Sibilla in ihrer Taſche das Medaillon, das ſie vergeſſen hatte. Sie wollte es Eliſabeth ſofort bringen. Schon ſtand ſie an ihrer Thür, als ſie ſich anders beſann. Eine ſo entſetzliche 203 Waffe! Konnte Eliſabeth ſie nicht doch noch eines Tages mißbrauchen? Viel beſſer, ſie ſelbſt vernichtete das Gift; gleich am anderen Morgen wollte ſie es in den See ver⸗ ſenken, wo er am tiefſten iſt; die Freundin würde ihr nach⸗ träglich die Eigenmächtigkeit gern verzeihen. Eliſabeth hatte ihre Abreiſe verſchoben, ſie konnte ſich nicht entſchließen, Sibilla in ihrer gärenden Verzweiflung allein zu laſſen. Sie meinte, daß es ſich nur um wenige Tage handeln würde, das für alle Theile Unerträgliche konnte nicht andauern. Dem Schloßherrn zu begegnen, vermied ſie. Auch Felix und die Baronin litten unter der ſchwülen Atmoſphäre, die nach und nach das ganze Haus wie in einen trüben Nebel einſpann; vor allen litt Felix. Das wachſende Mitgefühl an Sibillas Geſchick und ſein un⸗ ruhiges Intereſſe an Eliſabeth erfüllten ihn gleicherweiſe mit Unbehagen. Heirathen wollte er um keinen Preis. Hinweg alſo mit all dieſen ſchlafraubenden, zweckloſen, er⸗ hitzenden Phantaſtereien! Er haßte den Kampf ums Daſein, ob er ſich nun als Kampf mit anderen oder mit ſich ſelbſt darſtellte. Seine Heiterkeit wurde ſprühend, gewaltſam, unnatürlich, er trank mehr Champagner als je, er wieder⸗ holte beſtändig ſeinen Lieblingsrefrain: „Es wird ſich alles finden.“ Umſonſt, ſeine Unruhe wuchs. Er beſchloß ab⸗ zureiſen. Die Baronin ſollte ihm einige Tage ſpäter folgen. Er kündigte den Verwandten ſeinen Entſchluß an; indem er es that, vermied er Sibillas Augen und ſprach ſcherzend die Hoffnung aus, daß ein gutes Reiſeglück ſie alle in der Schweiz oder in Venedig wieder zuſammenführen möchte. Schaudernd dachte Sibilla, daß, wenn alle fort wären, 204 ſie mit Georg allein ſein würde. Von der Reiſe hatte er nach jener ſchrecklichen Scene nicht mehr geſprochen. Ob er ſie aufgegeben hatte? Sie klammerte ſich an dieſe Hoffnung. Am zweiten Tage aber fragte er ſie in des Bruders und der Baronin Gegenwart, ob ihre Reiſevor⸗ bereitungen beendigt ſeien, ſie würden mit dem Abendzug des nächſten Tages abreiſen. Sibilla hörte, was er ſagte, und ſah Felix dabei an, mit Augen ſo voll heißer Bitte, voll flehender Verzweiflnng. Er zupfte ſie am Ohrläppchen und flüſterte ihr zu: „Es wird ſich alles, alles finden!“ und ſie wußte, daß von ihm nichts zu hoffen war. Der letzte Abend kam. Sibilla hatte ſich in ihr Zimmer zurückgezogen. Immer noch hatte ſie gedacht, es müßte etwas Unerwartetes geſchehen, ſie zu retten. Nun dachte und hoffte ſie nichts mehr, nur das eine wußte ſie, daß ſie mit ihrem Gatten nicht abreiſen würde, nie, nimmer⸗ mehr. Sie ſetzte ſich in der ſchwülen Auguſtnacht ans offene Fenſter. Bleiern lag es auf ihrer Seele. Was ſollte aus ihr werden? War es nicht doch vielleicht mög⸗ lich, ihres Bruders Rath zu folgen, ſich innerhalb der vier Wände von Georg zu ſcheiden und ihr Haus zu einem Kloſter zu machen, einem Kloſter, um darin zu ſchweigen, zu dulden und zu ſterben mit einer einzigen großen Andacht im Herzen: die Liebe zu Oswald. Sie fand in dieſen Phantaſien eine melancholiſche Wolluſt. Aber nein, auch das war nicht mehr möglich, ſeitdem Georg — ſie liebte. Ja, ſie wußte jetzt, er liebte ſie, wie ſie nie geliebt ſein wollte, mit einer ſo häßlichen Liebe, ſeine Küſſe brannten wie Gift in ihrem Blut. Er würde nicht dulden, daß ſie 205 ſich ſtill von ihm fortträume mit ihrem todesſüßen Schmerz im Herzen. Sie ſann und grübelte und fand keinen Aus⸗ weg. Allmählich verſank ſie in einen Halbſchlaf. Sie ſah, der breite, dunkle Raſen vor dem Fenſter wurde hell und heller, er wurde weiß und breitete ſich aus und dehnte ſich unermeßlich, bis er den Horizont berührte, eine einzige eiſige bleiche Decke. Ein halb verſcharrter Baumſtamm ragte dunkel aus dem Schnee. Der Himmel lag bleiern darüber, eine ſchwarzgraue, eherne Mauer, die die Schnee⸗ wüſte einſchloß. An einer Stelle öffnete ſich die Mauer, und hindurch brach die dunkelrothe untergehende Sonne, und ein glühender Strahl wanderte über das Schneefeld weiter und weiter, wie ein blutiger Streifen, bis er an den morſchen Baumſtamm kam, und wie der Strahl ihn traf, da ſprang ein Quell heraus, ein rother, ein Blutquell, und es war kein Baumſtamm mehr, aus dem unaufhalt⸗ ſam das Blut floß, es war ein Menſch. Auf dem bleichen unermeßlichen Schneefeld lag einſam und todt — Oswald. Mit einem Schrei erwachte Sibilla, in Angſtſchweiß gebadet. Weit öffnete ſie die Augen und lehnte ſich zum Fenſter hinaus. Er würde ſterben, einſam, qualvoll, auf den Schneefeldern Sibiriens. Der Mond trat hinter Wolken hervor. Sie ſah im Park einen Schatten ſich bewegen. Eine jähe, heiße Ahnung ſtieg in ihr auf. Kaum wiſſend, was ſie that, zündete ſie ein Licht an und trat damit ans Fenſter. Der Schatten näherte ſich ſchnell. Aus der Dunkelheit heraus erſchien ihr Kopf in dem Lichtkreis wie ein Heiligenbild, für den wenigſtens, der unter dem Fenſter ſtand. Oswald kniete da unten vor ihr auf der harten Erde und flüſterte Worte, die wie ein Gebet heraufklangen. 206 Sie löſchte das Licht, er ſah nichts mehr, er hörte aber ihre Stimme, die wie die Botſchaft eines Engels zu ihm niederſtieg: „Ich komme zu Dir — morgen — um drei Uhr.“ Sie ſchloß das Fenſter. Nun war alles entſchieden, beſiegelt, verſtummt alle Qual des Kämpfens und Ringens. Sie legte ſich nieder und ſchlief ſanft und ruhig bis in den Morgen hinein. Felix hatte ſchlecht geſchlafen, ein Fall, der ſeinen Grundſätzen ſchnurſtracks zuwiderlief. Sibilla trug die Schuld. Er ſah und las nie Tragödien, er wollte auch in den Augen ſeiner Schweſter keine leſen, darum fuhr er in der Frühe des Morgens fort, auf das Gut der Baronin, und hinterließ, daß er erſt um fünf Uhr zum Diner mit Frau von Heiden zurück ſein würde. Als er ſo in den Morgen hinausfuhr, lehnte er ſich bequem in die weichen Polſter zurück und nahm ſeinen Hut ab, um dem erfriſchenden Wind ſo viel Spielraum als möglich zu geben. So recht mit Behagen dachte er ſich der balſamiſchen Luft und der ſanft ſchaukelnden Bewegung des Fahrens zu erfreuen. Seine Gedanken aber gehorchten ihm nicht, ſie deſertirten und liefen immer wieder zu Sibilla zurück, zu Sibilla und Eliſabeth. Und einmal drängte ſich ihm die Erinneruug an Sibillas Gram ſo zudringlich auf, daß er dem Kutſcher befahl, umzukehren, er wollte zurück nach Arenſee. Nach einigen Minuten aber widerrief er den Befehl. Was für ein Thor war er, in das Schickſal anderer eingreifen zu wollen, wer weiß, ob nicht zu ihrem Unheil. Sollte er die Hand bieten, daß ſeine Schweſter die Gattin des aben⸗ teuernden Arztes würde und damit eine Ausgeſtoßene aus den Kreiſen, in denen allein, wie er annahm, das Leben 207 lebenswerth war? Ihre Abneigung gegen den Gatten hielt er für eine Caprice. Jede Frau von Welt und Geſchmack würde Georg von Heeren den Vorzug geben vor dieſem drapirten nihiliſtiſchen Windbeutel. Seines Schwagers Einfall, ſich mit Sibilla auf Reiſen zu begeben ſchien ihm jedes Lobes werth. Ganz aufeinander angewieſen, würden ſie ſich zweifellos ineinander finden. Ein Unwille ſtieg in ihm auf gegen dieſe ſogenannten tiefen Naturen, wie Sibilla eine war und Eliſabeth auch — Naturen, die ſich immer vor ein „Entweder — oder“ ſtellen und nicht ſehen wollen, daß das allein Richtige in dem Bindeſtrich zwiſchen beiden liegt. Er ſchüttelte lebhaft den Kopf, wie um ein läſtiges Inſekt los zu werden. Den Kutſcher trieb er an, ſchneller zu fahren, und wie die Pferde mächtig ausgriffen, ſchwand auch die nervöſe Unruhe ſeines Gewiſſens. Wäre Felix in Arenſee geblieben, er hätte Sibilla an dieſem Morgen kaum wiedererkannt. Roſig und erfriſcht war ſie erwacht. Als ſie ans Fenſter trat, ſah ſie Georg davonreiten. Sie ſah ihm nach ohne Haß, ohne irgend eine Erregung; was ging ſie der Mann da auf dem Pferde noch an! Wie ſie ſpäter erfuhr, war er fortgeritten, um vor der Abreiſe ſein Gut einer letzten und gründlichen Inſpection zu unterwerfen. Eines der Vorwerke lag ziem⸗ lich weit entfernt. Wie Felix hatte er hinterlaſſen, daß er vor Tiſch nicht zurück ſein werde, möglicherweiſe käme er auch ſpäter, man ſolle mit dem Diner nicht auf ihn warten. So ſchwand jede Schwierigkeit, die ſich Sibillas Vorhaben hätte in den Weg ſtellen können. In freudig fieberhafter Haſt lief ſie noch einmal, das letzte Mal, durch das Haus, durch die Zimmer, den Park. Es war ein pflichtſchuldiges 208 Abſchiednehmen, ohne Rührung oder Wehmuth. Es war ja gut, daß ſie dieſe langweiligen Alleen, dieſe rothen und blauen Blumenbeete, dieſe himmelblauen Polſter und eben⸗ holzſchwarzen Möbel nicht mehr zu ſehen brauchte. Als ſie vor dem Brutus ſtand, erhob ſie einen Augenblick den Arm, und eine Luſt wandelte ſie an, den verhaßten Kopf vom Poſtament zu ſtoßen. Der Brutus aber blickte mit ſo großem, finſterem Ernſt zu ihr nieder, daß ſie mit einer Art Furcht an ihm vorüberſchlich. Um zwölf Uhr früh⸗ ſtückte ſie mit Eliſabeth und war ſo geſprächig, lebhaft und liebevoll, daß die Freundin nicht wußte, was ſie davon denken ſollte. Sie hatte im Weſen und im Ausdruck etwas von einer Braut, Freudiges und Banges, Zögerndes und Ueberhaſtetes, und durch alle Unruhe hindurch pulſirte eine heimliche Wonne. Eliſabeth forſchte ängſtlich in Sibillas Zügen und be⸗ drängte ſie mit Fragen. Sibilla lachte nur und beruhigte ſie: über Nacht wäre ihr ein ſo glückſeliger Einfall ge⸗ kommen, morgen würde ſie Alles erfahren, vielleicht ſchon heute Abend, aber früher gewiß nicht. Eliſabeth blieb unruhig. Sie nahm ſich vor, Sibilla nicht aus den Augen zu laſſen. Auch mit Felix wollte ſie ernſt und eingehend über die Schweſter reden. Es war eine unangenehme Enttäuſchung für ſie, als ſie erfuhr, daß er fortgefahren war. Nach dem Frühſtück ſchrieb Sibilla in ihrem Zimmer an Eliſabeth; ſie nahm in dem Brief einen liebevollen Ab⸗ ſchied von ihr und trug ihr zugleich tauſend Dinge zur Beſorgung auf, die ſich auf ihre Garderobe, auf die Armen im Dorfe, auf Felix und manches andere bezogen. Dann H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 14 209 kleidete ſie ſich für die Reiſe an. Sie hatte ein dunkles Kleid zurechtgelegt, konnte ſich aber im letzten Augenblick nicht dazu entſchließen und wählte ein anderes von lichteſtem Roſa; an die Bruſt ſteckte ſie einen Strauß heller Roſen. Einen leichten Strohhut auf dem Kopfe und einen grauen Staubmantel über dem Arm, ſo ging ſie in den heißen Sommernachmittag hinaus. Sibilla wählte den weiten Umweg durch den Wald, um auf der Landſtraße nicht Dorfbewohnern zu begegnen. Am tiefblauen Himmel ſtand ein weißer Wolkenkegel un⸗ beweglich; dennoch ſchien die Luft weniger ſchwül als in den letzten Tagen, ein leichter Wind wehte hier und da Blüthen auf ſie nieder. Es war ein Spielen, Koſen und Funkeln im Wald. Aus ſchwellendem Moos ſprießten Vergißmeinnicht; um zarte grüne Birken, die wie heitere Kinder zwiſchen den ernſten Buchen ſtanden, gaukelten Schmetterlinge. Wie ſchön war es zu leben! Und Sibilla lebte! Ein Zug bacchantiſcher Freude war ihrer fiebernd blühenden Lebensluſt beigemiſcht. Nur etwas ſchreckhafter als ſonſt war ſie; wenn ein Vogel plötzlich aufflog, fuhr ſie zuſammen. Einmal rief ſie Oswalds Namen in den Wald hinein, und als ein Echo ihr antwortete, erſchrak ſie auch darüber. Sie pflückte ab und zu eine Blume und drückte in überquellender Zärtlichkeit ihre Lippen in den Kelch; ſie legte ihre Wange an einen Baumſtamm und lauſchte dem Geſang eines Finken, der in den Zweigen ſchlug, oder ſie ſang abgeriſſene Töne eines Liedes. Zu⸗ weilen durchzuckte es ſie wie ein glühender Schreck, daß ſie auf dem Wege ſei — zu ihm. Dann athmete ſie hoch auf und lief wohl eine Strecke, ſo ſchnell ſie konnte, ihm 210 entgegen — entgegen. Allmählich ging ſie langſamer; es war doch heißer, als ſie gedacht hatte. Und dann — wer vor einer großen Entſcheidung ſteht, wenn ſie noch ſo ver⸗ heißungsvoll iſt, zögert gern. Unter einem morſchen Baumſtamm, der von wilden Roſen umſchlungen war, ſtand eine Bank. Als Sibilla, um auszuruhen, ſich auf die Bank geſetzt hatte, hörte ſie plötzlich durch das Summen der Inſekten und das Trillern der Vögel hindurch einen eigenthümlichen Ton, wie der ein⸗ tönige Schritt eines Menſchen, der ſich eilig naht: tap — tap — tap. Sie hob den Kopf und horchte. Was war das? Es ſchien näher zu kommen. Mit einemmal mußte ſie lachen. Ein Holzſpecht war's, da in der Tanne ihr gegenüber. Sie hatte nie vorher bemerkt, daß ſein Ruf etwas Unheimliches hatte. Jetzt fand ſie es. Ein Anfall von Angſt ſchnürte ihr das Herz zuſammen. Sie ging ſchnell weiter, ſie wollte nichts gegen den Geliebten auf⸗ kommen laſſen. Inzwiſchen war der Wolkenkegel, der anfangs unbe⸗ weglich ſchien, lebendig geworden; er ſtieg höher, wurde größer und breiter, und ein dumpfes Rollen, wie der Ruf eines Warners, ließ ſich hören. Die Natur vernahm ihn; ſie hielt den Athem an, und mit einem Schlage war alles verändert. Ein Schauern ging durch den Wald, dann Grabesſtille. Die Wolken, die immer ſchwärzer wurden, ballten ſich zuſammen, breiteten ſich über den ganzen Horizont; hier und da noch ein gleitender Sonnenſtrahl dann erloſch auch er. Sibilla hüllte ſich in den Staubmantel und ſchritt ſchnell aus, um noch vor dem Ausbruch des Gewitters 14* 211 die Hütte, der ſie zuſtrebte, zu erreichen. Das Unwetter aber holte ſie ein. Die Bäume begannen zu rauſchen, erſt leiſe, dann immer mehr anſchwellend, bis der Sturm in ihren Zweigen raſte und die losgeriſſenen Blätter in toller Jagd fortwirbelte. Scharen von Vögeln flogen kreiſchend davon, Wolken ſchifften in raſender Eile über den Himmel, als ob ſie ſich aus einem Schiffbruch retten wollten. Grelle ſchwefelgelbe Blitze zuckten flammend durch das Ge⸗ wölk. Ein heulender Windſtoß riß Sibilla den Hut vom Kopf und trug ihn weit fort, daß ſie ihn nicht mehr er⸗ reichen konnte. Sie zog die Kapuze des Mantels über den Kopf und kämpfte ſich mühſam vorwärts; dieſer Kampf mit dem Gewitterſturm war ihr faſt eine Luſt, als kämpfte ſie um Oswalds willen, für ihn, um ihn. So gelangte ſie an den Kirchhof. Sie wunderte ſich, daß das Thor, das gewöhnlich geſchloſſen war, offen ſtand. Sonſt vermied ſie gern dieſen melancholiſchen Ort. Heute aber, wenn ſie quer über den Kirchhof ging, kürzte ſie ihren Weg ab und durfte hoffen, vor dem erſten Regen⸗ guß ihr Ziel zu erreichen. Das entſchied. Kaum aber hatte ſie einige Schritte innerhalb des Kirchhofes ge⸗ than, ſo ſah ſie in geringer Entfernung eine Gruppe von Leuten ſtehen. Sie zauderte einen Augenblick, der Regen aber, der jetzt anfing niederzuſtrömen, trieb ſie vorwärts. Sie mußte dicht an der Gruppe vorüber. Es war ein Leichenbegängniß. Ein Dutzend Bauern und Bäuerinnen ſtanden um eine offene Gruft. Ein kleiner Sarg ſollte eben in die Tiefe gelaſſen werden. Die Leute hatten alle ihre Regenſchirme aufgeſpannt und ſtanden mit krummen Rücken aneinander gedrängt. Mit mürriſchen Lippen 212 murmelten ſie Gebete. Einige Bauern wandten ſich bei Sibillas Annäherung um. Zu ihrer Verwunderung aber ſahen ſie gleich wieder fort. Hatten die Leute ſie nicht er⸗ kannt? Kannte ſie doch jeden einzelnen, nur die Frau nicht am Rande der Gruft, die in ihr Taſchentuch hineinſchluchzte. Wer war nur geſtorben? Ein Kind. Sie hatte von keinem Todesfalle gehört. Wie der kleine armſelige Sarg jetzt in die Gruft ſank, klatſchte der Regen darauf, als klopfe Jemand auf den Deckel, der dem Todten da drinnen noch etwas zu ſagen hätte. Die Bauern griffen in die friſch⸗ geſchaufelte Erde, um, nach frommem Brauch, die erſten Schollen auf den Sarg zu werfen. Auch Sibilla bückte ſich unwillkürlich und nahm eine Handvoll Erde auf. In demſelben Augenblick erhob die ſchluchzende Frau ihr Ge⸗ ſicht. Mit einem Sprung ſtand ſie neben Sibilla, hielt ihren Arm auf und ſchüttelte ihn, daß die Erde zu Boden fiel, auf Sibillas eigene Füße. „Ihr ſollt keine Erde auf meine Gret werfen, Ihr nicht! Warum kommt Ihr zum Leichenbegängniß, da Ihr doch ſchuld ſeid, daß das Kind todt iſt?“ Der Schmerz hatte der ſonſt ſo kümmerlichen Frau eine düſtere Würde verliehen. Sibilla meinte, daß der Kummer ihr den Verſtand verwirrt, und zitternd vor Mitgefühl ſtammelte ſie: „Gretchen todt! Wie iſt das möglich? Sie war doch faſt geſund!“ „Wie das möglich iſt,“ kreiſchte die Bäuerin. „Fragt doch Euren ſchönen Doktor, der nimmer gekommen iſt und ſich nicht gekümmert hat, ob meine Gret lebt oder todt iſt! Und in der Nacht, als der Rückfall kam, da konnte 213 keine Seel' ihn ausfinden, weil er die ganze Nacht im Park geſtanden iſt, oder — nicht weit davon! Alle wiſſen's, Alle, und Ihr — erſt recht!“ Und drohend hob das Weib den Arm auf gegen Sibilla: „Die Erde da auf Euren Füßen ſoll Euch ſchwer werden!“ Der Vater des todten Kindes, ein nüchterner, ſtiller Mann, nahm ſein ungebärdiges Weib bei der Hand und wies ſtumm auf die offene Gruft. Die Bäuerin ſchwieg in bitterer Scham. Die Bauern ſtimmten einen Choral an. Nach Sibilla blickte Niemand mehr um. Sie ſtürzte vorwärts — nein, zurück, unwillkürlich zurück. Sie wollte zu Oswald und flüchtete dem Schloſſe zu, durch den feuchten, ſchwülen Nebeldampf, der den Wald jetzt einhüllte. Und als der Choral hinter ihr verklungen war, hörte ſie nichts mehr als den eigenen keuchenden Athem, den leiſe ſickernden Regen und das tap — tap des Spechtes Sie ſchleppte eine Laſt mit ſich fort. Waren es die ſchweren naſſen Kleider, oder die Mitſchuld an dem Tode des Kindes, oder auf den Füßen die Handvoll Erde, die ihr ſchwer werden ſollte? Inzwiſchen war im Schloß Sibillas Abweſenheit be⸗ merkt worden. Anfangs hatte man ſie auf einem Spazier⸗ gang vermuthet; als aber das Gewitter losbrach und ſie immer noch nicht zurückkam, wurde Eliſabeth von Unruhe ergriffen. Boten wurden ausgeſchickt in's Dorf und in den Wald, um ſie zu ſuchen. Sie mochten eine halbe Stunde unterwegs ſein, als Felix und die Baronin in den Schloßhof⸗fuhren. Beide fanden in dem verlängerten Aus⸗ bleiben Frau von Heerens keinen Grund zur Beſorgniß. Das Gewitter, vor dem ſie irgendwo Schutz geſucht haben 214 mochte, erklärte die Verſpätung ausreichend. Die Arenſeer Wälder wären keine Abruzzen, und die wildeſten Thiere im Forſt ſeien zahme Wildſchweine, meinte Frau von Heiden, ein Unglück könnte der Schloßfrau alſo nicht zugeſtoßen ſein. Unmuthig bemerkte ſie, daß Felix der Geſellſchafterin etwas zuflüſterte. Sie forderte dieſelbe auf, ſich zu er⸗ kundigen, ob noch keiner der Boten zurück ſei. Eliſabeth, die eben einen der ausgeſchickten Diener durch den Park kommen ſah, verließ eilig das Zimmer. „Sie haben eine wahre Paſſion, die intereſſante Eliſabeth fortzuſchicken,“ wendete ſich Felix ſpöttiſch zur Baronin. „Sie möchten mich wohl lieber wegſchicken, Treu⸗ loſer: „Allerſchönſte Venus . . . Und Sie, Tannhäuſer? — Mit Ihrem Baß: Muß man einen Tenor haben, um Gewiſſensbiſſe zu fühlen? „Und die lange und langweilige Eliſabeth ſoll Sie aus dem Sündenpfuhl retten? „Sie würden ihr ja doch zuvorkommen und mich aus dem Venusberg verjagen, und wär's auch nur aus Aerger und Eiferſucht.“ „Aerger? Eiferſucht? Unſinn! Sentimentalität iſt meiner Natur nur in ſehr minimaler Quantität beigemiſcht, und Aerger macht mir jedesmal Migräne. Uebrigens haben Sie gar kein Talent zum Tannhäuſer, Sie kommen doch immer wieder zu mir zurück. Er lachte. „Wir ſind Menſchen,“ meinte ſie heiter und liebens⸗ 215 würdig, „das heißt Bewohner eines höchſt untergeordneten Planeten, auf dem ewige Gefühle nicht fortkommen. Freien Sie um Ihre Eliſabeth. Meinen Segen haben Sie Alſo“ — ſie reichte ihm die Hand — „Freunde, nur Freunde — bis auf weiteres. Er zog ihre Hand an ſeine Lippen. „Sie ſind doch eine reizende Frau . . „St!“ unterbrach ſie ihn lachend und mit dem Finger drohend, „ich ſage es der heiligen Eliſabeth wieder.“ Eliſabeth trat erregt mit einer beunruhigenden Botſchaft ein. Leute aus dem Dorfe hätten Frau von Heeren um drei Uhr auf dem Kirchhof beim Begräbniß der kleinen Grete Feldmann geſehen. Sie habe Sibilla abſichtlich den Todesfall verſchwiegen, da dieſelbe in den letzten Tagen leidend geweſen und ſie ihre krankhafte Aufregung nicht habe ſteigern wollen. Durch einen der Dienſtleute müſſe ſie vom Tode des Kindes erfahren haben. Jetzt ſei es fünf Uhr, ſie müßte längſt im Schloſſe ſein. Felix fing an, Eliſabeths Beſorgniß zu theilen. Während ſie berathſchlagten, was zu thun ſei, ſagte die Baronin plötzlich ganz ruhig: „Sollte Frau von Heeren vielleicht mit Oswald Normann davongegangen ſein: Felix fuhr zornig auf; er ſah Eliſabeth an, die ſehr blaß geworden war. Unmöglich,“ ſtotterte er, „meine Schweſter, die . . . „Eine Schwärmerin iſt,“ unterbrach ihn Frau von Heiden. „Solche Naturen pflegen mit dem Kopf durch die Wand zu rennen, während die offene Thür daneben ſie bequem zum Ziel führen könnte. Felix war entrüſtet über die Art, wie Frau von 216 Heiden von ſeiner Schweſter ſprach. Er verwies es ihr, etwas von oben herab. Sie antwortete gleichmüthig, daß ſie ſeinen Verdruß begreife; ſolche Geſchichten träfen immer ein wenig die Verwandten mit, ein Skandal ſei wie ein Stein, den man in's Waſſer werfe und der weite Kreiſe in Mitleidenſchaft ziehe. Uebrigens wolle ſie nicht die Taktloſigkeit begehen, ſich zur Zeugin unvermeidlicher und peinlicher Familenſcenen zu machen. Sie würde zu Hauſe ſpeiſen. Felix hielt ſie mit keinem Wort zurück, als ſie ging. Schon auf der Schwelle, ſagte ſie mit lächelnder Bosheit halblaut zu Eliſabeth: „Er heirathet Sie doch nicht. Speculiren Sie lieber auf Herrn von Heeren — nach der Scheidung — oder auf die alte Excellenz. Bonne chance! Und zu Felix gewendet: „Sie dürfen morgen um ſechs Uhr bei mir ſpeiſen. Ich laſſe die Poularde trüffeln. Als ſie fort war, trat Felix ſchnell auf Eliſabeth zu: „Halten Sie es für möglich? Sie wußte, was er meinte. „Ja,“ ſagte ſie beklommen, und ſie theilte ihm mit wie unerklärlich ſeltſam Sibilla ſich am Vormittag ge⸗ zeigt habe. Ein großer Unwille gegen die Schweſter ſtieg in Felix auf. Wie konnte ſie Georg von Heeren einen ſolchen Schimpf anthun, dem Manne, den ſie aus Liebe geheirathet! „Das hat ſie nicht.“ Felix ſah Eliſabeth erſtaunt an. „Nicht? Aus welchem Grunde denn: Eliſabeth, die Felix in ſeinem Gleichmuth und ſeiner Gewiſſensruhe verletzen wollte, ſagte mit ſchneidendem Hohn: 217 „Mit ihrer Mitgift wollte ſie Ihre Schulden be⸗ zahlen. Das konnte ſie nur verheirathet und mit Ein⸗ willigung des Gatten. Herr von Heeren willigte ein — vor der Verlobung. Felix zuckte zuſammen. Die Röthe der Scham ſtieg ihm in's Geſicht, ſeine elaſtiſche Geſtalt beugte ſich unwill⸗ kürlich. Die Verkettung ſeiner und Sibillas Verſchuldung ſtand klar vor ſeinem inneren Auge, Glied für Glied; ſeine Frivolität war das erſte Glied und das letzte; er mochte nicht daran denken. „Was ſoll ich thun?“ fragte er beinah' ſchüchtern, ohne Eliſabeth anzuſehen. Sie wollte, das er ſofort, aber ſofort Oswald auf⸗ ſuche; vielleicht wäre es noch nicht zu ſpät, aber die höchſte Eile thue noth, Georg von Heeren könne jeden Augenblick zurück ſein. Er griff nach ſeinem Hut; ſie reichten ſich ernſt und herzlich die Hände. Sie begegneten ſich in demſelben Ge⸗ fühl von Angſt und Liebe für Sibilla, und ſie las in ſeinen Zügen zum erſtenmal eine wahrhafte Erſchütterung. Eliſabeth blieb, nachdem er gegangen war, am Fenſter ſtehen und wartete. Es war eine Folter für ſie, dieſes unthätige Abwarten. Das Wetter hatte ſich inzwiſchen völlig aufgeklärt. Warmes Sonnenlicht fluthete über Schloß und Park. Vergebens ſuchte Eliſabeth ſich einzureden, daß mit oder ohne ſie Alles ſo gekommen wäre, wie es nun gekommen war. Sie wußte doch, ſie hätte das Unheil verhüten, ſie hätte das Verhältniß zwiſchen den beiden Gatten ganz anders geſtalten können. Ihr Haß, der den Schuldigen 218 erreichen ſollte, zuckte jählings nieder wie der Blitz und traf den Unſchuldigen. Es hielt ſie nicht mehr im Zimmer. Sie wollte in's Freie. Auf der Schwelle der Thür fand ſie Sibilla, durch⸗ näßt, von Froſt geſchüttelt, todtenbleich. Mit einem hellen Schrei der Freude umfing Eliſabeth die Erſchöpfte. Halb führte, halb trug ſie ſie in's Neben⸗ zimmer. Sie holte andere Kleider herbei, ſie löſte ihr die naſſen Flechten, trocknete das Haar und wand ein leichtes Tuch darum. Sie zog ihr Schuh und Strümpfe aus, kleidete ſie um und bediente ſie demüthig, haſtig, mit zitternden Händen, und dazwiſchen nahm ſie ſie wieder und wieder in die Arme und küßte ſie, und fragte nichts und ſagte ihr nur liebkoſende Worte, ganz wie man ein krankes Kind behandelt. Sibilla ließ apathiſch alles mit ſich geſchehen; nur als Eliſabeth ſie überreden wollte, ſich in's Bett zu legen, widerſetzte ſie ſich. Sie wollte zurück in den Salon. Und erſt als ſie im weichen Morgenkleid, mit dem Tuch um den Kopf, im Polſter ihres Lehnſtuhls ruhte, ſchien das Leben zurückzukehren. Ihre Lippen waren trocken, ſie ver⸗ langte zu trinken. Eliſabeth ſchellte nach dem Diener und ließ aus dem Speiſezimmer Gläſer und den Champagner bringen, der für Felix beſtimmt geweſen war. Mit Be⸗ gierde trank Sibilla ein Glas davon und verlangte ein zweites; ſie hatte es ſchon an die Lippen geſetzt, als Eliſabeth es ihr in der Beſorgniß wieder entzog, daß es der Kranken ſchaden könne. Ein roſiger Hauch breitete ſich über Sibillas Geſicht. Eliſabeth wollte die Vorhänge ſchließen, damit das Licht 219 ſie nicht blende; ſie ließ es nicht zu, als könne ſie nicht Sonne genug haben. Sie lächelte die Freundin dankbar an und ſchloß die Augenlider. Da ſie ſtill in ſich ver⸗ harrte, glaubte Eliſabeth, ſie ſei eingeſchlafen. Sie hörte im Nebenzimmer Felix' Stimme und wunderte ſich, daß er ſchon zurück ſei. Sie ſchlich auf den Fußſpitzen hinaus und zog leiſe die Thür hinter ſich zu. Felix hatte bereits von dem Diener erfahren, daß Sibilla im Schloß ſei. Eliſabeth beruhigte ihn über den Zuſtand der Schweſter; ſie ſei eingeſchlafen, und der Schlaf werde ihre erſchöpften Kräfte wieder herſtellen. Sie winkte ihm, ihr in den Park zu folgen. Felix theilte ihr mit, daß er Oswald auf dem Wege zum Schloß getroffen und zwar in Begleitung eines unheimlich und verdächtig aus⸗ ſehenden Subjekts. Aus ſeinen verworrenen Reden habe er geſchloſſen, daß er Sibilla vergebens erwartet, daß er von ihrer Anweſenheit bei dem Begräbniß gehört und daß er jetzt die fixe Idee habe, es ſei ihr irgend etwas Ent⸗ ſetzliches zugeſtoßen. So ſei er mit ihm gekommen und warte am Ausgang des Parks auf Nachricht von ihr. Im Geſpräch ſchritten beide tiefer in den Park hinein, eingehend und mit liebevoller Sorgfalt Sibillas Geſchick erwägend. Daß ein energiſches Eingreifen noth thue, um ſie vor ſich ſelber zu ſchützen, darüber waren ſie einig. Sie kamen zu einem Reſultat: Felix ſollte am nächſten Tage mit der Schweſter nach der Schweiz oder Italien abreiſen und ſo lange dort mit ihr verweilen, bis ſie das Gleichgewicht ihrer Seele wiedergewonnen. Eine ſolche zeitweilige Trennung von Georg von Heeren ſchien die einzige Möglichkeit für eine ſpätere Ausſöhnung der Gatten 220 zu bieten, die beide für wünſchenswerth hielten. Felix über⸗ nahm es, die Einwillung Heerens zu erlangen. Schon einigemal hatte Eliſabeth umkehren wollen, er hielt ſie immer mit neuen Fragen zurück. Mit dieſem ſchönen, ſtolzen Weſen zu einem edlen Thun, einem ſelbſt⸗ loſen Handeln verbündet zu ſein, war für ihn eine neue köſtliche Empfindung, und es kam ihm ein dämmerndes Bewußtſein, daß es doch wohl in der Tiefe des Gemüths⸗ lebens Saiten gäbe, die, angeſchlagen, in reicherer Harmonie erklängen und einen volleren Genuß gewährten als die be⸗ ſchränkte Skala, auf der bisher ſeine Freuden ſich abge⸗ ſpielt hatten. Die ſcheidende Sonne ſtreute goldene Funken auf den Weg, über die Baumkronen und die Geſtalt ſeiner Ge⸗ fährtin, und während ſie mit ihm von dem krankhaft ſchwärmeriſchen Sinn der Schweſter ſprach, den er zu ſchonen hätte, ſagte er plötzlich unvermittelt: „Sie müßten, anſtatt ſchwarz, immer weiß gekleidet gehen, Eliſabeth. Wenn Sie im weißen wallenden Ge⸗ wand, im Purpur der untergehenden Sonne mir in dieſer Allee entgegenkämen, Sie würden mir wie eine Prieſterin erſcheinen, die aus ihrem Tempel niederſteigt, und ich würde mich nicht wundern, wenn Ihre Lippen von Orakel⸗ ſprüchen trieften, und am Wege würde ich ſtill ſtehen und zu Ihnen beten. Eliſabeth blieb ſtehen und maß ihn mit einem Blick trüben Staunens. „Felix, es handelt ſich um die Exiſtenz Ihrer Schweſter, und Sie ſagen mir etwas, das wie ein Kompliment klingt. Ich wußte es ja, bis jetzt waren Ihre Empfindungen 221 nichts als Abenteuer Ihrer Phantaſie oder Ihrer Sinne. Iſt denn auch die Liebe für Ihre Schweſter nichts anderes: Felix ſchwieg unmuthig. Es war dämmerig geworden. Eliſabeth erſchrak, als ſie es bemerkte. Sibilla konnte erwacht ſein, konnte ihrer bedurft haben. Als ſie ſich ſchnell von Felix verabſchiedete, glaubte ſie die Stimme Georg von Heerens zu hören, die nach ihr rief. Felix erinnerte ſich jetzt auch Oswalds. Er fand ihn nicht mehr an dem Ort, wo er auf ihn hatte warten wollen. Während Felix und Eliſabeth im Park waren, lag Sibilla, wie am Abend vorher, in einem Halbſchlaf. Sie glaubt draußen im Park zu ſtehen und ſpäht nach Oswald aus. Aus der Ferne ſieht ſie ihn herankommen; ſie will ihm entgegen, ſie kann nicht von der Stelle, die Erde iſt noch auf ihren Füßen. Sie will ſie abſchütteln, der Erd⸗ haufen wächſt. Da ſieht ſie, es iſt das todte Gretchen, das aus leeren Augenhöhlen ſie anſtarrt und mit wachs⸗ bleichen Händchen die Erde ſchaufelt. Und immer höher wird der Hügel; ſchon reicht er ihr bis an die Bruſt, und Dornen und Geſtrüpp wachſen aus dem Staube heraus, ſo dicht um ſie her, daß ſie nichts ſieht als das Geſtrüpp und nichts hört als das eintönige Schaufeln, das wie der Ruf des Waldſpechts klingt: tap — tap — tap. Sie glaubt zu erſticken. Da biegt jemand das Geſtrüpp aus⸗ einander. Blühende Lippen nähern ſich den ihren . . und der Erdhügel verſinkt und die Dornenhecke und das todte Kind, und ein lieblich wildes, wunderſames Feuer durch⸗ dringt ſie vom Scheitel bis zur Sohle. Sie öffnet die Augen. Vor ihr ſteht wirklich Oswald. 222 Sie fällt an ſein Herz und ſie küſſen ſich, zum erſtenmal, in tiefer, weltvergeſſender Leidenſchaft. Es ſind nur ab⸗ geriſſene Worte, die ſie ſtammeln: „Nun biſt Du mein und ich bin Dein, und wir ſind unzertrennlich.“ Er löſt ihre Hände von ſeinem Hals, um beſſer in ihr ſüßes Ge⸗ ſicht ſehen zu können. Sie umklammert ihn von Neuem. „Halte mich feſt! Sage mir, daß Du mich liebſt ſage es mir hundertmal, ſage es mir tauſendmal; ich glaube, ich ſterbe, wenn ich es nicht mehr höre!“ Sie fragt ihn, ob ſie nichts für ihn thun kann? ob ſie mit ihm fliehen ſoll oder bleiben? Sie begreift nicht, wie ſie ſo lange, all die Jahre ohne ihn hat leben können. Es iſt nun gekommen, worauf ſie gewartet hat — das Leben. „Du biſt's! Du biſt's!“ jauchzt ſie in leiſen, ſeligen Tönen. Als er ſprechen will, ſchließt ſie ihm die Lippen mit ihrer Hand. „Sprich nicht! ſprich nicht! Nur das Licht Deiner Augen, laß es mich trinken. — Sprich doch! ſprich doch ſagt ſie dann; ſie iſt wie berauſcht. Dann reden ſie nichts mehr. Sie halten ſich in der beginnenden Dämmerung umſchlungen. In einem Strom unermeßlicher Zärtlichkeit fluthen ihre Seelen dahin zum Paradies. Von draußen tönt das traurige Tap — tap des Vogels, ſie hören es nicht. Sie hören auch nicht, daß die Thür aufgeht, ſie ſehen nicht, daß Georg von Heeren auf der Schwelle ſteht, und erſt als er mit dem Ausdruck jäher Drohung Sibillas Namen ruft, ſchrecken ſie empor. Sibilla preßt ſich nur feſter an den Geliebten, ſie verbirgt ihr Geſicht an ſeiner Bruſt und zittert wie ein Blatt im Sturm. Oswald verſucht, ſie ſanft von ſich loszulöſen. 223 blinden Jähzorn, der in ihm aufſteigt, nieder. Der Hohn Georg ſteht noch auf der Schwelle. Er kämpft den muß ihm helfen. Seine Stimme tönt heiſer, als er Oswald zuruft: „Hinaus, Elender! Man könnte Mitleid mit Ihnen haben! Der Anblick iſt zu kläglich — ein er⸗ tappter Ehebrecher!“ Oswald iſt es gelungen, Sibillas Arme von ſeinem Hals zu löſen, liebevoll läßt er ſie in den Lehnſtuhl gleiten; dann tritt er mit bewußter, kraftvoller Ruhe Herrn von Heeren entgegen: „Ich verachte Ihren ſchnöden Hohn! Ich habe keine Ehe gebrochen, Ihre Ehe war keine Ehe, ſie war nichts als ein ſchmählicher Einbruch in das Heilig⸗ thum eines jungfräulichen Herzens! Georg lacht auf: „Der Dieb ſchilt den Eigenthümer Räuber! Unerhört originell! Hinaus, ſage ich! Oswald faßt Sibillas Hand: „Sie iſt mein, ſie geht mit mir.“ Georg blickt um ſich, als ſuche er eine Waffe, ihn niederzuſchlagen. Plötzlich ſcheint er ſich an etwas zu er⸗ innern. Er ſtürzt auf das Schränkchen zu, das in einer Ecke des Salons ſteht. Sibilla erräth ſeine Gedanken, ſie reißt ihre Hand aus der Oswalds und ſtellt ſich vor das Schränkchen. Georg zögert ſie gewaltſam fortzudrängen. Er weiſt noch einmal nach der Thür: „Mit dem Rechte des Gatten — hinaus! „Ihr Recht iſt brutal, es iſt das Recht des Henkers! Sibillas Herz gehört Ihnen nicht! Ihr Leib ſchaudert vor Ihnen zurück! Sklaverei iſt immer infam . . . 224 „Schweigen Sie! Unſere Piſtolen werden richten. „Ich tödte Sie. Sibilla, die ſich von dem Schränkchen nicht fortrührt, bittet Oswald mit flehentlichen Geberden zu gehen. Und er geht, mit der Verzweiflung im Herzen, die Geliebte in der Gewalt eines Feindes zurücklaſſen zu müſſen. Sibilla tritt an's Fenſter, und wie Oswald die Allee des Parkes hinabſchreitet, ſieht ſie ihm mit einem Ausdruck ſtiller Verzückung nach. Georg nähert ſich ihr. „Höre mich! „Ich habe Dir ja geſagt,“ antwortet ſie, ohne ihre Blicke vom Park fortzuwenden, „daß ich ihn liebe; ich kann nichts thun, ihn nicht zu lieben. Er ſchüttelt ihren Arm. „Ehrloſe!“ Sie ſtreift wie im Widerwillen mit der Hand über den Arm, den er berührt hat, und blickt dann wieder hinaus mit demſelben verzückten Ausdruck. Georg öffnet das Schränkchen. Er holt einen Piſtolen⸗ kaſten heraus, ſtellt ihn auf den Tiſch, öffnet ihn und nimmt eine der Piſtolen heraus. Mit der Piſtole in der Hand tritt er dicht an Sibilla heran. Sie weicht unwill⸗ kürlich zurück. „Du kennſt dieſe Piſtolen. Wir haben damit oft nach der Scheibe geſchoſſen. Ich ſchieße gut — nicht? Habe ich je mein Ziel verfehlt? Er tritt vor das offene Fenſter. „Siehſt Du den kleinen Vogel? Dort — hoch oben auf dem Baum, unter dem Nadelwerk? Sibilla ſieht mechaniſch an den Baum empor. „Eine weite Diſtanz — nicht: 15 H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 225 Er ſchießt zum Fenſter hinaus. Der Vogel fällt zu Boden, der Waldſpecht iſt's. ſtatt. Ich habe den erſten Schuß. Morgen — tödte ich „Morgen findet mein Duell mit Herrn Normann ihn. Uebermorgen reiſen wir ab. Und weigerſt Du Dich, ſo verberge ich Deine Schmach, die mich mit trifft, Du weißt wo. Den Schurken ſiehſt Du nicht wieder — lebend nicht! Er hatte die Waffe auf den Tiſch gelegt und wendete ſich dem Kaſten zu, die zweite Piſtole zu prüfen. Sibillas Blicke ſchweifen irre im Kreiſe umher. Sie ergreift die Piſtole auf den Tiſch und erhebt ſie nach der Richtung hin, wo Georg ſteht. Ihre Finger taſten zuckend am Hahn. In dem Augenblick wendet er ſich um, und wie gebrochen läßt ſie den Arm mit der Piſtole ſinken. Georg ſchließt die Thür, die in den Park führt, ab und ſteckt den Schlüſſel ein. „Dein Bruder wird mein Secundant ſein,“ ſagt er. „Bis ich mit ihm vereinbart habe, was geſchehen ſoll, bleibſt Du hier — als Ge⸗ fangene.“ Eine der Piſtolen in der Hand behaltend, verläßt er das Zimmer und verſchließt es von außen. Sibilla preßte beide Hände auf's Herz. Ihn niemals wiederſehen! Lebend nicht — lebend nicht — aber todt! Ein Wehelaut entringt ſich ihrer gequälten Bruſt. Oswald todt! todt! Nein, er ſoll nicht ſterben, er ſoll nicht! Sie will es nicht. Was kann ſie thun? Wo iſt Hilfe? Rettung? Sie will hinaus, die Thüren ſind verſchloſſen. Daß Georg es gethan, ſie hat es gar nicht bemerkt. Sie rüttelt daran mit verzweifelter Kraft. Es fällt ihr ein, 226 daß das Nebenzimmer noch einen Ausgang hat, ſie ſtürzt fort. Nach einer kleinen Weile kommt ſie wieder; Auch die dritte Thür war verſchloſſen, aber ſie hält etwas in der Hand — Eliſabeths Medaillon. Sie hat vergeſſen, das Gift in den See zu werfen. Wie gut, daß ſie's vergaß. Sie kann Oswald nicht helfen, aber ſie kann mit ihm ſterben. Sie öffnet das Medaillon, faltet das Papier auseinander und betrachtet das weiße Pulver, das darin liegt. Ein wenig davon, denkt ſie, und das Herz ſteht ſtill, der Körper fällt in Zuckungen. Entſetzlich! Nein, ſterben will ſie nicht! Und doch — wie feige und lieblos iſt ſie. Bleiben in einer Welt, wo er nicht iſt — was will ſie da? Der Tod kann doch nicht ſchrecklich ſein, wenn er geſtorben iſt! Sie füllt ihr Glas mit Champagner, ſchüttet das Pulver hinein und rührt es um. Irre vor ſich hinflüſternd, giebt ſie Oswald die ſüßeſten, zärtlichſten Namen und verſpricht ihm, mit ihm zu gehen — das letzte, was ſie für ihn thun kann. Sie ſetzt das Glas an die Lippen, nimmt es aber im nächſten Augenblick wieder fort und ſchiebt es weit auf den Tiſch zurück. Wie, wenn er ihn nicht tödtlich träfe, und er läge da, verwundet, Qualen leidend, und er riefe nach ihr, und ſie könnte nicht zu ihm? Nein, ſie will nicht ſterben, ſo lange er lebt; noch lebt er ja — noch — bis er — er — ihr Gatte . . . Ein wilder Haß flammt in ihr auf, ein Gedanke wie aus der Hölle ſchießt ihr durch das Hirn: „Tödte ihn!“ Ent⸗ ſetzt blickt ſie um ſich. Wer hat das geſagt? Oder war die Stimme in ihrer Bruſt? Ihr iſt, als wäre die Luft im Zimmer verpeſtet. Sie reißt beide Fenſter auf. Ja ſie will es trinken, das Gift, aber nicht jetzt, nicht heute, 15 227 morgen — morgen, wenn . . . Ganz in der Nähe fällt ein Schuß. Das Herz ſteht ihr ſtill. Sie weiß, wenn der Jähzorn Georg übermannt, ſo weiß er nicht, was er thut. Sie horcht — athemlos — einige Minuten ver⸗ gehen — Stunden für ſie. Dann hört ſie Schritte im Nebenzimmer. Die Thür wird aufgeſchloſſen. Wenn es Felix wäre! — Es iſt Georg. Sie ſtürzt ihm entgegen: „Was iſt geſchehen . .. der Schuß . . Er iſt einen Augenblick ſtutzig, dann verſteht er, was ſie meint. Er antwortet nicht gleich. Er nimmt mechaniſch die zweite Piſtole, die er vorhin vergeſſen hatte, in die Hand, ſpielt damit und ſinnt darüber, was er ihr ſagen ſoll. Er iſt bleich und unruhig. Aus Sibillas Worten klingt Todesangſt. „Sage mir, ob er todt iſt! Sprich — ſprich doch! Wenn er lebt, Georg, ich ſchwöre Dir, ich will ihn nicht wiederſehen! Wenn er lebt — tödte ihn nicht, Georg! Er iſt noch immer nicht einig mit ſich, er macht einige Schritte durchs Zimmer; er bleibt vor dem Tiſch ſtehen, füllt ein leeres Glas mit Champagner und trinkt es zur Hälfte aus. Sibilla jubelt auf: „Du haſt ihn nicht getroffen, es war ja dunkel ſchon, und es iſt Dir lieber ſo, nicht wahr, viel lieber! Er lebt, und — Georg, nicht wahr, Du wirſt ihn nicht tödten — tödte ihn nicht! Laß ihn leben — ach, Georg . . . Wie das Schluchzen einer Nachtigall klingt ihr rühren⸗ des Flehen. Sie iſt auf ihn zugeeilt und hat ihre Lippen auf ſeine Hand gedrückt. Eine brennende Thräne fällt darauf. Sie legt ihre Wange auf ſeine Hand und ſieht 228 zu ihm auf. Aus der tiefer werdenden Dämmerung, aus der ſeidenen Haarfluth erglänzen ihre Augen mit geheim⸗ nißvoll verwirrendem Zauber; ihre Stimme, der Contact ſeiner Hand mit ihrer weichen, zarten Wange — eine un⸗ ſinnig ſüße Luſt ergreift ihn mit unbezwinglicher Gewalt. Den ganzen Tag hatte er in tiefem Liebesſehnen an ſein Weib gedacht; er vergißt einen Augenblick Alles, was zwiſchen ihnen liegt. Er zieht ſie an ſich. „Sibilla — ja, er ſoll leben, wenn Du — wenn Du . . . ich . . . Er ſpricht nicht weiter. Sie fühlt ſeinen heißen Athem, das Beben ſeiner Geſtalt, ſie ſieht durch das Halbdunkel das ſprühende Licht ſeiner Augen. Es ſchüttelt ſie — er wird ſie küſſen wie damals. Sie ſtößt ihn mit Gewalt von ſich. „Fort! fort! Meine Liebe iſt nicht käuflich, ſelbſt für ſein Leben nicht. So feſt iſt ſein Bild in meinem Herzen; willſt Du es herausreißen, das Herz muß mit. Oswald lebt . . . „Nein, er iſt todt!“ Georg ſagt es mit kalter Wuth. Wie mit blutigem Nebel umdunkelt der Jähzorn ſeine Sinne, als er hinzuſetzt: „Ich habe den Schurken doppelt getödtet. Ehe er ſtarb, habe ich ihm geſagt, daß wir in Liebe verſöhnt ſind, Du und ich. Kaum hat er dieſe Schändlichkeit in der blinden Gier der Rache über die Lippen gebracht, ſo iſt ihm, als müſſe er daran erſticken. Sie ſtarrt ihn an: „Du — Du — das haſt Du .. einem in's Angeſicht, auf der Schwelle des Todes! Du 229 — Du haſt mein Kind getödtet! Du haſt Oswald ge⸗ mordet. O Schurke Du — Schurke! Sie beißt gewaltſam in ihre Lippen, um ihren Ver⸗ wünſchungen Einhalt zu thun. „Und wäre ich ein Schurke, wie ich es nicht bin — Du biſt mein Weib, mir gehörſt Du, und Deine Liebe iſt mein Recht!“ Er packt die Hand, die ſie drohend gegen ihn aus⸗ ſtreckt und zerrt ſie zu ſich. Sie ringt ſich von ihm los. Ihre Züge verzerren ſich; „Du biſt von Sinnen!“ Sie zeigt auf das mit Champagner gefüllte Glas. „Da — da — der Champagner — trink! kühle Dich! trink! trink! Er trocknet ſich die Schweißtropfen von der Stirn. Ja, ſie hat Recht. Er iſt von Sinnen. Er bedarf der Kühlung. Er ergreift das Glas und leert es mit einem Zuge. So war er wieder ſeinem Jähzorn unterlegen, er, der willensſtarke Mann, der eiſerne Charakter, und er verlangt von dem zarten Geſchöpf dort, daß ſie ihre Liebe und ihren Haß bemeiſtere. Er vermeidet es, ſie anzuſehen. Er ſchließt die Thür nach dem Park zu auf. Was für ein widerwärtiger Einfall, ſie zu einer Gefangenen zu machen! Gedanken und Vorſtellungen jagen ſich in ſeinem Gehirn. Zum erſten Mal hat er ſich zu einer gemeinen That hinreißen laſſen, er muß ſie wieder loswerden. „Du haſt mein Kind getödtet!“ Er hört ſie wieder, die wilden Worte. Das war es alſo, was zwiſchen ihnen lag, und er hat es nicht geahnt. Was ſoll er ihr ſagen? Er wendet ſich zu ihr: „Sibilla . . .“ Das Wort erſtirbt ihm auf der Lippe. Das iſt nicht Sibilla, die in der Mitte des Zimmers ſteht, 230 unbeweglich wie eine Geiſtererſcheinung. Das weiße Tuch das ihr vom Haupt gefallen war, ſie hat es gefaßt und feſt um das Geſicht gezogen. Unwillkürlich muß er an ein Bild denken, das er einmal geſehen: ein Skelett, das mit der Todtenglocke die Abgeſchiedenen zu ſich ruft. Eine Braut war darunter. Ganz wie Sibilla ſah das todte junge Geſchöpf aus mit den weißen Lippen, in weiße Schleier gehüllt, mit den weitgeöffneten Augen, die wie erſtarrt ſind in namenloſem Entſetzen und voll überirdiſchen Staunens. „Sibilla,“ ſagt er ſanft und leiſe, „ſoll ich Eliſabeth rufen: Sie rührt ſich nicht, ſie hört ihn nicht. Sie ſieht ihn immer nur an, unverwandt. Er empfindet Furcht. „Sibilla, Oswald iſt nicht todt. Unverzeihliche Lüge war, was ich geſprochen. Mit dem Schuß hatte ich nur meine Piſtole entladen, ich habe ihn gar nicht wiedergeſehen ſeitdem.“ Sie blickt ihn an wie vorher. Kein Zug ihres Ge⸗ ſichtes verändert ſich. Ein Grauen beſchleicht ihn. Sein Auge ſaugt ſich an ihrem Anblick feſt. Schmerzlich, tödt⸗ lich ſchön iſt ſie, wie der Kopf der Meduſa. Zuweilen vollziehen ſich Revolutionen in des Menſchen Seele, plötzlich, ſcheinbar unvermittelt. Die ergreifende Harmonie einer Muſik, eine Landſchaft voll erhabenen Reizes, eine Seite in einem Buch, ein Ausdruck in einem menſchlichen Antlitz ruft ſie hervor. Das Antlitz Sibillas — das Antlitz einer Aſtarte, die in's Weſenloſe entſchwebt — wurde zu einer Offenbarung für Georg. Was in ſeinem Innerſten verborgen war, verborgen vor ihm ſelbſt: 231 das reine menſchliche Gefühl — es ſchlug als befreiende Flamme empor aus der ſchwellenden Gluth der Leidenſchaft. Ein unſägliches Erbarmen mit Sibilla erfüllte ſein ganzes Weſen. „Du biſt frei, Sibilla! Ich liebe Dich. Komm zu mir zurück, und ich löſche meine Vergangenheit aus. Kannſt Du es aber nicht, ſo werde Oswalds Gattin. Vergiß, daß ich Dich zu mir zwingen wollte. Du biſt frei, trotzdem ich Dich liebe. Mein Recht war Unrecht.“ Es war ein einfaches Wort und doch von tiefer, weittragender Erkenntniß, eine volle und ganze Umkehr. Sie ſchwankte. Er nahm ſie ſorglich in ſeine Arme und trug ſie auf die Chaiſelongue. Er deckte ſie mit einem Tuch zu, legte ihr ein Kiſſen unter den Kopf und ſtrich ihr das Haar aus der Stirn. Und immer waren ihre Augen wie in der Starre des Todes auf ihn gerichtet. Er fuhr leiſe mit der Hand darüber und hatte dann plötzlich das unheimliche Gefühl, als hätte er ſie ihr für immer zugedrückt. Zitternd verließ er das Zimmer, um Eliſabeth herbeizuholen. Sibilla kommt langſam zu ſich, die Starrheit ihrer Glieder löſt ſich. Sie erhebt ſich. Schwankend bewegt ſie ſich nach dem Tiſch zu. Sie ergreift das Glas, aus dem Georg getrunken hat, und ſaugt daran. „Nichts! murmelt ſie dumpf. Sie hebt das Medaillon vom Boden auf und preßt es wild an ihren Mund, gierig nach einem kleinen Reſt von Gift. „Nichts! — leer — nichts. Mit einem Wehelaut ſinkt ſie ohnmächtig zu Boden. Einige Minuten ſpäter tritt Eliſabeth ein. Sie war ſchon auf dem Wege zu Sibilla geweſen, als Georg ſie getroffen. In der tiefen Dämmerung unterſcheidet ſie die 232 Gegenſtände im Zimmer nicht mehr. Sie zündet ein Licht an und ſieht Sibilla am Boden liegen. Sie kniet neben ihr, ſie thut Alles, ſie aus ihrer Ohnmacht zu erwecken. Was hält ſie in der feſtgeſchloſſenen Hand? Sie öffnet die Hand und erblickt ihr Medaillon — leer. Entſetzt ſchleudert ſie es fort. Sibilla hat ſich vergiftet, und ſie — ſie trägt die Schuld! Wie von Furien verfolgt, ſtürzt ſie durch die offene Thür in den Park hinaus. Felix und Oswald, ſie müſſen noch im Park ſein, vielleicht iſt Hilfe möglich. „Felix! Felix!“ ſchallt ihr angſtvolles Rufen in die Nacht hinaus. Es weckt Sibilla aus ihrer Ohnmacht. „Felix! Felix!“ ruft auch ſie. Sie richtet ſich auf. Ach, ſie hat ſo entſetzlich geträumt. Sie ſtarrt eine Weile vor ſich hin. Dann hebt ſie leiſe an: „Georg, biſt Du noch da? Lieber Georg, ſei nicht böſe, Du haſt ja Recht, laß uns abreiſen — aber heut noch — gleich — ſofort.“ Sie lauſcht. Keine Antwort. Und lauter ruft ſie: „Georg! Georg! und wagt nicht aufzuſehen. Alles bleibt ſtill. Ihr Ruf wird zu einem Schrei: „Georg!“ Scheu blickt ſie um ſich. Er iſt nicht mehr da. Mit einem Sprung iſt ſie an dem Tiſch. Sie nimmt das leere Glas in die Hand und ſtellt es ſchaudernd wieder fort. „Ich hätte — ich? Nein, nein, das iſt ja unmöglich! Gift — da in dem Glaſe? Gift? Unſinn! ein unſchuldiges Pulver war's — natürlich! Sie lacht, ein unnatürlich ſchrilles Lachen. Es verſtummt gleich wieder. Wird ſie wahnſinnig? — Sie will nichts denken. Sie fängt an zu zählen, damit ſie nicht zu denken braucht: „Eins, zwei, drei, vier —“ Sie hält inne. Was war das für ein Lärmen? Stürmt es draußen ſo über⸗ 233 laut? Nein — es iſt ihr Herz, das ſchlägt ſo wild. Sie zählt weiter: „Fünf, ſechs, ſieben, acht, neun, zehn . . Es hilft nichts, es hilft nichts! Felix tritt vom Park her über die Schwelle. Sie fliegt in ſeine Arme und ſchmiegt ſich zitternd an ihn. „Was geht vor, Sibilla? Ich hatte mich eben von Oswald getrennt, als Eliſabeth, ganz außer ſich, mich zu Dir ruft und, ohne Rede zu ſtehen, an mir vorbeiraſt, um Oswald einzuholen. Biſt Du krank? Ihre Augen irren umher. „Ach, Felix, nicht wahr — es kann nicht ſein — es iſt nicht wahr! Eben noch ſtand er hier, ganz geſund — ganz geſund. Er ſprach mit mir — erſt ſo böſe — und dann ſo gut. Todt! — nein — er wird krank ſein, Felix — nicht wahr? — lieber Felix, krank iſt er — vielleicht recht krank — aber todt — nein — nein, nur nicht todt!“ Felix glaubt, daß ſie im Fieber redet, und bemüht ſich, ſie zu beruhigen. „Schüttle mich,“ bittet ſie ihn, „ich träume ganz gewiß, ich träume — ich will wach werden! Wecke mich! wecke mich!“ „Du biſt wach, Sibilla. Er nimmt ſie ſanft bei der Hand und will ſie in's Freie führen, damit ſie in der friſchen Luft ſich erhole. Sie macht ſich von ihm los. „Bin ich wach? Laß einmal ſehen: Ja, Du biſt Felix, und dieſes Zimmer iſt wirklich, und die Uhr da geht wirklich — und — und . .“ ſie ſtarrt auf das Glas — „das Glas da — das Glas — wirklich — wirklich: Das Glas 234 Felix weiß nicht mehr, was er thun, was er ſagen ſoll. In höchſter Unruhe ſpäht er nach Oswald und Eliſabeth in den Park hinaus. „Eliſabeth könnte ſchon zurück ſein,“ ſagt er, „ſie bringt Dir den Arzt mit, armes Kind.“ Sibilla ſchaudert. „Oswald — nein — er ſoll nicht kommen!“ Felix athmet auf; er hat Schritte in der Ferne gehört. Sibilla duckt ſich in den entfernteſten Winkel des Zimmers und flüſtert heiſer: „Sage ihm nicht, wo ich bin, ſage es ihm nicht. Sage ihm nicht — daß ich meinen Gatten vergiftet habe.“ Sie ſagt's, als ob eine Todes⸗ noth ihr die Worte aus der Kehle preßte. Felix iſt in einem Augenblick an ihrer Seite. „Was — was haſt Du gethan? Sie zeigt auf das Medaillon, das am Boden liegt. „Da — in dem Medaillon war's — das Gift — Eliſabeths Gift. Felix fühlt, daß ſich ſein Haar ſträubt. Er friert in der warmen Sommernacht. „Wie kamſt Du zu dem Gift?“ Er nimmt ſeine ganze Energie zuſammen, um beſonnen zu bleiben. Sie kann ſich nicht mehr darauf beſinnen. „Ich wollte es ja trinken — das Gift — ich. Da kam er Er war ſo gräßlich — ſo gräßlich — da ſagte ich: Trink! — Und er trank — und er trank — und dann war er ſo gut . . . Sibillas Vorſtellungen kommen ins Schwanken, ſie wiegt den Kopf hin und her und preßt ihn an den Schläfen zuſammen. 235 Mühe, durch Verhöre mit den Dienſtleuten und Nach⸗ Felix weiß, es iſt wahr, was ſie ſagt. All ſeine forſchungen im Park das Gift wieder herbeizuſchaffen, waren vergeblich geweſen; und nun kommt es hier ſo fürchterlich zu Tage. Eilige Schritte von draußen her waren näher gekommen. Felix geht Oswald entgegen und theilt ihm in wenigen Worten das Entſetzliche mit. Oswald ſteht einen Augen⸗ blick wortlos, dann ſchreitet er langſam, mühſam, wie ge⸗ lähmt über die Schwelle. „Sibilla, ſage nein! Sie hat das Licht gelöſcht. Der Mond, der eben aufſteigt, wirft einen unſicheren Schein durch das Zimmer. Sie kauert ſich zitternd zuſammen in ihrem Winkel. „Ich hab's gethan, Oswald! Er birgt das Geſicht in den Händen. „O furchtbar! furchtbar! Ihre Gedanken verwirren ſich mehr und mehr. Was iſt nur geſchehen? Ein Unfaßliches, Gräßliches! Sie klammert ſich an Felix und legt ihren Mund an ſein Ohr: „Was ſagt Oswald: „Wie konnteſt Du, wie konnteſt Du das thun!“ ſtöhnt er auf. Sie läßt Felix los und geht mit dunkel glühenden Blicken auf Oswald zu: „Wie ich konnte! wie ich konnte! Du haſt ja zuerſt gemordet — mein Gewiſſen. Da waren meine Lippen verflucht und ſagten: trink! Oswald greift mit der Hand in die Bruſt, als wäre innen etwas geſprungen und er müſſe die klaffende Wunde zuſammenpreſſen. Sein Geſicht iſt verändert, und als er 236 die bleichen Lippen öffnet, klingt ſeine Stimme hohl, ge⸗ brochen. „Ich weiß, Sibilla, Du biſt nicht ſchuldiger als das Fieber im Blut des Kranken. Sie haben Dich mit Blut genährt, bis Du raſend wurdeſt, arme Taube! Und doch — ich kann Dir nicht helfen, Felix, Du wirſt ſie retten.“ „Das werde ich, ſo wahr ich lebe! Und Du, ich kann nicht glauben, daß Du ſie verläſſeſt in ihrer Noth? Im Mondſchein draußen ſchritt die düſtere Erſcheinung eines Menſchen auf und ab, den Niemand zu ſehen ſchien. Nur Oswald ſah ihn. Er blickte, von Sibilla fort, in das Dunkel hinaus. „Ja, ich verlaſſe ſie. Mein Leben, mein Tod gehören Rußland. O, daß ich's vergaß in einer Stunde der Leiden⸗ ſchaft! „Fort, fort mit Dir! unterbrach ihn Felix empört, Du redeſt ſie in den Tod!“ Sibilla hat ſich wieder an Felix geklammert. „Iſt das Oswald, der ſo redet — ach nein, ach nein! Oswalds Haupt ſinkt auf die Bruſt; im nächſten Augenblick aber erhebt er es wieder. Sein Blick iſt wie blind, nur nach innen ſehend. Er iſt ganz im Bann des Fanatismus. „Ob unſere Herzen brechen, Deins und meins, Sibilla, was thut's! Zwei für Millionen! Ich habe meine Mutter geopfert, ſie ſtarb aus Gram. Ich habe mein Hab und Gut, meine Geſundheit geopfert, jetzt opfere ich mein Herz. Hier reiße ich es aus der Bruſt! Es bleibt bei Dir, Sibilla. Ich bin nicht mehr ich. Ich bin nur eine Kraft noch und mit meinem Schmerz wächſt meine Kraft für mein Volk, tauſendfach — ja tauſendfach. 237 Er will ſich Sibilla nähern. Sie hat ſeine letzten Worte nicht mehr gehört. Der Mond, der langſam in dem verdüſterten Zimmer von einem Gegenſtand zum anderen gewandert war, kam an den Tiſch und traf mit vollem Strahl ein gefülltes Glas, das hinter der Champagnerflaſche ſtand. Seit einer Minute hing Sibillas Blick an dem Glas — immer ſtarrer, immer intenſiver. Ein übernatürlicher Schrei, ein wahnſinniges Frohlocken kam aus ihrer Bruſt: „Georg lebt!“ Georg und Eliſabeth hörten den Schrei. Sie hatten eben vom Park her die Schwelle überſchreiten wollen und blieben jetzt wie angewurzelt draußen ſtehen. „Das Gift — er hat es nicht getrunken — ja, jetzt beſinne ich mich, ich hatte ja das Glas mit dem Gift — da — hinter die Flaſche geſtellt! Den Wein, den er trank, er ſelbſt hat ihn in ein leeres Glas gegoſſen. Er lebt! er lebt! — und ich — ach — ich habe ihn nicht getödtet! Georg! Georg! Sie ſtreckte die Arme empor. Ihr war wie einem Menſchen, der ſchon im Grabe gelegen, und der nun den Sargdeckel hebt und anſtatt Nacht und Tod wieder Licht und Leben athmet. Schluchzend ſank ſie in die Knie. Felix weinte mit ihr; er hatte nicht geweint, ſeitdem er er⸗ wachſen war. Oswalds Züge aber drücken eine todt⸗ ſchmerzliche Reſignation aus. In ſeinen Augen brennt die Flamme des Martyriums, als er ſtill in die Nacht hinausſchreitet zu dem Genoſſen der ſeiner harrt. Plötzlich ſprang Sibilla wieder auf. Ihre Augen ſchienen ſich zu verglaſen. Jeder Schimmer erlöſenden Glücks ſchwand aus 238 ihren Zügen. Wie der Poſaunenton des Gerichts tönte eine Stimme in ihrer Bruſt: Du haſt ihn doch tödten wollen! Georg tritt ein. Ein electriſcher Schlag durchzuckt Sibilla, als ſie ihren Gatten erblickt. Blitzſchnell greift ſie nach dem vergifteten Wein, und ehe Georg auf ſie zu⸗ ſtürzen kann, entfällt ſchon das leere Glas ihrer Hand und zerbricht am Boden. Sie wiſſen Alle, was geſchehen. Georg fängt die Sinkende in ſeinen Armen auf und trägt ſie zu dem Lehn⸗ ſtuhl, den ſie liebt. In ihren Augen iſt das überirdiſche Licht einer Seele, die ſich dem Tode geweiht hat. Mit einem unſagbar traurigen Lächeln ſieht ſie alle der Reihe nach an. „Du ſtirbſt — ſtirbſt um ihn!“ ſtöhnt Georg auf. „Nein, nicht um ihn. Ich liebe ihn nicht mehr. Ich ſterbe, weil ich nicht mehr hätte leben können. Du haſt Alles gehört. Mit keinem Erbarmen, Georg, hätteſt Du das Brandmal von meiner Stirne löſchen können. Sie liegt eine Weile ſchwerathmend und ſtill. Ihre Hand ſucht taſtend die Georgs. Man bringt Licht; ſie winkt, daß man es wieder hinaustrage. Kein Seufzer, kein Schluchzen unterbricht die lautloſe Stille. Wo der Engel des Todes ſeine Fackek ſenkt, erliſcht alles irdiſche Flackern, und auch der tiefſte Schmerz wird zur Andacht. Sie will ſprechen. Georg beugt ſich zu ihr nieder. Sie beginnt leiſe, unverſtändlich; allmählich wird ihre Stimme klar und deutlich: „Ich ſterbe. Wie anders iſt jetzt alles am Rand der Ewigkeit. Ich wollte es nicht glauben, aber es iſt doch wahr: Zu lieben ſind wir da! Nicht ſo, wie 239 ich Oswald liebte — ich meine eine andere Liebe — die hätte mich gelehrt, dich zu verſtehen, Georg.“ Sie konnte ihre Gedanken nicht mehr feſthalten. Wie aber ihre Augen erſt mit unausſprechlich großem Gefühl auf denen ruhten, die um ſie her ſtanden, und dann mit demſelben Ausdruck am geſtirnten Firmament hingen, da begriffen alle, daß ſie eine höhere, weltumfaſſende Liebe meine, nicht das Feuer, das ihr Leben jetzt zerſtörte, ſondern eine Liebe, die, wie der Duft der Roſe die ganze Roſe, ſo des Menſchen Weſen ganz erfüllt, daß all ſein Thun nur Strahlen ſind, die ſich im Lichte dieſer Liebe brechen. Es war, als hauche ſie die letzten Worte in die Luft: „Die Liebe iſt ſo groß — ſo groß, und mein Herz war ſo klein.“ Sie ſchlang ihren Arm um Georgs Hals. Die be⸗ ginnende Lähmung that ihr zerſtörendes Werk. Sie winkte Felix und Eliſabeth heran und legte ihre Hände ineinander. Noch einmal blickte ſie alle der Reihe nach an, mit einem Ausdruck überſinnlicher Zärtlichkeit. Plötzlich richtete ſie ſich hoch auf: „Ich liebe . .“ Sie fiel zurück. Sie war todt. Ein breiter, fluthender Strahl des Mondlichtes küßte das todte Antlitz. Der erſchütternde Tod Sibillas hatte eine läuternde Wandlung in Felix und Eliſabeth vollzogen. Sie wurden ein echtes und rechtes Menſchenpaar. Nach Jahren — es war bei Petersburg, auf freiem Felde — an einem kalten Wintermorgen, als eine Sintfluth von Schnee durch die Lüfte wirbelte, drängten ſich, in Pelze und Mäntel gehüllt, Schaaren von Schauluſtigen um fünf 240 Galgen. Sie ragten aus den Schneemaſſen empor wie Wegweiſer. Ob ſie zum Himmel wieſen oder zur Hölle? Die dumpfe ſchweigende Menge glaubte es zu wiſſen. Fünf Nihiliſten hingen an den fünf Galgen. Der erſte und vor⸗ nehmſte unter ihnen war Oswald. Georg von Heeren trieb einen Kultus mit dem Grabe Sibillas. Aus dem Schüler des Brutus war ein Apoſtel des Evangeliums der Nächſtenliebe geworden. Er hatte die Grenzen ſeines Rechts erkannt: das Recht der anderen. 241 H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 16 Ob Schein, ob Weſen 16 Durch den Buchenwald, der von der Landſtraße ab⸗ ſeits nach Horswald — einem Dörfchen in der Mark — führte, kam eine junge Frau geſchritten, elaſtiſchen Ganges. Nicht wie ein Bürgermädchen ſah ſie aus, aber auch nicht wie eine elegante Dame. Fremd und eigenartig war ihre Erſcheinung. Wie eine Verkörperung der Sage, kam ſie durch den Wald daher. Das dunkle glattgeſcheitelte Haar war in einer ſchweren Flechte breit im Nacken aufgeſteckt und umrahmte ein Ee⸗ ſicht, das an die ſtrengen, klaſſiſchen Köpfe Feuerbachs er⸗ innerte; nur durch die langen ſchwarzen Wimpern brach zuweilen aus den grauen, kryſtallklaren Augen ein roman⸗ tiſcher Schimmer echt deutſcher träumeriſcher Weltverloren⸗ heit. Sie trug ein graues ſchmuckloſes Kleid von einfachſtem Schnitt, das beim raſchen Ausſchreiten das ſchöne Eben⸗ maß ihrer Glieder hervortreten ließ. Der ſchlanke Hals erhob ſich aus einem ſchwarzen Tuch von feiner Wolle, das leicht um die Taille geſchlungen, im Rücken zuſammen⸗ geknüpft war. Sie trug keine Handſchuhe, über dem Arm hing ihr ein leichter Strohhut. Die Geſichtsfarbe war hell, nur ein wenig fahl. Sie kam von weit, weit her, die junge Dame, aus dem Weſten Amerikas. Sie kam zurück in ihr Heimaths⸗ dorf, wo ihr verſtorbener Vater Prediger geweſen war. Sie hatte die Poſt, die von der Eiſenbahnſtation durch das Dörfchen fuhr, nicht benutzen wollen, es vielmehr vor⸗ gezogen, den Fußpfad durch den Wald, in dem ihr Weg und Steg innig vertraut waren, zu nehmen. Es war ein ernſter, deutſcher Wald voll ſtarker Eichen und Buchen; dazwiſchen, wie ſpielende Kinder, lichtgrüne Birken, ihre weißen Stämme die Glanzlichter in der dunkeln Grundſtimmung. Und überall ſchwellendes Moos, und wo eine Lichtung war, duftendes Haidekraut. Mit Luſt ſog ſie den friſchen Waldesathem ein, und grüßend ſchweiften ihre Blicke umher. Jeden Baum, jede Lichtung, jeden Raſenfleck kannte ſie. Und als jetzt ein Kukuk ſeinen Ruf hören ließ, da glitt ein Lächeln über ihre Züge, als wundere ſie ſich, daß der auch noch da wäre. Alles, Alles noch wie damals, vor zehn Jahren, als ſie ihre Heimath verließ, ein achtzehnjähriges Mädchen. Und da war auch die Stelle, die verhängnißvolle, wo ſie an einem Scheidewege geſtanden hatte: eine Lichtung im Walde, eine Grasfläche, beſäet mit Vergißmeinnicht; eine breitaſtige, gewaltige Buche beſchattete mit ihrem dichten Laube eine Bank. Die Bank war jetzt morſch und zer⸗ brochen. Das Unterholz wucherte wild um den Stamm der Buche, die Vergißmeinnicht aber blühten und ſproßten wie damals in Fülle. Nicht ein einziges war zertreten. Hierher mußte ſeit langer Zeit kein menſchlicher Fuß den Weg gefunden haben. Faſt ein Zug der Enttäuſchung glitt über das Geſicht der jungen Frau. Sie blickte lauſchend 246 umher. Regungsloſe Stille. Haſtig bog ſie das wuchernde Gebüſch auseinander. Ihre Augen ſuchten, ihre Hände taſteten an dem Baumſtamm umher. Da war's, ſie fühlte unter ihren Fingern die Narben: zwei verſchlungene Buchſtaben E. L. Noch einmal blickte ſie horchend hinaus, unwillkürlich näherten ſich ihre Lippen der Baumrinde; im nächſten Augenblick aber warf ſie den Kopf ſtolz und ein wenig trotzig zurück, und ohne umzuſchauen ſchritt ſie weiter. Sie mäßigte erſt ihren Schritt, als der Geſang heimkehrender Landleute an ihr Ohr ſchlug. Die wehmüthige Stimmung des Liedes, das ſie ſangen, zitterte in ihr nach; ihre Züge veränderten ſich; der energiſche ſelbſtbewußte Ausdruck ſchwand, und das ſchwärmeriſche deutſche Element trat hervor. Wie hatte ſie nur ſo viele Jahre hinleben können ohne deutſche Lieder zu hören! Sie war müde geworden. Sie ſetzte ſich in das weiche Moos unter einem Baume, und Bilder der Heimath und Vergangenheit traten vor ihr inneres Auge: das Elternhaus mit der ſanften frommen Mutter und dem ſchwermüthigen Vater, der ſtarb, als ſie ſechszehn Jahr alt war. Die Mutter war erblindet, die Schweſter damals noch ein Kind. Sie allein wußte, woran der edle Mann zu Grunde gegangen war; ſie allein hatte ſeinen Nachlaß geordnet, und dabei war ihr ſein Tagebuch in die Hände gefallen. Aus dieſem Buche wußte ſie, daß der Vater ſchon als Jüngling ſich von den Glaubenslehren der pro⸗ teſtantiſchen Kirche abgewandt hatte. Jahrelang hatte er verſucht, ſich als Lehrer und Schriftſteller eine Exiſtenz zu gründen. Es war ihm nicht gelungen. Und Jahr um Jahr wartete eine inniggeliebte Braut, daß er ſie heim⸗ 247 führe. Der Beſitzer der Güter, zu denen das Dörfchen Horswald gehörte, Baron Schrenk, war ſein Studienfreund geweſen. Er bot ihm die Predigerſtelle in Horswald an und beſchwichtigte die ſchweren Bedenken des gewiſſenhaften Mannes, indem er in ſeiner ſkeptiſch⸗ironiſchen Art meinte, für ſeine Bauern ſei die Einprägung der zehn Gebote, unter Androhung ſolider Strafen für den Fall der Uebertretung, Religion genng. Und was ihre etwaigen höheren oder Seelenbedürfniſſe beträfe, ſo genüge eine tönende, ſonore Stimme, über die er ja verfüge, und ein paar, aus der Tiefe des Unbewußten geſchöpfte Phraſen, die um ſo wirk⸗ ſamer ſein würden, je weiter ſie den Horizont der Ge⸗ meinde überſtiegen. Friedrich Dohren, ſo hieß der Vater, hatte ſich zu dem Wagniß verleiten laſſen. Es bekam ihm ſchlecht. Er war dem inneren Conflict nicht gewachſen, um ſo weniger, als er ihn vor dem geliebten Weibe, die, von tiefer Religioſität erfüllt, an ihn, wie an Gott ſelbſt glaubte, verheimlichen mußte. Er hatte einen Bruder, der, als er ſich in einen Socialiſtenproceß verwickelt ſah, nach Amerika ausgewandert war, wo er nach harten Kämpfen eine befriedigende Exiſtenz gefunden hatte. Dieſem Bruder hatte er einige Male von ſeiner geiſtigen Noth geſchrieben. Die Antwort war eine herzliche Aufforderung geweſen, nach Amerika überzuſiedeln, um dort drüben in einer neuen Erde neue Wurzeln zu ſchlagen. Damals aber war Friedrich Dohrens Kraft ſchon gebrochen. Wie hätte er auch vor ſeiner Gattin eine Aus⸗ wanderung nach Amerika rechtfertigen ſollen, mit den beiden Kindern, die ſie ihm geboren, Erika und Liane! In den 248 beiden Namen kam der zarte Naturſinn der Mutter, der an's Myſtiſche ſtreifte, zum Ausdruck. Der Widerſtreit in der Seele des Geiſtlichen war mit den Jahren nur gewachſen und hatte ſchließlich ſein Gemüth verdüſtert. Zwei Jahre lang lebte er mit umnachtetem Geiſte. Dann ſtarb er. Von den vielen Thränen, die ſie um den viel⸗ geliebten Gatten geweint, war die Mutter erblindet. Der Baron Schrenk ließ die unglückliche Frau im Beſitze des Häuschens und bewilligte ihr eine Penſion, die ſie vor Noth ſchützte. Der Baron Schrenk! und Ludwig von Schrenk! Vater und Sohn traten lebendig in die Erinnerung der nach⸗ denkenden Frau. Erregt ſprang ſie von ihrem Sitz empor und ſchritt weiter, den Kopf leicht geſenkt, die Seele ganz er⸗ füllt von dem, was einſt war. Luz, wie wenig glich er dem Vater! Zwar hatte er von ihm die ironiſche ſkeptiſche Art der Anſchauung, aber nichts hatte er von ſeiner Leicht⸗ lebigkeit, Frivolität und Liebenswürdigkeit geerbt. Ver⸗ ſchloſſen war er immer geweſen, ſtolz, eigenwillig, oft un⸗ beugſam und dabei träge und grübleriſch. Sie war von Luz geliebt worden, ſo lange ſie zurückdenken konnte. An⸗ fangs — er war acht Jahr älter als ſie — war er ihr Beſchützer geweſen, dann ihr Lehrer, ihr Gefährte, und ſchließlich hatte ihr die ganze leidenſchaftliche Liebe des Jüng⸗ lings gegolten. Der arme Luz, er war kränklich und launenhaft; er hatte einen Herzfehler und wurde deshalb von ſeiner ganzen Umgebung auf's Aeußerſte verwöhnt. Hübſch war er nie geweſen, nur hatten ſeine blauen Augen einen Blick, und ſeine Stimme einen Klang, die zu Herzen gingen. Sie waren immer zuſammen geweſen, er hatte für 249 Erika zu Horswald gehört, wie die Luft, die ſie athmete, wie See, Wald und Wieſe. Sie ſah ſich, zurückdenkend, als Kind über den See rudern, der zu dem Schrenk'ſchen Parke gehörte, die Hände voll Waſſerlilien: und der das Boot lenkte, war Luz, und Luz hatte ihr die Blumen gepflückt. Sie ſah ſich als ver⸗ zauberte Prinzeſſin in einem hohlen Baume ſitzen, von ihrem gelöſten Haar umwallt, in ein Rehfell gehüllt, und durch den Wald erklang das Horn des Prinzen, der ſie zu erlöſen kam, und der Prinz war Luz. Sie ſah ſich in der Hänge⸗ matte, und zu ihren Füßen ſaß wieder er. Er las ihr vor, oder erzählte Märchen, oder ſie ſchwiegen Beide. Sie träumte in den blauen Himmel hinein, und er ſah ſie an. Und eines Tages, etwa ein Jahr nach dem Tode des Vaters, da hatte ſie Luz vor der Buche gefunden, die auf dem Wieſengrunde ſteht, wo die vielen Vergißmeinnicht blühen, und in die Rinde des Baumes hatte er zwei Buch⸗ ſtaben geſchnitten: E. L. Sie war tief erröthet und hatte davonlaufen wollen. Er hatte ſie zurückgehalten. „Weißt Du nicht, Erika,“ hatte er geſagt, „daß Du meine Braut biſt, lange ſchon? Und Du ſollſt mein Weib werden, ſo wahr ich Luz Schrenk bin. Willſt Du es? willſt Du, Erika: „Ja, ich will!“ hatte ſie friſch und freudig geantwortet. Unbeſchreiblich lieb hatte ſie ihn gehabt, den armen, kränk⸗ lichen Luz. Als ſeine Lippen aber die ihren ſuchten, hatte ſie ihn in keuſchem Stolz abgewehrt: „Ich bin Dir erſt verlobt, wenn Du Deines Vaters Einwilligung haſt.“ Schon am andern Tage hatte Luz von ſeinem Vater 250 Erika zur Gattin verlangt. Der alte Baron wendete ſeine ganze Ueberredungskunſt auf, den Sohn anderen Sinnes zu machen. Als es ihm nicht gelang, ſchien er ſcheinbar nachzugeben. In feiger, jeſuitiſcher Hinterliſt aber hatte er Erika allein zu treffen geſucht und mit ihr eine Unter⸗ redung gehabt, in der er an ihre Dankbarkeit, ihren Edel⸗ ſinn appellirte. Ob ſie nicht wiſſe, daß er allein ihren Eltern die Ehe ermöglicht habe; nicht wiſſe, daß auch jetzt noch die Mutter nur von ſeiner Gnade und Güte lebe¹ Er könne nicht glauben, daß die Tochter ihm vergelten wolle, damit, daß ſie ſeinen Sohn durch die nicht ſtandes⸗ gemäße Ehe mit ihr, des Majorats beraube, das den größten Theil ſeines einſtigen Beſitzes ausmache; auch würde der kränkliche Luz durch eine Verheirathung in frühen Jahren ſeine Geſundheit ernſtlich gefährden. Voll Schlau⸗ heit hatte er hinzugefügt, daß er auf ihre abſoluteſte Dis⸗ cretion in Betreff dieſer Unterhaltung rechne; die leiſeſte Andeutung darüber gegen Luz würde Feindſchaft ſäen zwiſchen Vater und Sohn. Erika hatte Verſchwiegenheit gelobt. Der Kampf in ihrer Seele war kurz geweſen. Eine enthuſiaſtiſche Natur, ſtolz und gut, hatte ſie ſich ſofort zu rückhaltloſer Entſagung entſchloſſen. Um die Trennung von Luz unwiderruflich zu machen, fand ſie nur eine Löſung; es war eine gewaltſame. Sie ſchrieb an den Oheim, der in Amerika lebte, und der nach dem Tode des Vaters die ganze Familie noch einmal mit Herzlichkeit aufgefordert hatte, zu ihm zu kommen, daß ſie ſeine Ein⸗ ladung annähme, für den Fall, daß er ihr in ſeinem Lande eine fruchtbringende Thätigkeit und abſolute Selbſt⸗ 251 ſtändigkeit in Ausſicht ſtellen könne. Er hatte ihr um⸗ gehend geantwortet: „Komm! Felder und Seelen liegen hier brach, und nirgends in der Welt findeſt Du einen beſſeren Boden für fruchtbringende Thätigkeit. Erika hatte der Mutter mitgetheilt, was geſchehen war, auch ihre Unterredung mit dem alten Baron. Gram⸗ voll, aber mit frommer Ergebung in den Willen Gottes, und nachdem ſie am Grabe des Gatten Erleuchtung ge⸗ ſucht, hatte ſie ihre Zuſtimmung zu Erikas Auswanderung gegeben. Wie eine Flucht bereitete Erika heimlich dieſelbe vor, und eines Tages erhielt Luz von Hamburg, eine Stunde vor Abgang des Amerikadampfers, ihre Abſchieds⸗ zeilen, Zeilen, die eine ſchmerzliche und feierliche Reſignation athmeten. Sie ſchrieb ihm auch, daß ein Gelöbniß ſie bände, ihm die Gründe ihrer Auswanderung zu ver⸗ ſchweigen. Sie hatte die Mutter gebeten, ihr niemals Nachricht von Luz zu geben, und auch die heranwachſende Schweſter zu verhindern, es zu thun; auch dürfe Luz ihren Wohnſitz nicht erfahren. Die Mutter hatte Alles verſprochen und ihr Verſprechen gehalten. Was mochte aus ihm geworden ſein? ein bedeutender Staatsmann? war er verheirathet? oder — vielleicht — geſtorben? Eine fröſtelnde ſchwermüthige Beklemmung be⸗ ſchlich ſie; raſch ging ſie weiter. Von einem Hügel herab kam ſie zu einer tiefgelegenen Waldſtelle: inmitten eines Urwaldes von Geſtrüpp, von Farren und Haidekräutern ein etwas ſumpfiger Platz, mit langeu Gräſern beſtanden. Der Wind wirbelte welkes Laub von dem Hügel über die Stelle, die ſchwankenden Gräſer, die röthlich ſchimmerten, wogten durcheinander wie in leiſer Klage. Ein paar 252 Krähen krächzten darüber hin. Es war ein düſterer Fleck, und unwillkürlich mußte Erika an ein Bild von Böcklin denken, wo ein Erſchlagener gerade auf ſolchem Terrain liegt, und wo die Furien erſcheinen. Sie ſchauerte zuſammen. Der Hufſchlag eines Pferdes klang von fern, dann näher und näher. Ein Reiter kam in Sicht. Ein Mann mit röthlich braunem Vollbart. Sein Geſicht war ſchmal und kränklich, die Naſe ſtark, der Ausdruck des Kopfes intelligent. Er hing nachläſſig im Sattel, die Augen halb geſchloſſen. Erikas Geſtalt ſchien er nicht zu ſehen. Er war ſchon vorüber, als ihm nach⸗ träglich einfallen mochte, daß etwas Beſonderes ſeinen Ge⸗ ſichtskreis berührt habe. Er wendet ſich um. Erika blickt auf; ihre Blicke treffen ſich, und mit einer jähen Bewegung reißt er ſein Pferd herum, er ſcheint vom Pferde zu ſtürzen, ſo ſchnell iſt er am Boden. „Erika!“ An der Stimme erkennt ſie ihn. Nurein leiſes Zitternder Naſenflügel und eine bleichere Farbe verräth ihre tiefinnere Bewegung. Sie ſehen ſich mit tiefem Ernſt in die Augen: Endlich ſagt er: „Wie verändert Sie ſind! Ganz Amerikanerin ſind Sie geworden! Kein Wunder, Sie waren nie eine Deutſche. Und jetzt — kehren Sie etwa in Ihre Heimat zurück? Sie antwortet mit eine bejahenden Bewegung des Kopfes. Er bindet ſein Pferd an einen Baum und ſagt, die Blicke fortgewandt von ihr: „Und Sie bleiben jetzt in der Heimat: Sie fühlt, wie ihm der Athem ſtockt in der Begierde, ihre Antwort zu hören. 253 „Nein,“ antwortet ſie, „nur wenige Wochen. Meine Mutter hat mich aus Amerika heimgerufen; meine Schweſter iſt krank, es ſcheint im Gemüth. Geht es an, ſo nehme ich Beide, Mutter und Schweſter hinüber in meine neue Heimat.“ „Wiſſen Sie, was Ihrer Schweſter fehlt: „Nein.“ Sie neigt den Kopf wie zum Abſchied und will ſich langſam entfernen. „Und ſonſt haben Sie mir Nichts, Nichts zu ſagen, nach zehn Jahren? Warum auch? Ich habe Ihnen Uebles gethan? habe ich? nicht? Ich habe Sie in's Exil ge⸗ trieben, in den Urwald! habe ich? nicht? O, ja, ich Böſewicht!“ „Fragen Sie,“ ſagt Erika zögernd und vor ſich hinblickend, „ich will Ihnen antworten. Was wollen Sie wiſſen: „Ob Sie da drüben Erſatz gefunden haben für — nun, für die Lumperei, die Sie hier im Stich ließen — die grüne Paſſion eines Krüppels, der kranke Narr, der ſich einbildete — laſſen wir das — haben Sie Erſatz gefunden: „Ich habe ſtrenge und ſegensreiche Arbeit, ich habe eine große Natur und ein reines Gewiſſen gefunden. Das genügt mir. „Und die geſellſchaftliche Askeſe, in der Sie da drüben“ — er betonte das „da drüben“ jedesmal ſpöttiſch — „leben, auch nach Ihrem Geſchmack! „Ja, auch nach meinem Geſchmack. In Deutſchland haben Mädchen meiner Art nur die Wahl, als Erzieherinnen, 254 Kinderpflegerinnen oder Stützen der Hausfrau zum Dienſt⸗ perſonal herabzuſinken, oder — zu verhungern. Ich aber bin keine Magdnatur.“ „Sie hätten ſich ja gut verheirathen können,“ ſagte er ironiſch. „Von dieſem Zufall einer guten Heirath abgeſehen, fuhr ſie fort, die Ironie ſeiner Worte abſichtlich überhörend „entſcheidet nach deutſcher Sitte Geburt und Vermögen über das Schickſal der Frauen. Verſtand und Wiſſen, Kraft Geſinnung, wozu? im Kampf der Frauen um's Daſein ſind ſie ohne Belang. Drüben aber, in meinem Blockhauſe, am Saume der Prairien, bin ich König und Prieſterin einer halbwilden Gemeinde. Den Menſchen dort iſt es ſo ungeheuer gleichgiltig, ob ich in Atlas oder in Kattun gehe ob mein Vater Excellenz oder Schuhflicker war. Ich gelte, was ich bin, und ich bin, was ich leiſte; und ich leiſte viel mit Kopf und Herz und Hand, Hohes und Niedriges, wie es ſich bietet.“ „Als Gattin, als Mutter?“ ſeine Stimme zitterte. „Nein. Ich habe Steine zum Bau meines Hauſes getragen, ich habe Verwundete gepflegt, ich habe gekocht, habe Frauen in Kindesnöthen beigeſtanden und das Feld umgegraben. Aber — ich habe auch unterrichtet, gepredigt Recht geſprochen, Sterbende getröſtet, Trunkenbolde vom Laſter geheilt, Unmenſchen zu Menſchen gemacht. Es giebt nichts, was ich nicht erfahren und verſtanden hätte. Ein klarer Glanz füllte ihr Auge, jeder Zug ihres Geſichts redete von intelligenter Kraft, die feingeſchwungenen Linien des Mundes aber milderten lieblich die Energie des Ausdrucks. 255 wunderung. Wie Diana erſchien ſie ihm, keuſch und ſtark Sein Auge hing an ihr mit leidenſchaftlicher Be⸗ viel ſchöner als früher. „Und Sie ſelbſt,“ fragte er, waren Sie niemals in Gefahr an jenen Grenzen der Cultur? „Doch, oft. Ich kenne keine Furcht. Ich verlaſſe dort mein Haus niemals ohne Revolver. So eine kleine Waffe vertauſendfacht unſere Kraft, macht uns dem ſtärkſten Manne gleich. „Uebrigens,“ ſetzte ſie mit halbem Lächeln hinzu, „wenn Sie mich denunciren, muß ich Polizeiſtrafe zahlen, ich trage auch heute das kleine Ding bei mir. „Sie haben dieſe Waffe nie gebraucht? „Doch, ich habe ſie gebraucht. Ich habe einen Schurken niedergeſchoſſen, einen andern verwundet. Das zahmſte Hausthier, jagen Sie es in die Einöde, in den Urwald, es wird diejenigen Eigenſchaften annehmen, die es zu ſeiner Erhaltung braucht. „Erſchrecken Sie nicht,“ ſetzte ſie hinzu, als ſie unruhige Verwunderung in ſeinen Blicken las — „bis zum Raubthiere habe ich es noch nicht gebracht. und nun gar hier, in meinem Walde, dem lieben — trauten . . .“, „Sie brach ab, die Intenſität ſeiner Blicke, die auf ihr ruhten, quälte ſie. „Genug von mir, ſagte ſie haſtig. „Und Sie, Herr von Schrenk, haben Sie, wie ich, einen Beruf gefunden, der Ihnen und Anderen frommt?“ „Geſucht — ja, gefunden nicht! „Und haben doch ſo viel Talent und Verſtand. „Habe ich das? . . . möglich. Ich bin nur ſo faul wie die Götter, die von ihrem eigenen Glanze leben; und die Hauptſache: meinem Verſtand fehlt die Phantaſie, das 256 heißt die Flügel, um vorwärts zu kommen. Ueberhaupt iſt die Phantaſie ein Seelenvermögen, das noch lange nicht genug gewürdigt iſt, ich glaube beinahe, daß ſie die Wurzel alles lebenswerthen Seins iſt, nämlich: die Mutter der Illuſionen. Mit den Illuſionen ſteht und fällt, was das Glück des Menſchen ausmacht. Ich bin illuſionslos, das iſt der Schlüſſel zu meiner Trägheit und — meiner Ueber⸗ flüſſigkeit.“ Er ſagte das Alles nur ſo hin, mit einem ironiſchen Zucken der Mundwinkel; nur ab und zu blitzte es da⸗ zwiſchen in ſeinen blauen Augen auf wie von verhaltener Leidenſchaftlichkeit. „Wollen Sie mir nicht ſagen, was und wie Sie ge⸗ ſucht haben in den vielen Jahren?“ fragte Erika. „Gern. Warum nicht auch einmal zur Beichte gehen? Was erzähle ich Ihnen nur gleich? ja — richtig: nachdem, — das heißt, nach jener großen Sindfluth von Liebloſigkeit, die den Altar umſtürzte, auf dem . . .“ er unterbrach ſich — „Altar — ich kann mir noch immer die Bilderſprache nicht abgewöhnen — alſo ſeitdem hatte ich mich in den Strudel eines wilden Lebens geſtürzt. Ich habe der Schönheit der Natur, der Schönheit des Weibes alle Schleuſen meines Weſens geöffnet, und die Fluthen ſind über mich hergeſtürzt, trübe Fluthen .. . ſchon wieder Bilder — einfach deutſch: ich bin lüderlich geworden; Ich war in aller Herren Ländern, ich habe in die Herzen der Völker und in die der Individuen geſehen, und ich habe gelernt . . . „Was haben Sie gelernt?“ fragte Erika, da er inne hielt. H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 257 17 „Ich habe es Ihnen ja ſchon geſagt, daß alle Freude aller Genuß nur eine Art Hypnoſe iſt. Ich ſah auf einer Ausſtellung ein Bild, ein junges, ſchönes Weib auf einem Scheiterhaufen; ſie ſollte als Hexe verbrannt werden. Die Flammen leckten an ihr empor. Ein Jüngling, ein Arzt hatte ihre Hand ergriffen und hypnotiſirte ſie; und mit einem verzückten Ausdruck intenſiver Wonne blickte ſie zu ihm nieder. Durch Suggeſtion waren ihr die Flammen zu Küſſen der Liebe geworden, und anſtatt in den Tod gebraten, fühlt ſie ſich in's Jenſeits geküßt. Durch Sug⸗ geſtion kommt uns alles Glück. Ich bin nicht zu hypno⸗ tiſiren. Ich ſehe die Dinge, wie ſie ſind, häßlich, wahr.“ . . . Mit gepreßter Stimme unterbrach ihn Erika: „Warum haben Sie keinen Verſuch gemacht, in den Staatsdienſt zu treten? Niemand hatte glänzendere Ausſichten als Sie. Ich habe den Verſuch gemacht. Ein Jahr und zwei und einen halben Monat bin ich ehrgeizig geweſen. Ich bin in die Pfade eingelenkt, die Andere auch gehen, wenn ſie zu hohen Ehren kommen wollen. Mein Gott, was für Pfade! lange, langweilige, ſandige Strecken; dann zickzack, hindurch durch das Dickicht der Intrigue, hinweg über einen ganzen Haufen fleißiger Ameiſen; mir widerſteht das Todt⸗ treten, wenn es auch nur Ameiſen ſind. Und auf dem holprigen Wege immer die Augen ſeitwärts, abwärts, immer zwinkern, blinzeln, ſchielen; nur nicht die Blicke aufwärts gekehrt, zu den Sternen, zum Licht — ſonſt ſtolperſt Du, und gleich iſt der Hintermann über Dir fort! „Sie wollen als ein Geſchenk der Götter, was nur der Muthige im harten Kampf erwirbt,“ ſagte Erika. Und hätte ich nun wirklich die Excellenz und ein 258 halbes Dutzend Ordensſterne davongetragen — jeder Orden, jeder Buchſtabe der Excellenz wäre ja ein Stift, der mich an eine Meinuug feſtſchmiedete, die ich haben müßte. Ja, ich könnte beſternt ſein, ich könnte Excellenz ſein, nur wäre, ich dann nicht Ich, nicht Ich!“ . . „Ich, immer Ich,“ rief Erika beinahe heftig. „Das Ich iſt vielleicht ihre ganze Krankheit. Sie ſehen nicht, daß die Anderen auch da ſind, und Sie ſind doch nur ... Sie unterbrach ſich, erröthend, mit ſich ſelbſt unzufrieden. „Ich habe kein Recht, ſo mit Ihnen zu ſprechen, verzeihen Sie.“ Und befangen, nur um dem Geſpräch eine andere Wendung zu geben, fragte ſie ihn, warum er jetzt auf dem Gut ſeines Vaters lebe, und womit er ſich dort be⸗ ſchäftige. Nicht meines Vaters Gut,“ entgegnete er finſtere, „mein Gut; meinen Vater habe ich vor acht Tagen be⸗ graben. Er hat mir auch auf dem Sterbebett das Ge⸗ heimniß Ihrer Flucht verrathen. O Sie Unſchuld, Sie liebe Unſchuld! mein Vater war einen Fingerbreit von der Wahrheit abgewichen. Es hätte Mittel und Wege gegeben, mir das Majorat zu erhalten, ſelbſt wenn Sie mich der Ehre Ihrer Hand gewürdigt hätten . . . Erika bewahrte mit Mühe ihre Faſſung. Sie wollte nicht, daß er weiter ſpräche. Sie wandte ſich zum Gehen. „Gehen Sie nicht“ ich habe Ihre Frage ja noch nicht beantwortet, womit ich mich beſchäftige. Ich ſchreibe — nein, ich werde ein philoſophiſches Buch ſchreiben oder Acker⸗ bau treiben, oder Beides; nur fürchte ich, es giebt Andere, die ſchreiben beſſere philoſophiſche Bücher und verſtehen mehr 17* 259 vom Ackerbau. Schlecht oder mittelmäßig thnn, was Andere beſſer können, das iſt ebenſo überflüſſig, als ſchwimmen, wenn man ſich damit doch nicht vom Ertrinken retten kann. Apropos Ertrinken: ich beſchäftige mich auch zuweilen mit Anwandlungen einer nirwanahaften Sehnſncht, einer tollen Luſt, mich vorzeitig zu meinen Vätern zu verſammeln, nur widerſteht mir die melodramatiſche Inſcenirnng des Todes. Ich ſoll ja krank ſein: Stirb alſo im Bett, Atom, laß Dir eine Rede vom Geiſtlichen halten, und gieb den Würmern was der Würmer iſt! Faſt mit Widerwillen wendete Erika ihre Blicke von dem krankhaft verzerrten Geſicht des Jugendfreundes ab. Das Gemiſch von Cynismus und Exaltation in ſeiner Sprech⸗ weiſe ſtieß ſie ab. Ein hartes Wort ſchwebte ihr auf den Lippen, als wieder wie vorhin der Geſang der Landleute in die peinliche Stimmung hineintönte. Die ganze Schwer⸗ muth eines liebenden Herzens ſchien in den Tönen auszuklingen, ein ſehnendes Weh nach Heimat, nach Jugend, nach irgend etwas Unausſprechlichem, das nur in Deutſchland, nie in der Fremde, zu finden war. Alle Härte ſchwand aus ihrem Antlitz hinweg. In ihren grauen Augen flimmerte es romantiſch, und ihre Lippen öffneten ſich ſanft und lieblich mit einem Ausdruck innigen Lauſchens. „Jetzt ſind Sie wieder ganz deutſch,“ ſagte Luz, „jetzt ſind Sie das Mädchen, mit dem ich durch den Wald ritt, die Prinzeſſin mit den Märchenaugen. die ich erlöſte. O Erika, wie oft habe ich Sie erlöſt! Und wer erlöſt mich? von der Illuſionsloſigkeit, von mir ſelbſt? ja, wenn Sie es denn ſo wollen — von mir ſelbſt? Erika! Seine Stimme ſchien von den einſchmeichelnden, zärtlich 260 traurigen Weiſen, die die Luft ihnen vom Waldesſaum her zuwehte, getragen. Bewegt reichte ihm Erika die Hand. Aber plötzlich ſchien ſeine Stimmung wieder umzu⸗ ſchlagen. Er wehrte ihre Hand ab. „Sie würden mir die Hand nicht reichen, wenn Sie wüßten . . .“ „Was ſoll ich wiſſen: Er band, während er jetzt ſprach, ſein Pferd los. Einen Moment war er augenſcheinlich ſchwankend, dann ſchien er mit ſich einig. „So wiſſen Sie es denn: Ihre Schweſter iſt krank, weil — nun eben die alte Geſchichte, — und wem ſie juſt paſſieret, u. ſ. w. u. ſ. w.“ „Wer — wen liebt Liane?“ ſtieß Erika faſt zornig hervor. „Wen? ach Gott, ein mißgeborenes Geſchöpf — den Luz Schrenk liebt ſie — zum Lachen — nicht? Lachen Sie doch! Er hatte ſich in den Sattel geſchwungen und wollte davonreiten. Sie fiel dem Pferde in die Zügel. Ihre Augen ſprühten. „So kommen Sie nicht fort. Wie iſt es gekommen, daß Liane Sie liebt? Wo haben Sie ſich geſehen? Und Sie — haben Sie keine Schuld dabei?“ Ihre Lippen bebten, während ſie die Fragen kurz und hart hervorſtieß. Er riß das unruhig gewordene Pferd heftig herum und ſagte mit erzwungenem Gleichmuth: „Neun Jahre hatte ich nichts von Ihnen gehört, ich 261 wollte auch nichts von Ihnen hören. Ein Kranker hat Launen. Im zehnten Jahre wollte ich von Ihnen hören. Oft hatte ich flüchtig Ihre Schweſter geſehen, als ſie ein Kind war, und auch ſpäter, als ſie zur Jungfrau heran⸗ gewachſen. An einem Februartage ritt ich am Garten des Pfarrhauſes vorüber. Liane ſtand vor dem Gitter. Es war ein kalter Tag, mich fror, ich wollte warm werden, ich erkundigte mich nach der Durchgängerin; das war doch natürlich, wir hatten uns ja ſo gut gekannt. Seitdem ritt ich jeden Tag vorüber, und jeden Tag traf ich Liane ſchon am Gitter, meiner wartend, auch bei Wind und Wetter. Es ſcheint, ich war neugierig wie eine Elſter, ich konnte nie genug aus Amerika hören. Als ich merkte, daß das Kind mich liebte, kam ich nicht wieder. Es war wohl zu ſpät. So ein Kinderherz hält zäh an einer Illuſion feſt, auch an der abſurdeſten. Solche Herzen ſind von Glas; leckt nur einmal eine Flamme daran, gleich giebt's einen Sprung — kann ich dafür? Er gab ſeinem Pferde die Sporen, und im nächſten Augenblick war er ihrem Geſichtskreiſe entſchwunden. Erika blieb in nachdenklicher Erregung zurück. So wild und finſter war er davongeſprengt, ohne Abſchied. Und Liane liebte ihn! ein Kind, ja, er hatte Recht, ein harmloſes, weltunreifes Kind, ſo kannte ſie ſie aus ihren Briefen. Und ſein Vater iſt geſtorben. Wie war nun Alles ſo ganz verändert? Voll trotzigen Stolzes weiſt ſie die Gedanken, die ſich ihr aufdrängen wollen, ab. Liane und er — unmöglich! Der Mann mit dem cyniſchen, ſkeptiſchen Welttrotz, und das liebliche, fromme Kind. Die arme Liane! ſie wird ihn bald vergeſſen in der 262 neuen Welt, wo die eiſerne Nothwendigkeit ſtrenger Arbeit die Concentrirung aller Kräfte heiſcht. Wußte ſie nicht aus eigener Erfahrung, wie bald man vergißt, wenn man nur ſein Herz nicht für den Mittelpunkt der Welt hält. — Wußte ſie das wirklich ſo genau? — hat ſie denn drüben Zeit gehabt, ſich auf ſich ſelbſt zu beſinnen? Nun aber — ſeit heute — die Heimatsluft, der alte, liebe, liebe Wald. Sind auch die alten Gefühle wieder da? Oder waren ſie immer da, verborgen in einem Geheimfach ihres Herzens, und nun . . .! Sie raffte ſich auf aus der un⸗ fruchtbaren Grübelei. Wie krank ſah Luz aus, auch ſein Geiſt war krank. Sie beißt die Zähne aufeinander. Tief ſchmerzt es ſie, daß er ſo geworden. Und plötzlich erſcheinen ihr die zehn Jahre, die zwiſchen damals und jetzt liegen wie etwas Ver⸗ ſunkenes, Abgeſtorbenes, und das ferne Land wie ein Panorama, in dem nur der Vordergrund wirklich iſt; will man aber tiefer hinein, ſo iſt Alles nur Schein und künſt⸗ lich Aufgemaltes. Sie ſpringt auf, erſchrocken über ſich ſelbſt. Wie? Alles, was ſie in der langen Zeit erworben und erkämpft hat an Charakter und Energie, es ſollte zerfließen — vor einem Jugendtraum. „Nein, nein, ich will nicht. Sie reckt die kräftigen Glieder, ſie wirft das ſchöne Haupt zurück und blickt empor, mit reinleuchtenden Augen den Horizont umfaſſend. Was iſt das? aus der Ferne? abermals der Ton eines galoppirenden Pferdes? Kommt er zurück? Ja, ſie erkennt ihn von Weitem Er ſprengt in ſo raſender Eile 263 daher, als wolle er Jemand einholen, der auf der Flucht iſt, und Erika fühlt inſtinktiv, daß es ihr gilt, daß er ihr noch etwas ſagen will. Er ſcheint überraſcht, beinahe beſtürzt, ſie noch an derſelben Stelle zu finden. Aber er ſagt nichts, er wirft ihr ein beſchriebenes Blatt zu; der Wind weht es ihr auf den Kopf. Und ehe ſie noch eine Frage an ihn richten kann, iſt er fort. Sie lieſt: „Es giebt nichts, ſo ſagten Sie, das ſie nicht verſtanden und erfahren hätten. Iſt das wahr, ſo beſitzen ſie die Sehergabe, durch allen Schein hindurch das Weſen der Dinge zu erkennen. Glauben Sie an Dämonen: Nein. Ich auch nicht. Es iſt aber nur der Name, an den wir nicht glauben. Verhängnißvolle Zufälle, das ſind die Geiſter, die böſen, denen wir nicht entrinnen können, weil ſie plötzlich da ſind, und ehe wir noch zur Beſinnung kommen, ihr dämoniſches Werk gethan haben. „Nicht reine Vernunft, nicht inbrünſtiger Glaube, nicht Geiſt noch Tugend retten uns vor dem Teufel: Zufall! Solch ein Zufall läßt ein junges Mädchen bei trügeriſchem Mondſchein ſich im Walde verirren, als ſie ſpät Abends von einem Beſuche heimkehrt, in dem Walde, wo ſie Weg und Steg ſo gut kennt. Ein zweiter Zufall, ein unnatürlich nichtswürdiger, führt den Mann, den das Mädchen ſeit Jahren liebt, um dieſelbe Stunde durch den Wald. Er findet das ſchluchzende Kind, halbtodt vor Furcht im Gebüſch. Sie wirft ſich an ſeine Bruſt, ſie klammert ſich an ihn, ſie will ihn nicht laſſen. Sie glauben vielleicht, die Nachtigall iſt ein graues Vögelchen, das hübſch ſingt; und eine mondhelle Mainacht eine Nacht wie jede andere? Irrthum! Irrthum! Dämonen gießen in 264 die Mainacht flammende Sehnſucht, in das zärtliche Schluchzen der Nachtigall unſagbares Liebesweh, und der Duft der Akazien vergiftet unſere Sinne. „Sind wir Götter? ſind wir Heilige? „Warum nannte ſie mich Luz, mit einer Stimme, einer weltfernen, ſinnverwirrenden, einer Stimme, die ich kannte und ſo unſinnig liebte! Dämonen! Dämonen! „Ich ſuchte ſie am andern Tage auf, ich ſagte ihr Alles, was eine junge Seele tröſten kann. Sie verſtand mich nicht und fragte immer von Neuem: Wann ſehe ich Dich wieder? „Ich konnte ſie und mich nur durch eine Lüge retten. Mein Vater, ſagte ich ihr, habe mir zur Bedingung ge⸗ macht, ehe er in die Verlobung mit ihr willige, daß ich ſie ein ganzes Jahr nicht ſehen, nicht ſprechen, ihr nicht ſchreiben dürfe. „Liane iſt ganz Natur; kein Grübeln, kein Reflectiren iſt in ihr, die das Wirken der Zeit — ich meine das Vergeſſen — ſtören könnten. In einem Jahre wäre ich nichts mehr für ſie geweſen als ein Traum, und noch ein Jahr ſpäter, ein vergeſſener Traum. Sie wiſſen, warum ich nach Horswald zurückgekommen bin, ich mußte doch meinen Vater begraben; und Liane weiß wohl, daß ich hier bin. Und nun — morgen muß ich wieder fort — nein — übermorgen, — denn vielleicht — geſchieht ein Wunderbares; und darum ſchreibe ich Ihnen das — das. Ich habe doch noch eine Illuſion, eine letzte, unſinnigſte — es giebt Schwingungen in der Luft, die wir nicht hören — ſo giebt es auch Gedanken — unverſtändlich für gewöhn⸗ liche Menſchen, Gedanken für die Ewigkeit, die uns über 265 alle zeitlichen Schranken hinaustragen. Nur Menſchen, die feiner organiſirt ſind als andere, große, vorurtheilsloſe Seelen können ſie denken, und — Sie, Erika, Sie — nein, auch Sie nicht! Ich glaube doch an Dämonen. Sie riß den Brief, nachdem ſie ihn geleſen, in Stücke. Trockenen, düſteren Auges ſchritt ſie raſch dem heimath⸗ lichen Dorfe zu. Ihr war kalt, ſie lief mehr, als ſie ging. Kein Strahl der ſinkenden Sonne, unter der die Baumgipfel erglühten, fiel in ihre Seele. Sie dachte ſich Liane als Kind, ein ſanftes Kind mit hellem Haar und Grübchen in den zarten Wangen, und nun — das liebliche Geſchöpf, vielleicht zerſtört für immer. Der Zorn, der in ihr brannte, raubte ihr faſt den Athem. Und da war der Zaun, der den Garten des kleinen Pfarrhauſes vom Walde trennte; Alles wie früher, nur ein wenig verwildert ſchien der Garten. Einige Holzpfähle des Gitters waren um⸗ gefallen und nicht wieder aufgerichtet worden. Georginen und Aſtern ſtanden wirr durcheinander in den Beeten; da⸗ zwiſchen üppiges Unkraut und allerhand wucherndes Ge⸗ büſch, durch das Gebüſch aber ſchimmerte, anheimelnd und freudig leuchtend, der wilde, rothe Wein, der das untere Geſchoß des Häuschens umrankte. Ein weiches, liebevolles Empfinden wollte Erika beſchleichen, ſie kämpfte es nieder. Es handelte ſich wohl um ihre Heimathsgefühle! Mit feſter Hand öffnet ſie die Gitterthür. Seitwärts in der Geisblattlaube regt es ſich. Schnell tritt Erika näher. Eine weibliche Geſtalt ſitzt auf einer Bank vor einem Tiſche, ihr Kopf ruht in den Armen, die auf dem Tiſch liegen. Man ſieht nur die blonden Flechten, die ſich um den kleinen Kopf winden. Sie ſchläft, oder — 266 ja, ſie weint, Erika ſieht es an dem nervöſen Aufzucken der Schultern. Von den Schritten der Nahenden wird die Weinende aufgeſchreckt. Sie blickt empor: ein zartes Geſicht mit Vergißmeinnichtaugen und röthlichen Augen⸗ lidern, ein krankes Geſichtchen. Erika ruft ſie beim Namen: „Liane! Liane ſtarrt einen Augenblick die fremde Erſcheinung an; mit einem Male weiß ſie, wer ſie angerufen. Ihr Ge⸗ ſicht färbt ſich bis zum Halſe mit Purpurröthe, und ohne einen Laut von ſich zu geben, ſtürzt ſie wie fliehend da⸗ von. Erika blickt ihr nach, und — plötzlich zieht ihr Herz ſich krampfhaft zuſammen, eine Empfindung wüthenden Schmerzes hält ſie wie angewurzelt. Sie hat auf den erſten Blick erkannt: das unglückliche Mädchen iſt guter Hoffnung. Sie folgt ihr langſam, mühſam ihren Schmerz beherrſchend. Am Ende des Gartens ſieht ſie durch das Gebüſch Lianens helles Haar ſchimmern. Sie biegt das Gebüſch auseinander, Liane kniet am Boden, das Geſicht in den Händen. „Gott, Gott, laß dieſen Kelch an mir vorübergehen! murmelt ſie in ſich hinein. Erika ergreift ihre Hände und zieht die zitternde kleine Geſtalt zu ſich empor. Sie legt ihre Arme um Lianes Schultern, trägt ſie halb aus dem Gebüſch in's Freie und hinauf zu dem nahen Hügel, von wo man die Sonne unter⸗ gehen ſieht. Eben verſchwand das Geſtirn am Rande des Kiefern⸗ waldes. Reiner lichter Goldglanz breitete ſich über den weſtlichen Himmel, über ihnen tiefleuchtendes Blau. Nur eiue tiefgraue Wolke ſtand am Firmament, aber auch ſie 267 ward durchglüht von purpurnem Licht, wie wenn in einer dunklen Seele plötzlich ein zärtlicher Gedanke auftaucht. „Blick' empor,“ ſagte Erika ſanft und feierlich, „ver⸗ ſtehſt Du die Sprache, die Gott in ſolch einem Sonnen⸗ untergange zu uns redet? Eine Botſchaft iſt's unermeß⸗ licher Güte, eine Bergpredigt des Friedens und der Ver⸗ ſöhnung: „Kommt zu mir Alle, die Ihr mühſelig und beladen ſeid!“ Erhebe Deine Stirn zu ihm. Er weiß, Du haſt nichts Böſes gewollt.“ Liane richtete zaghaft und fragend ihre thränenvollen Augen auf Erika. „Liane,“ ſagte Erika ganz leiſe, ich weiß Alles. Ich habe Ludwig Schrenk im Walde getroffen. Liane wollte ſprechen; Schluchzen erſtickte ihre Stimme. Endlich ſtieß ſie mühſam hervor: „Und Du — Du — Du ſtößt mich nicht von Dir Du . . . „Liane, ich bin ja gekommen, um Dir zu helfen. Sage, mein armer Liebling, Du liebſt ihn ſehr? „Ja, ach ja, ſehr!“ antwortete ſie mit zuckenden Lippen. „Aber — Erika, ſage mir — er hat mich auch lieb, nicht wahr? Er muß ja, muß ja, und er kommt doch nicht; ſeit vierzehn Tagen iſt er in Horswald, und er iſt nicht gekommen . . . „Er hat ſeinen Vater begraben . . . „Er hätte aber doch kommen können. „Er wird kommen. Sie ſtreichelte liebevoll das bethränte Geſichtchen, das ſich in ihrem Schooß gebettet hatte und fragte ablenkend 268 „Und wie haſt Du, mein armes Kind, in all den Monaten gelebt — ſeitdem? „Ich weiß nicht recht; ſo viele, viele Wochen lebe ich nur ſo hin, und ich dachte immer, er müſſe kommen, er oder der Tod. Als aber die Mutter mir ſagte, Du kämeſt, Erika, da habe ich nicht mehr auf ihn gewartet, ſeitdem nicht; da wollte ich — da dachte ich — es war Allcs ſo ſchrecklich, was ich denken mußte! Da fuhr ich hinaus über den See, ſo weit, daß Niemand mich ſehen konnte, und ich wollte — Du weißt ja, was ich wollte, und wie ich mich über den Kahn neige — hinab — da — da regt ſichs in mir — etwas, das lebt, und es ergreift mich — ich weiß nicht, — ach Gott — ſo weh, ſo fremd; und etwas Entzückendes war doch dabei, und ich fühlte, Gott wollte nicht, daß ich da hinunter ſollte, jetzt noch nicht — bis das Kind — ich will nur ſehen, wie es die Augen öffnet! O Erika, wie ſeltſam, ſeltſam und ſchrecklich iſt das Alles, und ich verſtehe es gar nicht. Ich werde ſterben, wenn es da iſt — das Kind, und wenn er — nicht da iſt! Erika ſchloß voll zärtlichen Mitleids Liane in ihr Arme. „Er wird da ſein. Du wirſt ſeine Gattin werden, ich gelobe es.“ Und ſie that ſich ſelbſt den Schwur: ſo ſolle es werden und nicht anders! Sie ging, die Schweſter feſt umſchließend, dem Hauſe zu. Auf der Schwelle ſtand die Mutter, eine kleine, zarte Geſtalt mit farbloſem Geſicht, die feinen Züge von weißem Haar umrahmt, eine ſchattenhafte Erſcheinung in dem 269 ſchwarzen Kleide. Sie ſtand vornübergebeugt, den Blick zur Erde gekehrt und flüſterte in ſich hinein. Leiſe trat Erika zu ihr heran. Sie wendete das Haupt Erika zu und taſtete mit den Händen nach ihr. „Erika,“ ſagte ſie, und wie ein Lichtſtrahl glitt es über ihr ſtilles Geſicht. Ich wußte ja, daß Du heut kommen würdeſt. Sei willkommen, meine Tochter! Und mit beiden Händen umfaßte ſie der Tochter Haupt und küßte es. „Daß ich Dich noch einmal habe, mein geliebtes Kind! nur biſt Du blaſſer geworden, viel blaſſer.“ Sie ſchien die Farbe zu fühlen. „Komm wir gehen zu ihm, zum Vater, gleich, wir dürfen ihn nicht warten laſſen. Liane blieb daheim, und Hand in Hand gingen die Beiden trotz der tiefer werdenden Dämmerung dem Friedhof zu, der unmittelbar hinter dem Garten lag. Die Mutter öffnete die Lippen erſt wieder, als ſie an dem Grabhügel ſtanden, ein zärtlich gepflegter Hügel. Eine Trauerweide ſtand darauf, unter ihren Zweigen eine Bank. „Friedrich, ich bringe Dir Deine Tochter!“ ſagte die Mutter feierlich. Sie ſenkte den Kopf bis tief zum Grabe nieder, und leiſe bewegten ſich ihre Lippen. Erika wagte nicht, ſie zu ſtören. Nach einer Weile richtete ſich die Greiſin wieder auf. „Ich habe alle ſeine Lieblingsblumen auf das Grab gepflanzt, damit er ſich daran freue. Es iſt nicht wahr, daß die Todten todt ſind; wenn wir ſie nur fortlieben wte im Leben, dann bleiben ſie bei uns. Merk' auf, mein Kind: kein Wind weht — und doch, leiſe rauſcht es in 270 den Zweigen der Weide; und die Blumen, ſie duften anders ganz anders, als die Blumen ſonſt duften, ſo ſeltſam ſüß; und das Säuſeln und der Duft, das iſt er, das iſt ſeine Sprache, Niemand verſteht ſie als ich allein. Und wieder richteten ſich die blinden Augen hinab, ein geiſterhaftes Lächeln irrte um ihre Lippen; ſie lauſchte. Sie hatte Erikas Gegenwart vergeſſen. „Es wird kühl und dunkel, Mutter, komm heim. Erika wollte ſie ſanft fortziehen. „Laß mich noch. Ich thu' nur, was er will. Auch Dir habe ich geſchrieben, weil er es wollte.“ „Und ſchriebſt ſo traurig, daß Deine Tage gezählt ſeien — und biſt doch nicht krank.“ „Nein, ich bin nicht krank, es iſt aber doch, wie ich Dir geſchrieben. Ich habe nur auf Dich gewartet. Früher, wenn ich hier auf ſeinem Grabe ſaß, dann erſchien mir ſeine Geſtalt nur undeutlich und ſeine Stimme wie ein Hauch. Nun iſt ſeine Geſtalt immer deutlicher geworden; ſeine Stimme kommt näher, näher, und in der letzten Zeit ſpüre ich das Wehen ſeines Athems, und ich weiß, wenn ſeine Lippen die meinen berühren, dann darf ich zu ihm kommen. Du biſt ja nun da, Erika. Du wirſt Liane mit in Deine neue Heimat nehmen . . . „Und Dich auch, liebſte Mutter.“ „Meine Heimat iſt bei ihm, im Leben und im Tode“ Nach einer Pauſe ſragte ſie: „Iſt Liane ſehr krank: „Nein, liebe, Mutter, ſie wird bald geſunden. Die Mutter verſank wieder in ſich ſelbſt, und Erika 271 fand kein Wort nüchterner Vernunft, um ſie aus ihren Viſionen zu wecken. Neben dieſem Grabhügel, neben dieſer Greiſin, die ſo ſchattenhaft dahindämmerte, und deren ganzes Weſen eine ideale, transcendentale Leidenſchaft für den Todten war, kam ihr Alles dem Leben zugewendete Denken nnd Fühlen grob und vulgär vor, und die ſinnlichen Verirrungen eines Ludwig Schrenk erfüllten ſie mit Widerwillen. Nein, dieſe edle Greiſin durfte nicht in bitterer Qual aus dem Leben ſcheiden, weil ihre Tochter in Schmach untergegangen! Die Weihe des Friedens ſollte ſie hinüberleiten. Als es Nacht geworden war, ließ die Mutter ſich fortführen. Erikas Anweſenheit änderte nichts in ihrem Weſen. Sie ſtand immer wie auf der Schwelle des Todes und konnte ſich nicht zurückfinden in's wirkliche Leben Doch erloſch ſie zuſehends ſeit der Tochter An⸗ kunft. Immer öfter und anhaltender flüſterte ſie vor ſich hin, ihre Geſtalt beugte ſich immer mehr vornüber, der Erde zu; immer war es, als lauſche ſie auf eine Stimme von jenſeits, und oft fuhr ſie verſtört auf, wenn man eine Frage an ſie richtete. Das viſionäre Gebahren der Mutter erfüllte Erika mit heiliger Rührung. Sie ſchrieb an Luz: „Meine Schweſter trägt ein Kind unter ihrem Herzen, Ihr Kind. Sie wußten es nicht, jetzt wiſſen Sie es. Sie werden die Mutter Ihres Kindes zu Ihrer Gattin machen. Daß Sie anders denken könnten, iſt unmöglich. Mutter zu werden, ohne Gattin zu ſein, erträgt Liane nicht. Wie und wann ſoll geſchehen, was geſchehen muß? Schreiben Sie es mir. Erika. 272 Sie erhielt umgehend eine Antwort von Ludwig von Schrenk: „Das Kind ändert nichts. Ich werde nie der Gatte Lianens, weil ich ſie nicht liebe. Unſittlicher wäre, zu thun, was Sie verlangen, als meine Weigerung, es zu thun. Ich weiß, was Sie ſagen wollen: Sie aber wiſſen nicht, was ich zu ſagen habe. Ich ſoll Liane heirathen, damit ihr die Achtung der Welt erhalten bleibe. Der Welt! Das heißt der anderen Leute! Es geht alſo um den Schein, und nur um den Schein, nicht um das wirk⸗ liche Sittliche. Die Thatſache, daß Liane mein war vor der Ehe, iſt nicht auszulöſchen. Wird Liane durch die Ehe vor Gott, vor ſich ſelber der Sünde — der vermeint⸗ lichen Sünde — bar? Nein. Ich ſoll ſie vor Schande bewahren? vor welcher Schande? Liane iſt ein reines Weib, ſie war es immer, auch in meinen Armen, ſie wird es bleiben. Wäre was geſchehen, Schändliches, ein Schauder der Natur hätte das liebe Kind geſchützt. Sie heirathen, hieße eine vermeintliche, eine Schein⸗ ſchmach in eine wirkliche, eine dauernde Schmach verwandeln. Eine ſolche Ehe wäre für jedes reine Weib . . . ſetzen Sie ſelbſt das Wort hinzu, das auszuſprechen ich mich ſcheue. Für eine ſolche Ehe iſt Liane zu gut. Ich will nicht der Lüge einen Tempel erbauen, um die Wahrheit darin zu opfern. Luz. Erika brachte, nachdem ſie dieſen Brief geleſen, einige Tage in bitterem Nachdenken zu. Sie wollte nicht gleich aus ihrer wilden Empörung heraus einen Entſchluß faſſen; ſie wollte klüglich vermeiden, was einer verſöhnlichen Löſung ſchaden konnte durch zu heftige Worte, durch zu verächtliche H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 18 273 Zurückweiſung. Ihr tiefes Mitleid für Liane machte ſie zum Maßſtab ihres Handelns. Die verſöhnliche Löſung mußte in's Werk geſetzt werden, um jeden Preis! Sie ſah, daß auch in Lianens Seele ein Schimmer der Hoffnung gefallen war. Liane fragte nichts; aber ſie folgte der Schweſter wie ihr Schatten, und ihre Augen ruhten auf ihrem Geſicht, als wollte ſie ihr Schickſal daraus leſen. Nur wenn Erika ihr voll in's Geſicht blickte, dann wendete ſie den Kopf fort. Sie ſah Niemand gerade in die Augen ſeitdem, auch der Mutter nicht, die doch blind war. Als Erika den Brief von Luz erhalten, ſagte ſie zu Liane: „Wenn Dich nun Luz nicht zu ſeiner Gattin machen könnte, weil er krank wäre und nicht heirathen dürfte — nicht wahr, dann kämeſt Du mit mir in meine neue Heimat? So viel tauſend Meilen von hier fragt Niemand, was da⸗ heim geſchehen; auch hat man dort andere Anſichten über das, was ſündhaft iſt. Wir würden zuſammen ſtark ſein, arbeiten, und das Kind gehörte uns Beiden. Liane ſtarrte vor ſich hin, ihr Geſicht drückte Qual aus. „Aber er iſt ja nicht krank, und Du haſt ihn ja ¹ geſehen. Ach, Erika, zuweilen denke ich — denke ich . . . das Wort wollte nicht über ihre Lippen. „Was denkſt Du?“ fragte Erika, ſie ſanft umſchlingend. Liane verbarg ihr Geſicht an Erikas Bruſt. „Ich denke, daß er mich nicht lieb hat, mich nie lieb gehabt hat, auch damals nicht. Und wenn ich das denke, dann — dann iſt mir, als dürfte ich gar nicht mehr leben, als hätte ich gar kein Recht mehr dazu! Wenn das wäre — o Gott, 274 Erika — aber das kann nicht ſein, kann nicht — ſage Du — Du . .“ ein Thränenſtrom erſtickte ihre Stimme. Erika hatte alle Mühe, ſie zu beruhigen, mit Lieb⸗ koſungen und der Verſicherung, ſie wiſſe, daß Luz ſie lieb habe. Erika bedurfte ſelbſt der Beruhigung. Es waren gerade Mondſcheinnächte. Oft erwachte ſie Nachts mit einem Traum, der ihr die Röthe der Scham in's Geſicht trieb. Sie ſprang auf, ſchloß die Vorhänge, als könne Jemand von draußen in den monderhellten Raum blicken, und auf⸗ horchend lag ſie dann lange wach, mit hochklopfendem Herzen. Allnächtlich, um dieſelbe Stunde hörte ſie den Hufſchlag eines Pferdes, ſie wußte, wer der Reiter war; unter ihrem Fenſter war es dann eine Weile ſtill, bis der Reiter in raſendem Galopp davonſprengte. Bei Tage, wenn ſie einen Spaziergang durch den Wald machte, kehrte ſie oft plötzlich an einer beſtimmten Stelle um; ſie wußte, ſie würde ihm begegnen, wenn ſie nur einen Schritt weiter ginge. Hatte die viſionäre Art der Mutter ſchon auf ſie gewirkt? Sah ſie Geſpenſter, ſie, die ſeit ſo vielen Jahren nur mit derbſten Realitäten zu thun hatte? Ja, ein Geſpenſt ein einziges — in den tiefſten Falten ihres Herzens lauerte es — es trieb ſie aus allen Sinnen. Wie ſie ihn haßte, ihn haßte — auch dafür! Die Qual der Ungewißheit wurde ihr unerträglich. Sie ſchrieb noch einmal an Luz. „Ich verſuche, Ihnen ruhig, ſachlich zu ſchreiben. Gott weiß, wie ſchwer es mir wird. Sie ſchreiben, als ob es ſich um ethiſch⸗philoſophiſche Principien handle und nicht um Sein oder Nichtſein lebendig fühlender unglück⸗ 18* 275 ſeliger Menſchen. Sie lieben Liane nicht, ſagen Sie. Sie lieben ſie nicht heute oder morgen; aber eines Tages werden Sie ſie lieben, Herzensgüte und Lieblichkeit ſind eine Macht, die unwiderſtehlich wirkt auf jedes Herz, das ein Herz iſt. „Es geht um den Schein, ſagen Sie, nur um den Schein. Wenn aber der Schein ſchmerzt wie Wirklichkeit, ſo iſt es ja gleichgiltig, ob Schein oder Weſen, ob Illuſion oder abſolute Wahrheit! Und wahr wie der Tod iſt Lianens Verzweiflung, und wahr und wirklich wird das ſchmerzliche Hinſcheiden meiner Mutter ſein, wenn ſie er⸗ fährt, was ihr bis jetzt verborgen iſt; doppelt und dreifach ſchmerzlich, denn ſie wird den Gram mitfühlen für den todten Gatten. All Ihr Reden iſt nichtig, nichtig. Das nackte Laſter iſt weniger abſtoßend, als das mit Sophismen bekleidete. Es giebt keine Entlaſtung für Sie. Es giebt nur Reue und Sühne. Mögen Sie doch mit Ihrem Denken die Zukunft anticipiren; mit Ihren Thaten dürfen Sie es nicht, weil Sie Andere in Mitleidenſchaft ziehen. Sie glauben, ein radicaler Denker zu ſein, und borgen ſich doch nur Gedanken von der Zukunft, um den Pflichten der Gegenwart zu entſchlüpfen. Wie, wenn ein Jeder dasſelbe Recht wie Sie beanſpruchte, frei von Sitte und Geſetz nach Privatgrundſätzen zu handeln? Dürften Sie ſich über den Räuber beklagen, der bei Ihnen einbricht, und der meint, daß Eigenthum Diebſtahl ſei? „Es ſoll nur eine Richtſchnur für unſere Handlungen geben: die Menſchenliebe! Wenn Sie ſehen, daß ein Kind in's Waſſer fällt — Sie retten es und denken nicht erſt nach, ob Sie ſich durch den Sprung eine Erkältung oder den Tod zuziehen könnten. Und Liane ſteht an einem 276 Abgrunde; und ſtrecken Sie nicht die Hand aus, ſie zu retten — ich könnte ſie niederſchießen kalten Blutes, wie ich in unſeren Wäldern einen Wolf erſchoß, der unſere Lämmer erwürgte! — Liane iſt ſchuldig wie Sie; das iſt Ihre Meinung, ich leſe es aus Ihrem Brief heraus. Gut! gut! Aber wie? wenn Zwei gleich ſchuldig ſind, dann ſoll der Eine, der Starke, frei ausgehen, und der Andere, Schwache, Zarte ſoll mit ſeiner ganzen Exiſtenz büßen: Liegt das in der Sitte der Zeit, ſo muß das Gewiſſen des guten Menſchen dieſe ungeheuere Ungerechtigkeit ausgleichen. Das iſt, wie wenn ein Erwachſener ein Kind niederſchlüge: elendeſte Feigheit. Beſſer wäre es geweſen, Sie hätten meine arme Liane gleich getödtet, als daß ſie nun ſo qual⸗ voll dahinſiechen ſoll. Sie ſchreiben mir: „Denken Sie! denken Sie!“ ich antworte Ihnen: „ühlen Sie! fühlen Sie!“ Sehen Sie hin! In der einen Wagſchale: das Elend guter, reiner Menſchen, in der andern eine Handvoll fadenſcheiniger, ſophiſtiſcher Moralprincipien. „Und Sie können ſchwanken! Alles, Alles iſt beſſer, als daß Unſchuldige zu Grunde gehen. Und Sie, Luz, Sie hätten die Rolle des Henkers. Andere für die Wahr⸗ heit opfern iſt tauſend Mal ſchlimmer, als ſich ſelbſt für eine Illuſion, ſagen Sie meinetwegen für eine Lüge opfern. Lügen Sie! lügen Sie — Luz! aber retten Sie Liane! „Nimmermehr glaube ich, daß Sie Ihr letztes Wort geſprochen haben. Ich warte auf das letzte. Thun Sie nicht, was Sie thun wollen; thun Sie, was Sie thun müſſen, guter Luz! Erika.“ Wieder traf die Antwort Ludwig von Schrenks um⸗ gehend ein. Er ſchrieb: 277 „Mir werfen Sie Sophismen vor; aber Alles, was Sie ſelbſt ſchreiben, trieft zwar von Tugend, und iſt doch verworfen vor Gott, vor dem Weltgeiſt! Sie könnten mich niederſchießen, ſagen Sie? Das wäre wahrſcheinlich tugend⸗ hafter, als in einem Augenblick leidenſchaftlicher Zärtlichkeit die Gewalt über ſich verlieren! Ja, ich glaube es, Sie wären eher im Stande, den Mann, den Sie lieben, zu tödten, als ſich ihm hinzugeben. O erhabener, ſchnöder Tugendſtolz! Zwar ſind Sie für Abſchaffung der Todes⸗ ſtrafe; aber jemand, der Ihre Schweſter vermeintlich ge⸗ kränkt hat, den richten Sie ohne viel Federleſens hin. „Könnte Liane, wie ſie es nicht kann, von der Meinung der Welt abſtrahiren — keine Faſer ihrer ſitt⸗ lichen Natur würde ſich gegen mich auflehnen. Sie aber, Erika, die Sie zehn Jahre in Amerika den Urathem der Natur getrunken, Sie hätten die morſche Sittenlehre des alten Europa abſtreifen können. Es wäre beſſer, ſagen Sie, ich hätte Liane gleich getödtet, als daß ſie nun gram⸗ voll dahinſiecht. Wahnſinnigſte Ausgeburt eines morali⸗ ſchen Aberglaubens! Beſſer ſcheint es Ihnen, ſie wäre todt, als daß Hinz und Kunz nichts mehr von ihr wiſſen wollen. Aber Hinz und Kunz wollen ja ſo wie ſo von der armen Predigerstochter nichts wiſſen; der geringe Unterſchied iſt nur: bisher gingen ſie gleichgiltig an ihr vorüber, jetzt mit einem verächtlichen Blinzeln. Fragen Sie die Geſchichte oder die weltkundige Mitwelt, wie⸗ viel Frauen ſie kennt, hervorragende, berühmte Schau⸗ ſpielerinnen, Künſtlerinnen und andere, die offenkundig die Geliebte irgend eines Mannes geweſen ſind, und die in den meiſten Fällen Männer gefunden haben, unbeſcholtene, vom 278 einfachen Bürger bis zum Fürſten herauf, die ſie zur Ehe verlangten — trotzdem! Im Volke kennt man dieſe Scheu vor gefallenen Mädchen nicht. Es ſcheint, Unberührtheit verlangt man nur von den Mädchen, die auf keinem anderen Gebiete leiſtungsfähig ſind. Laſſen Sie Ihre Schweſter etwas Ordentliches lernen, und der vermeintliche Makel — man wird ihn nicht ſehen, weil man ihn nicht ſehen will. Was die Welt braucht, mißachtet ſie nicht. Meine Schuld, ich leugne ſie nicht, und doch — ich bin nur ein unter⸗ geordneter Faktor in Lianens Schickſal. Daß ihre Mutter blind iſt und ſie nicht ſchützen konnte, daß des Mädchens ganzes Weſen in Zärtlichkeit gelöſt iſt; daß Sie, Erika, nach Amerika gegangen ſind — ja, das iſt's, daß Sie nach Amerika gegangen ſind, das war das Aergſte. Ich wollte Erika heirathen, weil es das Richtige war; ich will Liane nicht heirathen, weil es das Falſche wäre. Damals, vor zehn Jahren, hätten Sie mein Weib werden müſſen. Aus Großmuth, Edelſinn, was weiß ich, wurden Sie es nicht. Was hat der alte Mann, mein Vater, von Ihrem Edelſinn gehabt? Daß ich einen wüſten Lebenswandel geführt, kein junges Weib in ſein Haus gebracht, ihm keinen Enkel geſchenkt habe. Und Sie? Heimatlos, ein Leben voll vulgärer Arbeit und das Unglück Ihrer Schweſter! Alles Folge der Feigheit, der Lüge; und ſie ſoll fortgeſetzt werden, dieſe Lüge, bis in alle Ewigkeit? „Die Art der Tugend, die Sie von mir fordern, reicht für mich nur bis zu dem Jahre, wo ich denken lernte; ſeitdem habe ich in ihr ſo viel Heuchelei, Unzucht, Ver⸗ geudung von Kraft und Leben entdeckt, daß ich nur noch der Moral folge, die auf dem Grund und Boden meiner 279 eigenen Seele gewachſen iſt. Immer wieder ſollen wir unſere beſſeren Empfindungeu opfern wegen der ſchlechteren der Anderen! Immer ſich anpaſſen, immer eingepfercht in den Gedankenkreis der großen Heerde! — Nein! nein! — und ſoll ich ſchon Märtyrer ſein, — ſei es dann für die Wahrheit, die im Schooße der Zukunft ruht, nicht für den auswendig gelernten Katechismus unſerer Urahnen. Reue und Sühne fordern Sie von mir. Ich habe Reue, und die Sühne — ſind Sie denn blind, Erika, und ſehen Sie nicht die Furien auf meinen Ferſen? Aller Gram Ihrer Schweſter wiegt den meinigen nicht auf! Sie ſind da, Erika, und ich liebe Sie, ein wahrer Extract von Liebe, ſo feurig und unbändig geworden in den zehn Jahren, daß er das Herz faſt, das ſie einſchließt, ſprengt. Und nichts, nichts iſt zwiſchen uns als das! O Gott! Gott! welch eine Hölle! Erika, noch nicht Sühne genug!“ Erikas Aufregung, als ſie dieſen Brief geleſen, war ſo ſtark, daß ſie ſich eine Zeitlang einſchließen mußte, um ſie Lianen nicht zu verrathen. Sie will nicht nachdenken über das, was Luz ſchreibt; ſie will nur, es ſoll geſchehen, was recht iſt. Aber wie nun? Sie geht auf den Grabhügel des Vaters, die Mutter aufzuſuchen. „Mutter,“ ſagt ſie, „wenn uns Jemand tödt⸗ lich gekränkt hat, ſollen wir es dulden: Die Mutter legt die Hand über Erikas Augen, als ſähe ſie ihr zorniges Blitzen. „Still, ſtill, mein Kind, frage mich nicht, frage die Du liebſt und die in der ewigen Ruhe ſind.“ Sie ſchwieg eine Weile, dann fuhr ſie fort: „Hörſt Du, wie der Wind das herbſtliche Laub dahinweht? zur Ruhe. Noch eben war die Sonne auf meinen 280 Augen; jetzt ſinkt ſie hinab — zur Ruhe, Ruhe! Frieden! Störe den Frieden der Todten nicht. Was wir thun, es ſoll ſein wie Kränze, die wir auf das Grab des Geliebten legen.“ Und mit zärtlicher Hand ſtreicht ſie über den weichen Raſen des Hügels. Die Worte der Mutter ſänftigten allmählich den Sturm in Erikas Bruſt. Sie blickte in das Geſicht der Greiſin, das ſtill verklärte; ihre Blicke ſchweiften über die Landſchaft, die jenſeits des Friedhofes hügelig anſtieg. Oben ſtanden Baumgruppen im herbſtlichen Laub; von zartem Goldduft umfloſſen, hoben ſie ſich in wunderbarer Lieblichkeit vom reinen Aether des Himmels ab. Wie rein, wie erhaben war das Alles, das Antlitz der Mutter, die Holdſeligkeit der Natur, und das Herz eines guten Menſchen — und gut war Luz in ihrer Meinung — ſollte keiner Läuterung fähig ſein? Bisher hatte ſie nur kategoriſch verlangt, was er thun ſollte, und in ſeinem ſouveränen Denkerſtolz hatte er ſich gegen ihren Willen aufgelehnt. Nur ſein Verſtand war auf Abwegen. Jetzt wollte ſie einfach aus ihrem Herzen heraus zu ihm reden; und das ſeine würde ihr die Antwort geben, die ſie heiß erſehnte. Sie ſchrieb eine Zeile an Luz, daß ſie ihn am nächſten Tage im Walde treffen möchte, auf dem Raſenplatze unter der Buche, wo die vielen Vergißmeinnicht blühten. Sie hatte mit Abſicht dieſen Platz gewählt, weil ſie meinte, dort würde ſein Sinn weichen Empfindungen zu⸗ gänglicher ſein, als irgend wo anders in der Welt. Als ſie ſich am nächſten Tage für die Zuſammenkunft im Walde ankleidete, fiel ihr Blick auf den Revolver, der 281 auf ihrem Tiſche lag. Sie griff darnach und ſteckte ihn mechaniſch zu ſich, in der langjährigen Gewohnheit, nie irgend einer Gefahr, welcher Art ſie auch ſei, waffenlos entgegenzutreten. Es war ein ſtürmiſcher Herbſttag. Wie entfeſſelte Leidenſchaft tobte der Sturm und wirbelte das gelbrothe Laub durch die Lüfte. Blauſchwarz der Himmel, von Blitzen durchzuckt. Die Gräſer erſchauerten nnd fuhren wild durcheinander. Sie traf Luz ſchon auf dem halben Wege zur Buche, gerade an jener düſteren Stelle, die ſie an Böcklins Furien⸗ bild erinnert hatte. Eine unheimliche Empfindung durch⸗ fröſtelte ſie. In ſeinen Augen brannte ein fieberhaftes Licht, und ab und zu ging ein Zucken durch ſeine Glieder, bei ihm immer der Vorbote eines Herzkrampfs. Er war an ſie herangetreten; ohne ihm aber zur An⸗ rede Zeit zu laſſen, hob ſie ſanft mit gedämpfter Stimme zu ſprechen an. „Ich komme nicht her, Herr von Schrenck, um mit ihnen zu ſtreiten, wer Recht und wer Unrecht hat. Es iſt ja möglich, daß Sie allein Recht haben. Ich komme hierher um Gnade zu erbitten für Eine, die zum Tode verurtheilt iſt, unſchuldig verurtheilt.“ Er wollte ſprechen, mit einer bittenden Gebärde währte ſie es ab. „Sie ſind Philoſoph, ein Denker, ich weiß, ich weiß, — ich aber, wie ſollte ich denken können? Lianens Thränen haben alle meine Gedanken ausgelöſcht, und vor den Ge⸗ beten meiner Mutter bin ich zu dem frommen Glauben 282 zurückgekehrt, daß um das Gute und Rechte zu thun, wir nur Gottes Stimme zu hören brauchen, die in uns Allen iſt. Auch in Dir, Luz, höre ſie! höre ſie! Erbarme Dich Lianens! erbarme Dich meiner Mutter! erbarme Dich meiner!“ Sie war nahe zu ihm herangetreten, ſie legte ihre Hand auf ſeinen Arm, die rothen Lippen halb geöffnet, ſah ſie zu ihm auf, die Augen feucht erglänzend in dem Geſicht, das weiß war vor heißer Erregung. Schön war ſie ſo, wie die Verſuchung ſelber. Ohne es ſelbſt zu wiſſen, hatte ſie die Anrede gewechſelt, ihn aber traf das „Du mitten in's Herz. Er wich von ihr zurück, er ſtreifte ihre Hand von ſeinem Arm, er umklammerte einen Baum⸗ ſtamm, er ſuchte eine Stütze, um ſich nicht auf ſie zu ſtürzen, „Erika!“ rief er mit halberſtickter Stimme. Sie blickten ſich ſprachlos in die Augen. Was ſie ſagen wollte, erſtarb ihr auf der Lippe. Sie wollte fort⸗ blicken von ihm und konnte nicht — der Blick des Baſilisken? Sie fürchtete ſich — was würde nun kommenk etwas Schreckliches? unwillkürlich taſtete ſie nach dem Revolver. Und es kam. So leiſe, daß ſie ihn kaum verſtehen konnte, ſagte er: „Opfere Du Dich für Deine Schweſter! „— Ich? wie denn: Er löſte ſeine Arme vom Baum und ſtreckte ſie ihr beſchwörend entgegen. „Nur einmal, einmal, Erika, ſei mehr, denke höher als die Anderen, ſei mehr als ein Echo der gangbaren Meinung. Nur einmal opfere den Schein der Ehre für echtes, wirkliches Glück! 283 Mit angſtvoller Spannung blickte Erika ihn an. „Zwei Löſungen giebt es,“ fuhr er mit erzwungener Ruhe fort. Ich heirathe Liane, laſſe mich nach einem Jahre von ihr ſcheiden, und Du wirſt mein Weib.“ Entſetzt blickte Erika ihn an, als hätte ſie nicht richtig gehört. „Und breche das Herz meiner Schweſter. Das iſt ja unmöglich, ganz unmöglich. Was Sie da ſagen iſt ein Abgrund von Frivolität.“ „Nie bin ich entfernter von Frivolität geweſen als in dieſem Augenblick,“ ſagte er mit einer Stimme, die in Leidenſchaft vibrirte; „die Welt, die Geſellſchaft mit ihrem Hokospokus verſinkt hinter mir — und empor ſteigt aus der Tiefe der Seele, nackt, die Wahrheit ſelbſt; und der Inbegriff aller Wahrheit in mir, das iſt die Liebe zu Dir, Erika! Ich habe Quaderſteine von Vernunft herbei⸗ getragen, um ſie zu begraben; ich habe Gedankenpfeile zugeſpitzt, vergiftet, um ſie zu tödten — umſonſt, umſonſt, ſie wuchs immer nach, ſie wuchs! — Und mit dieſer Liebe für Dich im Herzen ſoll ich Liane heirathen, die Deine Stimme hat, Deine, und ich könnte . . . ich ſollte — ſollte — o pfui, nicht doch — nicht doch! Er ſtreckte die Arme nach ihr aus. „Sei mein, Erika, mein, und alles Andere ſei, wie Du willſt! Ich will mit Euch in den Urwald gehen, von Jagd und Fiſchfang will ich leben. Und willſt Du die Scheidung nicht, ſo bleibe ich vor der Welt Lianens Gatte, Du aber biſt meine Geliebte! die einzig Geliebte! Du liebſt mich ja, Deine Seele und all Deine Sinne 284 wollen zu mir! Du biſt ja ſchon mein, Du biſt es immer geweſen! Er riß ſie an ſeine Bruſt und küßte mit flammenden Lippen den Mund, den nie ein Mann bis dahin be⸗ rührt hatte. War es Eiſeskälte, war es verzehrende Gluth, die ſie durchſchauerte, ſie wußte nicht, was ſie raſend, ſinnlos machte. Sie ſtieß ihn zurück, ihre zitternden Finger er⸗ griffen den Revolver. Sie rang nach Athem. „Nein, ich will nicht! ich will nicht! Schmach häufſt Du auf Schmach! Elender! Elender!“ Sie riß den Revolver empor. Mit dem Sprunge eines Tigers war er auf ſie geſtürzt, die Kugel flog in's Gebüſch, er riß ihr die Waffe aus der Hand, ſetzte ſie auf ſeine Bruſt — ein pfeifender Ton, — ein ſchwerer Fall. Er liegt am Boden, die Hand feſt auf die Bruſt gepreßt, ein kurzes, heiſeres Lachen ſtößt er aus. „Wir Narren!“ Er ſpeit die zwei Worte hinaus mit ſeinem Blut. Seine Hand ſinkt von der Bruſt, das Gras färbt ſich roth. Und urplötzlich verändern ſich ſeine Züge — die Weihe des Todes. Groß und edel wird jeder Zug, eine Offenbarung ſeiner urſprünglichen Gottesnatur, ehe das Leben ſie verdarb. Sein brechendes Auge ſucht das ihre. Sie legt ihre Hand in ſeine erkaltende. Seine Finger ſchließen ſich feſt um ihre Hand, als wollten ſie ſie im Tode nicht laſſen. Sie verſteht ſeinen Blick, ſie nimmt den Revolver vom Boden, ſie erhebt ihn und — langſam läßt ſie ihn wieder ſinken. Nein, kein Selbſtmord! Wie gleichgültig, ob ſie jetzt ſtirbt oder in zwanzig oder in dreißig Jahren! Was 285 Leben in ihr war, iſt ja doch hin, aber für die Anderen muß ſie noch da ſein. Der Sturm in der Natur iſt vorüber, aber er hat die Bäume kahl zurückgelaſſen. Sie küßt jeden einzelnen Finger der Hand des Todten, und die Finger ſcheinen ſich zu erwärmen und geben ihre Hand frei. Sie drückt ihm die Augen zu und legt ſein Haupt in die Sonne, die mild und ſchön zur Neige geht und eine Glorie über den düſteren Fleck ergießt. Und den Roſenſchimmer über Wald und Himmel, den ſüßen Frieden, den Bach, der dahinrauſcht, Erika ſieht Alles und weiß, ſie iſt auf immer davon ausgeſchloſſen, ſie wird ſich nie mehr daran freuen. Und wieder, wie vor wenigen Tagen, trägt der Wind vom Saum des Waldes her den Geſang der heim⸗ kehrenden Arbeiter herüber: ſein Grablied. Ja, ein Lebe⸗ wohl auf Nimmerwiederſehen; und doch ſo unermeßlich Sehn⸗ ſüchtiges klingt aus dem Liede, ſo Lockendes! Lockendes: komm! komm! wohin? weit — weit hinaus — über Berg und Thal und Meer, — hinaus — hinauf — hinüber — zu ihm! Thränen, brennende, fallen auf den Todten. Inbrünſtig küßt ſie ſein weißes Geſicht. — Sie blickt in ſich — ſchaudernd verſchließt ſich ihre Seele vor ihren Gedanken. Ja, ſie hat ihn getödtet — ſie! Sie ruft die Landleute an, die näher gekommen waren, und trägt ihnen auf, den Todten heimzubringen. Dann geht ſie über den Kirchhof nach Hauſe. Auf dem Grab⸗ hügel des Vaters findet ſie die Mutter, das Geſicht im Raſen des Hügels gebettet. Sie richtet den Kopf auf — ſie iſt todt, auch ſie! Sie findet es ſo natürlich und auch ſo gut, daß die Mutter nicht mehr iſt. Sie blickt lange 286 in das ſtille Antlitz. Ja, ſo ſehen Menſchen aus, die gern geſtorben ſind. Sie iſt heimgegangen — zu ihm. Wohl ihr! Als ſie Lianen im Hauſe trifft, ſagt ſie ihr tonlos, daß die Mutter und Luz Schrenk geſtorben ſind; ſie ſagt ihr, daß Luz ſchon ſeit Jahren ſchwer krank geweſen, daß er ſie lieb gehabt nnd daß ſie ſeine Gattin geworden wäre, wenn er länger gelebt hätte. Liane verliert die Beſinnung. Als ſie aus einer langen Ohnmacht erwacht, giebt ſie ſich leidenſchaftlichem Schmerze hin. Seit Luzens gewaltſamen Tode empfindet Erika allmählich faſt eine Abneigung gegen die Schweſter. Als Luz und die Mutter begraben waren, fuhren ſie beide über den Ocean. Drüben gab Liane einem Knaben das Leben. Als ſie geneſen war, theilte ſie die Arbeiten und Pflichten Erikas. Allmählich ſänftigte ſich ihr Schmerz, und einige Jahre ſpäter fand ſie einen wackeren Mann, der ſie zur Gattin nahm, obgleich er ihre Vergangenheit kannte. Sie wurde eine glückliche, heitere Frau, Mutter vieler Kinder, die ſie alle liebte; nur den kleinen Luz, ihr natürliches Kind, liebte ſie nicht. Sie überließ es Erika, auch dann, als ſie mit ihrem Gatten in einen andern Theil des Landes überſiedelte. So gehörte der Knabe Erika allein. Er hielt ſie für ſeine Mutter. Dieſe Lüge war all ihr Glück, ihr einziges. Froh wurde ſie nie mehr. Es war dasſelbe Leben wie früher; nur ein Todter hatte ſich in ihrem Gedächtniß feſtgeklammert, und ſie konnte ihn nicht mehr loswerden. Den Lebenden hätte ſie vergeſſen können, den Todten nicht — das Werk der Furien! Wenn ſie voll Bitterkeit das heitere Glück ihrer Schweſter ſah, dann ziſchelten ſie: „Wir Narren!“ Wollte 287 ihre Seele an der Größe der Natur, an erhabenen Ideen, die ſie las, an eigenem idealen Wollen ſich aufſchwingen — immer tönte dazwiſchen, wie aus einem blutigen Nebel heraus, der gellende Hohn des Sterbenden: „Wir Narren! Nicht Wir Narren — Er Narr mußte es heißen. Ein Narr, wer ſich über die Sittengeſetze ſeiner Zeit ſtellt! Er gleicht dem Feldherrn, der ſeinem Heer vorauseilen wollte, um ſchneller den Sieg zu erringen. Er gefährdet das Heer. Würde er niedergeſchoſſen als Deſerteur, ihm geſchähe Recht. Die ſittlichen und ſocialen Räthſel der Gegenwart löſt immer nur die Zukunft. Recht und Pflicht der lebenden Generation iſt es, die Löſung mit ihrem Denken anzu⸗ bahnen, wie Erika in ihrem Brief an Luz es ausſprach; ſie mit Thaten anticipiren wollen iſt brutal. Es iſt, als wollte man die Pfeiler eines morſchen, aber bewohnten Ge⸗ bäudes zuſammenſtürzen, Schuldloſe darunter begrabend, anſtatt Stein für Stein abzutragen. Oft genug iſt die Wahrheit der Zukunft für die Gegenwart Lüge. 288 Marie. H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 19 Der Geheimrath Burkhart, Beamter im Miniſterium des Innern zu Berlin, beſaß in Weſtend bei Charlotten⸗ burg ein beſcheidenes Sommerhäuschen. Im Mai, an einem ſchönen Sommernachmittag, ſaß die Geheimräthin mit ihrer Tochter und einem jungen Freunde des Hauſes auf der Veranda der Villa, die in ein wohlgepflegtes Gärtchen führte. Auf zierlich geſtickter Decke ſtand das Kaffeegeräth. Der Flieder blühte, und das Aroma des Kaffees miſchte ſich mit ſeinem Duft. Beide Damen waren mit Hand⸗ arbeiten beſchäftigt; ab und zu ließen ſie beim Plaudern die Hände ſinken, athmeten den Duft ein, und ihre Blicke ſchweiften mit heiterem Behagen über das blühende Gärtchen; und dieſe Stimmung warmer und lebendiger Zufriedenheit hatte ſich augenſcheinlich auch dem Freunde mitgetheilt. Mutter und Tochter waren einfach und correct ge⸗ kleidet, die Tochter für ihre Jugend vielleicht zu correct. Die Geheimräthin mochte 45 Jahre alt ſein, ſah aber älter aus; ſie hatte ein feines, regelmäßig geſchnittenes Geſicht und blaue, verſtändnißvolle Augen. Das ergrauende Haar trug ſie glatt geſcheitelt. 19* ſcheinbar wie die Mutter. Das blühende Kolorit der Auf den erſten Blick erſchien die Tochter ebenſo un⸗ Jugend fehlte ihr. Sie ſchenkte jetzt den Kaffee ein und ſah fragend zu dem jungen Manne auf: „Zwei Stücke Zucker, Herr Werner? Die Mutter warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu: „Aber Marie, weißt Du noch immer nicht, daß Herr Werner keinen Zucker zum Kaffee nimmt! Die drei plauderten in liebenswürdiger und verſtändiger Weiſe. Die Geheimräthin, deren herzliche Empfindung für den jungen Freund augenſcheinlich war, führte die Unter⸗ haltung. Man ſprach von den Vorzügen und Nachtheilen der Sommerwohnungen. Frau Burkhart äußerte, wie zufrieden und glücklich ſie ſich in Weſtend fühle; das ſei das Schönſte an ihrer kleinen Beſitzung, daß ſie voll und ganz ausgenutzt werde. „Nein, das Schönſte iſt die Aeolsharfe auf dem Gärtnerhäuschen,“ warf die Tochter ein. Da ſei keine Kammer, fuhr die Mutter fort, die nicht nothwendig wäre; jeder Raſenfleck habe ſeine Beſtimmung, jede Blume in dem Gärtchen kenne ſie perſönlich und freue ſich an ihrem Aufblühen und Fortkommen. Sie habe niemals die Großen dieſer Erde um ihre hunderte von unbewohnten Schlöſſern beneidet. In der Vorſtellung: „das gehört mir!“ liege für ſie nicht der geringſte Reiz. Die Dinge gehörten uns doch eigentlich erſt dann, wenn wir in und mit ihnen lebten. Gott ſei Dank ſtände die gute Stube auf dem Ausſterbe⸗Etat. „Ich ſtimme Ihnen völlig bei, gnädige Frau,“ ſagte 292 Werner, „mir geht es ſogar annähernd mit Menſchen, wie Ihnen mit den Dingen. Mit wem ich nicht intim ver⸗ kehren kann, der geht mich nichts an, der intereſſirt mich nicht. Große Geſellſchaften verſtehe ich einfach nicht. Den wenigen Intimen aber gehöre ich mit Leib und Seele.. „Und doch,“ ſagte Marie, „wer hat denn kürzlich einmal geklagt, daß er nie einen Freund beſeſſen, was, nach Jean Paul, tauſend Mal ſchlimmer ſein ſoll, als wenn man ihn beſeſſen und dann verloren hat. „Es iſt wahr,“ ſagte Werner einfach; „daß ich keinen Freund gehabt, lag an meiner Anmaßung. „Sie und anmaßend!“ lächelte die Geheimräthin, „wem wollen Sie das vorreden: „Doch, gnädige Frau, ich bin's, in gewiſſer Weiſe. So ein unbedeutender Geſell, wie ich bin, von denen gerade zwölf auf ein Dutzend kommen, ich fühlte mich immer nur zu bedeutenden Menſchen — bedeutend an Geiſt oder Gemüth — hingezogen; die überſahen mich natürlich. Die Freunde, die ich hätte haben können, mochte ich nicht. Die Geheimräthin ſah ihn etwas befremdet an. Marie aber ſchlug die Hände zuſammen und rief: „Sie Unvor⸗ ſichtiger! Sich ſelbſt ſo die Maske vom Geſicht zu reißen! Alſo ein Dutzendmenſch! Und ich, in meiner Naivetät, war ſchon nahe daran, Sie für etwas Beſonderes zu halten, mindeſtens eine Schopenhauerſche Ader in Ihnen zu ent⸗ decken, und nun untergraben Sie ſelbſt einen Reſpect, der ſo ſchön im Wachſen war. Sie dürfen ſich nicht wundern, daß es jetzt ganz anders zwiſchen uns werden wird, das liegt ſo in der Menſchennatur: wo der Reſpect aufhört, fängt die Dreiſtigkeit an. 293 Sie warf ihm übermüthig eine Strähne Wolle über den Arm. „Hier, halten Sie die Wolle, lieber Herr Werner, und wenn Sie morgen wiederkommen, oder übermorgen, ich habe eine Menge Berliner Commiſſionen für Sie: erſtens werden Sie uns Thee mitbringen, Rex, Jägerſtraße, daß Pfund zu . . . Die Mutter warf ihr einen mißbilligenden Blick zu. „Aber Mutter, der gute Werner — das Herr' ſchaffe ich aus Reſpectmangel ab — muß doch die Scharte ſeiner Unbedeutenheit durch ein paar Dienſtleiſtungen auswetzen. Mit einem Mal ſprang ſie von dem Schaukelſtuhl, in dem ſie ſich ſacht gewiegt hatte, auf, und lachte: „Aber das Köſtlichſte, das hätte ich ja beinahe vergeſſen. Mutter, wir Beide, Du und ich, wir ſind bedeutend, denn mit uns verkehrt der Dutzendmenſch Reinhard Werner unleugbar — intim. Ich und bedeutend!“ Und ſie lachte fort mit einem hellen, ſilbernen Lachen. Werner blickte ſie unverwandt in einer Art Ekſtaſe an. Ihre großen, grauen, ſchwarzbewimperten Augen ſahen meiſt träumeriſch in die Welt, wenn ſie aber lachte, hatte ſie Grübchen in den Wangen. Das gab ihr etwas Schelmiſches. Die Schelmerei in ihrem Weſen bildete einen reizvollen Contraſt zu ihrer ſonſt ernſten Art. Werner liebte Marie ſeit zwei Jahren mit tiefer, ſtarker Liebe. Er konnte ſich die Zukunft nicht ohne ſie denken und wurde doch die Vorſtellung nicht los, daß ſie ſich nie zu ihm herablaſſen würde. Bei einer Fußwanderung im Harz, unter Donner und Blitz, hatte er die Damen getroffen, und Gelegenheit gehabt, 294 ſich ihnen hilfreich zu erweiſen. Die Geheimräthin hatte bald die Tiefe und Feinheit ſeines Weſens erkannt, und allmählich war er ein Freund des Hauſes geworden. „Ich habe Sie doch nicht verletzt?“ fragte Marie beinahe erſchrocken, da er auf ihren Scherz nicht einzu⸗ gehen ſchien. „Sie mich verletzen!“ antwortete er, und zwang ſeine Augen von ihr abzulaſſen. „Es iſt aber doch, wie ich ſagte,“ nahm er ſeinen Gedankengang wieder auf, „das über meine Sphäre Hinauswollen iſt immer mein Ver⸗ hängniß geweſen. Schon auf der Schulbank hatte ich durch viele Klaſſen hindurch eine ebenſo leidenſchaftliche als un⸗ erwiderte Neigung zu dem begabteſten der Schüler, der zugleich der ſchönſte war. Er bemerkte wohl meine ſtille Anbetung und erlaubte mir ab und zu herablaſſend, ihm kleine Dienſte zu leiſten, ihm etwa ein ſchweres Wörter⸗ buch nach Hauſe zu tragen, ſeine Bleiſtifte zu ſpitzen u. ſ. w. „Und ſind Sie dem Knaben niemals näher getreten? fragte Frau Burkhart. „Nein. Mein Vater ſiedelte bald nach Berlin über. Ich brachte es nicht über mich, mit ihm davon zu ſprechen. Am letzten Schultag blieb ich in der Zwiſchenſtunde in der Klaſſe zurück, und bat einen Mitſchüler, ihn zu rufen, ich hätte ihm etwas Nothwendiges zu ſagen. Er kam. „Was iſt denn?“ fragte er ungeduldig. „Ich wollte Dir nur Adieu ſagen,“ ſtotterte ich, und fühlte dabei, daß ich blutroth wurde, „ich ziehe mit meinen Eltern nach Berlin, ich werde Dich wohl im Leben nicht wiederſehen. „Na, bleibe geſund,“ ſagte er gleichgiltig, und lief fort, in der Thür aber wandte er ſich noch einmal um. „Du hatteſt 295 mir ja etwas Nothwendiges zu ſagen, was denn? Ich ſtarrte ihn ſprachlos an, er lachte über meine Verdutztheit und fort war er. Das war unſer Abſchied fürs Leben. „Und aus dieſem einen Fall ſchließen Sie auf Ihre Inferiorität? „Es folgten viele andere Fälle. Später ſtudirte ich gegen den Wunſch meines Vaters Naturwiſſenſchaften; es war wieder ſo eine leidenſchaftliche Neigung für eine Sache, der ich nicht gewachſen war. Ich ſtudirte mit Hingebung und — fiel im Examen durch. Man ſagte mir zum Troſt, es ſei Zufall geweſen, ich hätte, anſtatt mir oberflächlich alle für das Examen nöthigen Kenntniſſe anzueignen, mich zu ſehr in einzelne Gebiete vertiefr — möglich — ich glaubte es nicht, mein Muth war gebrochen, ich verſuchte es kein zweites Mal. So bin ich, nach dem Wunſch meines Vaters, Kaufmann geworden. Es iſt mein Verhängniß, Sterne zu lieben, die man bekanntlich nicht begehren ſoll.“ Seine Stimme klang bei den letzten Worten unſicher, wie von verhaltener Leidenſchaft. Er warf ſein ſtarkes und ſchlichtes braunes Haar, das ihm die Stirn halb bedeckte, zurück, eine Bewegung, die ihm in Augenblicken der Er⸗ regung eigenthümlich war. „Ihr ganzes Unglück iſt“, ſagte die Geheimräthin mit liebevoller Theilnahme, „Ihnen fehlt der Glaube an ſich ſelbſt. Wir wollen Sie zu dieſem Glauben bekehren, und wenn er auch nicht ſelig macht, ſo macht er doch erfolg⸗ reich. Marie hilft dabei. Nicht, Marie? Die Tochter nickte und lächelte, und die Grübchen waren wieder da. Ein ſtrahlender Ausdruck von Glück verklärte Werners 296 etwas derbe Züge. Noch nie hatte Marie ſich ihm ſo herzlich gezeigt. Er athmete die berauſchende Luft der Hoffnung. Ein Wort tiefen Gefühls wollte ſich über ſeine Lippen drängen. Da trat das Hausmädchen mit einer Viſitenkarte in der Hand auf die Veranda und meldete, daß eine Dame draußen in einer Equipage warte, ſie wünſche die Geheimräthin zu ſprechen, ſie ſei die Nichte der gnädigen Frau. Frau Burkhart warf einen Blick auf die Karte, „Alice von Suvarin“ las ſie. Plötzlich röthete ſich ihr Geſicht, und in einem ſchärferen Ton, als Werner je von ihr gehört, ſagte ſie dem Mädchen, daß ſie für die Dame nicht zu Hauſe ſei, und daß, falls ſie wiederkäme, ſie nie⸗ mals für ſie zu Hauſe ſein würde. In ihrer Stimme zitterte eine zornige Erregung. Werner ſah ſie erſtaunt an. Sie merkte es. „Ich bin Ihnen eine Aufklärung ſchuldig,“ begann ſie, und mit einem Blick auf Marie ſetzte ſie hinzu: „ſpäter.“ Marie verſtand, daß die Mutter in ihrer Gegenwart nicht ſprechen wollte. Sie fing an, von einem Fliederbuſch in der Nähe den Flieder zu pflücken, und als ſie ihn nicht mehr mit der Hand erreichen konnte, ging ſie langſam in den Garten, um den Strauß zu ver⸗ größern. Als ſie an eine Stelle des Gartens kam, die den Garten von der Straße trennte, bog ſich eben die ab⸗ gewieſene Dame aus dem Wagen und rief dem Kutſcher zu: Kurfürſtenſtraße 77 und das junge Mädchen ſah dabei in ein reizendes Geſicht, das von rothblondem Haar um⸗ rahmt war. Die Geheimräthin hatte inzwiſchen, als ihre Tochter außer Hörweite war, an ihre letzten Worte angeknüpft: 297 „Man ſagt, daß jedes Haus ſein Skelett habe. Wir machen keine Ausnahme. Die Dame, die ich ſo hart ab⸗ wies, iſt wirklich meine Nichte, die Tochter eines meiner Brüder.“ Sie hielt inne, überwand ihren Widerwillen, zu ſprechen, und fuhr nach einer Pauſe fort: „Kennen Sie die arme Löwin von Augier?“ Werner bejahte. „Das iſt die Geſchichte meiner Nichte. Ihren Gatten, einen trefflichen und gewiſſenhaften Menſchen, hat ſie zu Grunde gerichtet. Er iſt ausgewandert. Sie hat darnach ihren leichtſinnigen Lebenswandel fortgeſetzt und iſt von einer Hand in die andere gegangen. Vor einigen Jahren hat ſie eine Liaiſon mit einem Ruſſen oder Rumänen ge⸗ habt, deſſen Namen ſie jetzt führt. Er iſt geſtorben und ſoll ihr ein bedeutendes Vermögen hinterlaſſen haben. Seitdem hatte ich nichts von ihr gehört, ich glaubte ſie irgendwo im Auslande. Es empörte mich, daß ſie es wagt, uns aufzuſuchen. Ich begreife nicht, was ſie von uns will, ſie kann doch nicht im Ernſt glauben, daß ein Verkehr zwiſchen uns möglich iſt. „Vielleicht“, meinte Werner, „hat ſie nur die Sehn⸗ ſucht zu Ihnen getrieben, einmal wieder reine Luft zu athmen. Ein kleiner Keim des Guten wirkt wohl auch noch in dem Entartetſten.“ „Wir können doch aber nicht zu dem Experiment, ob der kleine Keim noch lebensfähig iſt, unſere Häuſer und unſere Familien hergeben. Es iſt ſchon ſchlimm genug, ſetzte ſie erregt hinzu, „daß wir den Männern, möge ihr Lebenswandel noch ſo unſittlich ſein, den Zutritt zu unſeren Familien nicht verwehren können. Wenn ich ſehe, wie 298 Laſterhafte oft unſchuldigen Mädchen ſichnähern, kannich kaum meinen Widerwillen und meine Entrüſtung zurückhalten. „Woher ſolche Männer den frechen Muth nehmen, um reine Geſchöpfe zu werben,“ bekräftigte Werner, „habe ich nie begriffen. „Sie ſind der Beſten einer! Ich ſegne die Stunde, in der Sie unſer Haus betraten.“ Frau Burkhart reichte ihm bewegt die Hand. „Und verdiente ich wirklich ihre gute Meinung, gnädige Frau, was hülfe es mir? Die Grazien ſind ſo gänzlich bei mir ausgeblieben, kein liebliches, junges Weſen wird ſeine Hand je in die meine legen. „Wenn es ein echtes und rechtes junges Mädchen iſt, ſo muß ſie Sie liebgewinnen, wenn auch nur allmählig. Das aber iſt die beſte Liebe, die einzig zuverläſſige, die ſtill und langſam heranreift an allem Guten, Edlen uud Herzlichen, was zwiſchen ihr und ihm gedacht und em⸗ pfunden wurde.“ Ihre Blicke begegneten ſich klar und herzlich. In freudiger Ergriffenheit küßte er Frau Burkhart die Hand. Marie kam mit einem großen Strauß Flieder zurück. Sie theilte den Strauß und gab Werner die Hälfte. „Den können Sie mitnehmen und in's Fenſter ſtellen, damit Sie in Ihrer langweiligen Friedrichſtraße doch auch merken, daß es Frühling iſt. Die andere Hälfte behalte ich für mein Zimmer. Seine Hand zitterte, als er die Blumen entgegennahm. In dem Augenblick wurde heftig an der Hausglocke ge⸗ läutet, es war ein ſchriller, lang nachhaltender Ton. 299 Werner fuhr zuſammen, ihm war, als wenn ein ſchneidender Windzug die milde Frühlingsluft verwehte. „Wir wollen Erdbeeren pflücken,“ ſagte Frau Burckhart, „mein Mann iſt jedesmal enttäuſcht, wenn unſer Gärtchen für den Abendtiſch keine Erdbeeren abwirft. Sie nahm ein Körbchen. Im Begriff, die Stufen hinabzuſteigen, beſann ſie ſich anders. „Geht voraus,“ ſagte ſie, „ich will noch erſt ſehen wer gekommen iſt, möglicherweiſe ein Gaſt. Sie gab Marie das Körbchen und ſah ihr dabei in die Augen. In dem Blick lag eine ſtumme Bitte. Marie verſtand ſie. Frau Burkhard ſah den Beiden frohſinnig nach. Daß ſie ein Paar werden möchten, war ihr innigſter Wunſch. Sie wußte längſt von ſeiner Liebe, und nun ſah ſie neuerdings auch im Herzen ihrer Tochter eine ſanfte Neigung für den trefflichen Mann aufkeimen. Ob ſie als Verlobte zurückkommen würden? Ein Lächeln heiterer Zärtlichkeit ſchwebte um ihre Lippen. Die Beiden verſchwanden jetzt hinter einem Gebüſch und ſie trat von der Veranda in's Haus zurück. Marie und Werner gingen den Erdbeerbeeten zu. Am Morgen hatte es geregnet und ein friſcher Glanz lag auf jedem Blatt, auf jeder Blume. Die Luft war wie blüthentrunken. Keines von ihnen ſprach — Marie, weil der Blick der Mutter ſie irritirt hatte, er, weil er im Uebermaß ſeiner Gefühle nach Worten rang. Endlich be⸗ gann er, ſo leiſe, daß das Mädchen ihn kaum verſtehen konnte: „Wenn ich vorhin von Sternen ſprach, uner⸗ reichbaren — ich dachte nur an Einen Stern. 300 Sie wandte das Geſicht fort, und da ſie an einem Fliederſtrauch vorbeikamen, faßte ſie einen Zweig und ſchüttelte ihn, ſo daß die Tropfen auf ſein Geſicht fielen; ſie fühlte ſich wie befreit, daß ſie nun lachen konnte. „O wunderſchöner Monat Mai,“ citirte ſie, und ſie bog den Kopf zurück, ſtützte ihn mit den Händen, die ſie im Nacken faltete und ſog mit halbgeöffneten Lippen den würzigen Frühlingsduft ein. Sein Herz wallte über und er mußte alle Kraft zuſammennehmen, um ſie nicht an ſich zu reißen und ihr den Mund mit Küſſen zu ver⸗ ſchließen. Ein Zittern flog durch ſeine Glieder. „Iſt Ihnen kühl? wollen wir zurück in's Haus: „Und die Erdbeeren?“ fragte er eingeſchüchtert. Sie gingen weiter. Marie ſprach jetzt lebhaft, faſt haſtig, als wollte ſie ihn nicht zu Worte kommen laſſen: Erdbeeren ſeien ihr die liebſten Früchte, ob wegen ihres Aromas oder ihres Geſchmackes, daß wiſſe ſie ſelber nicht recht; überhaupt mache ſie ſich nichts aus Früchten, die ſie nicht durch ihren Duft anlockten, auf den Geſchmack ſolcher Früchte wäre ſie gar nicht neugierig; darum liebe ſie auch Kirſchen nicht. Ob er Kirſchen gern möchte? Werner fühlte ſich von ihren Worten unbehaglich be⸗ rührt. In ſeiner beſchaulichen Weiſe fand er in ihren Aeußerungen ſofort eine Anwendung auf ſich ſelbſt. Du biſt auch ſo eine Frucht ohne Aroma, dachte er, auf die ſie nicht neugierig iſt. Zugleich fühlte er aber auch, daß er dieſen Zuſtand peinlicher Ungewißheit nicht mehr lange würde ertragen können. Und plötzlich, mit einem energiſchen Entſchluß, blieb er ſtehen und ergriff ihre Hand. „Marie!“ Im Ton ſeiner Stimme lag eine Welt 301 voll Liebe. Purpurröthe übergoß ihr Geſicht, ſie ſenkte den Kopf und von unten herauf ſtreifte ihn mit holder Bitte ein ſcheuer, weicher Blick. Wie ein Echo ſeiner Stimme kam es von der Veranda her: „Marie! Marie!“ Es war der Vater, der ſie rief. „Gleich, ich komme,“ und ſie eilte davon, allzu ſchnell. Die Gelegenheit war vorüber. Ihm wurde trübe zu Sinn. Langſam folgte er ihr. Marie fand ihre Eltern auf dem Balkon mit einem fremden jungen Mann, den ihr der Vater als den Profeſſor Joachim von Bürgen aus Heidelberg, Sohn ſeines älteſten Freundes vorſtellte. Der Geheimrath ſah diſtinguirt aus, wie Frau und Tochter. Er war groß und hager und trug das graue Haar etwas länger als üblich. Sein Geſicht war bartlos. Er be⸗ obachtete gegen Jedermann, auch ſeiner Familie gegenüber, eine gemeſſene und freundliche Höflichkeit. Er verkehrte mit den Seinen faſt wie ein Gaſt und mit einer gewiſſen Herablaſſung. Sein Leben ging ganz in ſeiner amtlichen Thätigkeit auf. Bei den Mahlzeiten, faſt die einzige Zeit, wo er mit Frau und Tochter zuſammen traf, ging es einſilbig zu. Man wußte nicht, ob es dem Geheimrath genehm war, wenn man plauderte, und man bemühte ſich erſt zu plaudern, wenn er ſagte: „Erzählt mir etwas. Dann fiel aber den Damen gewöhnlich nichts ein; ſie be⸗ ſannen ſich mühſam auf einen Geſprächsſtoff, es entſtanden lange Pauſen, die ſie wie eine Unliebenswürdigkeit bedrückten. Heute ſah der vornehme Büreaukrat belebter aus als ſonſt. Seiner conventionellen Liebenswürdigkeit war ein Gran wirklicher Herzlichkeit beigefügt. Der Sohn des Jugendfreundes mochte ihm die eigene Jugend zurückrufen. 302 Der junge Profeſſor war eine jener glänzenden Er⸗ ſcheinungen voll Anmuth, Geiſt und edler Männlichkeit, die, wo ſie ſich zeigen, zum Mittelpunkt ihres Kreiſes werden. Er begrüßte Marie mit der liebenswürdigen Sicherheit eines Weltmanns. Eine lebhafte Unterhaltung war im Gange, als Werner dazutrat. Sein Blick haftete bei der gegenſeitigen Vorſtellung mit einer Art Starrheit an dem Fremden, und er warf das Haar mit einer eigen⸗ thümlichen Heftigkeit von der Stirn zurück. Frau Burkhard blickte forſchend von ihm zu Marie, und wußte, das ent⸗ ſcheidende Wort war nicht geſprochen. Sie zürnte Werner um deſſentwillen. „Das iſt der Herr, deſſen Läuten Sie ſo erſchreckt hat,“ ſagte ſie zu ihm. Er antwortete nicht und ſetzte ſich zu Marie, die, mit der Handarbeit beſchäftigt, an der Unterhaltung keinen Theil nahm. Man ſprach von den Univerſitätsverhältniſſen Heidel⸗ bergs, wo der Vater des jungen Mannes als Profeſſor der Theologie Ruf und Namen hatte. Man ſprach dann von der herrlichen Lage Heidelbergs. So eine hübſche, norddeutſche Wald⸗ und Wieſen⸗ landſchaft, meinte der junge Profeſſor, wirke gewiß recht erfreulich. Friſches Grün, blinkende Waſſer, kräftiger Tannenduft ſchmeichelten unſeren Sinnen, ſeien aber doch nicht vielmehr, als eine anregende, auch wohl fördernde Staffage für unſer Denken und Träumen; ſie riſſen uns aber nicht aus unſerem gewohnten Gedankenkreis heraus, erhöben uns nicht über denſelben. „Ragt aber,“ fuhr er fort, „aus der Landſchaft eine 303 Ruine empor in phantaſtiſcher Architektur oder voll herrlichen Ebenmaßes, ſo iſt es, als ſchlüge ein Schlafender die Augen auf, die Landſchaft wird lebendig, ſie redet zu uns, eine Art Geiſterklopferei im höheren Sinn, findet ſtatt zwiſchen ihr und uns.“ „Schelten Sie nicht unſere norddeutſche Gegend,“ warf Werner ein; „es ſind vielleicht die nüchternen und haus⸗ backenen Naturen, die gewiſſermaßen eines dramatiſchen Effekts in der Landſchaft bedürfen, um ihre Phantaſie an⸗ zuregen. Ein wirklich poetiſches Gemüth ſieht wohl auch im Nebelgrund unſerer Wieſen die Elfen tanzen und durch unſere Buchenwälder den Erlkönig reiten. „Ihre Bemerkung iſt fein,“ ſagte Bürgen liebens⸗ würdig, „aber doch nur für Auserwählte zutreffend. Sonn⸗ tagskinder von Gemüth, Leute mit ſonambulen Dispo⸗ ſitionen oder profeſſionelle Dichter, denen mag als Bühne für ihren reitenden oder tanzenden Spuck ein Raſen⸗ fleck oder ein grüner Baum genügen, wenn der Mond ſcheint. Einfachere Sterbliche brauchen mehr. Es giebt Landſchaften — es iſt nicht nöthig, das gerade das Heidelberger Schloß darin ſteht — ich habe deren in Italien viele geſehen, die auf uns wirken wie die höchſten Werke der Kunſt und die eine Begeiſterung in uns entzünden, an der, was Gold in unſerer Seele iſt, klar wird.“ „Solche exaltirte Stimmungen haben wenig Werth, ſagte Werner trocken, „Secundenbilder der Seele, Schwingen von Wachs. Eine Flaſche Champagner leiſtet denſelben Dienſt.“ Der junge Profeſſor wollte antworten. Die Gereizt⸗ 304 heit in Werners Ton hatte den Geheimrath verdroſſen und er brach das Geſpräch kurz ab, indem er ſich nach dieſem oder jenem ſeiner alten Bekannten erkundigte. Die Geheimräthin hörte ſchweigend zu. Sie pflegte ſelten in Gegenwart ihres Gatten zu ſprechen. Sie wußte, was ſie auch ſagen konnte, war in den Augen des Geheimraths unerheblich. Werner verſuchte einige Male, Marie in eine beſondere Unterhaltung zu verflechten; ſie hörte ihm freundlich zu, und antwortete ebenſo, er fühlte aber, daß ſie nicht bei der Sache war, und dem lauſchte, was die Andern ſprachen. Der Geheimrath, der ſonſt ſo Gemeſſene, erzählte drollige Geſchichten aus dem Jugendleben ſeines alten Freundes Bürgen, der leicht einzuſchüchtern und zu ver⸗ wirren geweſen war. Er erzählte unter Anderm, wie der⸗ ſelbe zum erſten Mal auf der Kanzel geſtanden, um ſeine erſte Predigt zu halten, und wie er ſeine Freunde gebeten, nicht in die Kirche zu kommen. „Ich, ſein Freund Burkhart, war aber doch gekommen. Der Kandidat, der über Chriſti Erlöſung ſprach, hatte eben den Satz begonnen: „So un⸗ ermeßlich war die Liebe Gottes.“ . . . Da bemerkte er mich. Er wiederholte den Satz: „So unermeßlich war die Liebe Gottes, daß er ſeinen Sohn, — ja — ſeinen Sohn — ja wohl ſeinen einzigen Sohn, ſeinen allereinzigen Sohn dahingab . . .“ Ich drückte mich ſchnell aus der Kirche und hörte ſpäter, daß mein armer Freund mit einem leiſen Kichern der andächtigen Gemeinde davon ge⸗ kommen war.“ „Ich weiß noch einen andern ſenſationellen Unfug, nahm der Profeſſor das Wort, den mein Vater mit ſeinem 20 H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 305 Mangel an Geiſtesgegenwart angerichtet hat, und den er ſelbſt oft ſeinen Freunden zum Beſten giebt. Gelegentlich einer Feier ſtattete der Großherzog der Univerſität einen Beſuch ab. Meinem Vater, der gerade Rector war, lag die Pflicht der Vorſtellung ob. Total verwirrt, begann er alſo: „Seine Königliche Hoheit, der Großherzog von Baden — Herr Profeſſor Bretius; Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Baden — Herr Profeſſor Wächter; Seine Königliche Hoheit — dieſe dritte Vor⸗ ſtellung unterbrach der Großherzog, indem er meinem Vater gemüthlich auf die Schulter klopfte: „Ich glaube Herr Profeſſor, die Herrſchaften kennen mich ſchon. Mitten im Gelächter, das dieſe Geſchichte hervorrief, ſtand Werner auf und empfahl ſich. Marie nickte ihm freundlich zu, hielt ihn aber mit keinem Wort zurück. Sonſt nöthigte man ihn wohl zum Abendeſſen zu bleiben. Auch die Geheimräthin ſagte nichts. Sie war unzufrieden mit ihm. Als er an dem jungen Profeſſor vorüberging, fiel es Marie auf, wie unvortheilhaft ſich ſeine gedrungene Geſtalt neben der ſchlanken Erſcheinung des jungen Bürgen ausnahm. Als er fort war, ließ Marie die Handarbeit in den Schooß ſinken, und ihr Auge hing unverwandt an den beredten Lippen des Gaſtes. Im Laufe der Unterhaltung ſprach der Geheimrath dem jungen Manne ſein Erſtaunen darüber aus, ihn ſo weltläufig zu finden, er wiſſe, Freund Bürgen habe ſeine Kinder in ſtrenger Zurückhaltung von der Welt aufgezogen. „In zu ſtrenger vielleicht,“ antwortete Bürgen. „Es war mein Glück, daß ich Archäologie ſtudirte; meine 306 Studien führten mich früh nach Griechenland, Italien. Man wandelt nicht unbelohnt unter Ruinen und Götter⸗ bildern. Tag für Tag ſehen wir dieſe Marmorgeſtalten in ihrer ſtolzen, unvergleichlichen Anmuth; wenn ſie ſtehen, iſt es, als ſchwebten ſie, wenn ſie ſchreiten, ſchreiten ſie aufwärts; ihre Körper ſind wie innerlich beflügelt und wir fühlen förmlich neben ihnen unſere plumpen Tritte; und unwillkürlich ſchreiten wir ſelber leichter und freier aus, unſer Blick wird kühner und ſtolzer, unſere Bruſt weitet ſich, und wir werfen den ſchwerfälligen Ernſt, der jede Empfindung erſt nach ihrem moraliſchen Polizeimaß fragt, von uns. „Und iſt das auch ohne Gefahr für ihr Seelenheil? meinte der Geheimrath, dem jungen Mann mit dem Finger drohend. „Ja wohl,“ war die Antwort. „Das Geſetz in jener Welt iſt Schönheit, und dort mehr als wo anders ſtößt das Sittenloſe — was ich ſittenlos nenne uns ab, weil es häßlich iſt.“ „Und die Ruinen mit ihrem memento mori, werfen ſie keinen Schatten auf die ſo geſteigerte Lebenskraft: „Nein, ſie ſind zu groß und gewaltig, als daß ſie nichts als die banale Weisheit: Alles iſt eitel! predigen ſollten. Nicht Alles, nur was kleinlich und unwerth in uns iſt, verſtummt vor der getragenen Sprache, die jene Steine zu uns reden, eine Sprache wie aus dem Jenſeits, voll geheimnißvoller Weisheit. Mit einen Wort: der Narr fällt von uns ab und der Menſch nach dem Eben⸗ bild Gottes — wenn Sie mir den etwas ſchwülſtigen Ausdruck geſtatten wollen — kommt zum Durchbruch 20* 307 Unter jenen klaſſiſchen Ruinen hat wohl Jeder Augenblicke, wo ſein Haupt die Sterne berührt. Nach den letzten ſchwungvollen Worten ſah Bürgen eine Weile weltverloren, wie mit der Seele etwas ſuchend, in's Leere, dann verabſchiedete er ſich. Der Geheimrath bat ihn herzlich, ſich ſo oft als möglich ſehen zu laſſen. Marie bemerkte ſchüchtern: „Wir haben jeden Sonnabend eine Kroketpartie.“ Es waren die erſten Worte, die ſie an den jungen Mann richtete. Er ſchien das feine, ſtille Mädchen kaum bemerkt zu haben. Sie aber hatte ſeine Worte getrunken, ſie glaubte eine Melodie zu hören, die ſie längſt im Herzen getragen und auf die ſie ſich immer vergebens beſonnen hatte. Als Bürgen gegangen war, lehnte ſie ſich in den Schaukelſtuhl zurück und hörte wie der Vater ſein Be⸗ dauern darüber ausſprach, daß der geiſtvolle junge Mann ſich wahrſcheinlich nur wenige Wochen in Berlin aufhalten werde; ſeine Studien im Muſeum, um derentwillen er ge⸗ kommen war, würden nicht längere Zeit in Anſpruch nehmen. Nachdem der Vater ſich zurückgezogen hatte, blieb ſie noch immer im Schaukelſtuhl; ſie wiegte ſich ſacht und ihre Augen hafteten am Sternenhimmel, bis die Mutter ſagte: „Geh' zu Bett, Marie.“ „Was für eine ſchöne Nacht!“ ſagte ſie, indem ſie widerwillig aufſtand. Mutter und Tochter ſchliefen in demſelben Zimmer. Sonſt pflegten ſie beim Auskleiden und noch im Bett zu plaudern, bis die Eine oder die Andere einſchlief. Heute 308 blieben Beide ſtumm. Nur einmal ſagte Marie: „Schade, daß Werner ſo wenig liebenswürdige Formen hat. „Das finde ich nicht,“ antwortete die Mutter gereizt. Sie konnte nicht einſchlafen. Sie ſah einen Schatten über ihre ſonnigen Pläne ziehen. Werner hatte Alles, um eine Frau glücklich zu machen. Sie wußte auch zu ſchätzen, daß er ſehr wohlhabend war. Alles Trübe, was ſie ſelbſt erfahren, wurde in ihrer Er⸗ innerung lebendig. Sie hatte ihren Mann als unver⸗ mögenden jungen Amtsrichter aus Neigung geheirathet; ihr ganzes Leben war in unaufhörlicher Sorge und Arbeit für den Gatten und ihre drei Kinder aufgegangen. Er war nie mit den kleinen Sorgen des Familienlebens be⸗ helligt worden, er kannte ſie nicht. Der Zwang, immer nur an das Kleinſte und Nächſte zu denken, hatte ſchließlich ihren Horizont verengt, und des Lebens Nothdurft hatte aus dem begabten und hochſtrebenden Mädchen eine nur auf Erſparniſſe bedachte Haushälterin gemacht. Erſt ſeit kurzer Zeit waren ſie, theils durch eine kleine Erbſchaft, theils durch das immer ſteigende Gehalt des Geheimraths in behagliche Verhältniſſe gekommen; und nun hatte ſich vor zwei Jahren die älteſte Tochter, ein munteres, ober⸗ flächliches Weltkind, wieder mit einem unbemittelten Beamten verheirathet, und ſchon jetzt mußte die Mutter ſo viel wie möglich aushelfen, und das alte Sparſyſtem für den Haus⸗ halt der Tochter von Neuem beginnen. Auch der Sohn, der eben ſein erſtes juriſtiſches Examen beſtanden hatte, mußte noch erhalten werden. Sie bangte davor, daß das Leben ihres jüngſten und Lieblingskindes ſein ſollte, wie das ihrige geweſen war, 309 ein unausgeſetzter Kampf um die ſtandesgemäße Exiſtenz. Mariens weiches und träumeriſches Weſen eignete ſich ſo wenig dazu. Sie zürnte ihrem Mann, daß er den jungen Profeſſor in's Haus gebracht, ſie war verſtimmt über ihre älteſte Tochter, die ſie ſchon wieder mit hundert Commiſſionen belaſtet, verſtimmt über Werner und Marie, die ſich nicht verlobt hatten. Ein Ueberdruß am Leben beſchlich ſie, und Thränen des Mißmuths traten ihr in die Augen. Endlich ſchlief ſie ein. Maries Stimme weckte ſie. „Schläfſt Du ſchon Mutter: „Was willſt Du? „Wie hat Dir der Profeſſor gefallen: „Nicht beſonders. Laß mich ſchlafen,“ ſagte die Mutter unfreundlich. Am andern Morgen ſah Frau Burkhart die Dinge etwas heiterer an, und ſchalt ſich über ihren Kleinmuth. Was war denn geſchehen? Ein ſchöner und liebenswürdiger junger Mann hatte ihrer Tochter gefallen. Sie ſahen ſich vielleicht noch ein oder zwei Mal, dann war Alles wie ſonſt. — In der That ſchien ſich nichts verändert zu haben. Zwei Tage darauf kam Werner wieder und brachte Marie einen kleinen Strauß gefüllter Veilchen. Es war alles wie ſonſt, wenigſtens faſt wie ſonſt, nur um eine kleine Nüance vielleicht war Marie zurückhaltender. Ein paar Mal, während man plauderte, wurde an der Haus⸗ glocke geläutet; es entging Werner nicht, daß Marie jedes Mal aufhorchte und vorübergehend unruhig wurde. Ein⸗ mal ſchlug die Glocke ſo laut an, wie damals, als Herr 310 von Bürgen gekommen war. Man hörte darauf Stimmen und Schritte im Korridor. Marie wechſelte die Farbe und wurde gleich darauf ſehr lebhaft, unnatürlich lebhaft; es waren gleichgiltige Dinge, über die ſie ſprach, und an denen ihr offenbar nichts lag. Die Lebhaftigkeit hielt auch nicht vor; allmählig wurde ſie ſtiller und zuletzt ſchwieg ſie verſtimmt. „Erwarten Sie Herrn von Bürgen?“ fragte Werner. „Nein!“ antwortete die Mutter mit harter Stimme. „Der junge Profeſſor,“ nahm Werner nach einer Pauſe das Wort, „wird Carridre machen. Er hat im vollſten Maße, was Sie, gnädige Frau mir kürzlich empfahlen: den Glauben an ſich ſelbſt. Er hat auch die inſtinktive Weisheit, zu wiſſen was ihm frommt. Er ge⸗ nießt, ſoweit es ſeiner Carridre und ſeiner Geſundheit nicht ſchadet, er arbeitet und ſtudirt, ſoweit es ſeinen Lebens⸗ genuß nicht beeinträchtigt. Er iſt die liebenwürdigſte Perſonifizirung des juste milieu mit den bezauberndſten blauen Augen. Es war das erſte Mal, daß Werner einen ſarkaſtiſchen Ton anſchlug. „Sie wollen damit andeuten, daß er keinen Geiſt hat,“ ſagte Marie und bemühte ſich, ſo gleichgiltig wie möglich zu ſprechen. „Im Gegentheil, er hat viel Geiſt, und was das Beneidenswertheſte iſt, er verſteht es, ihn je nach Bedarf in kleiner Münze auszugeben. Werner ſagte das alles faſt gegen ſeinen Willen. Jedes ſeiner Worte verdroß ihn, ja er empfand einen Widerwillen gegen den Ton ſeiner eigenen Stimme. 311 „Sie mögen ihn nicht leiden,“ ſagte Marie. der zaubertönenden Pfeife dieſes Heidelberger Rattenfängers „Ich habe vielleicht nicht genug Muſik in mir, um gerecht zu werden. Und doch, ich finde es ſo natürlich, daß Andere ihm folgen.“ Vor der ſchmerzlichen Reſig⸗ nation, die im Ton und Sinn der letzten Worte lag, ſenkte Marie den Kopf tief auf die Arbeit. „Ich theile Ihren Eindruck nicht,“ ſagte die Geheim⸗ räthin. „Meinem Mann freilich thut es leid, daß Herr von Bürgen nur wenige Wochen in Berlin bleiben wird. Sie ſagte das mit einer beſtimmten Abſicht. „Wer weiß!“ meinte Werner. Heut bat man ihn, den Abend über zu bleiben. Er lehnte ab. Als der Geheimrath vor dem Abendeſſen auf die Veranda trat, ſah ihn Marie erwartungsvoll an. Er ſagte aber nichts und las die Abendzeitung. Endlich konnte ſie ihre Ungeduld nicht mehr bemeiſtern. „Hatteſt Du nicht vorhin Beſuch, Papa: „Ja, Herr von Bürgen.“ Wieder eine Pauſe, der Geheimrath las weiter. „Was wollte er denn: Der Vater legte die Zeituug fort. „Es iſt jetzt entſchieden, er bleibt vorläufig auf ein Jahr in Berlin. Ich habe meinen ganzen Einfluß beim Kultusminiſter aufgeboten, um ihn hier zu feſſeln. Es iſt mir gelungen. Man bedarf einer ſolchen friſchen und genialen Kraft, um manchen Zopf in unſerem Muſeum zu beſeitigen. Er hat den Miniſter wie alle Welt bezaubert. „Du biſt wirklich ſo lieb und gut, Papa, immer 312 denkſt Du an Andere, Du verdienſt einen Orden pour le mérite,“ und ſie nahm den kleinen Strauß gefüllter Veilchen, den Werner ihr gebracht, und befeſtigte ihn im Knopfloch des Vaters. „So, nun pflücke ich Dir auch Deine Erdbeeren zum Deſſert.“ Und damit lief ſie in den Garten. Sie lief ſo ſchnell, als wollte ſie Jemanden einholen. Es war ihr ein Bedürfniß, ſich ſchnell zu bewegen, ſchnell zu athmen. Der Erdbeeren vergaß ſie. Immer wechſelnde Gedanken ſchoſſen ihr pfeilſchnell durch das Köpfchen: ob er am Sonnabend zum Kroket kommen würde? und was für ein Kleid ſie anziehen ſollte? Das weiße? nein, es war nicht mehr friſch genug. Ob Grete Berninger, die hübſche, pikante Grete, auch käme, und ob ſie Joachim gefallen würde? Joachim! ſie kannte ihn kaum, und nannte ihn in Gedanken mit dem Vornamen. Sonderbar — an Werner hatte ſie nur immer als Werner gedacht, und ſie wußte doch von jeher, daß er Reinhard hieß. Wie hatte ſie nur an eine Verlobung mit Werner denken können! ja — richtig — die Mutter war Schuld daran. — Nein — Grete würde ihm nicht gefallen; ſie ſpricht immer ein ſo merkwürdiges Zeug, daß man ſich erſchrocken umſieht, was die Andern dazu ſagen. — Warum intereſſirt ſich Werner nicht für ihre Freundin, die ſanfte Frieda? Sie wäre ja wie für ihn geſchaffen, vielleicht könnte ſie etwas dazu thun, ſie wollte es verſuchen. Es war dämmrig geworden. In einem Blüthenbaum ſchlug eine Nachtigall. Mit einem Mal bemächtigte ſich ihrer eine ſüße Traurigkeit. Sie ſchlang den Arm um 313 den Baum, auf dem die Nachtigall ſang, und verſank in vage Träumerei, bis man ſie zum Abendeſſen rief. Die Geheimräthin hatte inzwiſchen einen Verſuch ge⸗ macht, mit ihrem Gatten vertraulich zu reden. „Du hätteſt vielleicht den jungen Profeſſor nicht in's Haus bringen ſollen. „Warum nicht?“ fragte er erſtaunt. „Reinhard Werner liebt Marie, ich wünſche keine beſſere Partie für ſie. Herr von Bürgen mit ſeinen glänzenden Eigenſchaften hat einen ſtarken Eindruck auf das Mädchen gemacht, ich ſorge mich darum, daß er Werner in den Schatten ſtellen könnte. Wenn Du, lieber Guſtav, — das „lieber Guſtav“ kam zaghaft und zögernd über ihre Lippen — „den jungen Profeſſor weniger herz⸗ lich auffordern möchteſt uns zu beſuchen. „Ihr Frauen,“ erwiderte er mit wohlwollendem Lächeln, „ſeid doch die geborenen Heirathsvermittler. Hier ein junger Mann, da ein junges Mädchen, und die Partie iſt in Eurem Kopf fertig. Du darfſt ruhig ſein. Der Sohn meines Freundes wird Deinem Fabrikanten“ — er betonte das Wort etwas geringſchätzig — „keine Conkurrenz machen. Der junge Bürgen iſt ehrgeizig, hat wenig oder gar kein Vermögen und wird ſchwerlich daran denken, ſich in ſeinem ſechs⸗ oder ſiebenundzwanzigſten Jahre mit einem unbemittelten Mädchen zu verheirathen.“ „Und wenn Marie für ihn eine Neigung faßte? „Meine Tochter wird ihre Neigung nicht einem Mann ſchenken, der nicht um ſie wirbt. Sollte er ſie aber wider Erwarten zur Gattin begehren, ſo werde ich nicht Nein 314 ſagen. Auch ohne Vermögen kann man glücklich werden, wie wir es geworden ſind. Frau Burkhart ſenkte den Kopf tief auf ihre Arbeit. „Und ich wäre der Letzte, es dem Mädchen zu ver⸗ denken, wenn ſie den Gelehrten dem Geſchäftsmann vor⸗ zieht.“ Die Geheimräthin wollte eine Einwendung machen. „Du kennſt Werner nicht . . . Er unterbrach ſie ungnädig: „Heirathsgeſchichten fallen übrigens in Euer Departement, ich habe Wichtigeres zu thun.“ Damit nahm er ſeine Zeitung wieder auf, und ſie wußte, daß ſie nicht wieder auf das Geſpräch zurück⸗ kommen durfte. Am Sonnabend, dem Tag des Krokets, war Werner der erſte auf dem Platz. Dann kam Grete Berninger und Frieda Ruhmann. Grete hatte zwei junge Damen mit⸗ gebracht, Logirgäſte ihrer Eltern. Sie waren aus einem thüringiſchen Badeorte und Töchter eines Arztes, in deſſen Hauſe Berningers einmal im Sommer gewohnt hatten. Auch zwei Lieutenants waren in Gefolge, ihr Bruder Georg und einer ſeiner Freunde, Konrad von Korben. Letzterer bewarb ſich offenkundig um Grete, wurde aber von ihr mit ſchnödem Uebermuth behandelt. Vielumworbene junge Damen pflegen ihre Verehrer wie eine Beute anzu⸗ ſehen, mit der ſich's gut Katz' und Maus ſpielen läßt. Er parirte ihr auf einen Blick, einen Wink, und verging in ſtiller Anbetung. Grete hatte einen pikanten, licht⸗ braunen Lockenkopf und war munter wie ein Eichkätzchen. Sie trug ein phantaſtiſches Koſtüm von Cremeſpitzen mit einem ſpaniſchen Jäckchen von bronzefarbenem Seidenplüſch. 315 Uebrigens war ſie ſo flott und originell, wie ſich's die Tochter eines Millionärs erlauben darf, zu ſein. Die kleine taubenartige Frieda, ganz in roſa Perkal gekleidet, hielt ſich zu Marie, in deren Buſen ſie ihre ge⸗ heimſten Gefühle niederlegte, ſeitdem einmal ihr Tagebuch in fremde Hände gefallen war. Die beiden Schweſtern aus Thüringen, Nora und Herta, glaubten ſich ſchon durch ihre Namen zu etwas Ungewöhnlichem verpflichtet. Nora hatte ſich für das ſchwärmeriſche, Herta für das naive Fach entſchieden. Die elegante Toilette ihrer jungen Wirthin forderte ihren Ehr⸗ geiz heraus; ſie imitirten dieſelbe, ſo weit es ihre geringen Mittel erlaubten. Sie trugen auch Spitzen und ſpaniſche Jäckchen. Die Spitzen aber, in einem kleinen Poſamentier⸗ geſchäft gekauft, waren ſteif, grob und kreideweiß, die Jäckchen von greller Futterſeide. Für dieſe Mängel ent⸗ ſchädigten ſie durch überfallende Kragen von excentriſcher Breite und eine phantaſtiſche Friſur, die aus einem Wald von Löckchen und unzähligen Haarnadeln beſtand. Die Löckchen wurden bei jeder Gelegenheit von ihnen geſchüttelt, was Herta im ſchnellſten Tempo beſorgte, während Nora durch ſanftes Auf⸗ und Abwiegen des Köpfchens ihrer Schweſter im Herumſtreuen von Haarnadeln wenig nachſtand. Bürgen kam, als der Kaffee ſchon getrunken war und das Spiel eben beginnen ſollte. Grete machte große, erſtaunte Augen, als ſie ſeiner anſichtig wurde, und flüſterte Marie zu: „Wie kommt der Glanz in Deine Hütte? Ein blonder Vollbart — meine Schwärmerei. Man looſte, wer zuſammen ſpielen ſollte. Das Loos 316 führte Grete und Bürgen, Werner und Frieda zuſammen. Eine Dame war überzählig. Nora weigerte ſich mitzu⸗ ſpielen. Marie wollte es anfangs nicht zugeben, bis Grete ſie auf einen defecten Stiefel der jungen Dame aufmerkſam machte. Die beiden Lieutenants fielen ſomit Herta und Marie zu. Kaum rollten die erſten Kugeln über den Raſen, ſo war Grete ſchon im munterſten Geſpräch mit dem jungen Profeſſor. Sie ſetzte ihm auseinander, daß eine junge Dame, die etwas auf ſich hielte, heutigen Tages eigentlich gar nicht mehr Kroket ſpielen dürfe, Lawn-tennis ſei die Parole. „Und mit Recht,“ meinte Nora, die auf⸗ und ab⸗ wandelnd den einen Fuß erſichtlich nachſchleppte. Sie war für Lawn-tennis, weil dabei nicht, wie bei dem Kroket, die Füße, ſondern die Hände die Hauptrolle ſpielen. Füße hielt ſie für etwas durchaus Unerhebliches, es ſeien gewiſſermaßen die Sklaven des Körpers, während die Hände die Dolmetſcher unſerer Gefühle ſeien, denn — was erhöben wir in der Verzweiflung zum Himmel? — die Hände. Was drücken wir im höchſten Glück an unſer klopfendes Herz? Die Hände. Herta wollte im Hinblick auf die Verlobungsringe, die man an den Händen trage, ihrer Schweſter beipflichten, wurde aber von Nora unterbrochen, die ihr etwas zu⸗ flüſterte, um eine Stecknadel bat, worauf ſich Beide in ein Gebüſch zurückzogen. Dieſe Liebesdienſte, die auf Gegenſeitigkeit beruhten, leiſteten ſich die Schweſtern im Lauf des Nachmittags verſchiedene Male, ſie galten der Bekämpfung des Glanzkattuns unter den Poſamentier⸗ 317 ſpitzen, der von dem Ehrgeiz beſeſſen war in das Vorder⸗ treffen zu gelangen. Grete, die es liebte, die Geſprächsſtoffe zu wechſeln, beſonders wenn Andere ſich in die Unterhaltung miſchten, fragte den Profeſſor, ob er Süddeutſcher ſei? Er bejahte die Frage. „Und als ſolcher halten Sie uns Norddeutſche natür⸗ lich für ſteif, klug, prätentiös, langweilig und gelehrt: Bürgen proteſtirte. „So — Sie halten uns alſo nicht für klug und gelehrt? Wiſſen Sie, wieviel Vorleſungen über Philoſophie, Geſchichte, aſtronomiſche Phyſik, engliſche und italieniſche Literatur ich allein im vergangenen Winter im Lyceum ausgeſtanden habe? ſchlecht gerechnet: 150.“ Bürgen machte ihr ein Kompliment über ihre durch Ziffern feſtſtellbare Strebſamkeit. „Stürzen Sie ſich in keine Unkoſten“, unterbrach ſie ihn; „für höhere weibliche Bildung ſchwärmt man in Berlin nur noch im Roſenthaler⸗ oder Stralauer⸗Viertel; wir im Weſtend ſind für ungeſchminkte Natur und Wahrheit. Puder natürlich iſt erlaubt,“ jetzte ſie lachend hinzu. „Was ſoll man aber in den Vormittagsſtunden zwiſchen elf bis eins anfangen, wenn man nicht Klavier paukt oder in Oel⸗ und Waſſerfarben frevelt? bleibt das Lyceum ... Warum biſt Du denn ſo ſtill? rief ſie mit dem Uebermuth der Ueberlegenheit zu Marie herüber, die auf dieſen Ausruf natürlich noch ſtiller wurde. Marie kam ſich heut wie ausgeſchloſſen von der all⸗ gemeinen Heiterkeit vor. Sie fühlte, daß ſie in ihrem Kleid von konventionellem, geſtreiften Sommerſtoff, das oben 318 eng anſchloß, und ſo lange, langweilige Aermel hatte, ſteif und reizlos neben Grete ausſah. Ueberdies war ſie ohne Begabung für das Kroket. Ihr weichen, langſamen Be⸗ wegungen eigneten ſich nicht für das kräftige Zuſchlagen. Sie hatte auch kein Intereſſe an dem Spiel; ob ſie als Siegerin daraus hervorging oder als letzte zurückblieb, war ihr gleichgiltig; Grete dagegen handhabte mit leidenſchaft⸗ lichem Ehrgeiz den Schläger; mit flinker und geſchmeidiger Grazie flog ſie über den Raſen und feuerte beim Krokiren und Rekrokiren bald den einen durch energiſche Zurufe an, bald zankte ſie den anderen in drolligen Zornausbrüchen aus. Der junge Profeſſor ſchien von ihrem pikanten Weſen entzückt. Marie's Partner, der Lieutenant Korben, bekümmerte ſich nicht viel um ſie. Er hatte nur Augen für Grete. Ab und zu verſuchte er über Herrn von Bürgen, der ihm augenſcheinlich ein Dorn im Auge war, zu ſpötteln. Er vermißte Schneidigkeit an ihm; er, für ſeine Perſon begriffe überhaupt nicht, was eigentlich bei dem Ausbuddeln alter römiſcher Onkel und Tanten, womit ſich die Archäologie doch beſchäftige, herauskomme. Das ganze Studium ſchiene darauf hinauszulaufen, auf Staatskoſten hübſche und weite Reiſen zu machen, er halte es ſogar für unpatriotiſch, durch den Ankauf alter Scharteken das Staatsbudget zu belaſten. Nora, die herübergehorcht hatte, rief entſetzt: „Alte Scharteken! auch etwa die Venus von Milo eine alte Schar⸗ teke? eher bin ich ſelbſt eine,“ ſetzte ſie mit der überſchwäng⸗ lichen Ueberzeugung ihrer Jugendblüthe hinzu. Herta erkundigte ſich, ob der große Kurfürſt auf der langen Brücke auch eine ausgegrabene Antiquität wäre. 310 Sie ergriff jede Gelegenheit, die Herrenwelt durch Unwiſſen⸗ heit zu entzücken. „Reißen Sie doch nicht archäologiſche Witze,“ ermahnte ſie ihr Spielgenoſſe, der Lieutenant Berninger. „Greifen Sie lieber in die volle Gegenwart — macht mehr Effekt. Und, wie um ſeine Meinung zu illuſtriren, fuhr er fort: „Rathen Sie einmal, was meinem Freund Korben an ſeinem Namen fehlt.“ Herta errieth es nicht. „Zwei Striche auf dem o, Herr von Körben; er hat nämlich eine ganze Collektion davon. Und wiſſen Sie auch, warum mich immer Wehmuth beſchleicht, wenn ich Frl. Ruhmann ſehe Sie wußte es nicht. Ihr Name iſt wie eine Grabſchrift: Frieda Ruh⸗ mann.“ Der junge Berninger hatte, von den großen geſell⸗ ſchaftlichen Erfolgen ſeiner Schweſter angeſpornt, Anfangs verſucht, ihre pikante Sprechweiſe zu imitiren. Da er aber, ſeines einfachen Intellekts wegen, in dem Unternehmen nicht reüſſirte, hatte er ſich allmählich be⸗ gnügt ſeine Anwartſchaft auf Witz und Eſprit durch billige Wortſpiele zu documentiren. Grete gab ſich alle Mühe, dem jungen Profeſſor die Kunſtgriffe des Krokets beizubringen. Gegen Korben aber kehrte ſie die Gebieterin heraus. Er war ganz frommer Knecht, Berninger nannte ihn Fridolin. Rollte eine ihrer Kugeln über den Raſen hinaus, ſo pfiff ſie, Korben ſtürzte herbei. Sie zeigte auf die Kugel, er apportirte ſie. Ohne ihn eines Dankes zu würdigen, wandte ſie ſich an den Profeſſor: 320 „Was treiben Sie eigentlich in Berlin?“ Er ſetzte ihr den Zweck ſeiner Studien im Muſeum auseinander. Nora beneidete ihn um die Seelenbäder, die er da täglich nehmen dürfe. „Schöne Seelenbäder,“ widerſprach Grete, „das Muſeum iſt das unmoraliſchſte Lokal in Berlin. „Ach, wirklich!“ rief Herta, und trat ſchnell näher. „Unmoraliſch,“ erklärte Grete, „weil man im Muſeum am perfekteſten das Lügen lernt. Ich ſpreche aus Er⸗ fahrung. Nach hochpoetiſchen Vorträgen unſeres Lyceum⸗ Profeſſors ſtürzte ich mich mit einem halben Dutzend Freundinnen — man muß Complicen haben — in den Kunſttempel, und wir heuchelten einen ganzen Winter lang Entzücken vor knöchernen Greiſen, feiſten Engeln und anilin⸗ farbenen Madonnen. Und wenn ich an die Eiskeller der Skulpturen zurückdenke — brr! es war mein ſchnupfen⸗ reichſter Winter.“ Bürgen lachte, begriff aber doch nicht, wie man ohne Ausbeute ein Muſeum beſuchen könne. „So ganz ohne Ausbeute geſchah es auch nicht“, gab Grete zu. „Erſtens trafen wir mitunter nette Be⸗ kannte dort . . . Lieutenant von Korben erinnerte daran, daß er auch einmal im Muſeum das Vergnügen gehabt . . . „Das war ein ander Mal,“ ſagte Grete, und fuhr fort: „dann kam ich ſchließlich auf eine der glänzendſten Ideen des Jahrhunderts. Ich ſtudirte die gemalten Damen auf ihre Toiletten hin, und allein im vorigen Winter profitirte ich von einer heiligen Thereſe ein originelles 21 H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 321 Jäckchen, ferner einen Van Dyck'ſchen Kragen und ein Mieder von Lukas Cranach. Herta fragte, ob Lukas Cranach mehr als 20 Mark für ein Kleiderfacon nehme? Nora aber lenkte ſofort den Verdacht, den dieſe Worte hervorrufen konnten, als ob die Schweſtern bei faſhionablen Schneiderinnen arbeiten ließen, dadurch ab, daß ſie zum dritten Mal mit Herta, nachdem ſie die erbetenen Stecknadeln erhalten, in ein Ge⸗ büſch verſchwand. „Dieſe Schweſtern ſind ein origineller Typus, nicht? Welches Genre von Frauen mögen Sie überhaupt am liebſten?“ fragte Grete den Profeſſor. Er ſah ſie einen Augenblick lächelnd an und ant⸗ wortete: „Die ſchönen Seelen, die poetiſchen. „Natürlich,“ rief Nora ſogleich, noch halb im Ge⸗ büſch, „die ſchönen Seelen ſind wie Aeolsharfen, ſie ant⸗ worten auf jeden Zephyr und auf jeden Sturm unſrer Empfindungen mit ſüßen Tönen. Bürgen beſtätigte höflich, daß er es ungefähr ſo meine. Grete hatte offenbar eine andere Antwort erwartet. „Wie krokiren Sie denn wieder!“ rief ſie ärgerlich. „Stellen Sie die Kugel vor, nicht durch die Mitte, Sie kommen doch nicht durch! Alſo poetiſche Mädchen? Wiſſen Sie auch, daß die poetiſchen Seelen ſich gewöhnlich mehr in ihre eigenen Gefühle, als in den betreffenden Lieutenant oder Aſſeſſor verlieben? „Während die Weltkinder ſich in ſeine Stellung oder ſein Geld, oder gar nicht verlieben,“ meinte Bürgen. „Für einen aus der theologiſchen Fakultät hervorge⸗ gangenen Gelehrten ſind Sie ziemlich weltklug. 322 „Nicht allzu ſehr. Mir ſind nur praktiſche Mädchen nicht ſympathiſch, die, wenn man ihnen ein Compliment über ihre Augen macht, den Schnitt des Brautkleides überlegen. Ich liebe, wie in der Kunſt, ſo auch in der Liebe — das Tendenzloſe. „Aha!“ dachte Grete. Herr von Korben, der nur den Anfang der Unter⸗ haltung gehört hatte, rief jetzt herüber: „Ich liebe nur die pikanten und die geiſtreichen Frauen. „Wegen der Ergänzung zwiſchen Mann und Weib, meinte Grete ſchnippiſch. „Warum behandeln Sie den jungen Krieger, der Sie offenbar zu verehren ſcheint, ſo hart? Er ſcheint ohnedies zum Skepticismus geneigt. „Ja wohl, er iſt ſo ein kleiner Skeptiker in der Weſtentaſche. Er zweifelt an dem roſigen Teint eines jungen Mädchens und hält ihn für Schminke, er zweifelt an der Idealität eines Künſtlers und hält ſie für Reklame, er zweifelt an der Unerſchrockenheit eines Menſchen, der einen Ertrinkenden rettet, und glaubt, daß er es der Rettungsmedaille wegen thut. Er zweifelt aber nicht an der Superiorität der Uniform vor dem Civil, er zweifelt nicht daran, daß reiche Erbinnen, Delicateſſen und Schulden für unbemittelte Lieutenants auf der Welt ſind. Ich habe gar keinen Grund, ihn ernſthaft zu nehmen. — Alſo, ſagte ſie nach einer Pauſe nachdenklich, „poetiſche Mädchen gefallen Ihnen am beſten? Ich glaub's noch nicht. Nous verrons. Wie ſpielen Sie denn wieder! Nicht zu nah an Roth! Sie werden ja krokirt. Ihre Stümperei richtet mich mit zu Grunde. 323 21* Sie pfiff. Korben war zur Stelle. Sie wollte ihren Shawl, es wurde kühl. Korben holte ihn und Berninger bemerkte mit dem ganzen Aufgebot ſeines Witzes: ſeine Schweſter ſei ein pfiffiger Kerl. Bürgen hatte, als er gekommen war, einige höfliche Worte mit Marie gewechſelt, dann aber weiter keine Notiz von ihr genommen. Sie beneidete Grete um ihr freies, degagirtes Weſen, und begriff doch Bürgen nicht, wie er ſo viel Vergnügen an ihrem leichtfertigen Geſchwätz finden konnte. Als das Spiel beendet war, und eine leichte Dämmerung ſich über den Garten breitete, benutzte Werner die erſte Gelegenheit, die ſich ihm bot, mit Marie im Garten auf und ab zu wandeln. Er verſuchte dem Geſpräch eine intimere Wendung zu geben. Sie ſchien aufmerkſam zu⸗ zuhören, unterbrach ihn aber unverſehens mit der Frage: „Wie gefällt Ihnen Grete Berninger?“ Er ſtammelte einige herkömmliche Redensarten und führte Marie zu den Uebrigen zurück. Dann ſuchte er die Hausfrau auf und ſagte ihr, daß er zu ſeinem Bedauern auf einige Wochen verreiſen müſſe „Müſſen Sie?“ ſagte die Geheimräthin, „ich war nicht darauf gefaßt, daß Sie gerade jetzt gehen würden. Und ihr Blick war ſo voll ernſter Trauer, daß er ſogleich ſagte: „Ich kann meine Abreiſe auch noch einige Zeit ver⸗ ſchieben. Auf Wiederſehen alſo! „Es kann Alles noch gut werden,“ ſagte ſie leiſe, und drückte ihm die Hand. Werner kam nun wieder täglich. Marie begegnete 324 ihm freundlich. Er traf ſie aber nie allein, immer wär Frieda bei ihr, und als er ein oder zweimal früher als Frieda kam, benutzte ſie die Gelegenheit, um ihre Freundin mit einer Art Begeiſterung zn loben. Er warf ungeduldig das Haar zurück und ſah ſie ſchweigend und vorwurfsvoll an. Sie erröthete und wußte, daß er ſie verſtanden. Die Mutter nahm ſich zuweilen vor, mit Marie, Werners wegen, zu ſprechen. Sie brachte es nicht über ſich. Lag nicht Egoiſtiſches ihrem lebhaften Wunſch zu Grunde? Sie war ſich nicht klar darüber. Das verſchloß ihr den Mund. Seit dem Krokettag trug Marie ein Verlangen im Herzen, das immer lebhafter und intenſiver wurde und ihr ſchließlich keine Ruhe mehr ließ. Sie wollte hübſch ſein, hübſch wie Grete, hübſch um jeden Preis.. Aber wie? was konnte ſie dazu thun? Sie ſtand oft vor dem Spiegel und muſterte ſich mit kritiſchen Blicken. Natürlich, ſo konnte ſie Niemandem gefallen! Wie das Kleid ſaß und das Haar, das ſtraff zurückgeſtrichen, die zu hohe Stirn hervortreten ließ. Und dazu die blaßen Lippen. Sie dachte nach. Die Mutter beſaß noch einige Toilettenraritäten aus ihrer Jugendzeit. Sie ſchmeichelte ſie ihr ab: ein paar vergilbte Spitzen, einen verſchoſſenen Atlasrock, den Braut⸗ ſchleier und vor Allem einen indiſchen Shawl, ein Erb⸗ ſtück der Familie, ein Gewebe, fein wie Spinnweben, von einer verſchollenen, dunklen Purpurfarbe mit einer phan⸗ taſtiſchen Borte. Was ſie damit anfangen wollte, wußte ſie ſelbſt noch nicht recht. An einem heißen Nachmittag ſtand ſie wieder vor 325 dem Spiegel. Sie hatte ihr Ueberkleid abgelegt und ver⸗ ſuchte, über dem weißen Unterkleid den romantiſchen Shawl zu drapiren. Sie gürtete ihn wie ein griechiſches Gewand, ſie arrangirte ihn als Kleid à l'empire, mit kurzer Taille, ſie drapirte ſich damit wie mit einem Krönungsmantel. Es war Alles nichts. Ihre Wangen rötheten ſich, ihre Augen wurden feucht von verhaltenen Thränen; ſie würde nie hübſch ſein. Aergerlich warf ſie das feine Gewebe um die Schultern und knüpfte es hinten wie ein gewöhnliches Tuch zuſammen, dann riß ſie ungeduldig ihre ſtarke, braune Flechte auseinander. Das Haar hatte die Neigung ſich zu kräuſeln, war aber mit Bürſte und cosmetiſchen Mitteln ſtets von ihr in ſtrengſter Zucht gehalten worden. Nun fiel es frei über Stirn und Schulter, an den Spitzen ſchimmerte es röthlich. Sie nahm einen kleinen Spiegel zur Hand und ſchüttelte das Haar, daß es leicht und lockig um ſie her flatterte. Von ungefähr fiel ihr Blick in den großen Spiegel. War es eine Sinnestäuſchung, oder ſtand jemand in der Thür? Blitzſchnell wandte ſie ſich um — nein — es war wirklich. Da ſtand er auf der Schwelle — Joachim von Bürgen — und ſah ſie an. Schreck und Verwirrung raubten ihr einen Moment Sprache und Bewegung. Der Spiegel entfällt ihrer Hand und zerbricht am Boden. Sie drückt beide Hände an die Schläfe und, die Augen in Thränen ſchimmernd, die Wangen mit Gluth übergoſſen, ſieht ſie ihn an, als wollte ſie um Hilfe rufen. „So ſchön ſind Sie,“ ſagt er endlich, und ohne die Augen von ihr abzuwenden, bückt er ſich nach den Glas⸗ ſcherben, und wie er ſie auf den Tiſch legt, fällt ein Bluts⸗ 326 tropfen auf das indiſche Tuch. Er hatte ſich geſchnitten. Sie will nach der Hand greifen, in demſelben Augenblick bückt er ſich wieder, um eine andere Glasſcherbe aufzu⸗ nehmen, und ihre Köpfe fahren aneinander. Er lacht, und ſo natürlich und herzlich, daß ſie mitlachen muß, wider ihren Willen, und mit einem Male ſind ſie wie gute alte Bekannte zuſammen. Sie bindet ihm ihr Taſchentuch um die Hand, und ſie ſehen ſich in die Augen und lachen fort, und er glaubt nie etwas Reizenderes geſehen zu haben, als dieſe Grübchen unter dem wallenden Haar, das ſie wieder aus dem Geſicht ſchüttelt, weil ſie ihn ſonſt nicht ſehen kann. Im Nebenzimmer laſſen ſich Schritte hören. „Gehen Sie,“ bittet Marie, und er geht langſam, rückwärts der Thür zu, er lacht nicht mehr, er ſieht ſie mit einem Blick freudiger Bewunderung an, den ſie nicht ſo leicht vergeſſen wird, und zieht leiſe die Thür hinter ſich zu. Das Schickſal des Menſchen hängt oft von einer Minute ab. Das war Marie's Minute geweſen. Als Marie ſpäter auf die Veranda trat, fand ſie ihre Mutter mit Herrn von Bürgen, der ſie begrüßte als hätten ſie ſich noch nicht geſehen. So gab es nun ein kleines Geheimniß zwiſchen ihnen — das war ſchön. Er war gekommen, um für den Sonnabend abzuſagen, auch heute konnte er nur wenige Minuten bleiben, er mußte ſich noch der Pflicht eines Beſuchs bei der Frau Commerzienräthin Berninger, wie er es Fräulein Grete verſprochen, entledigen. Marie hatte ſich mit ihrer Handarbeit in den Schaukel⸗ ſtuhl geſetzt, ſie arbeitete aber nicht, ſondern wiegte ſich in dem Stuhl. „Schaukle nicht,“ ſagte die Mutter, „Du 327 weißt, ich kann es nicht vertragen.“ Marie wußte, die Mutter vertrug es nur dann nicht, wenn ſie verſtimmt war. Bürgen war ſprudelnd von Geiſt und guter Laune. Für Marie hatte ſich ſeit einer Stunde die Welt verändert. Alles um ſie her, Luft und Sonne, Himmel und Erde waren aufregend ſchön. Bürgen erzählte von ſeinen Reiſen, und die Unter⸗ haltung lenkte ſich auf die Frauen der verſchiedenen Länder. Von den Italienerinnen meinte er, daß ſie mit ihren klaſſi⸗ ſchen Formen ſo recht eigentlich in die klaſſiſche Landſchaft gehörten. Er nannte ſie feurig wie die Sonne, leiden⸗ ſchaftlich wie ein Gewitterſturm, ihrer Gemüthsart aber fehle eines, was der Deutſche nicht entbehren könne — der Mondſchein. Die Franzöſinnen hielt er für die klügſten aller Frauen; ſie wüßten, daß es hauptſächlich darauf an⸗ käme, bemerkt zu werden, und jede einzelne Pariſerin ver⸗ ſtehe die Kunſt — zu wirken. Die Häßliche verſtehe in⸗ tereſſant zu erſcheinen, die Unſcheinbare färbe ſich ihr Ge⸗ fieder, die Einfältige täuſche mit naiver Grazie; jede hübſche Pariſerin aber ſei eine Circe, und die ſchöne — Venus ſelbſt. „Und die deutſchen Frauen?“ fragte die Geheimräthin. „Die deutſchen Mädchen,“ antwortete Bürgen mit einem Blick auf Marie, „ſind noch immer wie die Veilchen im Gebüſch, die man ſuchen muß, und meiſtens — nicht findet.“ „Wer Veilchen liebt, weiß ſchon, wo er zu ſuchen hat,“ meinte die Mutter. „Man hat nur ſo wenig Zeit zu ſuchen, gnädige Frau, und dann — es ſind nicht blos die Veilchen unter den deutſchen Frauen, die ihr Licht unter den Scheffel 328 ſtellen. Gerade in unſeren intelligenten Ständen ſind die Mädchen — Profeſſoren⸗ und Beamtentöchter zumeiſt — freiwillige Aſchenputtel, die in tugendhafter Selbſtbeſchränkung Erbſen und Linſen leſen, und es muß erſt die Fee erſcheinen — ſei es nun eine Leidenſchaft, oder Eiferſucht und Ehr⸗ geiz — und ihnen die goldenen und ſilbernen Kleider bringen, damit ihre Prinzeſſinnenherrlichkeit zum Vorſchein komme. Ich habe ſchöne poetiſche Mädchen kennen gelernt, die all ihre Lieblichkeit und Anmuth hinter conventioneller Wohlerzogenheit und einer ſchlechten Schneiderin wie in einem Futteral verbargen. Wenn nicht irgend ein Zufall es öffnet, ſo leben dieſe Mädchen ihr ganzes Leben — incognito. Dieſe ſtrengen Jungfrauen kleiden ſich, als käme es nur darauf an, etwas anzuhaben, ihr Geiſt iſt wie ein Vögelchen im Bauer: überall Gitterſtäbe. Oft ſchwebt es mir auf den Lippen, dieſen allerliebſten Mädchen zuzurufen: Es iſt an der Zeit, kleine Raupe — werde Schmetterling! Die Anſpielung war zu deutlich. Marie erröthete über und über — ſie erröthete ſeit einiger Zeit bei dem geringſten Anlaß — und äußerte ſchüchtern: „Wir ſind aber oft wirklich nur Aſchenputtel und würden mit den goldenen und ſilbernen Kleidern dem Prinzen nur Sand in die Augen ſtreuen. Wenn ich das Märchen ſchriebe — mein Prinz müßte gerade in der Aſche beim Linſenleſen das Mädchen liebgewinnen. Ein Aſchenputtel, das von einem Prinzen geliebt wird, trotzdem es Aſchenputtel iſt, das wäre ein echtes Märchenglück, ein ſo großes . . . Sie fühlte, daß ſein Blick voll auf ihr ruhte und ſchwieg verwirrt. Die Geheimräthin fand, daß Bürgen ſtark übertrieben habe. Sie war überhaupt unruhig und 329 nicht liebenswürdig, wie es ſonſt in ihrer Art lag; einmal meinte ſie, wie ſchnell doch ſo ein Nachmittag vergehe und bald darauf wunderte ſie ſich, daß die Sonne ſchon ſo tief ſtände. „Sie haben Recht, gnädige Frau, es iſt ſpät geworden, ſagte Bürgen, der ihre Anſpielung nicht verſtehen wollte, „ich muß meinen beabſichtigten Beſuch bei Berningers auf⸗ geben.“ Es fiel ihm auch ein, daß er den Geheimrath, der in einer Sitzung war und mit dem er zu ſprechen hatte, erwarten möchte, wenn die gnädige Frau es geſtatten wollte. Die gnädige Frau mußte es wohl oder übel ge⸗ ſtatten. Der Geheimrath kam aber nicht und Joachim ging bald nach dem Abendeſſen. Als er Marie beim Ab⸗ ſchied die Hand reichte, ſagte er: „Uebrigens, ich werde doch verſuchen, mich für den Sonnabend freizumachen.“ Marie zog ſich bald darauf unter dem Vorwand großer Müdigkeit in ihr Zimmer zurück. Die Mutter ließ ſie gehen, ohne ein Wort zu ſagen, ſie ſagte auch nicht gute Nacht. Sie wußte, nun konnte nichts mehr gut werden. Sie ſaß lange ſtill in ſich verſenkt. Trocknen Auges trug ſie ihre liebſte Hoffnung zu Grabe. Es ſollte nicht ſein. Sie dachte daran, daß die jungen Mädchen doch nicht viel klüger ſind, als die Kinder, die nach allem Glänzenden haſchen, und ob es in der alten Zeit, wo die Eltern den Gatten für die Tochter ſuchten, nicht beſſer geweſen wäre. Sie kam aber doch zu dem Reſultat: nein, Eltern ſind auch Egoiſten und beſchränkt wie andere Leute auch. Es iſt ſchon beſſer, es geht einer an eigenem Unverſtand, als an der Selbſtſucht und den Fehlern Anderer zu Grunde. Wären aber ſelbſt alle Eltern gut und klug, ſie richteten 330 doch nichts aus. Die Liebe iſt ſtärker, als alles andere, „Stark wie der Tod“ — es ſteht ſchon in der Bibel. Es blieb ihr nichts übrig, als den Dingen ihren Lauf zu laſſen. Nur ein ſchmerzliches Mitgefühl für Werner, und ein leichter Unwille gegen Marie blieben in ihrer Seele. Als Marie in ihr Zimmer kam, warf ſie geringſchätzig ihr geſchmackloſes Sommerkleid aufs Bett. Sie knüpfte den indiſchen Shawl um, löſte ihr Haar, und hielt es mit den Händen an den Schläfen feſt, alles ganz wie es am Nachmittag war; ſie that es zitternd, in Haſt, als hätte ſie keinen Augenblick zu verlieren. Dann ſtellte ſie ſich vor den Spiegel: „So alſo hatte ſie am Nachmittag ausgeſehen, als er ſie ſchön fand. „So ſchön ſind Sie! ſie hörte es wieder und wieder. Sie lachte und erröthete. Ja, ſie war hübſch — aber ſo hübſch wie Grete? nein — hübſcher. Mit einem Male erſchrak ſie. Was war das für ein dunkler Fleck auf dem Shawl? ja richtig Blut — ſein Blut. Sie nahm eine Nähnadel und ſtach ſich in den Finger. Ein Tropfen Blut kam, ſie ließ den Tropfen auf den dunklen Fleck fallen: ſein Blut, ihr Blut — eins. Ihr Wangen brannten. Sie zog ſich ſchnell aus und legte ſich zu Bett. Sie wollte träumen, wunderſchön träumen. In der Nacht wachte ſie oft auf, immer mit dem Gefühl, daß ein Außerordentliches, ein Wunderbares ge⸗ ſchehen wäre, oder am nächſten Morgen geſchehen ſollte. Früh am Vormittag ging ſie zu Frida, um in Berlin Beſorgungen zu machen, wie ſie der Mutter ſagte. Auf die Frage der Geheimräthin legte ſie den Finger an den Mund: „Frage nicht — eine Ueberraſchung. 331 Die Mutter lächelte, ihr Geburtstag war vor der Thür, ſie dachte an eine Handarbeit. Als Marie gegen Mittag von Berlin zurückkam, trug ſie große Pakete im Arm. In den nächſten Tagen arbeitete ſie bei verſchloſſenen Thüren von Morgen bis Abend. „Ueberanſtrenge Dich nicht,“ bat die Mutter. „Es macht mir ſolche Freude, Mutter. Am Sonnabend, dem Tag des Krokets, konnte ſie vor innerer Erregung nicht zu Mittag eſſen. Um vier Uhr trat ſie herzklopfend, hocherröthend auf die Veranda, wo die Mutter mit Vorbereitungen zum Kaffee für die Gäſte beſchäftigt war. Sie erſchrack, als ſie Mariens anſichtig wurde. Dann zog ſie die Tochter in ihre Arme und küßte ſie zärtlich. „Armes, liebes Kind! ſagte ſie. Sie wußte nun, daß Marie zum erſten Mal liebte, und wußte doch nicht, ob es zu ihrem Glück war. Marie trug ein einfaches Kleid von crémefarbener Wolle, das ſich in weichen Falten an ihre feinen Glieder ſchmiegte. Ein Tuch von gleichfarbigem Muſſelin war kreuzweis über der Bruſt gefaltet. Eine blaßroſa Schärpe umſchloß die etwas kurze Taille. Leichtes, luftiges Gelock, das an den Spitzen röthlich ſchimmerte, fiel auf die Stirn und quoll aus dem leichtgeſchlungenen Knoten, den ſie tief im Nacken trug. Blaßrothe Bänder umwanden das Haar nach Art der griechiſchen Friſuren, und durch die dunkle Fülle leuchtete das zarte Weiß des Halſes. Ihre Wangen ſonſt blaß, waren heute roſig. Sie war über Nacht auf⸗ geblüht an Leib und Seele. „Wo haſt Du das Geld her?“ fragte die praktiſche Frau. 332 „Aber Mutter — mein Taſchengeld, das ich ſeit ſechs Monaten geſpart habe.“ Sie ſetzte aber nicht hinzu, daß ſie es zu Weihnachtsgeſchenken für die Ihrigen geſpart und nun an einem einzigen Tage für ihre Toilette aus⸗ gegeben hatte. Die Damen kamen früher als die Herren. Unter ſtürmiſchen Rufen umringten ſie Marie: „wie ſiehſt Du aus, was haſt Du gemacht? Du biſt ja gar nicht zu er⸗ kennen!“ Frieda fiel ihr um den Hals, und ſagte: „ach reizend! Nora und Herta fanden, daß ihr das Coſtüm recht gut ſtände, aber doch nicht ſo gut, als die Toilette vom vorigen Sonnabend, da habe ſie bezaubernd ausgeſehen; beſonders das Haar beanſtandeten ſie. „Dunkles Haar, meinte Nora, „habe glatt am Kopf anzuliegen, Locken wären das Privilegium der Blondinen,“ was Herta be⸗ ſtätigte, indem krauſes, dunkles Haar ihr immer etwas zoologiſch vorkäme, vielleicht wegen der krauſen und brünetten afrikaniſchen Herrſchaften, die man jetzt immer im Zoologi⸗ ſchen Garten auszuſtellen pflege. Grete mußte all' ihre Weltgewandtheit aufbieten, um ihre Verſtimmung zu verbergen. Ein eigenthümlicher Zufall wollte es, daß ſie und Marie ſich in ihren Coſtümideen begegnet waren; auch ſie hatte ein einfaches, faltiges Kleid an, es war aber von ſchwerer Seide und blaßblau. Das koſtbare Spitzenfichu darüber war ganz in der Weiſe wie das Tuch Marien's arrangirt; auch ſie hatte ſeidene Bänder um das hochaufgebundene Haar geſchlungen. Der Blumen⸗ ſtrauß, den ſie am Buſen trug, war zu groß für ihre kleine Geſtalt. 333 ſie zu Marie. „Du haſt Dir ja Dein Haar brennen laſſen,“ ſagte „Durchaus nicht,“ verſicherte Marie. Grete lächelte. Das Lächeln ſagte: natürlich geſteht man ſo etwas nicht zu. Im Uebrigen fand ſie keine be⸗ ſondere Veränderung an Marie. Frieda aber voll aufrichtiger Bewunderung ſagte immer wieder: „Du biſt ſo hübſch, aber ſo hübſch, Du wirſt Dich gewiß bald verloben. „Wißt Ihr,“ ſagte Grete mit altkluger Weisheit, „ein kluges Mädchen kann ſich immer verloben, wann ſie will. „Wie ſo? wie ſo?“ fragten die Schweſtern lebhaft. „Sie muß nur ſo viel Verſtand und Selbſtkritik haben, um richtig beurtheilen zu können, was für Anſprüche ſie machen darf. „Marie,“ meinte Frieda, „kann die höchſten Anſprüche machen.“ „Seid Ihr naiv, die rothbäckigſte Unſchuld, was Menſchenkenntniß betrifft,“ lachte Grete. „Marie iſt hübſch, klug, aus feiner Familie. Aber — hat ſie etwa eine Mit⸗ gift? nein. Redet ſie amüſanten Unſinn? nein. Macht ſie Toilette? bis heute wenigſtens nicht. Aber — ſie iſt eine tiefe Natur. Arme Marie, wer dafür etwas giebt! tiefe Naturen — ziehen nicht — Gott ſei's geklagt,“ fügte ſie mit einem ſo drolligen Pathos hinzu, daß Alle mit⸗ lachen mußten. „Und nicht einmal kokett biſt Du, Marie; ergo: Du haſt Anſpruch auf einen wohlhabenden Kaufmann, einen tüchtigen Baumeiſter, einen vermögenden Gutspächter, oder einen Amtsrichter in Jüterbog, der es mit Gottes Hilfe im Alter zum Geheimrath in Berlin bringen kann. 334 „Und worauf haſt Du denn Anſpruch?“ fragte Frieda pikirt. „Ich?“ antwortete Grete, indem ſie ſich auf die Fuß⸗ ſpitzen ſtellte, die Augen halb ſchloß und die Lippen zu⸗ ſammenkniff, um ihre Freundinnen durch hochmüthige Allüren zu beluſtigen, „ich gehöre zu jenem allermodernſten Genre, nach dem auf dem Markt des Lebens die meiſte Nachfrage iſt . . . „Das Genre der Mediſanten,“ warf Frieda ein. „Der Pikanten,“ corrigirte Grete, „ich ſage ja nicht, daß ich es bin, aber ich gelte dafür. Und wenn dieſes Genre noch leidlich hübſch iſt, und 300 000 Mark baar mitbekommt, ſo hat es Anſpruch auf einen geheim⸗commer⸗ zienräthlichen Millionär, oder auf einen genialen Künſtler mit der Garantie auf Unſterblichkeit oder einen jungen, bildſchönen Profeſſor, der etwas epochemachendes zu ent⸗ decken oder zu erfinden, ſeiner Gattin gegenüber verpflichtet iſt. Uebrigens heirathe ich wahrſcheinlich einen Seeoffizier. Bei dieſem Beruf und den damit verbundenen Weltum⸗ ſeglungen hat man noch die meiſte Ausſicht der neuen Freiheit zu genießen. Die Ankunft Werners unterbrach das Geſpräch. Marie fürchtete ſich vor ſeinem erſten Blick. Als ſie ſeine Stimme hörte, zog ſie Frieda an ſich, und eifrig mit ihr redend, hielt ſie die Augen zu Boden geſenkt. Wie ſie endlich aufſah, begegnete ſie doch ſeinem vollen Blick, der beſtürzt und zärtlich zugleich auf ihr ruhte. Er grüßte ſie, ohne ſich ihr zu nähern. Bald nach ihm kamen die anderen Herren. Bürgen begrüßte Marie mit einem warmen Händedruck. Er ſagte nichts, in ſeinem Blick aber las ſie, 335 wie ſehr ſie ihm gefiel. Einmal im Lauf des Nachmittags flüſterte er ihr doch zu: „halb Mignon, halb Muſe — kein reiner Stil, aber es thut nichts, Sie haben ſich und mich verſtanden. Das Spiel begann. Nora, deren Stiefel heute kroket⸗ fähig waren, ſpielte mit, während Marie ſich als Zu⸗ ſchauerin unter einen blühenden Kaſtanienbaum ſetzte. Mit den vollen, roſigen Büſcheln über dem Kopf war ſie ein Bild des Frühlings. Sie wand einen Kranz von Epheu und Veilchen für den Sieger. Ein innerer Zorn arbeitete in Grete; ſie ſchlug auf die Kugeln los, als wollte ſie ſie für irgend eine Unthat abſtrafen. Ihr langer Rock paßte ſchlecht zu den heftigen Bewegungen. Je mehr ſie fühlte, daß ſie ſich nicht zu ihrem Vortheil ausnahm, je uner⸗ quicklicher wurde ihr Weſen. Sie ſprang wie ein Kreiſel hin und her; das Band in ihrem Haar verſchob ſich, bei jedem Schritt rauſchte die Seide des Kleides hinter ihr her. Ihr pikantes Geplauder, das Bürgen das erſte Mal ent⸗ zückt hatte, ſchien heute ſeine Wirkung zu verfehlen. Sie ahnte, daß ſeine Gedanken wo anders waren, und einmal ertappte ſie ſeine Blicke, als ſie bei Marie ankamen und länger dort verweilten, als es ſich mit einem Zufall zu⸗ ſammenreimen ließ. Von da an beobachtete ſie die Beiden. Sie ſah, wenn eine verirrte Kugel den Weg nach dem Kaſtanienbaum nahm, ſo ſtellte er ſich vor Marie, damit die Kugel ſie nicht ſtreife. Er brach einen Zweig vom Baum und brachte ihn ihr zur Abwehr gegen die Mücken. Einmal flüſterte er ihr etwas zu. Grete hörte nicht, was er ſprach, ſah aber aus ſeinen Geberden, daß es ſich um Marie's Coſtüm handle. 336 „Wie finden Sie mein Coſtüm? fragte ſie ihn. „Werthers Lotte!“ rief der Bruder Lieutenant herüber „ſie ſchneidet aber nicht Brot, ſondern Kuchen. „Finden Sie das auch, Herr von Bürgen? „Sie ſehen aus, wie eine allerliebſte, kleine, franzöſiſche Marquiſe,“ antwortete er, „die ſich als Schäferin verkleiden wollte, ſich aber unterwegs eines Anderen beſonnen hat. „So iſt es auch,“ ſagte ſie, „eigentlich wollte ich Ihnen einmal poetiſch kommen, da fiel mir ein, Sie könnten das für eine Koketterie halten, Garderoben⸗Kunſtſtücke über⸗ laſſe ich lieber Anderen. Und gleich darauf fragte ſie: „Finden Sie nicht, daß Marie Burkhart heute ſehr hübſch ausſieht? Er bejahte. „Es iſt auch gut für Marie,“ fuhr ſie fort, „daß ſie ſo ſtill und leidenſchaftslos iſt, ein lebhafter Ausdruck würde ihren regelmäßigen Zügen nicht ſtehen. Sie hat ſo eine farbloſe Sanftmuth, wir nennen ſie unter uns Roſenwaſſer“. Aber ihr Haar iſt wirklich ſchön, ſie hätte gar nicht nöthig, es zu brennen.“ Die arme Grete konnte nicht wiſſen, daß Bürgen das Haar im Naturzuſtand kannte. Er lächelte gezwungen. Auch ihr Anbeter Korben ſchien in einer Metamorphoſe begriffen. Er war heute ein Anderer. Ohne Spur von Unterwürfigkeit apportirte er die deſertirten Kugeln und begehrte dafür den Dank der Dame: die Roſe von ihrer Bruſt. Sie wehrte ihn ab; er ſei kein Sänger in goldenen Locken, und ſie — nicht zerfloſſen in Wehmuth und in Luſt. Der kühne Korben ließ ſich nicht abſchrecken und benutzte einen Moment, wo ſie ihr Taſchentuch loſe in der H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 22 337 Hand hielt; es ſtehlen und am feurigen Herd ſeiner Ge⸗ fühle bergen, war das Werk eines Augenblicks. Sie ſchlug ihn mit dem Schläger derb auf die Hand. Verwegen er⸗ griff er die ſtrafende Hand, küßte ſie, und ſeine ſiegesge⸗ wiſſen Blicke verriethen, daß er ſie unter allen Umſtänden erobern werde. Sie hätte vielleicht dieſe plötzliche Eroberungsſtimmung gedämpft, aber einmal amüſirte ſie ſich darüber, und dann — ſie hätte ſo gern den jungen Profeſſor eiferſüchtig ge⸗ macht! Er war ſo unverſchämt kühl heute. Sie trippelte unruhig von der Gruppe Nora⸗Korben zur Gruppe Herta⸗Berninger. „Wißt Ihr ſchon,“ flüſterte ſie, „das Geheimraths⸗ töchterchen hat ihr Herz entdeckt. Man wollte wiſſen, was ſie meine. Sie zeigte auf Bürgen und Marie. „Das Roſenwaſſer gährt, es thäte mir aufrichtig leid, wenn es Eſſig würde mit ihren Plänen. Grete war böſe auf Marie, böſe auf alle Welt, und auf ſich ſelbſt am meiſten. Wie konnte ihr Einer ſo ge⸗ fallen, dem eine Andere beſſer gefiel als ſie! Wernerhatte, währender mit Frieda ſpielte, ſeinenruhigen Ernſt bewahrt, er ſpielte nur miſerabel. Frieda bewies ihm jene ſtille, theilnahmsvolle Liebenswürdigkeit, mit der ein zartes Frauengemüth den Schmerz, den es erräth, zu lindern ſucht. Grete fand das Spiel bald langweilig und ſchlug ein anderes vor. Bei keinem aber hielt ſie es länger als zehn Minuten aus. Nach Beendigung des Kroket hatte man ſich nach Werner umgeſehen, er war verſchwunden. Marie athmete erleichtert auf. 338 Die Schweſtern benutzten eine Pauſe, um Grete nach den Anſprüchen zu fragen, die ſie machen dürften. „Der Profeſſor wäre etwas für Euch,“ ſagte ſie, „er iſt Idealiſt, keine Spur von Berechnung, Geld mag er gar nicht. Er ſucht eine ſchöne Seele oder einen unſchulds⸗ vollen Engel, ich weiß es aus ſeinem eigenen Munde.“ Nachdem ſich die lockenſchüttelnden Schweſtern theils hüpfend, theils ſchreitend entfernt hatten, nahm Grete Mariens Arm; ſie beklagte ſich, daß ſie gar nicht mehr dazu käme, mit ihr vertraulich zu plaudern. Und ſie plauderte: Sie wäre ihre Freundin, und ſie hielte es für ihre Pflicht, ſie vor dem Profeſſor Bürgen zu warnen. Marie wiſſe wohl, daß er ihren Eltern einen Beſuch ge⸗ macht habe. Schnelle Bekanntſchaften zu knüpfen, ſcheine ſüddeutſche Art. Ihre Eltern hätten nun den Grundſatz, ehe ſie einen jungen Mann, beſonders wenn er ihr den Hof mache, zum Diner einlüden, Erkundigungen über ihn einzuziehen. Das Reſultat ſei nicht beſonders günſtig ausgefallen. Als Gelehrter habe Herr von Bürgen allerdings Ausſichten, aber ohne Garantie auf eine Stelle im Conſervations⸗ Lexikon, ſein Vermögen wäre gleich Null, auch habe er unerlaubte Beziehungnn zu einer Dame; darum habe ſie ſich auch heute etwas fern von ihm gehalten, was von ihm bemerkt worden ſei. Marie nickte lächelnd zu Allem, was Grete ſagte, glaubte aber kein Wort davon. Gretes unſtätes Weſen hatte ſich dem ganzen kleinen Kreis mitgetheilt. Die Schweſtern umzingelten den jungen Profeſſor. Kaum war es ihm gelungen, ein paar Worte mit Marie zu wechſeln, ſo war Nora ſchon da und wollte Bücher von ihm empfohlen haben, ſie würde nur ſolche 22* 339 Bücher leſen, die er empfähle, es müßten aber Bücher ſein, aus denen es Einen wie Lindenblüthenduft oder Champagner⸗ perlenſchaum oder Nachtigallenflötenton berühre. Sie hatte eine entſchiedene Vorliebe für vielſilbige Worte. War er endlich von ihr losgekommen, ſo vertrat ihm Herta den Weg. Sie überbot ſich heute in Naivitäten. Sie fragte ihn, ob er ſein Buch über Italien vor oder nach ſeiner Reiſe in Italien geſchrieben, und warum er ſich nicht mit einer ſchönen Griechin verlobt hätte. Das gute Einver⸗ nehmen der Schweſtern ſchien ſeinetwegen geſtört; keines der Mädchen bat auch nur einziges Mal um eine Steck⸗ nadel, keines verſchwand im Gebüſch. Die Folge: ſiegreiche Invaſion des Glanzkattuns. Man trennte ſich früher als ſonſt. Auf dem Rück⸗ wege ſagte Korben zu ſeinem Freund Berninger: „Kennſt Du die Goethe'ſchen Verſe; Geh' den Frauen zart ent⸗ gegen u. ſ. w. Ich bin bei Vers 2. Wollen wir wetten, ich reüſire bei Deiner Schweſter. Als Marie mit ihrer Mutter allein war, fiel ſie ihr um den Hals: „Ich habe mich himmliſch amüſirt, und Du biſt meine liebe, liebe, gute Mutter. Am andern Tag erhielt die Geheimräthin einen Brief von Werner: er müſſe ſich leider ſchriftlich verabſchieden — eine unaufſchiebbare Geſchäftsreiſe, die ihn monatelang fernhalten könne u. ſ. w. Mit Verſicherungen unwandel⸗ barer, treuer Freundſchaft ſchloſſen die wenigen Zeilen. Sie hatte ja gewußt, daß Alles zu Ende war, und doch, da er nun unwiderbringlich verloren war, empfand ſie bitteren Kummer. Sie gab Marie den Brief. Dieſe ver⸗ ſtand ſofort. Sie liebkoſte die Mutter, wie um ſie zu 340 tröſten; ihr Geſicht aber blieb heiter. Ein läſtiger Druck war von ihr genommen. Sie fühlte das Leben wie einen kräftigen Strom, der ſie forttrug — wohin? zu einem fernen, wundervollen Eiland. Allmählig kam Bürgen öfter in das Burkhart'ſche Haus. Er meinte, jours fixes ſeien eine treffliche Einrichtung und lud ſich für jeden Montag und Freitag ein. Zum Abend⸗ brod blieb er ſelten; er dinire ſpät, und könne vor 10 Uhr nicht noch einmal eſſen. Von den Kroketpartien hatte er ſich als ein „unverbeſſerlicher Stümper im Grünen' dispenſirt. Zu Berningers wurde er oft zum Diner geladen. Man lud auch Marie häufig ein, aber nie mit dem jungen Profeſſor zuſammen. Grete erklärte dieſes Verfahren damit, daß ſie es unpraktiſch fände, nahe Bekannte zuſammenzu⸗ bitten; die bildeten dann Gruppen für ſich, während die Fremderen als triſte Solofiguren ſich in den Winkeln auf⸗ ſtellten. Auch ſei ſie überzeugt, es intereſſire Marie auch einmal neue Menſchen kennen zu lernen. Profeſſor Bürgen z. B. könne ſie alle Tage bei ſich ſehen, dagegen den jungen Grafen K. oder den Präſidenten 2. nicht. Sie renommirte gern ein wenig. Die Geheimräthin, die anfangs, ſolange ſie auf Werner gehofft, Bürgen mit kühler Zurückhaltung begegnet war, gab dieſe Haltung als nutzlos auf. Fühlte ſie auch für Bürgen keine Sympathie wie für Werner, ſo erwärmte ſie ſich allmählig um Mariens willen für ihn. In ihrer liebevollen Art lebte ſie ſich in das neue Verhältniß ein, und der Liebesfrühling ihrer Tochter duftete und blühte auch für ſie. Bürgen hatte einmal den Wunſch ausgeſprochen, die 341 Umgegend von Berlin kennen zu lernen, die man ihm ge⸗ rühmt habe, und an die er nicht recht glaube. Marie ſtimmte freudig zu, die Mutter zögernd. Sie war etwas bequem und kränklich, und blieb am liebſten auf der Veranda ihrer Villa. Ohne ſie konnten aber die jungen Leute nichts unter⸗ nehmen. Schützte ſie zu kühle Witterung vor, um daheim zu bleiben ſo ſchleppie Marie Tücher und Shwals herbei, und ſchmeichelte ſo lange, bis ſie nachgab. War es zu heiß, ſo wußte ſie im Grunewald Plätzchen am Waſſer, ſo kühl, daß man ſich vor Erkältung in Acht nehmen müſſe. So kam es, daß man bei günſtigem Wetter faſt an jedem Montag und Freitag Ausflüge in die Umgegend unternahm, und abwechſelnd in den Grunewald, in den Schloßpark von Charlottenburg, oder in den zoologiſchen Garten wanderte. Sobald man in's Freie kam, pflückte Marie Blumen und band ſie zu einem Strauß. Das war eine Eigenthüm⸗ lichkeit von ihr, und ihr ſo natürlich wie plaudern und wandern. Während die jungen Leute in ihrer Nähe umher⸗ ſchweiften und lachten und Unſinn ſchwatzten — eine Ge⸗ heimſprache Liebender, die Niemand ſonſt verſteht — pflegte ſich die Geheimräthin auf eine Bank oder in's Moos unter einen Baum zu ſetzen. Ueber ihre Handarbeit hinweg ſpähte ſie aber nach rechts und links, ob nicht etwa ein Bekannter aus Weſtend oder Berlin des Weges daher käme. Auch im Hauſe verſtand ſie es, immer in der Nähe des Paares zu ſein, ohne doch ihren freien Verkehr zu beſchränken. So weit es möglich war, wendete ſie Montags und Freitags jeden anderen Beſuch ab. Mit faſt diplomatiſcher Feinheit 342 wußte ſie die Intimität der jungen Leute den Augen der Welt zu entziehen. Sie wußte, wie leicht böswilliges oder auch harmloſes Geſchwätz geeignet iſt, eine Neigung im Keime zu zerſtören. Daß die Werbung des jungen Mannes ernſt gemeint ſei, daran zweifelte ſie keinen Augenblick, und ſie fand es völlig in der Ordnung, daß er ſich nicht unbedacht ver⸗ lobte, ehe er das Mädchen ſeiner Wahl geprüft. Wußte ſie doch, daß Marie bei näherer Bekanntſchaft nur gewinnen könne. Sie ſelbſt konnte zu dem jungen Profeſſor in kein rechtes Verhältniß kommen; er fühlte ſich ihr gegenüber befangen und hütete in ihrer Gegenwart Blicke und Worte. Marie gehörte zu den weichen und liebevollen Mädchen⸗ naturen, die, wenn ſie lieben, von dem Trieb beſeelt ſind, dem Geliebten zu dienen, auch wenn er nichts verlangt, ihm zu gehorchen, auch wenn er nicht befiehlt. Sie ſchälte ihm das Obſt bei Tiſch, holte ihm ein Plaid, wenn es auf der Veranda kühl wurde, und lief mit freudiger Ge⸗ ſchäftigkeit ab und zu, um ihm Feuer, Cigarren, eine Zeitung oder ein Buch zu bringen. Sie wußte genau, wie viel Zucker und Sahne er zum Thee und Kaffee nahm, ſie merkte an ſeinem Blick, ob er lieber in den Grunewald, oder in den Zoologiſchen Garten wollte. Trat ſie in's Zimmer und er ſagte: „Sie haben ja heute eine rothe Schleife vorgeſteckt,“ ſo wußte ſie an ſeinem Ton, daß ihm die Schleife mißfiel, und einige Minuten darauf war ſie verſchwunden. Sie begann ſich lebhaft für Kunſt und Alter⸗ thum zu intereſſiren. Sie las Lübkes Kunſtgeſchichte, ging oft mit Friedain's Muſeum, begeiſterte ſich für die Pergamener, und blieb vor jedem Antiquitätenladen ſtehen. Zwiſchen 343 ihm und Allem, was gut und ſchön war, beſtand für ſie ein geheimnißvoller Zuſammenhang. Der Duft einer Blume, roſige Wolkenſchleier am Abendhimmel, der Anblick eines reizenden Kindes, ein ergreifendes Gedicht, das ſie las riefen ſofort ſein Bild in ihre Seele. Ihr ganzes Weſen war wie in leuchtende Heiterkeit getaucht. Nichts verſtimmte ſie. Nur, wenn es am Montag oder Freitag regnete, wurde ſie unruhig: wenn er nicht käme! Er kam aber doch; dann las er ihnen zuweilen vor, oft eigene Arbeiten. Er las mit ſchönem Pathos, das nicht frei von Koketterie war. Wenn er. an einer beſonders ſchwungvollen Stelle aufblickte und ihre Augen ſich trafen, war ſein Blick ſo eigen tief und durchdringend, daß ſie wie geblendet fortſehen mußte. Er verſtand die Kunſt zu wirken. Von Tag zu Tag wurde Marie hübſcher und blühender. Selbſt der Geheimrath bemerkte es. Er klopfte ihr zuweilen auf die Wange und ſagte huldreich: „Unſere Marie wird hübſch.“ Für ihre Ausflüge wählten ſie am liebſten den nahen Grunewald. „Ich kann mir gar nicht denken,“ ſagte Marie ein⸗ mal an einer beſonders lieblichen Stelle des Waldes,“ daß es wo anders ſchöner iſt als hier. Ich finde unſere kräftigen, grünen Tannen, mit dem Haidekraut und den rothen Beeren um ihre Wurzeln, viel gemüthvoller, als Ihre langweiligen, ungeſelligen italieniſchen Cypreſſen und Pinien.“ Und als am ſpäten Nachmittag die ſinkende Sonne die Bäume mit ſanftem Feuer durchglühte, fragte ſie ihn, „ob das nicht ausſähe, wie ein ſchönes Lächeln auf einem ernſten Geſicht? „Sie kennen Italien nicht,“ antwortete er, „wenn wir 344 einmal zuſammen in Italien ſein werden, ſollen Sie auf Schritt und Tritt Wunder erleben. Darnach wird Ihnen unſere Wald⸗ und Wieſengrünheit recht plebejiſch vor⸗ kommen.“ Marie, von glühendem Roth übergoſſen, bückte ſich, um Vergißmeinicht zu pflücken. „Wenn wir einmal zu⸗ ſammen in Italien ſein werden!“ — er dachte alſo daran. Sie ſteckte ihm die gepflückten Vergißmeinnicht auf den Hut, den er in der Hand trug. „Vergißmeinnicht haben ſo etwas Rührendes,“ ſagte ſie, „ſie erinnern mich an unſchuldige Kinderaugen, mir iſt immer, als müſſe ich ſie in Schutz nehmen, obgleich ich gar nicht weiß, vor wem und was. Ich weiß beſtimmt, wenn ich weit, weit fort wäre, etwa in Kamerun oder auf der Inſel Ceylon, und ich ſähe Vergißmeinnicht, ſo müßte ich weinen und an den Grunewald denken, und an all das, was im Grunewald geweſen iſt. Sie erröthete wieder und lief fort, und lief die Hügel bergauf und bergab, und einmal lief ſie zu ſchnell bergab, und wäre geſtürzt, wenn er ſie nicht in ſeinen Armen auf⸗ gefangen hätte. Es war ein Schreck, ein merkwürdig ſüßer Schreck, noch lange nachher zitterten ihr die Glieder. Sie war überhaupt ängſtlich und feige. Vor einem jungen Reh, das an ihr vorbeihuſchte, vor dem unerwarteten Schrei eines Vogels, oder vor einem Reiter ſchrak ſie zu⸗ ſammen und erblaßte. Sie war nicht zu bewegen, allein an einer Rinderheerde vorbeizugehen; ſie ſchmiegte ſich dann ängſtlich an ihre Mutter, und Bürgen mußte an ihrer anderen Seite bleiben. Er neckte ſie damit und nannte ſie „Baby“ „unſer Baby“. Sie hörte es gern. 345 Sie athmete mit Entzücken die reine Luft und das ſonnige Glück. Selbſt, wenn ſie einmal traurig wurde, war es nur wie ein zarter Nebel, durch den noch die Sonne hindurch ſchimmerte. Einmal wurde ein krankes Kind in einem Rollſtuhl an ihnen vorübergefahren. Das Kindchen that ihr ſo leid. „So viele Kinder,“ ſagte ſie, „ſterben ganz klein und erfahren nie, wie ſchön das Leben iſt. Ein Schweſterchen von mir iſt auch geſtorben. Sie wäre ein Jahr älter als ich, und könnte jetzt ſo glücklich ſein wie ich. Sie hieß auch Marie. Meine Mutter dachte, ſie würde eher das verſtorbene Kind verſchmerzen, wenn ſie wieder eine Marie hätte. Es iſt doch blos ein Zufall, daß ſie todt iſt, und ich lebe. Und ſo ſelbſtſüchtig kann der Menſch werden! Ich freue mich, daß ich die Jüngere bin, und daß ich lebe. Jung zu ſterben, muß gar ſo traurig ſein. „Es giebt Todesarten, die einem das Scheiden er⸗ leichtern.“ „Wirklich? Wie möchten Sie ſterben: „Ich möchte ſterben unter den Klängen von Lohen⸗ grins Hochzeitsmarſch, Aug' in Auge mit dem Mädchen, das ich liebe.“ Ihre Blicke floſſen in einander. „Es müßte aber eine ſchöne Sommernacht ſein,“ ſagte Marie, „und über mir die Sterne. Ich könnte aber über⸗ haupt nicht ſterben, nicht ohne Qual wenigſtens, ſo lange noch einer da iſt, der mich lieb hat.“ Während ſie das ſagte, ſaß ſie auf einem Hügel unter einer Edeltanne. Sein Auge ruhte mit Entzücken auf ihr. In dem verklärenden Schein der untergehenden Sonne er⸗ 346 ſchien ſie wie von durchſichtigem, roſigem Alabaſter. Er ſagte es ihr. Sie wehrte das Compliment ab. „Es iſt kein Compliment, ich kenne Niemand, der ſo, wie Sie, an etwas erinnert, das nicht von dieſer Welt iſt, an ein Märchen oder an etwas Mythologiſches. Bei Sonnenaufgang, auf einem Berge, das Antlitz aufwärts gekehrt, wären Sie Aurora, im Kelch einer Waſſerlilie — Elfe. Wie Sie jetzt in die untergehende Sonne blicken, ſind Sie der Genius des Traums. Ueberall, wo es hold und ſchön iſt in der Natur, da gehören Sie hin. Der Salon iſt nicht Ihr Element; Sie kommen mir darin immer wie eine Gefangene vor.“ „So?“ ſagte ſie ſchelmiſch, „darum gehen Sie auch immer ſo früh fort, weil Sie mich im Zimmer nicht mögen. Ihre Worte ſchienen irgend welche beſtimmte Vor⸗ ſtellungen in ihm zu erwecken. Er lächelte wie in eine Ferne hinüber und ſagte: „Es giebt ſo merkwürdige Gegen⸗ ſätze. Ich verkehrte früher viel mit einer Verwandten, die in meiner Vorſtellung ſo mit ihrem Salon verwachſen iſt, daß ich mir ſie gar nicht unter Gottes freiem Himmel denken kann. Nie, auch in den wärmſten Sommertagen, habe ich bei ihr geöffnete Fenſter gefunden, und immer war Feuer im Kamin. Marie wollte wiſſen, wie der Salon der Dame ein⸗ gerichtet war. „Merkwürdig,“ antwortete Bürgen. „Die ver⸗ ſchiedenſten und heterogenſten Möbel ſtanden darin wild durcheinander: ein Roccocotiſch, Spiegel und Leuchter aus venetianiſchem Glas, Renaiſſanceſchränke, moderne Chaiſe⸗ longues mit türkiſchen Teppichen, ruſſiſch geſtickte Portidren, 347 und auf allen Tiſchen und Etageren, bunt durcheinander gewürfelt, zahlreiche Kunſtwerke und Raritäten von ver⸗ ſchiedenſtem Werth. Dieſer Salon — er war ſehr groß — hatte eine altdeutſche Niſche, eine japaniſche Ecke und einen Roccoco⸗Erker. Allerlei Geräth war mit großen farbigen Porzellanblumenverziert. Rieſige Makart⸗Bouquets, Pfauenfedern, und vergoldete Palmen ragten hinter den Möbeln hervor. Nur friſche Blumen gab es nirgends, da⸗ gegen waren alle Räume von einem ſtarken Hyacinthen⸗ parfüm erfüllt. Vor den Fenſtern hingen chineſiſche Vor⸗ hänge von einem verſchoſſenen Roth mit grotesken Figuren, Vögeln und allerlei goldenem Blätter⸗ und Gitterwerk, die gaben dem Salon etwas luſtiges und bewohntes; dazu trug auch ein Papagei auf einer Stange bei.“ „Und die Dame, die darin wohnte, war ſie ſchön ¹ fragte Marie. Die Frage ſchien ihn unangenehm zu berühren. „Sie paßte in ihre Umgebung, ja — recht ſchön . . ¹ er wollte von etwas Anderem ſprechen. „Iſt es lange her, daß Sie mit der Dame verkehrten? fragte Marie mit einer Neugierde, die ihr ſonſt nicht eigen war. „Ja, ziemlich lange.“ „Wie heißt ſie denn: Ein flüchtiges Roth zog über ſein Geſicht, er verlor einen Augenblick die Faſſung. „Capricioſa,“ ſagte er ſcherzend. Er war aber ver⸗ ſtimmt, als hätte er etwas geſagt, das ihm hinterher leid thäte. Die Geheimräthin trat hinzu und mahnte an den Rückweg. — 348 Auf Anregung Gretes wurde einmal eine größere Land⸗ parthie nach Schildhorn im Grunewald veranſtaltet. Zu dem bekannten kleinen Kreis geſellte ſich noch eine Anzahl anderer Familien. Es war ein buntes Durcheinander vonluftigen Sommer⸗ kleidern, ſilbernem Lachen, friſchem Grün und Vogel⸗ gezwitſcher. Das gab auf dem ſanfthügeligen Terrain, unter den kräftigen Tannen und am blinkenden See, ein Bild lebendigſter Anmuth. Luſtig waren gleich bei der Ankunft die langen Tafeln mit den blendend weißen Tiſchtüchern, auf denen die mächtigen dampfenden Kaffeekannen und die Berge duftenden Kuchens ſtanden, ſo recht an Urväterweiſe erinnernd, wie Grete meinte, und ſo urgemüthlich, daß ſelbſt die gefrorenſte Steifheit daran ſchmelzen müſſe. Alle Requiſiten einer Landparthie waren zur Stelle: die Guirlanden zum Schmuck der Wagen, eine Bonbonniöre, um Hin⸗ und Rückfahrt zu verſüßen, die Bowle zur Er⸗ regung reglementsmäßiger Luſtigkeit, ein Horn, um zufällig oder abſichtlich Verirrte auf die rechte Fährte zurückzublaſen, Stocklaternen für die Poeſie des Waldabends und bengaliſche Flammen. Für die bei Landparthien nicht zu umgehenden Spiele hatte man Reifen, Töpfe, Bälle u. ſ. w. mitgebracht. Drohte einmal der Götterfunke der Freude zu verlöſchen, ſo wurden Wald und Flur mit vierſtimmigen Volksliedern überzogen. Nach dem Kaffee ſchlug Grete die allerurälteſten Spiele vor: Fanchonzeck, Topfſchlagen, Blindekuh, der Plumpſack geht herum u. ſ. w. „Jede Landparthie,“ ſagte ſie, „iſt nun einmal ein Ausflug nach Arkadien und man kann da⸗ 349 bei nicht naiv genug ſein.“ Alt und Jung ſpielte alſo im grünen, grünen Wald. „Das iſt köſtlich,“ ſagte ein alter Herr beim Topf⸗ ſchlagen, dem das weiße, volle Haar beim Laufen um das verwitterte Geſicht flog, „daß wir Alten auch dabei ſein dürfen, und dahinter kommen, daß wir eigentlich gar nicht alt ſind. Was heißt alt ſein? keine Lebenskraft haben!" und damit ſchlug er mit ſolcher Vehemenz auf einen Topf, daß er in Stücke ſprang, und dieſe Kraftprobe machte ihm vielleicht ebenſo viel Vergnügen, als die Lorbeeren, die er Tags zuvor für eine Kammerrede geerntet. Frieda warf ihre Reifen hoch in die Luft und meinte, daß man ſich doch nur im Freien ſo recht frei fühle. „Und darum wird man da am leichteſten zum Freier, wendete ſich Lieutenant Berninger galant zu ſeiner neueſten Flamme, einer crémefarbenen jungen Dame mit kirſchrothen Schleifen, die auf jeden ſeiner Scherze mit einem zwitſcherndem Lachen antwortete. „Ueberhaupt,“ ſetzte er hinzu, „Schild⸗ horn iſt ein Paradies. „Aber hoffentlich ohne Schlangen,“ zwitſcherte die junge Dame. „Außer denen,“ warf Herr von Körben geringſchätzig hin, „die man am Buſen nährt oder genährt hat.“ Der junge Mann war heute abermals ein Anderer. Er trug eine unvergleichliche Indifferenz gegen Grete zur Schau. Sie war Luft für ihn, nur eine gelegentliche ſpöttiſche Be⸗ merkung zeugte davon, daß er ſich ihrer noch dunkel er⸗ innerte. Und doch war Grete heut reizend und über⸗ müthiger als je, in einer Toilette von durchſichtigem, orientaliſchem Stoff mit türkiſcher Stickerei, die gefeiertſte 350 Dame der Geſellſchaft. Auch Bürgen hatte einen glänzenden Tag. Er bezauberte die junge Damenwelt. Augenſcheinlich machte er Grete den Hof; von Marie hielt er ſich fern. Nur mit Mühe konnte ſie ihre Enttäuſchung verbergen. Warum hatte ſie ſich ſo auf die Landparthie gefreut? Wie ſchal war doch ſo ein Maſſenvergnügen! Sie pflückte Blumen, warf ſie mechaniſch wieder fort und pflückte neue. Einmal rief ſie Frieda heran: „Ich bin heute häßlich, Frieda — nicht? Bitte, ſage es mir!“ und ihr Blick ſtreifte mißtrauiſch ihr einfaches, weißes Kleid, das mit einer einzigen blaſſen Roſe geſchmückt war. Nein, ſie war bildhübſch, nach Friedas Meinung; das ſchien auch der Aſſeſſor Windhorn zu finden, der kein Auge von ihr ließ. Der Aſſeſſor war ein kleiner, geſchmeidiger Herr, deſſen Redefluß ebenſo bedeutend war, wie ſeine Naſe, und der die Pauſen zwiſchen den Körben, die er ſich von reichen Mädchen holte, damit ausfüllte, daß er auch ein⸗ mal, einem inneren Drange nachgebend, einer mittelloſen jungen Dame ſein Herz ſchenkte, ſeine Hand aber dabei na⸗ türlich vorſichtig aus dem Spiel ließ. Er wich nicht von Mariens Seite, er haſchte ſie beim Fanchon⸗, beim Blinde⸗ kuhſpiel und fing alle ihre Reifen auf. Und ſie wäre ſo gern allein geweſen, weit fort aus dieſem grünen Wald, wo man ſo kindiſche Spiele trieb. So oft ihr Blick zu Grete herüberſchweifte, war Bürgen neben ihr, als gehörten die Beiden zuſammen, und als das eine Spiel zu Ende war, verſchwanden ſie ſogar, und beim Beginn eines neuen Spiels mußte das Horn für ſie in Anwendung gebracht werden. Da kam Grete ganz erhitzt aus einem Wald⸗ dickicht herbeigelaufen, und er folgte ſangſam — nach⸗ 351 denklich. Was bedeutete das? War er böſe mit ihr? Hatte ſie ihn verletzt? Mein Gott, womit? Und gerade, als ſie kaum noch die Thränen zurückhalten konnte, da ſchlug der Aſſeſſor ſie ſo ſtark mit dem Plumpſack, daß ſie zu⸗ ſammenzuckte. Bürgen ſah es und rief dem Aſſeſſor ein heftiges Wort zu, und es wäre vielleicht zu einem Konflikt zwiſchen den Herren gekommen, wenn Korben nicht mit einer drolligen Bemerkung in den Ernſt der Situation ein⸗ gegriffen hätte. Der „Plumpſack geht rum“, meinte er, wäre ſo recht ein Spiel, um hinter die Herzensgeheimniſſe der Spielenden zu kommen, nämlich: je lieber man Jemanden habe, je heftiger ſchlage man auf ihn los; auf dieſe That⸗ ſache ließe ſich gewiß eine feine pſychologiſche Weisheit gründen, er wiſſe nur nicht welche. Und während er das ſagte, ſchlug er, indem er mit Oſtentation Grete umging, heftig auf ein unſcheinbares Dämchen in perlgrauer Seide los, das darüber in einen entzückten Weheruf ausbrach. Grete lachte, ſie lachte auch, als er ſich der Pflicht, ſie beim Fanchonſpiel zu haſchen, dadurch entzog, daß er anſtatt zu laufen, langſam dahinſchlenderte, und ſie lachte, als er das Dämchen, damit ſie, Grete, es hören ſollte, mit einem gemüthvollen Singvögelchen ver⸗ glich. Singvögel liebe er, Kolibris nicht, die wären nur Gefieder, von Gemüth keine Spur. An beliebten Landparthieſtationen fehlt ſelten ein Photo⸗ graph, der bereit iſt, durch Sekundenbilder die Erinnerung an die auf Landparthien üblichen Leiden und Freuden für's Leben zu fixiren. Auch Schildhorn hatte ſeinen Photographen. Der Vorſchlag, den jemand machte, ſich paarweis photographiren zu laſſen, wurde acceptirt. Bürgen 352 ging den Weg zum Atelier neben Grete her. Als aber drinnen der alte Herr ein Geſpräch mit ihr anknüpfte, wendete er ſich zu Marie um und ſagte, als verſtände ſich das von ſelbſt: „Wie laſſen wir uns photographiren, Fräulein Marie?“ Sie hielt einen Strauß von Farren⸗ kräutern und rothen Beeren in der Hand. „Ich ſtecke Ihnen den Strauß an den Hut,“ ſagte ſie, und das Erröthen und die Grübchen waren wieder da. Grete blickte ſich etwas ſpöttiſch nach ihnen um, und rief übermüthig zu Korben herüber: „Hierher, Herr Lieutenant, Romeo und Julia, Balkonſcene. „Danke für den Romeo,“ antwortete Korhen, „ich werde mir gleich eine Julia ſuchen,“ worauf er ſich auf eine entfernte Gruppe ſtürzte, und ſeine Perlgraue heraus⸗ fiſchte. Grete lachte nicht mehr über ihn, er war jetzt für ſie Luft. Korben ſtrahlte. Endlich war es ihm gelungen, ſie zu beleidigen. Der Reſt ſchien ihm Kinderſpiel. Marie und Joachim wurden als die erſten photo⸗ graphirt. Als ſie fertig waren, gingen ſie in's Freie. Ueber den blauen Himmel kamen leichte Wolken gezogen, die Sonne ſchimmerte hindurch, ein zarter Glanz fiel über den Wald und die Wieſe; die Landſchaft erſchien wie auf Goldgrund gemalt. „Sie amüſiren ſich?“ fragte ſie. „Gewiß.“ „Grete Berninger hat ſo viel Geiſt. „Nicht mehr als Sie. Es iſt nur eine andere Art. Fräulein Berninger iſt ganz Wort, Sie ſind Gedanke. Mariens Kinderaugen ſtrahlten. H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 353 23 „Sie machen ihr den Hof, es iſt ſo natürlich, daß Sie es thun, ich finde ſie auch reizend. „Gewiß, ich mache ihr den Hof, aber nicht, weil ich ſie ſo reizend fände, ſondern weil es keine andere Form des Verkehrs mit ihr giebt. Sie kennt nur ein Thema der Unterhaltung: ſich ſelbſt. Das Hofmachen iſt ihr gegen⸗ über eine Höflichkeitsfloskel, mit wirklicher Neigung hat es nichts zu thun.“ „Warum ſagen Sie das? Sie ſind nicht aufrichtig, ich weiß doch, ſie gefällt Ihnen. Würden Sie ſonſt ſo oft in ihr Haus gehen? „Ich läugne gar nicht, daß ſie mir in gewiſſer Weiſe gefällt. Wer ſieht nicht ab und zu ein Feuerwerk gern: — ab und zu — es verpufft auch bald. Sterne bleiben. Ich gehe zu Berningers, ſo oft ſie mich einladen, ich lade mich aber niemals ſelbſt ein, wie ich es da thue, wo ich mich wirklich hingezogen fühle.“ „Sie gingen vorhin allein mit Grete in den Wald: „Wir haben Boote zum Waſſerfahren beſtellt. „Fräulein Berninger,“ fuhr er fort, begreift die Liebe nur als Mittel zum Zweck. Sie würde nie eine Neigung ver⸗ ſtehen, die ſüß und träumeriſch iſt, wie der Duft von Linden⸗ blüthen, eine Neigung, die die Seele wie Mondlicht erfüllt, und die nichts, nichts will, als lieben. Solche Neigung trägt den Schleier des Geheimniſſes; wird's der Weltverrathen, muß Lohengrin ſeine Elſa verlaſſen, muß zurück zum heiligen Graal.“ Seine Stimme hatte, während er das ſagte, den leiſen, vibrirenden Ton gedämpfter Leidenſchaft. Darum hatte er ſich fern von ihr gehalten, darum! Die Anderen kamen jetzt heran, und Marie verlor ſich 354 ſtill von Joachims Seite. Sie war nicht mehr eiferſüchtig, nicht die Spur. Der Himmel war wieder blau, die Wolken fort, und Wald und See lagen in Lichtzauber ge⸗ badet. Aus ihren Augen leuchtete zärtlicher Frohſinn. Dem Aſſeſſor bewies ſie ſich jetzt gedankenlos freundlich, und er fühlte faſt Gewiſſensbiſſe darüber, daß er das liebe Mädchen doch eigentlich zum Beſten habe. Unbewußt, wie einem Naturtrieb folgend, war Marie immer da, wo Bürgen war. Wahrſcheinlich hätte es Niemand bemerkt. Grete ſorgte dafür, daß es nicht unbe⸗ merkt blieb. Als die Sonne ſchon tief ſtand, fuhr man zu Waſſer. Angeglühte Wolkenſtreifen ſchwebten über dem ſtillen, grauen Ton des Waſſers und glichen roſigen Schleiern, die ein fliehender Genius verloren. Volkslieder wurden geſungen, und Farben und Töne verſchmolzen zu einer unſäglich ſüßen Wehmuth, und immer glühender wurden die Farben, immer tiefer und inniger die Töne, und immer inniger empfand Marie. Sie ſaßen nebeneinander im Kahn. Einmal ſchaute, er rückwärts in den See und machte ſie auf den klaren, leuchtenden Grund des Waſſers aufmerkſam. Ueber den Rand des Kahns gebeugt, erblickten ſie im Waſſerſpiegel dicht nebeneinander ihre Köpfe. Sie lächelten ſich an. Sie warf eine Blume nach der andern ins Waſſer, gerade auf ſein Geſicht. Er machte eine Bewegung mit den Lippen und das Spiegelbild küßte die Blumen. Plötzlich traf ein heftiger Ruderſchlag Maries Geſtalt im Waſſer, das Bild verſank; ein Fröſteln ging durch ihre Glieder, 23* 355 ſie hatte ein Gefühl, als ſänke ſie ſelber in den Grund. Das Spiel war zu Ende. Auf der Rückfahrt Abends ſaß ſie wieder neben Joachim, Grete ihnen gegenüber. Es war eng im Wagen und ſie fühlte ſeinen Arm an ihrer Schulter. Er wickelte ſie in ſein Plaid. Sie ſprachen kein einziges Wort zuſammen. Er plauderte lebhaft mit Grete, ab und zu aber zog er aus der Blume, die ſie in der Hand hielt, ein Blatt und nahm es verſtohlen zwiſchen die Lippen. Er ſchlang das Plaid feſter um ihre Schultern und fragte mit zärtlichem Flüſtern: „Iſt Ihnen kalt, Marie?“ und ſeine Hand ſtreifte ihre Wange. Was war das für eine märchenhafte Fahrt mit dem weiten Sternenhimmel über ſich und dem großen ſüßen Stern, der in ihrem Herzen aufgegangen war! Als Korben ſich vor dem Berningerſchen Hauſe von Grete verabſchiedete, etwas befangen, ſah ſie ihn ſo eiſig an und bewegte die Augenlider ſo hochmüthig, daß ein Zweifel an Goethe's unfehlbarer Menſchenkenntniß in ihm aufzuſteigen begann. Seufzend erwog er bei ſich: Soll ich bei der Perlgrauen hängen bleiben? hübſch iſt ſie nicht, und weniger Geld als die Berninger hat ſie auch. Er beſchloß, ſich von den Ereigniſſen tragen zu laſſen. Bürgen ſtieg an der Eiſenbahnſtation im Thiergarten aus dem Wagen und ging zu Fuß nach Haus. Er that das meiſt, wenn er in Weſtend geweſen war. Ein Gefühl kräftigen Wohlſeins durchdrang ihn. Er dachte an Marie, ohne den Schatten eines Gewiſſensſkrupels, ja, er empfand vor ſeiner eigenen tugendhaften Selbſtbeherrſchung eine Art Hochachtung, daß er ſeine Zärtlichkeit zurückgehalten, 356 nichts geſprochen, was zu Mißdeutungen Anlaß geben konnte. Marie wußte ja nun, wie er ſie liebte, wie er von ihr geliebt ſein wollte — frei vom Staub der Erde. Was für ein poetiſches Wunder iſt doch die erſte, blumenhafte Liebe eines jungfräulichen Herzens! Und ihm hatte ſie ſich erſchloſſen. Er badete ſeine Sinne im Früh⸗ lingsduft dieſer Liebe, und das holde Mädchen war rein⸗ beglückt, wie er. Ja — ſchön und reich war für ihn das Leben. Er ge⸗ hörte zu den Auserwählten. Wiſſenſchaft und Kunſt, Schönheit, Erfolg, und in der Liebe, Frühling und Sommer zugleich — Blüthe und Frucht — alles ſein! ſein! Er ſchritt aus unter dem Sternenhimmel, in der lauen Sommernacht, ſtolz und kraftvoll, das Haupt hoch⸗ erhoben, die Stirn ſchien von den Sternen berührt. Mehr als je fühlte er ſich als ein echter Jünger Goethe's. Auch er ein Olympier. Es war lautlos ſtill. Nur ab und zu kniſterte es geheim im Laub. Leuchtkäferchen glimmten am Wege. Die Luft war ſommernachtstrunken. Allmälig erwachten ihm Phantaſie und Sinne zu einer üppigen Sehnſucht. Sie ſuchten Marie. Er traf einen Wagen. Es war elf Uhr. Er fuhr in die Kur⸗ fürſtenſtraße. Wenn Bürgen nach Weſtend kam, ſtand Marie immer ſchon ungeduldig am Gitter. Zuweilen wandelte ihn die Luſt an, ihre Neigung zu prüfen. Er wußte, ſie erwartete ihn um 5 Uhr, er kam um ſieben. Sie lief ihm blaß, athemlos von der Gitterthür aus entgegen. „Was iſt denn Fräulein Marie: 357 bildete mir ein, Sie müßten krank ſein! warum kommen „Ach — ich dachte nur — nichts — gar nichts; ich Sie ſo ſpät? Bei einer Kahnfahrt auf dem Halenſee waren ſie ein⸗ mal von einem Regenguß überraſcht worden. Als man endlich ins Wirthshaus kam, beſtellte Bürgen Glühwein. Die Geheimräthin war in die Küche gegangen, um ihre Schuhe zu trocknen. Der Wirth brachte ein großes Glas Glühwein, aber nur eins. Sie tranken unter heiteren Scherzen aus demſelben Glas. „Das iſt Nektar,“ ſagte Bürgen. „Ich habe mir Nektar ätheriſcher gedacht,“ meinte Marie lachend. „Nektar iſt's, wenn zwei (er wollte „Liebende“ ſagen, unterdrückte aber das Wort), aus einem Glaſe trinken; Er ſah ſie an. Sie blickte von ihm fort. Er ſah ihr Herz durch die zitternden Schatten der Wimper, er ſah es in in ihrem Erröthen, im leiſen Erbeben der Geſtalt. Er erfreute ſich an dem zarten und poetiſchen Ineinander⸗ ſpielen ihrer und ſeiner Empfindungen, und an der Hold⸗ ſeligkeit dieſes pſycheartigen Mädchens. Wenn er einſt die „Wahrheit und Dichtung“ ſeines Lebens ſchreiben würde, Marie würde als Lichtgeſtalt im Vordergrund ſtehen, eine lyriſch verklärte Erinnerung, ob von wehmüthigem oder heitrem Zauber umgeben, das würde von ihren ferneren Lebensſchickſalen abhängen. Im Burkhartſchen Garten ſtand ein Aprikoſenbaum. Joachim liebte dieſe Frucht beſonders, und Marie ſorgte dafür, daß er jedes Mal Aprikoſen bekam. An einem Freitag Nachmittag hatte der Gärtner die Früchte nicht gebracht. 358 Sie ging in den Garten, zu ſehen, woran es lag. An dem Baume ſtand eine Leiter, der Gärtner war nicht da. Marie blickte um ſich, Niemand war in der Nähe; ſie ſtieg die Sproſſen empor ſah ſich noch einmal um und ſchwang ſich auf einen ſtarken Aſt. Mit ſorgfältiger Auswahl begann ſie die Aprikoſen zu pflücken. Ein Geräuſch ſchreckte ſie auf. Es war Jemand auf die Veranda getreten. Sie ſieht es durch das Laub, ſie will herabſteigen, ſie iſt zu haſtig, ſtößt an die Leiter, die Leiter fällt ins Gras. Sie iſt eine Gefangene auf dem Baum. Soll ſie hinabſpringen? nein, ſie kann ſich verletzen. Vielleicht, denkt ſie, iſt der Jemand auf der Terraſſe ein ganz Anderer — doch nicht — nein — er iſt es. Sie kennt ſeinen Schritt, er kommt näher, ganz nah, jetzt iſt er faſt ſchon an ihrem Baum vor⸗ über. Sie verhält ſich regungslos. Da fällt etwas her⸗ unter vom Baum gerade auf ſeinen Kopf: ihr Schuh. Er blickt empor und ſieht in ein paar verſtörte, weitgeöffnete Augen; nicht als die Augen ſieht er, die ſo entſetzt und ſo hilflos blicken, und ein Füßchen ohne Schuh, das von dem Aſt herabhängt und das ſie vergeſſen hat zu ver⸗ ſtecken. Eine zärtliche Rührung überwältigt ihn; unwill⸗ kürlich ſtreckt er die Arme nach ihr aus und ſeine Lippen öffnen ſich zu einem Wort der Liebe — aber ſchon hat ſein Verſtand das Herz eingeholt. Er läßt die Arme ſinken. „Holde Prinzeſſin,“ ruft er hinauf, „der Prinz iſt da, Sie zu erlöſen. „Die Leiter, bitte die Leiter,“ ſtammelt ſie. Er will nicht; eine Erlöſung mit der Leiter, wie proſaiſch! Sie bittet dringender um die Leiter. Umſonſt legt er ſie unter keinen Umſtänden an, ſie ſoll ihm erlauben, ihr eigenhändig 359 den Schuh anzuziehen. Sie wird es niemals erlauben, denkt aber doch daran, wie gut, daß ſie heute gerade ihre neuen, zierlichen Schuhe angehabt. Er greift nach dem Füßchen und zieht ihr den Schuh doch an. Ein jäher, ſüßer Schreck wie damals, als ſie von dem Hügel in ſeine Arme gelaufen, durchzuckt ſie. Wie geſchah ihr denn? was war das? Sie beißt die Zähnchen in die Lippen, ſie athmet beklommen. Er hat die Leiter aufgehoben, fordert aber, ehe er an das Rettungswerk geht, eine Stärkung. Sie biegt den Arm weit nach hinten und pflückt taſtend eine Aprikoſe, während ſie ihn anſieht. Sie reicht ihm die Frucht. Er könne ſie nicht faſſen, er müſſe mit den beiden Händen die Leiter halten, ſie ſolle ihm helfen. Sie nähert die Frucht ſeinen Lippen. Die Lippen berühren ihre Hand, ſie läßt die Aprikoſe fallen, und plötzlich kommt ihr wieder die Vorſtellung ihrer Lage. Sie will gleich, gleich, aber ſofort die Leiter haben, ſonſt ſpringt ſie herab und bricht den Hals. Er legt die Leiter an den Baum, es zeigt ſich, daß ſie zerbrochen iſt. „Nun müſſen Sie doch in meine Arme ſpringen. Sie fühlt, daß ſie es nicht kann — unmöglich. Sie zittert. Eine vage Furcht vor etwas unausſprechlich Sonderbarem erfüllt ſie. Sie wirft die Aprikoſen, die ſie noch in der Hand hält, in's Gras und bittet ihn, ſie in das daneben ſtehende Körbchen zu legen. Wie er ſich darnach bückt, ſpringt ſie auf der anderen Seite herunter. Sie ſtößt einen leiſen Schrei aus, will ſich erheben, fällt aber auf den Raſen zurück. Sie iſt todtenblaß geworden. Er beugt ſich zu ihr nieder: „Haben Sie ſich verletzt?" 360 „Ich glaube ja — der Fuß. Eine Ohnmacht wandelt ſie an. „Ich trage Sie in's Haus Sie ſträubt ſich ſchwach. Er hebt ſie mit ſtarkem Arm empor und trägt ſie fort mit zärtlicher Behutſamkeit. „Fühlen Sie Schmerzen, Marie?" „Ich weiß es nicht, ich fühle nichts — ich bin Ihnen zu ſchwer. „Legen Sie den Arm um meinen Hals, dann ſind Sie leicht.“ Sie thut es. Ihre Herzen ſchlagen aneinander. Etwas Tiefes und Seliges durchdringt ſie, ſie ſchließt die Augen und trinkt ſeinen Athem, und als er ſie im Vor⸗ zimmer ſanft auf die Chaiſelonque gleiten läßt, iſt es wie eine Anſtrengung für ſie ihren Arm von ſeinem Hals zu löſen. Sie bricht in Thränen aus und verbirgt ihren Kopf in dem Kiſſen des Sophas. Die Mutter kommt erſchreckt herbei und Joachim geht, um einen Arzt zu holen. Es ſtellt ſich heraus, daß der Fuß verſtaucht iſt. Sie mußte acht Tage das Zimmer hüten und auf der Chaiſelongue liegen bleiben. Mariens Herz war zu voll, der Mund ging davon über. „Glaubſt Du, Mutter, daß er mich liebt?“ fragte ſie eines Tages, ohne daß ſie je vorher ein Wort des Vertrauens über ihn mit der Mutter gewechſelt hatte. „Ich glaube es,“ ſagte die Mutter. „Daß er mich ernſthaft, ganz ernſthaft liebt, ſo wie ich ihn: Die Mutter glaubte es. „Du liebe, liebe, liebe Mutter!“ und ſie küßte die 361 Mutter ſtürmiſch. Und ſie ſollte ihr erzählen ob ſie den Vater auch ſehr geliebt habe und wie alles geweſen wäre, ehe ſie ſich mit ihm verlobt hätte. „Ihr würdet Euch ſehr einſchränken müſſen,“ be⸗ merkte die Mutter einmal. Sie lachte. Sich einſchränken! Sie konnte gar keinen Begriff damit verbinden. Was man ißt, was man für ein Kleid anzieht, was für Möbel im Zimmer ſtehen, wie viel Zimmer man hat, ja war denn das der Rede werth? wenn er immer da war — Er! Sie lag ſtunden⸗ lang ſtill auf dem Sopha und dachte an ihn, und ihre Liebe wuchs, ſie wuchs ihr tief in's Herz hinein. So lange ſie auf der Chaiſelongue lag, kam Joachim täglich. Er war voll zarteſter Aufmerkſamkeit, brachte ihr Blumen, Bücher, las ihr vor. Ihre Freundinnen kamen auch, ſie zu beſuchen und trafen oft mit Herrn von Bürgen zuſammen. Natürlich fehlte es nicht an Gloſſen über die Intimität der jungen Leute. Die Commerzienräthin Berninger fragte die Geheimräthin, als ſie ihr auf einem Spaziergang begegnete, ob man zur Verlobung gratuliren dürfe. „Meine Tochter iſt nicht verlobt,“ antwortete ſie einfach. Die Frage ſenkte aber einen Stachel in ihr Herz. Er zögerte auffallend lange. Was hinderte ihn ſich zu verloben? Sie nahm ſich vor, ihm discret anzudeuten, daß ſeine Beſuche anfingen, ihre Tochter zu kompromittiren. Eine unüberwindliche Scheu aber verſchloß ihr jedesmal, wenn ſie ſprechen wollte, die Lippen. Nora und Herta gingen ſogar ſo weit, Herrn 362 von Bürgen ſelbſt, als ſie ihn bei Berningers trafen, zu gratuliren. „Wenn ich mich verloben ſollte, werde ich mir er⸗ lauben Ihnen meine Karten zu ſchicken,“ ſagte er trocken. Dieſe Antworten hatten weder etwas entſchieden Ab⸗ lehnendes, noch Zuſtimmendes. Man wettete auf Weſtend, ob ſie ſich verloben würden, ob nicht. Frieda und Korben wetteten für — die Uebrigen gegen die Verlobung. Grete lächelte überlegen, und war der Meinung, daß der Profeſſor gar nicht daran denke, ſich mit einem unbemittelten Beamten⸗ töchterchen zu belaſten. Sie fand, daß ein junger Mann in einer peinlichen Situation wäre, wenn er mit den Eltern eines jungen Mädchens befreundet ſei, das ihm gegenüber das Käthchen von Heilbronn ſpiele. Trotzdem waren Grete und ihre Mutter die eifrigſten, die Verlobungsnachricht zu verbreiten. Es iſt eine übliche Taktik neidiſcher junger Damen und ihrer Mütter, junge Leute für verlobt auszugeben, um zu verhindern, daß ſie es werden. Bürgen entging das kritiſche Geſumme in der Atmoſphäre nicht. Er hatte ein fröſtelndes Vorgefühl, daß die Tage ſeines Liebesfrühlings gezählt ſeien. Freilich, der Auguſt neigte ſich zu Ende. Anfang Oktober mußte er ſo wie ſo fort, zurück nach Italien. Doch konnte er ſich nicht enthalten, während er Abends durch den Thier⸗ garten heimging, die Geſellſchaft mit einem jener unwirk⸗ ſamen Flüche zu bedenken, die ſtets bei einem Conflikt mit der Welt von Liebenden ausgeſtoßen werden. Die Welt — das heißt die Majorität der Dutzendmenſchen, der man ſich fügen muß. Wirklich muß? Er blieb 363 ſtehen, ſein Auge blitzte in die Nacht hinein, als wollte er Licht in die Finſterniß bringen. Nach einer Weile ging er weiter, etwas langſamer, etwas weniger ſtolz als vor⸗ her. Er war ein verſtändiger, nüchterner Denker und ſagte ſich, ja, man muß. Freiwillige Selbſtbeſchränkung iſt die Grundlage zum Glück. Man ſoll kleine Schwierig⸗ keiten, wie das Gerede der Welt z. B. nicht überſehen oder verachten, Mancher iſt daran zu Grunde gegangen. Man ſpringt leicht über einen Stein, ein Strohhalm kann einen zu Falle bringen. Warum mußte auch Marie, was ſie empfand, der Welt verrathen! Er kam ſich in der That wie Lohengrin vor, den Elſa durch Unbedachtes aus dem Paradies der Liebe treibt. Die arme, liebe Marie! Seine Gedanken nahmen Abſchied von ihr, einen zärtlich wehmüthigen Abſchied. Sein Herz war voll Trauer. Es war an einem heißen Tag, als Marie wieder aufſtehen durfte. Sie hatte ſich ſo auf den erſten Aus⸗ gang gefreut, und nun bannte die Hitze ſie in's Zimmer. Gegen Abend, als Joachim gekommen war, zog ein Ge⸗ witter herauf und die Luft kühlte ſich ab. Seitdem er ſie damals in's Haus getragen, vermied ſie ängſtlich ſeine Berührung. Auch auf der Veranda blieb ſie in einiger Entfernung von ihm ſtehen. Kaum waren ſie draußen, ſo brach der Sturm los. Die Mutter rief, ſie möchten hereinkommen. „Bis es regnet, laß uns draußen,“ rief Marie zurück. Es regnete aber vorläufig nur Akazienblüthen auf ſie herab, die Luft ſchien von ihrem Duft berauſcht. Die Wolken jagten einander in wilder Flucht, Blitze flammten 364 über den Horizont, und durch das Rauſchen des Sturms klang unaufhörlich die Aeolsharfe, wie von geheimnißvoller Leidenſchaft bewegt. So dunkel war das Gewölk, daß es faſt Nacht wurde. Der Wind — wie auf Walkürenflügeln brauſte er daher — wehte Marien das Haar von der Stirn empor und im Licht der Blitze bildete es einen Heiligenſchein um ihr zartblaſſes Geſicht. „Iſt nicht,“ ſagte Joachim, in dieſer Aufregung der Elemente etwas Dämoniſches, wie der Traum eines ge⸗ fallenen Engels, etwas wagneriſch Sinnverwirrendes Seine Stimme hatte den vibrirenden Klang tiefinnerer Erregung. Sie ſchwieg. Ihr war, als müſſe nun etwas kommen, etwas Unausſprechliches, auf das ſie lange gewartet. Es war ein heißes, leidenſchaftliches Schweigen zwiſchen den Beiden. Nicht Worte konnten es unterbrechen. Er ſah nicht, daß ſie allmählich ſchwächer wurde. Ein raſender Windſtoß fuhr durch die Bäume. Sie ſchwankte. Er ſprang hinzu und umſchlang ſie. In furchtſam zagender Seligkeit ſchmiegte ſie ſich an ihm. Sie legte leiſe den Kopf an ſeine Bruſt und ſah zu ihm auf: die Lippen, durſtig, halb geöffnet, das Auge eine brennende, zärtliche Frage. Wie konnte er auf dieſe Frage anders als mit leidenſchaftlichen Küſſen antworten! Er neigte ſich zu ihr nieder — nein! Seine Hände umklammerten ihre beiden Hände ſo feſt, daß er ihr faſt weh that — nein, es durfte nicht ſein. Der Regen rauſchte nieder. Er trug ſie halb in's Zimmer zurück. 365 „Marie iſt nicht wohl,“ ſagte er zur Mutter, „ſie hat ihre Kräfte überſchätzt. Die Geheimräthin ſah, wie heiß er erregt war. Sie ging ſtill aus dem Zimmer, für Marie eine Erfriſchung zu bringen, eine lächelnde Hoffnung im Herzen. Marie lag matt, mit geſchloſſenen Augen, im Sopha. Er ging unruhig in dem ſchwülen Zimmer auf und ab. Das Gewitter verzog ſich ſchnell, der Regen hörte auf. Er nahm ſeinen Hut. Marie richtete ſich halb auf und ſah ihn ängſtlich an. Er müſſe fort, er könne ihr nicht ſagen warum, aber er müſſe. Er trat an ſie heran, beugte ein Knie zur Erde und küßte den Saum ihres Kleides und ſagte: „Das Gott Sie erhalte, ſo ſchön, ſo rein, ſo hold! Kaum hatte er die Thür hinter ſich geſchloſſen, ſo erhob ſich Marie. All ihr Blut ſtrömte zum Herzen. Sie lief in den Garten. Sie achtete nicht darauf, daß ihre Füße und ihre Kleider naß wurden. Sie wollte ihn noch ſehen. Sie preßte das Geſicht an die Gitterſtäbe des Gartens. Er ſtand draußen vor dem Gitter und ſah ſie nicht. Er winkte einem Wagen, der in einiger Entfernung hielt. Als er darin ſaß, rief er dem Kutſcher zu: „Kurfürſtenſtraße 77.“ Er fuhr alſo nicht nach Hauſe, wohin denn? Kur⸗ fürſtenſtraße 77. Sie hatte Straße und Nummer ſchon einmal gehört — wann? Von wem? Sie konnte ſich nicht darauf beſinnen. Er war gegangen, und wußte doch daß ſie ihn liebte. Sie fühlte einen dumpfen Kopf⸗ ſchmerz, eine vage Beklemmung. Ihr war elend zu Muth. Fröſtelnd ſchlich ſie in's Haus zurück. 366 Der Wagen, den Bürgen angerufen, hielt vor einem ſtattlichen Haus in der Kurfürſtenſtraße. Bürgen trat nicht in das Haus. Eine ſchmale Allee niedriger Bäume führte ſeitwärts am Hauſe vorbei in einen Garten, in dem ein zier⸗ lich vornehmes Sommerhäuschen ſtand. Das war ſein Ziel. Auf ſein Klingeln öffnete ein hübſches Kammermädchen. Eigenthümliche Töne wie von einem Glockenſpiel ſchlugen an ſein Ohr. Er trat ohne Weiteres ein und öffnete die Thür zum Salon. Es war der Salon, den er Marie an jenem Tag im Grunewald geſchildert hatte. Auch das Hyacinten⸗ parfüm fehlte nicht, und der Papagei, der ihm entgegen⸗ kreiſchte: „Joachim kommt ſpät. Vor einem japaniſchen Wandſchirm auf türkiſchen Kiſſen ſaß eine reizende Chineſin, weiß geſchminkt, mit bren⸗ nend rothen Lippen, über ſich einen chineſiſchen Dachſchirm geſpannt, der voller Glöckchen hing. Das ſchwarze Haar war ganz mit Pfeilen und goldenen Nadeln beſteckt. Ihre blauen Augen, von Natur mandelförmig, erſchienen durch geſchickt gemalte Striche noch geſchlitzter, die Blicke ſprühten daraus wie elektriſche Funken. Das großblumige, ſchlafrock⸗ artige Gewand, vorn und im Nacken herzförmig ausge⸗ ſchnitten, hielt ein orangefarbener Shawl zuſammen. Auf einem Tiſchchen vor ihr ſtand ein koſtbares chineſiſches Thee⸗ ſervice. Bürgen blieb überraſcht ſtehen. „Biſt Du es, Alice: Sie legte grüßend die Arme über der Bruſt zuſammen und bewegte nach Art der Pagoden ſtumm das Haupt. Dann reichte ſie ihm eine Schale dampfenden Thees. Er warf nachläſſig ſeinen Hut fort, lehnte ſich in ein 367 Fauteuil zurück, ſchlürfte den Thee und ſagte: „Nur eine kurze Vorſtellung bitte, ich bin heut“ . . . er hielt inne. „Was?“ fragte ihr Blick. „Wahnſinnig verliebt,“ ant⸗ wortete er. Er war an die phantaſtiſchen Einfälle ſeiner Dame gewöhnt. Sie liebte es, ihn unter einer Maske zu empfangen. Einmal hüpfte ſie ihm als Tyrolerin mit einem ſchmetternden Schnaderhüpfl entgegen; ein ander Mal, kaſtagnetten ſchlagend, als ſpaniſche Tänzerin, oder ſie begrüßte ihn in altgriechiſcher Tracht als Aspaſia, nannte ihn Sokrates und ſchwatzte philoſophiſchen Unſinn, und je nach ihrer Rolle war ſie phlegmatiſch oder leidenſchaftlich, luſtig oder melancholiſch, keuſch oder zügellos. Ihrer Meinung nach liebten die Männer vor allem Abwechslung, und ihre dra⸗ matiſchen Scherze entſprangen theils der Berechnung, theils einem Naturtrieb. Sie war die geborne Schauſpielerin. In ſentimentalen Stunden pflegte ſie Bürgen zu verſichern, wenn man ihr nur erlaubt hätte, zur Bühne zu gehen, ſie würde ſich unfehlbar neben den Lorbeeren, einen Prinzen zur linken Hand erobert haben, anſtatt daß ſie jetzt mit einem zwar jugendlich blonden, aber doch ſüddeutſch phleg⸗ matiſchen Profeſſor vorlieb nehmen müſſe. Sie ſpielte immer Komödie, und ſo vielfach überſchrieben war die urſprüngliche Schrift ihres Weſens, daß alle Balzac's und Zola's der Welt ſie nicht hätten entziffern können, am wenigſten konnte ſie es ſelbſt. Heute warſiefaſt unkenntlich, hauptſächlich derſchwarzen Perrücke wegen. Ihr eignes Haar pflegte ſie röthlich⸗blond zu färben. Eine Weile beantwortete ſie alle Fragen Joachims 368 mit pagodenhaftem Nicken, bis er böſe wurde. Dann fing ſie mit großer Zungenfertigkeit an, in einem fremden Idiom zu reden. Es ſei chineſiſch, belehrte ihn Toni, die Kammerjungfer, und erbot ſich, die Dolmetſcherin zu machen. „Lila, Kiao-li fu-fa,“ ſagte Alice. „Gnädige Frau ſind ſehr böſe,“ überſetzte Toni, daß Sie ſo ſpät kommen, gerade heute. „Warum gerade heute: „Heute iſt der Geburtstag der gnädigen Frau. Bürgen ſchlug ſich an die Stirn. Bei Gott, er hatte es vergeſſen; trotzdem habe er an ſie gedacht. Er reichte ihr eine Bonbonniere mit langues de chat, ihrem Lieblingsnaſchwerk. Sie warf die Bonbonniere mit einer zornigen Geberde in den Kamin. Bei der heftigen Bewegung ſtieß ſie an eine der koſtbaren chineſiſchen Taſſen, ſie fiel zu Boden und zerbrach. Das Service war ein Geſchenk Joachims. „Die ſchöne Taſſe,“ ſagte er bedauernd. Sie lachte ſpöttiſch, nahm einen Löffel — pink — da lag die zweite Taſſe, pink — pink — die Kanne, der Sahnentopf, das Brett, Alles in Scherben. Sie ſtieß ein zorniges „Li⸗ fong-pao, hunc!“ heraus. „Die gnädige Frau meint, Sie hätten noch eine andere Geliebte.“ Joachim zündete ſich eine Cigarette an und fragte: „Wie ſo: Die kleine Chineſin hielt jetzt eine längere, ſehr heftige, mit zahlloſen li, lu, la, fo, fa's durchſetzte Rede, Toni rührte mit einem Stäbchen an dem Schirm, die Glöckchen H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 24 369 tönten luſtig und aufmunternd in die Gardinenpredigt hinein, und das Kammermädchen überſetzte: — ſo meint die gnädige Frau — nannten Sie die gnädige „Sonſt wenn der Herr Profeſſor recht verliebt waren Frau wilde Katze oder kleiner Satan, Krokodil oder dummer Hans.“ Seit einiger Zeit aber bedienten Sie ſich höchſt eigen⸗ thümlicher Ausdrücke wie „ſüßes Kleinod, holder Liebling, meine Pſyche“ u. ſ. w. Li tschum, hsi, sin“ — fuhr Alice im höchſten Zorn dazwiſchen. „Gnädige Frau meinen, ſie wäre im Leben kein ſüßes Kleinod und kein holder Liebling geweſen, und eine Pſyche erſt recht nicht; die Pſychen hätten immer Malheur in der Liebe; und wir haben den Herrn Profeſſor im Verdacht, daß ſeine ſchwülſtigen Redensarten an eine andere Adreſſe gerichtet ſind.“ Alice zog, unter leidenſchaftlichen Li⸗la⸗lu's, einen Pfeil aus ihrem Haar und ging drohend auf Joachim zu. Die Glöckchen ſtürmten wild durcheinander. „Gnädige Frau verurtheilen Sie zum Tode mittelſt vergifteten Pfeils, da wir das Bauchaufſchlitzen für un⸗ weiblich halten.“ Joachim gab Toni einen Wink, ſich zu entfernen. „So, jetzt reden wir deutſch mit einander,“ ſagte Alice, „wenn ich Dich nun im Ernſt todtſtäche! „Du biſt eine kleine Närrin!“ Er warf die Cigarette fort und breitete die Arme aus: „Stich! Sie trat an ihn heran und ſchwankte einen Augen⸗ blick, ob ſie ihn verletzen ſollte; im nächſten Augenblick 370 aber warf ſie den Pfeil fort, fiel ihm um den Hals und küßte ihn heftig, entwand ſich aber gleich wieder ſeinen Armen und entſchlüpfte in ein Nebenzimmer. Er nahm wüthend ſeinen Hut und wollte gehen. Toni aber vertrat ihm den Weg: es käme noch etwas, er möchte nur zehn Minuten warten. Sie ſuchte die Scherben zuſammen, drehte die Gasflammen aus und ging hinaus. Ein ſanftes Dämmerlicht herrſchte in dem Raum. In einer Niſche am andern Ende des Salons hing eine farbige Ampel; von daher ſchimmerte es röthlich. Joachim öffnete das Fenſter und ſog die Abendluft ein. Allmälig kühlte ſich ſein heißes Blut. Er bedeckte die Augen mit den Händen, ein liebkoſendes Lächeln um⸗ ſpielte ſeine Lippen; er gedachte Mariens. — Ob Goethe wohl für Friederike, für Philine empfunden, wie er für Marie, für Alice? — Ja, wie dem Dichterfürſten war auch ihm vergönnt, ſein Leben zu einem Kunſtwerk zu ge⸗ ſtalten, und alle Saiten ſeines Weſens ausklingen zu laſſen. Ausklingen? Auch Goethe verſtand es, rechtzeitig aus den holdeſten Träumen zu erwachen. Schon ſchwand Marie, das ſüße Mädchen, von ihm weg, wie ein zartes Nebelbild, er breitete wohl die Arme ſehnſüchtig nach ihm aus, und wußte doch, es zerrann. Wen Marie wohl heirathen würde? Sicher Werner, ein braver Mann, ſie würde glücklich mit ihm werden. Allmählig erregte ihn wieder der Duft des Jasmins unter dem Fenſter, er verlangte ungeduldig nach Alice. Sie war eine der Löwinnen der Demimonde, er hatte über Prinzen und Millionäre den Sieg davongetragen. Seit zwei Jahren hatte ſie keine andern Götter neben ihm, ſie 24* 371 ſchien ihn in vollem Ernſt zu lieben. Er hatte ſie in Italien kennen gelernt, und ſie folgte ihm ſeitdem, wohin er ging. Hinter dem japaniſchen Schirm rauſchte es. Er näherte ſich ſchnell. Da ſaß wieder die kleine Chineſin, das Geſicht ab⸗ gewandt, ſie fächelte ſich mit einem großen Fächer und kicherte dahinter. Er greift nach dem Köpfchen; wie zur Vertheidigung wendet ſie Pfeile und Nadeln gegen ihn. Da ertönt ein ſanftes Harfenpräludium aus jener Niſche am andern Ende des Salons; eine rührend zarte Stimme intonirt das Schubertſche Lied: „Nur wer die Sehnſucht kennt, weiß was ich leide.“ Er kennt die Stimme, wo hat er ſie nur gehört? Er geht langſam, zögernd der Niſche zu. In der vagen, röthlichen Dämmerung erblickt er eine zarte Geſtalt, in ein phantaſtiſches weißes Gewand gehüllt; das lockige Haar iſt gelöſt, das Profil ihm zugewendet, die langbe⸗ wimperten Augen ſind aufwärts gerichtet. Mit der Harfe im Arm iſt ſie ganz Mignon, eine Mignon von roſigem Alabaſter. „Marie,“ ruft er, halb entzückt, halb entſetzt, „Marie, Sie — hier? Er hat nicht Zeit, weiter zu denken, die Harfe fällt klirrend zu Boden. Die er für Marie gehalten, ſpringt auf und tritt aus der Niſche ihm entgegen mit zorn⸗ funkelnden Augen. „Du — Du, Alice! „Ja, ich, nicht Marie . . ." 372 „Und eben — dort — unter dem Schirm — die Chineſin . . . „Toni war's. „Verzeih, eine höchſt merkwürdige, täuſchende Aehn⸗ lichkeit mit einer jungen Dame, die ich öfter in Geſell⸗ ſchaften ſehe.“ „Wo? In welchen Geſellſchaften: „Auf Weſtend, bei einem Banquier. Mein Gott — ich begreife ſelbſt nicht . ..“ — Er war erſchüttert, er wußte kaum, was er ſagte. „Alſo Marie heißt, die Du liebſt, und ſie ſieht mir ähnlich, ſprechend ähnlich, dieſe Marie . ..“ Wie ſie den Namen zum zweiten Mal ausſprach, brach ſie plötzlich ab — ein Gedanke ſchien ihr zu kommen. „Marie — auf Weſtend . . . mir ſo ſprechend ähnlich . . .“ ſagte ſie vor ſich hin. Aus ihren Augen ſprühten Funken, als ſie ihn voll anſah, und langſam, jeden Buchſtaben betonend, ſagte ſie: „Marie Burkhart. Er erbleichte, wollte etwas ſagen, widerſprechen, und verlor gänzlich die Faſſung. Er fühlte, daß alles Leugnen wirkungslos bleiben und die Sache nur verſchlimmern würde. „Ja, Fräulein Burkhart.“ Er verlangte zu wiſſen, woher ſie die Dame kenne, ſie verweigerte jede Auskunft. „Fräulein Burkhart ſieht Dir ſprechend ähnlich, aber nur im Profil, wie Du als Mignon ausſahſt, in dem röthlichen Licht. Ich habe früher dieſe Aehnlichkeit nie bemerkt.“ „Und Du liebſt ſie? Er überlegte einen Augenblick, dann nahm er Alices 373 Hand und ſagte einfach und herzlich: „Alice, ich hätte Dich nie geliebt, wärſt Du von niedriger Geſinnung. Du biſt gut und klug, Du wirſt auch verſtehen, was jenſeits Deiner Lebensſphäre liegt. Ich bitte Dich herzlich, nenne nie wieder den Namen dieſes Mädchens, es iſt ein reines, makelloſes Weſen, das den beſten Kreiſen angehört. „Ich weiß es. Aber Du liebſt ſie: „In gewiſſer Weiſe — ja, aber nicht wie Du es denkſt. Eiferſüchtig auf ſie zu ſein, haſt Du nicht den geringſten Grund. „Du haſt ſie geküßt? „Nein. „Du haſt ſie doch geküßt! „Nein, ſage ich Dir — nein. „Doch — doch — doch! Er preßte ihre Hand am Gelenk mit ſo roher Kraft zuſammen, daß ſie einen Schmerzenslaut ausſtieß. „Sage es noch einmal, und Du ſiehſt mich nie wieder, Du weißt ja, oder wenn Du es nicht weißt, ſo laß es Dir von mir ſagen: wenn man ein Mädchen aus jenen Kreiſen küßt, ſo hält ſie ſich für verlobt, ihr kommt gar nicht der Gedanke, daß es anders ſein könne. Siehſt Du mein Kind,“ fuhr er ſanfter fort, indem er ſie an den beiden roſigen Ohren zu ſich zog, „eine Neigung, wie die meinige zu dem jungen Mädchen, iſt wie eine Luftballon⸗ fahrt der Seele. Man ſteigt empor in den reinen Aether. Frei vom Staub da unten, ſchwebt man zwiſchen Erde und Himmel, die Bruſt ganz von ätherblauer Wonne er⸗ füllt. Aber ſei ruhig, man kommt immer wieder zur 374 Erde zurück, und umfaßt mit verdoppelter Liebe den ſicheren Boden.“ „Nach dem ſeligen Zappeln,“ ſetzte Alice, die faſt verſöhnt war, hinzu. Sie zündete ſich eine Cigarette an, und ſchmiegte ſich an ihn. Sie blies ihm den Dampf ins Geſicht. Er mußte bewundern, wie ſchöne Ringe ſie hauchen könne. Nach einer Weile wurde ſie wieder bedenklich. — „Ich verſtehe doch nicht, was das zwiſchen Euch iſt. Etwa Freundſchaft? Zwiſchen Mann und Frau!“ Sie lachte. Er glaubte auch nicht an ſolche Freundſchaften, meinte aber doch: „Wenn ein Mann eine Frau liebt, wie Dich, ſo fällt gar wohl noch ein poetiſches Neigen von Herzen zu Herzen für eine Andere ab. „Für einen holden Liebling,“ ſagte ſie ſchmollend, und ſteckte ihm ihre Cigarette in den Mund. Er hob ſie in die Höhe. Ihr Haar fiel über ſein Geſicht. Unter dem dunklen Schleier ſahen ſie nichts, als einer nur des andern brennende Augen. „Was reden wir nur?“ flüſterte er. „Ihr Frauen verſteht geküßte Worte beſſer, als gedachte — Komm! Sie entzog ſich ſeinen leidenſchaftlichen Liebkoſungen. Als er ſie nicht laſſen wollte, ſchlug ſie mit ihren kleinen, geballten Fäuſten auf ihn los. In dem phantaſtiſchen, weißen Kleid, von dem goldigen Haar umwallt, die Cigarette im Munde, wirkte ihr Gebahren überwältigend komiſch. „Mignon als Mänade,“ lachte er. Sie war böſe. „Ich verſtehe Dich nur zu gut, ſagte ſie, als ſie ſich endlich befreit hatte. „Die Gefühle des Herrn Profeſſors ſteigen wie auf einer Leiter auf und ab, auf den oberen Sproſſen iſt die Dame aus Weſtend, 375 ich bin unten. Das will ich nicht! Ich will es nicht! Du ſollſt auch nicht die kleinſte Miniaturliebe für eine Andere haben! „O, Du kleiner, dummer Hans, dieſe Rangordnung unter den Gefühlen iſt ja ganz unſinnig. Eines im Arm des Anderen, iſt unſere Bruſt nicht zu eng, die Wonne zu faſſen? Sag', Liebchen, was willſt Du noch mehr? „Dich will ich, Dich ganz, Dich allein! Du aber biſt ein Nimmerſatt. „Ja, meine Seele iſt unerſättlich. Habe ich Dir je gelogen, daß Du mir genug biſt? Ich brauche Sonne, Mond und Sterne, und ſogar zuweilen — Irrlichter! Er dachte, in ſich hineinlächelnd, an Grete. — „Und Du biſt meine Sonne! Wärme mich! Durchglühe mich! Ver⸗ ſenge mich! — Komm! Er preßte ſie an ſich. Sie ruhte liebeverloren an ſeinem Herzen. Plötzlich aber ſtreifte ſie ihn von ſich ab und ſchnellte wieder empor. „Du wirſt ſie heirathen! „Niemals. „Es iſt wahr, Du biſt klug und weiſe. Eine Heirath mit einem Mädchen ohne Vermögen würde Dein Glücks⸗ rad aufhalten im Rollen, und doch — ſchwöre mir, daß Du ſie nicht heirathen wirſt! „Närrchen, wir gehen ja im Oktober nach Italien. Ich ſehe ſie nicht wieder.“ „Wir wollen früher gehen.“ „Wenn es ſich machen läßt. Du biſt heute ſpröde. Eine neue Rolle: „Ich bin eiferſüchtig. 376 und ſchüttelte ſie und ſah ihm feſt in die Augen. Sie ſtellte ſich vor ihn, nahm ſeine beiden Hände „Du biſt ein Schelm. „Was ſoll das: „Das arme junge Mädchen, wenn ſie ſich nun ernſt⸗ lich in Dich verliebt hat? „Solche Frühlingstriebe der Liebe ſind nicht gefähr⸗ lich. Mädchen, ſobald ſie erwachſen ſind, lieben à tout prix, ihren Klavier⸗ oder Literaturgeſchichtslehrer, einen Romeo vom Theater, oder einen Helden aus einem Roman. Die Liebe iſt für ſie ein poetiſches Abenteuer. Iſt ſie er⸗ loſchen, ſo hinterläßt ſie keine Geſpenſter, nur welke Blumenſträuße und vergilbte Blätter für ein — Reliquien⸗ käſtchen, Sparpfennige des Glücks, die man für's Alter zurücklegt. So ein junges Geſchöpf hat von Glück zu ſagen, wenn es in ſeinem achtzehnten Jahr eine Liebe ohne Reue kennen lernt.“ „Mit einem blonden Vollbart,“ ergänzte Alice. Sie warf die Cigarette fort, ſetzte ſich auf die Sopha⸗ lehne, und vergrub ihre Hände in der Haarfluth. Zum erſten Mal, im Lauf des Abends, ſah ſie ernſt aus, faſt traurig. „Ich bin nicht ſo ſicher,“ ſagte ſie, „daß die Sache gut abläuft. Ich kannte auch ein junges Mädchen und einen jungen Mann. Es war dasſelbe Spiel zwiſchen ihnen, wie zwiſchen Dir und der Weſtendgrazie. Er heirathete aber eine Andere aus Geldgier, und dann heirathete ſie auch einen Andern — aus Dépit. Und als ſie verheirathet war, dachte ſie: muß ich dem gehören, den ich nicht mag, 377 warum ſoll ich nicht jenem Andern gehören, den ich un⸗ geheuer gern mag² Und ſie gab es gänzlich auf ein Tugendſpiegel zu ſein. Merkwürdig, daß in Folge ſolcher poetiſchen Luft⸗ ballonfahrten die Tugend nicht öfter in die Brüche geht! Woran liegt das? vielleicht daran, daß die meiſten Frauen mehr Berechnung haben, und weniger Temperament — als ich.“ Joachim glaubte nicht an Alices Geſchichte, ihre Worte aber erregten ihm Unbehagen. Eine Geliebte, die Moral predigt — lächerlich. „Es giebt Ausnahmen,“ antwortete er ungeduldig, „das ſanfte Fräulein Burkhart gehört ſicher nicht dazu. Unter Männern habe ich zuweilen Werthers gefunden, Leute, die an unglücklicher Liebe zu Grunde gingen. Die Lotten werden meiſt mit ihren Keſtners glücklich. In meinem Fall iſt der Keſtner ſchon da.“ Er ſprang auf. „Ich bin aber des trocknen Tons nun ſatt.“ „Aber Ich nicht,“ ſagte ſie eigenſinnig. „Ich kann von der Vorſtellung nicht loskommen, daß Du dem Mädchen gegenüber den Wolf im Schafskleide ſpielſt. Ich intereſſire mich für Fräulein Burkhart. Es iſt genug an Einer . . ." Sie beſann ſich und ſchwieg. Auf der Stirn ſchwoll ihm die Zornesader. „Ich dulde nicht, daß Du mich für gewiſſenlos hältſt. Nie iſt dieſem reinen Geſchöpf gegenüber ein Wort der Liebe oder Leidenſchaft über meine Lippen gekommen, ja nicht einmal der Wunſch nach ihrem Beſitz war in meiner Seele. Habe ich nicht Dich, Du Schöne, Wilde, Mein⸗ 378 eigene?“ Er umſchlang ſie. „Gott ſei Dank, daß Ihr nicht alle Tugendſpiegel ſeid! Was ſollte aus uns Männern werden! In grüner Jugend ſchon müßten wir in's Ge⸗ fängniß der Ehe.“ Er hatte die letzten brutalen Worte ziemlich gedanken⸗ los, mehr zu ſich ſelber, als zu ihr geſprochen. Sie ſtieß ihn zurück und ſprang auf; und wie ſie in der röthlichen Dämmernng daſtand, aus dem weiten, weißen Gewande die Hände gegen ihn ausſtreckend, das Auge ſprühend, das weiße Geſicht von dem flammenden Haar umrahmt, hatte ſie etwas von einer Prieſterin. Ein zorniger Schmerz bebte in ihrer Stimme, als ſie ihm zurief: „So ſind wir alſo für Euch nur eine Aſſekuranz gegen die Ehe, nichts als das! o pfui! pfui! Er ergriff ſie, ſtreifte ihr das Gewand von der Schulter, und erſtickte ſie mit ſeinen Küſſen. „Liebe ich Dich? liebe ich Dich?“ flüſterte er. Sie umſchlang ihn mit wilder Zärtlichkeit, und ſchlang ihr langes gelbes Haar um ſeinen Hals. „Ich erdroſſele Dich, wenn Du untreu wirſt. Das Fenſter war offen geblieben. Es wetterleuchtete. Die Luft war ſchwül vom Athem der Sommernacht. Im einer heißen Liebkoſung kam es von ſeinen Lippen wie ein inbrünſtiger Hauch: „Marie! Sie lachte grell auf und zog ihr Haar um ſeinen Hals feſt — feſt. Er meinte zu ſterben. Mit äußerſter Kraftanſtrengung löſte er ſich aus der ſeidenen Schlinge, unbekümmert, ob er ihr ſchmerzlich weh that. Aufſtöhnend floh ſie vor ihm in ihr Boudoir, und riegelte die Thür hinter ſich zu. 379 Und er ging hinaus, zornig, gedemüthigt — keine Spur von einem Olympier. — Am Freitag Vormittag kam ein Brief von Joachim an die Geheimräthin; er fürchte, daß er verhindert ſein werde, den Abend in gewohnter lieber Weiſe bei ihnen zu⸗ zubringen. Er kommt doch, dachte Marie. Es war ein unfreundlicher Septembertag, ſeit dem Gewitter war das Wetter umgeſchlagen. Der Himmel war bewölkt. Um 5 Uhr Nachmittags herrſchte Dämmerung. Marie wartete; allmählig wurde ihr das Warten un⸗ erträglich; ſie ging auf die Straße hinaus, aus einer der kleinen grünen Alleen in die andere. Alle waren öde. Weſtend beſteht nur aus Sommervillen, trotzdem waren die meiſten Familien verreiſt. Ueberall heruntergelaſſene Jalouſien. Ein rauher Wind fegte die erſten trockenen Blätter zuſammen. Lautloſe Stille in den Straßen, auf den Balkons. Niemand zeigte ſich an den Fenſtern. Nirgends lachende oder lärmende Kinder in den Gärten. Kein Hund bellte, kein Hahn krähte, es war wie eine Todtenſtadt, und daß bei dieſer Ausgeſtorbenheit alles ſo grün war, machte den Eindruck um ſo unheimlicher. Die Melancholie des Orts theilte ſich Marie mit, mit einem Mal wußte ſie, er würde nicht kommen. Und doch — ein Wagen kam herauf, ihr Herz ſchlug, ſie verbarg ſich hinter dem Bosquet auf dem kleinen Platz in der Nähe ihrer Villa. Der Wagen hielt vor ihrem Hauſe; nicht er — eine Dame ſtieg aus, ſie konnte ihr Geſicht nicht ſehen. Sie war ganz in ſchwarze Seide ge⸗ kleidet, nur auf dem ſchwarzen Spitzenhütchen trug ſie einen 380 lichtroſa Hyazinthenzweig. Coſtüm und Haltung waren von einfachſter Eleganz. Wie ſie in's Haus trat, wendete ſie ſich halb um, und Marie erkannte jene Dame, die Nichte ihrer Mutter, deren Leben ein ſchmähliches Ge⸗ heimniß barg. Sie wußte, das Hausmädchen hatte den Auftrag, die Dame ein für allemal abzuweiſen. Merkwürdig, ſie kam nicht zurück, die Mutter hatte ſie alſo angenommen. Plötzlich tauchte etwas Vergeſſenes wieder in ihrem Gedächtniß auf: das war die Dame, die in der Kurfürſten⸗ ſtraſſe 77 wohnte, ſie hörte ihre Stimme wieder, wie ſie dem Kutſcher Straße und Nummer zurief. Es legte ſich wie ein Reif um ihr Herz. Ihre Schläfe pochten. Mit brennender Ungeduld wartete ſie darauf, daß die Dame gehen ſollte. Endlich kam ſie heraus. Marie eilte ſchnell von der Veranda in's Wohnzimmer. Das erſte, was ſie wahrnahm, war ein ſtarkes Hyazinthenparfüm. Ihre Mutter ſaß inmitten des Sophas; ihr Kopf ruhte auf dem Tiſch. Bei dem Geräuſch von Maries Schritten hob ſie den Kopf. Marie erſchrak. Die Mutter war todtenblaß und ſchien um zehn Jahre gealtert. „Mutter, was iſt Dir? „Es iſt nicht der Rede werth, ein leichter Schwindel⸗ anfall. Hol' mir ein Glas Waſſer. Marie ſtürzte hinaus. Frau Burkhart ſuchte ſich zu faſſen. Was ſollte ſie Marie ſagen? Sie war noch nicht einig mit ſich. Alice hatte Bürgen verrathen. Zwei Triebfedern lagen ihrer Handlungsweiſe zu Grunde, welche die ſtärkere war, wußte ſie ſelbſt nicht. Sie fürchtete, ihr Geliebter könne ſich doch allmählich zu einer Verlobung mit Marie Burkhart 381 drängen laſſen, und ſie wollte den Mann, den ſie liebte, um keinen Preis verlieren. Und dann: es hatte ſie gerührt, daß Marie ihr ſo ähnlich ſah. Die arme Taube! ſie wollte ſie warnen, vielleicht retten vor dem Habicht und damit glühende Kohlen auf das Haupt der Tante ſammeln, die ihr die Thür gewieſen. Sie hatte diesmal nicht ihre Viſitenkarte abgegeben, ſondern ſich als Delegirte eines Wohlthätigkeitsvereins melden laſſen. Was hatte ſie alles der Tante ſagen wollen! Rührendes und Edelſinniges und manches auch, was ihr zur Entlaſtung gereichen ſollte für ihren Lebenswandel. Wie ſie nun aber der einfachen, würdigen Frau mit dem blaſſen, bekümmerten Geſicht gegenüberſtand, der Frau, die bei ihrer frühen Verwaiſung ihr faſt die Mntter er⸗ ſetzt hatte, da verſagten ihr Kunſt und Gedächtniß, und verwirrt, ſtammelnd brachte ſie nichts hervor, als die nackten, ſchmerzlichen Thatſachen: ſie ſei ſeit zwei Jahren die Geliebte Bürgens, ſie wiſſe von ſeiner und Maries gegenſeitiger Neigung, er ſelbſt habe es ihr anvertraut. Er denke aber nicht daran, Marie zu heirathen. Ihre gemeinſchaftliche Abreiſe nach Italien ſtände in wenigen Wochen bevor. Sie ſei gekommen, weil ſie nicht wolle, daß eine verrathene Liebe ihre Couſine auf Irrwege führe, wie es ihr geſchehen, und ſie rechne auf die abſolute Dis⸗ kretion der Tante dem Profeſſor gegenüber. Nur mit Anſtrengung hatte Frau Burkhard die üblichen Gemeinplätze hervorbringen können: daß Marie Herrn von Bürgen durchaus nicht liebe, daß in ihrem 382 Hauſe nie an eine ſolche Heirath gedacht worden ſei u. ſ. w Ihre bebenden Lippen und ihre Bläſſe widerſprachen nur zu ſehr ihren Worten. Sie hatte Alice für ihre gute Abſicht gedankt und ſie freundlich verabſchiedet. Alice hatte ihr in wirklicher Er⸗ griffenheit die Hand geküßt und war gegangen, unzufrieden mit ſich und der Welt, und vor Allem mit Joachim, und ſie dachte, daß er nicht viel mehr werth ſei, als ſie. Als Marie mit dem Glas Waſſer kam, hatte ſich Frau Burkhard einigermaßen gefaßt. „Wer war bei Dir, Mutter? „Ich kenne die Dame nicht, ſie kam in einer Wohl⸗ thätigkeitsangelegenheit. Um weitere Fragen ihrer Tochter zu vermeiden, ſchützte ſie ihr Unwohlſein vor, und zog ſich in ihr Zimmer zurück. Hier ſchrieb ſie ſofort an den Profeſſor Bürgen: Seine Beziehungen zu ihrer Familie ſeien mißdeutet worden. Sie bäte ihn deshalb, ſeine Beſuche für einige Zeit ein⸗ zuſtellen, und überlaſſe es ſeinem Zartgefühl, für das plötzliche Abbrechen ihrer Beziehungen der Welt gegenüber einen Vorwand zu finden. Mit ängſtlicher Spannung wartete ſie auf ſeine Antwort Ohne es ſelbſt zu wiſſen, hoffte ſie noch. Ehe die Antwort eingetroffen, wollte ſie mit Marie nicht ſprechen. Beſtürzt war Marie im Wohnzimmer zurückgeblieben. Man verbarg etwas vor ihr. Die Dame mit dem Hyazinthenparfüm — die Mutter hatte um ihrertwillen eine Unwahrheit geſagt — und Joachim, warum hatte er gerade heut abgeſagt? Was bedeutete das alles: 383 Sie hielt es im Zimmer nicht aus. In einen Shwal gehüllt, lief ſie im Garten auf und ab. Es war kalt und dämmerig. Ein feiner Regen ſprühte ihr in's Geſicht. Da fiel ihr plötzlich ein, was Grete damals geſagt hatte, daß er unmoraliſche Beziehungen zu einer Dame habe. Nein, nein! Er liebte ſie ja. Das konnte es nicht ſein — etwas Anderes — aber was? Am nächſten Morgen kam Bürgens Antwort an die Geheimräthin: Die Nachricht von einem plötzlichen Un⸗ wohlſein ſeines Vaters rufe ihn ſofort auf einige Zeit nach Heidelberg zurück. Er hoffe, in kürzeſter Friſt nach Berlin zurückzukehren und ſpreche ſeinen tiefempfunden Dank für die Gaſtfreundſchaft aus, die, die liebenswertheſte aller Familien ihm gewährt, der er in unwandelbarer Freund⸗ ſchaft ergeben bleibe. Das war Alles. Frau Burkhards Blicke hafteten eine Weile finſter und feindſelig auf den wenigen, nichts⸗ ſagenden Zeilen. Dann gab ſie den Brief Marie. Das Mädchen zitterte, als ſie ihn geleſen, über und über. „Er kommt nicht wieder?“ Wie ein Angſtruf kam es von ihren Lippen. „Ich weiß es nicht. Warten wir es ab.“ Sie zog die Tochter an ſich und ſtreichelte ſie zärtlich, und forderte ſie auf, Frieda Ruhmann zu beſuchen. Die Freundin war verreiſt. Marie war verſtört. Sie wußte nicht mehr, was ſie denken, was ſie fürchten ſollte. Der Wechſel war zu jäh. Eine leidenſchaftliche Unruhe trieb ſie aus dem Zimmer in den Garten, vom Garten wieder in's Zimmer zurück. Immer wartete ſie auf etwas. Der Beſuch der Frau von 384 Souvarin, die da wohnte, wohin er gefahren war, ſeine Abreiſe, das Alles hatte einen Zuſammenhang, einen be⸗ trübten, einen ſchrecklichen. Sie wollte mit der Mutter ſprechen. Die Geheimräthin wich ihr aus. Nach reiflicher Ueberlegung hielt ſie es für das Beſte, das unſelige Er⸗ eigniß todt zu ſchweigen. So, dachte ſie, blutet ſich die Wunde aus und vernarbt um ſo ſchneller. Alles Reden darüber iſt ein Reizmittel, daß ſie friſch erhält. „Ich begreife nicht,“ ſagte der Geheimrath einige Tage ſpäter, warum Bürgen ſchriftlich Abſchied genommen hat, anſtatt ſelber zu kommen. Mit der Abreiſe ſcheint er es doch nicht eilig zu haben. Ich bin ihm geſtern in der Dämmerung im Thiergarten begegnet und hätte ihn an⸗ geſprochen, wenn er nicht eine Dame am Arm gehabt hätte, eine hübſche Blondine; iſt er etwa verlobt? Maries Herz hörte einen Augenblick auf zu ſchlagen Ihre Erregung wurde krankhaft. Sie fieberte und ſann und grübelte. Immer dieſelben Gedanken: War es möglich, daß er ſie nicht liebte? Ohne einen Blick, ohne eine Wort des Abſchieds war er gegangen, und ſie ſollte ihn nicht wiederſehen, nie, nie — das war ja unmöglich, ganz, ganz unmöglich. Nachts ſchlief ſie nicht. Sie ſetzte ſich aufrecht im Bett, ſie rang die Hände, ſie ſchluchzte, um ſo qual⸗ voller, als ſie ihr Schluchzen im Bett erſticken mußte, damit die Mutter es nicht höre. Er liebt ſie doch — doch! Vielleicht — man hatte ihn verleumdet und aus dem Hauſe gewieſen. Es war ja möglich, daß er einmal unerlaubte Beziehungen zu einer Dame gehabt. Sie machte ſich nichts daraus — was ging es die Anderen an? Er ſollte wiederkommen, nur 25 H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 385 wiederkommen! Die Hyazinthendame, die wußte um Alles . . . und wie ein Blitz fuhr es ihr durch die Seele: Ich will mit ihr ſprechen, ſie muß es mir ſagen. Anfangs war es nur ein flüchtiger Einfall geweſen. Allmählig gewann er Geſtalt. Er wurde zu einer fixen Idee. Frau von Souvarin war ja ihre Couſine. Warum ſollte ſie ſie nicht beſuchen? Von ihrem Lebenswandel brauchte ſie ja nichts zu wiſſen. Es war zuviel für das arme junge Herz, dieſe Qual der Ungewißheit. Die Sehnſucht nach ihm war ein Flamme, die an ihrem Leben zehrte. Eines Tages verließ ſie die Villa und fuhr direkt mit der Pferdebahn in die Kurfürſtenſtraße. Sie trat in das elegante Haus und fragte nach Frau von Souvarin. Der Portier muſterte ſie mit dreiſten Blicken und ſagte grinſend: „Im Gartenhaus, meine kleine Dame. Sie fand das Gartenhaus. Entſchloſſen ſtieg ſie die paar Stufen hinauf und klingelte. Bei dem Klang der Glocke ſank ihr der Muth. Umzukehren war es zu ſpät. Das Kammermädchen öffnete ſchon. „Frau von Souvarin zu ſprechen? „Ich werde nachſehen. Die gnädige Frau hat augen⸗ blicklich Beſuch. Wollen Sie nicht näher treten: Marie trat in den Corridor; er ſtand voller Koffer. Toni öffnete die Thür zum Salon. „Wen darf ich melden: „Eine Verwandte — bitte,“ ſtammelte Marie kaum hörbar. Sie tritt in den Salon, ſie iſt wie vom Blitz ge⸗ troffen, das iſt der Salon, den Joachim ihr geſchildert, 386 mit dem Hyacinthenparfüm und dem Papagei. „Joachim, kommſt ſpät,“ kreiſcht er ihr entgegen. Ihre Blicke ſchweiften irr umher, und blieben an einer Photographie, die in einem koſtbaren Rahmen auf dem Schreibtiſch ſtand, haften — Joachims Bild. Sie konnte einen leiſen Ausruf nicht unterdrücken. „Sie kennen den Herrn?“ fragte Toni, die das Fräulein neugierig angeſtarrt hatte. „Ein Verwandter der gnädigen Frau: Marie brachte die Frage nur mühſam über die Lippen. Toni lachte ungenirt. „Verwandt? wie man's nehmen will. Wir ſind erſt ſeit zwei Jahren verwandt, aber äußerſt intim. Morgen geht's nach Italien, ich, ſie und er. Marie wandte ſich ſchnell um und ſtand vor einem venetianiſchen Spiegel, aus dem ein verſtörtes, wachs⸗ bleiches Geſicht ſie anſtarrte. War ſie das? Toni ging trällernd in das Nebenzimmer, um das Fräulein zu melden. Beim Oeffnen der Thür drang lautes Lachen an Mariens Ohr, und einen Moment ſah ſie im Spiegel eine junge blonde Frau in weißem Cachemir, die an der Schulter eines Mannes lehnte. Sie erkannte ihn ſofort, obwohl ſie ſein Geſicht nicht ſah. Er lachte mit einem grellen Lachen, wie ſie ihn nie vorher lachen gehört. Eine Lähmung ſchlich durch ihre Glieder. Es kroch an ihr herauf, etwas unausſprechlich Wider⸗ wärtiges, etwas Abſcheuliches, bis zum Herzen kroch es, da blieb es ſitzen. Sie maß die Entfernung von der Stelle, wo ſie ſtand, bis zur Ausgangsthür; der Zwiſchenraum kam ihr 25* 387 unermeßlich vor. Würde ſie die Thür erreichen, ehe das Kammermädchen zurückkam? Wenn er herausträte und ſie ſähe — ſie wußte, es würde ſie tödten. Sie geht — nein, ſie ſchlürft langſam vorwärts. Sie hat die ſchreckliche Empfindung, die wir aus Träumen kennen: wir wollen laufen, fliehen, wir wiſſen, das Leben hängt davon ab — und wir kommen nicht von der Stelle. Jeder Schritt, den ſie macht, iſt wie ein Ankämpfen gegen eine immer ſteigende Fluth. Endlich, endlich iſt ſie an der Thür. Gott ſei Dank, ſie iſt nur angelehnt. Der lange, lange Corridor liegt vor ihr — dasſelbe langſame Vor⸗ wärtskriechen! Da hört ſie eine Thür zuſchlagen — die höchſte Angſt giebt ihr den Gebrauch der Glieder zurück. Sie reißt die Treppenthür auf, ſie fliegt die Treppe her⸗ unter, ſtürzt auf die Straße und läuft — läuft, und wie Einer, der einen zu großen Anlauf genommen und nun über das Ziel hinausſtürzt, ſo raſt ſie dahin, bis ihre Kräfte erſchöpft ſind. Da iſt die Pferdebahn. Sie ſteigt ein. Ein Gefühl von Wohlſein überkam ſie. Gerettet! Sie hätte aufjubeln mögen. Während der Fahrt hatte ſie eine merkwürdige Empfindung: als wäre die Brücke zwiſchen ihren äußeren Sinnen und ihrer Seele abgebrochen. Sie ſah und hörte Alles, was um ſie herum vorging, und empfand nichts. Ein Paſſagier ſprang ab und wäre bei⸗ nahe überfahren worden. Sie ſah gleichmüthig zu. Was ging ſie das an? An Joachim dachte ſie nicht ein einziges Mal. Sie hatte nur Einen Wunſch: immer ſo fortzu⸗ fahren, immerzu, bis an's Ende der Welt. Nur nicht ausſteigen! Man kam aber doch in Weſtend an, und ſie mußte 388 heraus aus dem Wagen. Sie ging mechaniſch weiter, und erſt als ſie vor ihrem Hauſe ſtand, ergriff ſie eine Angſt, man könnte ſie beim Hereinkommen ſehen und fragen, woher ſie käme. Sie klingelte ganz ſacht, das Hausmädchen öffnete, auf dem Corridor war Niemand, ſie gelangte unbemerkt in ihr Zimmer. Sie warf den Hut von ſich und ſah ſich im Zimmer um, als wären das lauter fremde Gegenſtände um ſie herum. Mit einem Male fing ſie an zu frieren, ſo ſtark, ſo intenſiv, daß ſie glaubte, nie wieder warm werden zu können. Sie legte ſich auf's Sopha und deckte ſich mit allen Mänteln und Tüchern zu, deren ſie habhaft werden konnte, und ſie fror immer noch. Als die Mutter in's Zimmer trat, um ſie zum Kaffee zu rufen, erſchrak ſie über ihren Anblick. Man ſchickte zum Arzt. Er konnte nichts finden — eine Ueberreizung der Nerven. Er verordnete ein paar Tage Ruhe. Sie blieb im Bett, klagte immer über Froſt, an Joachim dachte ſie nicht, nur daran, wie ſie warm werden könnte. Die Mutter entſchloß ſich zu reden. „Du grämſt Dich um Bürgen, mein Kind: „Es kann ſein, ich weiß es ſelbſt nicht. Sage Mutter, Du biſt ja klug und erfahren, ſage, iſt es denn möglich, das er mich nicht liebt? Die Mutter nahm ſie an ihr Herz. Sie ſagte ihr Alles, was zarter Sinn und zärtliche Mutterliebe eingeben können, um ſie zu tröſten; ſie verhehlte ihr aber auch nicht ſeine ſtrafbaren Beziehungen zu einer ſittenloſen Frau, und 389 kam immer wieder darauf zurück, daß er ihrer Liebe nicht werth ſei. „Du biſt ſo gut, Mutter, es iſt abſcheulich, daß ich Dir Kummer mache. Ich bin auch gar nicht krank, ich will es nicht ſein. Sie ſtand auf. Und wie es einem Kranken geht, der erſt, wenn er das Bett verläßt, ſeine Schwäche fühlt, ſo kam ihr erſt das Gefühl ihres Elends, als ſie wie ge⸗ wöhnlich weiter leben ſollte. Sie empfand keine Bitterkeit, keinen Zorn, nur maß⸗ loſe, ſchmerzliche Verwunderung. Sie begriff einfach nicht, was ihr geſchehen war. Sie ſaß nach wie vor auf der Veranda, ſtill und aufrecht im Schaukelſtuhl und grübelte in ſich hinein. „Schaukle Dich doch, Marie, ich kann es ſehr gut vertragen, ich habe es jetzt ſogar gern. „Nein, Mutter, ich kann nicht mehr, es macht mich ſchwindlig.“ Sie rief ſich ſeine Blicke zurück, ſein zärtliches Flüſtern das Zittern ſeiner Hand, wenn er die ihre berührte, und die vielen Worte, die auf eine gemeinſame Zukunft gedeutet. Was war denn das Alles geweſen? nicht Liebe? nicht? was denn? Verſtellung? Lüge? wozu? warum? oder hatte er ſie erſt geliebt und dann nicht mehr? Mein Gott, was hatte ſie gethan? Da fiel ihr jene Stunde, während des Gewitterſturmes auf der Veranda ein, wo ſie unwill⸗ kürlich ihren Kopf an ſeine Bruſt gelehnt. War es das? Daß ſie ihm ihre Liebe verrathen? Verachtete er ſie darum? Brennende Schamröthe ſtieg ihr ins Geſicht. 390 Aber nein — das war es nicht. Er hatte ja jene Dame von Anfang an geliebt. Müde und ſchwer ſank ihr der Kopf auf die Bruſt. Sie verlor ſich im Labyrinth ihrer Gedanken und konnte keinen Ausweg finden. Wenn die Mutter ihr ſanft zuſprach, ſo lächelte ſie traurig, ein Hauch von einem Lächeln, die Grübchen kamen nicht einmal zum Vorſchein. Einmal ſchrak ſie Nachts plötzlich aus einem ſchweren Traum empor. Sie hörte ein leiſes, fernes Tönen und Klingen wie von der Aeolsharfe. Was war das? ſie lauſchte mit viſionärer Andacht. Es verhallte langſam. Sie ſchlief ſanft und beruhigt ein. Bürgen hatte ſich auch von Berningers ſchriftlich ver⸗ abſchiedet. Man wußte bald auf Weſtend von ſeiner plötzlichen Abreiſe, und verfehlte nicht, ſie mit Fräulein Burkharts völlig verändertem Weſen in Verbindung zu bringen. Die Herren bedauerten das arme Mädchen, und fanden Bürgens Benehmen inkorrekt. Die Damen, mit Ausnahme von Frieda, waren auf Bürgens Seite: Es ſei doch nicht ſeine Schuld, wenn Fräulein Burkhart ſich in ihn verliebt habe, er habe Grete nicht weniger als der Geheimrathstochter den Hof gemacht, und es ſei ihr nicht eingefallen, ihm als Trauerweide nachzuſäuſeln. Solche empfindſame Nörgeleien müßten ja ſchließlich den jungen Männern das Courmachen verleiden, und Geſellſchaften ohne dieſe Gemüthsturniere! Ei, da würde der Salon ſich kaum noch vom Rauch⸗ oder Billardzimmer unterſcheiden! Die Geheimräthin bat ihre Tochter, ſich zuſammen⸗ zunehmen, und mit den Damen auf Weſtend — ſie waren inzwiſchen von ihren Badereiſen zurückgekommen — nach 391 wie vor zu verkehren. Die Welt brauche nicht zu wiſſen, wie tief man verletzt worden ſei, man müſſe böswillige Commentare über die Abreiſe Bürgens zu vermeiden ſuchen. Marie verſprach Alles und nahm ſich zuſammen. Die jungen Damen auf Weſtend hatten ſich verabredet und kamen Alle an einem der nächſten Nachmittage, um ſich nach Maries Befinden zu erkundigen. Kaum waren die erſten gleichgiltigen Begrüßungen ausgetauſcht worden, ſo gab Fräulein Nora ihrem ver⸗ meintlichen Zorn gegen den Profeſſor Ausdruck mit dem Ausruf: „O, die Männer! die Männer! Sie könne ihre Meinung nicht zurückhalten, ſie müſſe Marie erklären, daß der Profeſſor ſich ihr gegenüber ab⸗ ſcheulich benommen habe. Als Ehrenmann hätte er ſich mit ihr verloben müſſen. Wäre ihr das paſſirt, ſie würde ſich an dem ganzen Geſchlecht rächen, und nie, aber nie einen Mann erhören. Frieda ſagte nichts, aber ihre Augen ruhten während der ganzen Zeit ihres Beſuches mit unſäglichem Mitleiden auf der Freundin. Grete ſchlug ihren gewöhnlichen, heiter⸗frivolen Ton an: „Du wirſt Dir die dumme Geſchichte doch nicht zu Herzen nehmen? Das fehlte noch! Unter allen Dingen, die nicht neu unter der Sonne ſind, iſt ein Courmacher, der ſich anders beſinnt, das allerälteſte.“ Und in einer Anwandlung von Gutherzigkeit ſetzte ſie hinzu: „Das paſſirt uns Allen, mir auch. Was iſt aus dem Feuer geworden, mit dem mein Korben für mich glühte? — Aſche! Du brauchſt auch nicht zu fürchten, 392 daß er Dich compromittirt hat. Wir Alle treten für Dich ein.“ „Natürlich,, riefen die Mädchen durcheinander. „Und ich will wetten,“ ſchloß Grete ihre Troſtrede, „wenn der holde Lenz erſchienen, haſt Du den Wittwen⸗ ſchleier Deiner verfloſſenen Schwärmerei mit dem Myrthen⸗ kranz einer reellen Liebe vertauſcht, und wir dürfen Dir zu Deiner Verlobung gratuliren. „Und ich weiß auch mit wem,“ rief Herta, „er ſchreibt ſich R. W.“ Marie wurde ohnmächtig, zur höchſten Verwunderung der jungen Damen, die ſich unter mißbilligendem Flüſtern zurückzogen. Seit jenem Tag war Marie nicht mehr zu bewegen geweſen, einen Beſuch zu empfangen. Wochenlang blieb ſie tagsüber zu Haus und ging nur Abends aus. Anfang October ſiedelten Burkharts nach Berlin über, und die Mutter hoffte von der größeren Bewegung und dem regeren Verkehr in der Stadt eine wohlthätige Ein⸗ wirkung auf Maries krankhafte Reizbarkeit. Um ihre Gedanken auf poſitive und praktiſche Dinge zu lenken, trug ſie ihr mehr häusliche Geſchäfte auf als ihr ſonſt oblagen. Es war unheilvoll für das arme Mädchen, daß dieſe Beſchäftigungen ihr ernſtes Intereſſe nicht in Anſpruch nehmen konnten. Sie ſtäubte die Möbel ab, bereitete den Thee, ſtickte, begoß die Blumen — ſie that Alles in einer apathiſchen Art und Weiſe, die traurig anzuſehen war. Zuweilen, mitten in einer häuslichen Verrichtung, ſchauderte ſie zuſammen. Die Arme ſanken ihr ſchlaff am 393 Leibe herab, ihr Blick wurde ſtarr, und ſie blieb wie an⸗ gewurzelt auf der Stelle, wo ſie gerade ſtand. Nein — es konnte nicht ſein — es war ja unmög⸗ lich. Er liebte ſie doch — doch! Und es kam dann wie ein Strom von heißer Liebe über ſie; eine verzehrende Sehnſucht nach ſeinen Augen, ſeiner Stimme ergriff ſie, und weit, weit fort, hin zu ihm ſchweifte ihr inbrünſtiges Verlangen. Wenn ſie Abends im Bett lag, fuhr ſie oft jäh em⸗ por, und ſtreckte die Arme ins Leere, und ſank dann mit einem heißen, leiſen Schluchzen in die Kiſſen zurück. Sie ſuchte nach Erinnerungen aus ihrem Leben. Sie fand nichts. Nur den einen, einen Sommer, vorher nichts, nachher nichts — nichts. Der Geheimrath hatte keine Ahnung von dem, was geſchehen war. Doch war ihm die fahle Bläſſe ſeiner Tochter aufgefallen; auf ſein Befragen meinte der Arzt, das Mädchen ſei ungewöhnlich blutarm, und ſobald der Sommer käme, müſſe es in ein Bad. Als die Mutter mit der Tochter darüber ſprach, rötheten ſich Maries Wangen flüchtig. „Wohin gehen wir?“ fragte ſie, und ihr Auge hing geſpannt an den Lippen der Mutter. „In ein Seebad, nach Heringsdorf. Maries Blick erloſch. Im März war die Mutter zu ihrer älteſten Tochter gereiſt, die ihre Entbindung erwartete. Sie blieb drei Wochen fort. Während der Abweſenheit der Geheimräthin war eine leichte Beſſerung in Maries Zuſtand wahrnehmbar. Sie 394 war verantwortlich für das ganze Hausweſen, ſie mußte für den Vater ſorgen. So viel Liebevolles und Pflicht⸗ getreues lag in ihrer Natur, daß ſie in der complizirten Pflichterfüllung einige Beruhigung fand. Die Geheimräthin war, als ſie zurückkam, ganz erfüllt von ihrem erſten Enkelchen, einem lieben kleinen Mädchen; man hatte es wieder Marie genannt. Marie erſchrak unwillkürlich darüber und ſagte: „Ihr hättet dem Kinde einen anderen Namen geben ſollen. Die Marien haben in unſerer Familie kein Glück.“ Es ſchien ſie zu befremden und faſt ſchmerzlich zu berühren, daß die Mutter ſo viel von dem Enkelchen ſprach, und ſich ſo ſehr darauf freute, daß die junge Frau mit dem Kinde auch auf einige Zeit nach Heringsdorf kommen würde. Werner war inzwiſchen zurückgekommen und ſein erſter Beſuch hatte Burkharts gegolten. Marie blieb auch für ihn unſichtbar, und aus Furcht, zu beläſtigen, kam er nur in langen Zwiſchenräumen. Er ſprach ſich offen mit der Mutter aus. Beide er⸗ hofften von der Zukunft ein reines Glück für Marie, wann es kommen würde, ſchien ihnen nur eine Frage der Zeit. Die Geheimräthin forderte Werner auf, ſie in Heringsdorf zu beſuchen. Marie liebe die Natur, ſie ver⸗ traue auf ihre Heilkraft. Zu Zeiten fühlte Frau Burkhart eine leichte Unzu⸗ friedenheit mit Marie. Sie hatte kein Verſtändniß für ihr troſtloſes Sichgehenlaſſen, für ihren gänzlichen Mangel an Energie und Stolz. Anfang Juni ſiedelte man nach Heringsdorf über. Ein reizendes Häuschen, am Waldſaume gelegen, war ge⸗ 395 miethet worden. Marie's körperliches Befinden ſchien ſich zu beſſern. Der erſte verzweiflungsvolle Schmerz war einer chroniſchen Traurigkeit gewichen. Sie ließ die Gedanken kommen und gehen, und wehrte ſie nicht ab, eine große Gleichgiltigkeit bemächtigte ſich ihrer. Zuweilen aber, wenn ſie durch den Wald ging, dachte ſie an einen andern Wald, und plötzlich wendete ſie ſich um — erſchrocken — nein — er war nicht da. Früher wurde ſie oft wegen ihrer Furchtſamkeit ver⸗ ſpottet, jetzt blieb ſie, ſelbſt in wirklicher Gefahr, völlig gelaſſen. Auf einer Bootfahrt wurden ſie von einem Ge⸗ witter überraſcht. Alle Bootsinſaſſen waren in Todes⸗ angſt, nur Marie nicht. Wenn nun wirklich das Boot umſchlug? mochte es doch! Die Geheimräthin ſetzte es durch, daß ſie ein paar Mal mit zur Strandpromenade kam, wo es viel Leben, geputzte Menſchen und Muſik gab. Marie war unruhig. Blieb Jemand ſtehen, oder ſah ſich nach ihnen um, flüſterte oder lachte man zufällig, wenn ſie vorübergingen, ſo meinte ſie, es wäre, weil man ſie kannte und wüßte, was ihr geſchehen war. Voll ſcheuen Mißtrauens irrten ihre Augen umher, überall glaubte ſie mitleidige oder gering⸗ ſchätzige Blicke auf ſich gerichtet. Sie gerieth in krank⸗ hafte Aufregung, und die Mutter gab ihre Verſuche, ſie unter Menſchen zu bringen, auf. Sie ließ ſie ſtill ge⸗ währen. Marie hatte die Gewohnheit angenommen, den Kopf auf die Seite zu neigen — wie eine geknickte Lilie, meinte die Schweſter ſpäter. 396 An ſchönen Tagen pflegte Frau Burkhardt gegen Sonnenuntergang mit ihr an den Strand zu gehen. Das Meer lag dann auf der Weſtſeite in glanzvoller Milde vor ihnen, wie ein zerfloſſenes Juwel, und als phantaſtiſche Flämmchen ſchwebten die rothen Segel darüber, während es im Oſten ſchon dämmrig wurde, und unter dem großen, einſamen Licht des Leuchtthurms die grauſchwarzen Wogen dahinrollten. Marie fühlte dann wohl Mitleid mit ſich ſelbſt, daß ſie das alles ſehen, aber nicht mehr empfinden, nicht mehr erleben konnte. Am wohlſten war ihr im Sturm. Vor der wilden Beredſamkeit der rollenden toſenden Wogen wurde es ſtill in ihr, ganz ſtill, und ſtundenlang konnte ſie dann, in ihr Plaid gewickelt, am Strand liegen in ſanfter Betäubung. Nur zuweilen, wenn am fernen Horizont große Dampfer vorüberzogen, dann faßte ſie eine unſagbare Sehnſucht, mitzuziehen, in weiteſte Fernen, bis in die Urwälder Amerikas oder in das wunderreiche Innere Aſiens. Sie fühlte inſtinktmäßig, daß ſie vielleicht in einer neuen Welt, unter neuen Menſchen weiter leben könne. Sie war aber nur ein Mädchen, ein armes Ding, ohne Geld, ohne Willen, feſtgewurzelt an ihrem Platz. Sie mußte bleiben, bis die Wurzeln morſch wurden. Und jetzt hörte ſie öfter das ferne, ſüße Harfenklingen, im Halbſchlaf oder beim Erwachen; ſie hörte es beſtimmter es ſchien näher zu kommen, und wieder kam der ſtille Frieden über ſie mit der vagen Vorſtellung, als gäbe es etwas, wohin ſie ſich retten könne aus ihrer Noth — dahin, woher das Tönen kam. 397 Selbſt in ihren trübſten Tagen verſchloß ſich ihr Herz nie ganz dem Unglück Anderer. — In Heringsdorf iſt ein Aſyl für kranke und verwahrloſte Kinder. Die Kleinen ſpielten oft um ſie herum. Ein bleiches, herz⸗ krankes Mädchen, das noch obenein hinkte, hatte ſich ihr beſonders angeſchloſſen. Marie half ihr beim Muſchel⸗ ſammeln und brachte ihr kleine Näſchereien mit. „Ich möchte wohl krante Kinder pflegen,“ ſagte ſie zu ihrer Mutter. „Ich glaube, ich würde das ſehr gern thun, ich könnte etwas nützen. Laſſ' es mich verſuchen, Mutter, ich bitte Dich darum. Frau Burkhart fehlte es an feinerem pſychologiſchen Verſtändniß für Gemüthserkrankungen. Sie zog Mariens Bitte nicht in ernſthafte Erwägung, auch würde ja der Vater nie eingewilligt haben. Es war nicht mehr die Rede davon. Kranke ſind oft Hellſeher, ſie finden ſelbſt die Heilmittel für ihre Krankheit. Eines Tages ſaß Marie, den Kopf an einen Baum⸗ ſtamm gelehnt, an einer der lieblichſten Stellen im ſonnen⸗ durchleuchteten Walde. Durch hohe Tannen hindurch ſah ſie weit in's Land hinaus über wogende Getreide⸗ und Lupinenfelder. Moos und Haidekraut bedeckten den Boden, auf dem ſie ſaß. Rings um ſie her Friſche, Frieden, Heiterkeit. Der Wind trug ihr den ſüßen Lupinenduft zu, der ſich mit dem Aroma des Haidekrauts und der Tannen miſchte. Es war, als hauche die Luft reine Gedanken aus, und eine Botſchaft des Friedens: Lebe! Mit geöffneten Lippen trank ſie durſtig den lauteren Athem der Natur. Die Luft, von ſo intenſiver Reinheit ſchmeichelte ſich bis in ihr Innerſtes und rang dort mit 398 dem Dumpfen und Schweren, was ſie am Herzen fühlte, — ſeitdem. Sie blickte um ſich, helleren Auges, und die Nebelſchleier ſanken, langſam — langſam. Da fiel ihr Blick auf ein Käferchen am Boden, ein kleines grüngoldenes Ding. Sein Leib war mit Ameiſen bedeckt; in verzweiflungsvollem Kampf ſchüttelte es ſie ab; ſie kamen immer wieder, immer mehr. Seine Kräfte er⸗ lahmten. Schaudernd wandte Marie das Geſicht von ſeinem Todeskampf. Ja, das war das Leben! Der Himmelsſchein, die goldenen Farben, die Blüthendüfte — nur Schein, Ober⸗ fläche, darunter Schrecken und Tod. Und zertrat nicht auch ihr Fuß täglich tauſende ſchuldloſer Würmchen? Ein kleiner ſiebenjähriger Bube kam den Berg herauf⸗ gekeucht mit einem Karren, auf dem eine Kommode ſtand. Als er oben war, ſank er weinend in's Haidekraut. Er müſſe das Stück noch bis Albeck ſchaffen, ant⸗ wortete er auf Maries Fragen, und es ſei ſo greulich ſchwer. Das arme Kind, dachte ſie, es muß ſich zu Tode ar⸗ beiten, und ſo viele kräftige Herren ſpazieren gähnend im Walde umher und wiſſen nicht, wie ſie die Zeit todt⸗ ſchlagen ſollen. Der Schleier war wieder vor ihren Augen, und alles färbte ſich dunkel. In der kleinen, rothen Kirche, die im Walde ſtand, wurde an einem Sonntag Morgengottesdienſt gehalten. Das Sonnenlicht fluthete durch das lebendige Grün, das flüſternd in einander floß und ſich dann wieder öffnete, ſo daß der blaue Himmel in das Waldleben hineinlachte. 399 Und durch das flüſternde Laub und die friſche Morgen⸗ luft tönte die Orgel feierlich ernſt, und voll zärtlicher Milde zugleich, wie ein Ruf: „Kommt Alle, die ihr müh⸗ ſelig ſeid und beladen! Marie vernahm den Ruf. Ihr Herz wurde weich und ihre Augen wurden feucht. Es rang etwas in ihr — hinaus — hinauf — eine Sehnſucht, ihre Bruſt in Thränen zu erleichtern. Wäre Werner in dieſem Augenblick da ge⸗ weſen und hätte ſie zu ſich gerufen: „Komm, armes Kind! ſie wäre vielleicht weinend an ſein Herz geſunken. Er war aber nicht da, Friedas Eltern hatten ihn auf ihr Gut geladen, weil Frieda ihn liebte. Im Juli kam die Schweſter Martha mit dem Kinde und brachte Leben und Heiterkeit in's Haus. Die Geheim⸗ räthin ließ ſich von der kleinen Enkelin ſo ganz in Anſpruch nehmen, daß ſie kaum Zeit übrig behielt, auf Marie zu achten; es reizte ſie aber einigermaßen, daß die Tochter ſo gar kein Intereſſe für das Kind zeigte, und einmal ſagte ſie unmuthig: „Aber Marie, haſt Du denn gar kein Herz?“ Gleich darauf freilich bereute ſie das Wort, und beſchwichtigend legte ſie den kleinen Liebling in ihre Arme. Marie gab haſtig das Kind zurück. Was ſollte ſie damit? Sie empfand faſt Abneigung gegen das Kleine. Eine Entfremdung zwiſchen Mutter und Tochter trat ein. Mit der älteren Schweſter hatte Marie nie in einem herzlichen Verhältniß geſtanden, ſie waren zu verſchiedene Naturen. Und jetzt vollends berührte die ſtille Schwer⸗ muth der Jüngeren die lebensluſtige junge Frau peinlich. Sie war aber gutmüthig, und verfiel auf allerlei naive, ſchmerzſtillende Mittel, um die Schweſter von ihrem 400 „Spleen“, wie ſie es nannte, zu kuriren. Wohl zwanzig Mal am Tag forderte ſie Marie auf, fidel zu ſein, da man doch nur Einmal lebe. Ab und zu verſuchte ſie in ihrer heiter oberflächlichen Art, herzlich und gemüthlich mit ihr zu plaudern. Der Refrain war aber immer: „Heirathe Werner, dann iſt die kleine Epiſode Bürgen aus Deinem Leben, von der Welt und Dir ſelber vergeſſen. Was verlangſt Du denn? Werner hat Gemüth, Geld, Geiſt, Geſundheit, geſellſchaft⸗ liche Stellung . . . Bei den letzten Worten lachte ſie hell auf, weil ſie unwillkürlich in Alliterationen geſprochen hatte. Sie pries ihr die Ehe als das netteſte, was man ſich denken könne, Bäbys aber ſeien die Krone der Schöpfung. Erwachſene, und wenn ſie die intereſſanteſten Profeſſoren der Welt wären, kämen daneben gar nicht in Betracht. Ein bischen Geld freilich wäre dabei recht zweckmäßig, und das hätte ja Werner. Jeder Nerv in Marie empörte ſich gegen die Heil⸗ mittel der Schweſter; in trübem Trotz ſchloß ſie ſich völlig von der Familie, auch von der Mutter ab. Eines Tages, als Marie, beſonders herbe geftimmt, die Schweſter energiſcher als ſonſt abwehrte, verlor Martha die Geduld und fuhr gereizt auf: „Daß Du es nur weißt, Dein Bürgen hat ſich vor einigen Tagen mit Grete Berninger verlobt, ich ſage es Dir lieber gleich. Kaum geſprochen, hätte ſie die Worte gern zurück⸗ genommen. Maries Augen öffneten ſich unnatürlich weit, ſie taſtete mit den Händen in der Luft umher, als ſuche 26 H. Dohm, Frau Tannhäuſer. 401 ſie einen Stützpunkt. Martha umſchlang ſie und bat ſie, ihr zu verzeihen. Sie küßte und ſtreichelte ſie. Gleich darauf aber wurde ſie wieder heiter und meinte, daß ihr nun gar nichts übrig blieb, als Werner zu heirathen. Jedes Mädchen an ihrer Stelle würde es thun, man müſſe doch dem Mitgiftjäger zeigen, daß man ſich nicht ſo viel aus ihm mache. Marie machte ſich von der Schweſter los. Sie bewegte die Lippen — wortlos. Erſt allmählig verſtand Martha, daß ſie ihr für die Mittheilung danken wollte, und ihr wäre nun beſſer, viel beſſer. Ihr Mund lächelte, die Augen aber blickten mit hartem, ſtählernen Glanz weit von ſich fort. Martha war froh, daß Alles ſo glücklich vorüberge⸗ gangen war. Sie theilte der Mutter mit, daß Marie die Nachricht mit Faſſung aufgenommen und veranlaßte ſie, an Werner zu ſchreiben, um ihn nach Heringsdorf einzuladen. Die Geheimräthin that es zögernd. Sie wunderte ſich, daß er nicht von ſelbſt gekommen war. Mit Marie ging offenbar eine Wandlung vor. Sie zeigte ſich lebhafter als früher, ſie nahm Theil an den Ge⸗ ſprächen der Ihrigen, aus ihren Augen leuchtete ein fieber⸗ hafter Glanz. Sie neigte auch den Kopf nicht mehr zur Seite, ſondern ging ſteif und gerade ihres Wegs, die Blicke in's Leere gerichtet. Mutter und Schweſter hielten ihr verändertes Weſen für den Anfang der Geneſung. Sie ſelbſt fühlte, es war etwas anders in ihr geworden, nur fand ſie keine rechte Erklärung dafür. Das eine aber wußte ſie ganz gewiß, ſie liebte ihn nicht mehr. 402 Sein Bild entſchwand aus ihren Träumen. Wäre er jetzt an ihr vorübergegangen, ſie wäre zur Seite gewichen aber nur wie man einem giftigen Inſekt ausweicht. Warum aber war ihr ſo ſeltſam? Sie dachte an ſich, wie an etwas Fernes oder Vergangenes, von dem ſie ge⸗ trennt war. Sie verlor faſt das Bewußtſein ihrer In⸗ dividualität. Ich — ich — wer war das — ich? Sie mußte ſich förmlich auf ſich beſinnen. Es war ſo eine große, große Leere in ihrer Seele. Das Märchen von Undine fiel ihr ein. Ja, das war's — ſie hatte keine Seele mehr — nur einen Körper. Sie begleitete Mutter und Schweſter jetzt täglich auf die Strandpromenade, ſie ſaß bei Konzerten oder Reunions mitten unter der geputzten Menge, ohne ein Gefühl der Be⸗ unruhigung, völlig gleichgiltig. Sie ſah den Leuten ſtarr ins Geſicht und wußte kaum davon. Ob ein Vogel zirpte, oder ein Menſch lachte, es war daſſelbe; es ging ſie Alles nichts an. Und doch erregte ſie gerade jetzt die allgemeine Aufmerkſamkeit. Mit den unnatürlich großen, glänzenden Augen, die verloren ins Weite blickten, mit den halbgeöffneten, farbloſen Lippen und der geiſterhaften Bläſſe ſah ſie wie eins der ſchmerzlichen Traumgeſichter von Gabriel Max aus. Und jetzt, nicht nur Nachts, im Halbſchlaf und Traum, auch erwachend, im Sonnenlicht, hörte ſie das melodiſche Klingen, hörte es wie ein Läuten vom Firmament, das ſie rief mit ſtarker, ſüßer Lockung. Es war in der Mondſcheinwoche des Auguſt. Man fand es natürlich, daß Marie ſich ſchon um neun Uhr in ihr Zimmer zurückzog. Sie bedurfte der Ruhe und ſollte ſich pflegen. Marie aber, wenn die Beiden plaudernd im 26* 403 Salon ſaßen, wanderte noch in den Mondſchein hinaus, hinunter zum Strand; er war nur wenige Minuten von der Wohnung entfernt. Auf dem Steg in Heringsdorf, ein Brettergerüſt, das ins Meer hinausgebaut iſt, verſammeln ſich Abends die Kurgäſte. Im Mondſchein erſchien der Steg wie das Skelett eines Schiffes, auf dem ſpukhaft die dunkele Menſchenmaſſe durcheinander haſtete. Marie eilte am Steg vorbei, weiter am Strand ent⸗ lang, bis es einſam um ſie her wurde. Da warf ſie ſich in den Sand und blickte hinaus in das Meer Die Boote auf dem Waſſer, die ſich ſcharf und ſchwarz von dem ge⸗ heimnißvoll leuchtenden Hintergrund abhoben, glitten lautlos dahin, wie Geiſterſchiffe. Der breite Strand ſchimmerte bleich. Alles war ſo unwirklich, ſo traumhaft, ſo groß und ſtill und ewig, und ſo fern, fern von Allem, was an Menſchliches erinnert — Staffage für eine Geiſterwelt. „Warum ſoll es keine Geiſter geben?“ dachte Marie, „es iſt noch nicht ausgemacht. Und das überſinnliche Tönen ſchmeichelte ſich an ſie heran. Zitterte es aus den Sternen, die ſie in der Tiefe des Meeres ſah? Klang es aus den Mondſtrahlen? War es die geheimnißvolle Sprache, die nur der verſtand, der an der Schwelle des Geiſterreichs ſtand? Ein Schauer durchbebte ſie und ein tiefes Sehnen, eins zu ſein mit dieſer reinen, leuchtenden Unermeßlichkeit, unter Milliarden Atomen auch ein Atom. Sie hatte nie ein philoſophiſches Buch geleſen, nie über ine abſtrakte Frage nachgedacht. Und nun lag ſie in 404 der Sommernacht unter dem Mondſchein und ſann über die Räthſel des Menſchenweſens. Ein Tropfen aus der ſalzigen Fluth fiel auf ihr Geſicht und trocknete da. „Ich bin auch ſo ein Tropfen, dachte ſie, „den ein ungünſtiger Wind aus ſeinem Element getrieben, und darum bin ich vertrocknet.“ Und wie ſie den feinen, weißen Sand durch ihre Finger gleiten ließ, dachte ſie wieder: „Das Sandkorn hat es beſſer, als ich: daß es iſt, macht ihm keine Pein, und es hat auch einen Zweck: der Strand braucht alle ſeine Sandkörner und das Waſſer alle ſeine Tropfen. Ich aber — wer braucht mich? Wenn ich nicht wäre — beſſer wär's, viel beſſer. Es iſt wahr, ich leide nicht ſehr, jetzt nicht; das kommt davon weil ich nicht lebe. Wollte ich leben — nein, ich will 7 nicht leben in dieſer ekelhaften Welt — ich will nicht! Sie war aufgeſprungen, blickte wirr um ſich, ihre Augen füllten ſich mit dem Silberglanz um ſie her, und lächelnd ſank ſie in den Sand zurück, und ſanft und träumeriſch fluthete ihre Seele mit den Wellen und dem Mondſchein hinaus — hinüber zu jener Stelle im Meer, wo Ströme von Silberlicht zitternd in langen Streifen über das Meer glitten. Wie eine Brücke, dachte ſie, wo Geiſter auf und nieder ſchweben. An einem Nachmittag fand ſie Mutter und Schweſter ſehr verſtimmt, die Mutter mit einem Brief in der Hand. „Werner kommt vorläufig nicht,“ rief ihr Martha entgegen. „Ruhmanns haben ihn auf ihr Gut geladen, er hält es für unhöflich, kaum angekommen wieder abzu⸗ reiſen. In einigen Wochen aber hofft er, ſich die Ehre geben zu können. Wer's glaubt! Mir ſcheint, Deine Frieda 405 mit ihrer blonden Koketterie und ihren waſſerblauen Augen angelt nach der guten Partie. Siehſt Du, Marie,“ ſetzte ſie verdrießlich hinzu, „den haſt Du Dir nun auch verſcherzt. Marie ging ſchweigend hinaus. Sie fühlte, daß es noch kälter, noch öder in ihr geworden war, und wunderte ſich darüber. Nach Allem, was geſchehen war, hatte ſie nie an die Möglichkeit gedacht, doch noch Werners Gattin zu werden. Ihr ſelber unbewußt aber hatte der Glaube an ſeine Liebe wie ein milder Stern über ihr geſchwebt. Und das war auch ein Wahn geweſen. Die Mutter liebte ſie nicht mehr, die Schweſter hatte ſie nie geliebt, der Freund entſchwand. Sie war nicht geſchaffen, um geliebt zu werden. Mein Gott, wozu dennk Das Gefühl ihrer abſoluten Ueberflüſſigkeit vertiefte ſich immer mehr in ihr. Am Abend des Tages ging ſie, wie an den vorher⸗ gehenden Tagen, hinaus in den Mondſchein. Sie war ſchon draußen, als ſie drinnen laut und zärtlich ihren Namen rufen hörte: „Marie! Marie!“ Es war die Stimme ihrer Mutter. Sie kehrte um und trat in's Zimmer. „Riefſt Du mich, Mutter? Nein, die Mutter hatte ſie nicht gerufen, ſie hatte nur mit dem Kind getändelt und der kleinen Marie hatte der Zuruf gegolten. Sie ſah ſich nicht einmal nach der großen Marie um. „Du liebſt die Kleine ſehr, nicht wahr, Mutter? „Ja, ſehr. Es iſt ein Engel. Wenn Du doch auch verſuchen wollteſt, das Kind zu lieben. Wer ein ſolches Kleinod am Herzen hält, der iſt gegen Kummer gefeit. 406 faſt böſe an, einen Moment nur — der Blick wurde In Maries Augen blitzte es auf. Sie ſah die Mutter weich, ſie that einen tiefen Athemzug und beugte ſich mit ſchwermüthigem Lächeln über die Wiege des Kindes. „Ich verſtehe es, Mutter.“ Mit zitternden Lippen küßte ſie das Kind. Dann küßte ſie auch die Mutter — ihre Lippen waren kalt — dann ging ſie hinaus. Die Mutter ſah ihr nach und dachte: Gott ſei Dank, die Geneſung ſchreitet vor; käme Werner nur, alles wäre gut. Marie ging an den Strand, weit über den Steg hinaus bis an den Schlohenſee, wo in athemloſer Ruhe das Meer und der Strand das Mondlicht tranken. Sie legte ſich in die Mondſtrahlen und ihre Blicke ſchweiften vom Firmament mit den funkelnden Sternen über das Meer und vom Meer über den ſchimmernden Sand. Der Strand iſt hier hügelig und die Hügel wellen ſich wie verſandete Meereswogen über weite Strecken, mit langen, zitternden Gräſern beſtanden. Wie war hier alles ſo weit, ſo licht, ſo groß, und unter den Menſchen alles ſo klein nnd eng und düſter! Schaudernd dachte ſie einen Augenblick daran, wie es wäre, wenn ſie nach Berlin zurückkehren müſſe, und ſie träfe Werner, der Frieda liebt, und Joachim mit Grete, und all die höhniſchen und mitleidigen Geſichter: nein — nein! Sie fühlte, ſie könne nie wieder in der Welt leben. Hier war ſie daheim — hier; nur daß ihre Seele an das geheimnißvolle Weben der leuchtenden Nacht nicht heran⸗ reichte. Höhere, reichere Sinne mußte es geben, ein anderes, lichteres Daſein. 407 Es kam aus der Luft, aus der Tiefe des Meeres, es waar Und das melodiſche Klingen wurde ſtark wie ein Chzormaal. in ihrem Innern. Sie wußte nun, woher es kam, wohiſin es wollte. Dahin — dahin wollte auch ſie. Ein Boot ſtand da, halb im Waſſer, von den Wielleen leiſe geſchaukelt. Sie hatte oft geſehen, wie die Schhifffefer es löſten. Sie that es ihnen nach. Sie ſetzte ſich in daas Boot und ſchwamm dahin in einem Ozean magiſchen Liichttss, hinaus ins Meer. Und je weiter das Boot trieb, je mehhr fühlte ſie ſich frei von aller irdiſchen Enge. Der Tod, fragte ſie ſich, was iſt er denn, wenm eer ſanft und freiwillig kommt? Die leichte Löſung einees düſtern Räthſels. Sie legte den Kopf auf den Rand des Schiffes umtid ſah zu den Sternen auf. Es fiel ihr ein, was ſie damalds geſagt hatte: „Ich möchte ſterben in einer Sommermachtt, mit den Sternen über mir, wenn Keiner mehr da iſt, deer mich liebt.“ Keiner war da. Sanft und geräuſchlos tauchte ſie in die Fluth hiinabb. Einen Augenblick noch lag ſie auf dem Waſſer und ſalh über ſich die Sterne und hörte auf die leiſe Muſik derr Wellen. Dann ſank ſie in den Grund. Das Meer begrub ein echtes Herz. Der Herr Profeſſor von Bürgen wußte nun, daßß Marie in ſeinem Leben eine wehmüthige Erinnerung ſeim würde. 408 Verlag von S. Schottlaender in Breslam Anſchuldig verurtheilt. Roman. won⸗ Paul Maharriere. Autoriſirte Ueberſetzung von Emil Neumann. 19 Bogen. Hochelegant broſchirt M. 4.50; fein geb. M. 5.50. Unähnlich der ſeichten Dutzendwaare moderner franzöſiſcher wie deutſcher Romanliteratur, welche von der Eriminaliſtik einige abgebrauchte Typen und ſchematiſche Phraſen borgt, iſt der Labarrioreſche Roman tief angelegt, durchaus lebenswahr und in allen ſeinen höchſt intereſſanten Bügen von der künſtleriſchen Nobleſſe des Erzählers getragen. Die durch das ganze Buch gehende, die wirkſamſte Action adelnde Seelenmaleren macht daſſelbe zugleich würdig, zur bevorzugteſten Lektüre des Familien⸗ tiſches zu gehören. Die rothe Paterne. Roman⸗ von. Emald Auguſt König. Imei Zünde. 8938 Bog. Hocheleg. broſch. M. 9. —;, fein geb. M. 11.— 48s giebt in der neueren Familienliteratur von der allbeliebten criminaliſtiſchen Färbung kaum ein Werk, das in der Wirkung obigen, der beſten Schaffensperiode Königs entſtammenden Roman erreichem könnte. In durchaus ſorgfältig gewählter Sprache wird darin eine den Neuzeit entnommene hochintereſſante Handlung bei großer Fülle an viel⸗ verketteten Geſchehniſſen ebenſo klar wie packend durchgeführt. Zu hesiehen aurch alle Buchhandlungen des In⸗ und Auslanges. Verlag von S. Schottlaender in Breslau. aus den Fluthen des Lebens. Movellen Auiſe Erneſti. von (III. v. Humbracht). Ein Bund 80. 19 Bogen. Cochelegant broſchirt An.4.—; fein gebunden Ah. 5.— Inhalt: Ein Gelübde. — Glänzende Berhältniſſe. Den Vniſe Erneſti gehört zu den wenigen noch lebenden Koryphäen der guten Winter im Rieſengebirge. alten novelliſtiſchen Schule, und das vorliegende neue Buch iſt eine Gabe, in welcher ſich ihre beſten Eigenſchaften: Herzenswärme, fromme Lebensauf⸗ faſſung und vornehme Ruhe der Darſtellung vereinigen und zeigt nament⸗ lich dieſe Sammlung wie vortheilhaft die Verfaſſerin ihr Erzählertalent zu verwerthen verſteht. Pſifſig und Genoſſen. Rovellen von. Karl Vogt. Ein Band 89. 17 Bogen. Hochelegant broſchirt Mk. 4.— ſein gebunden Mk. H. —. Inhalt: Geſchichte des jungen Dfiffig. . Alein Freund Fritz.—- Der Dfarrer von Doſitano.. Der lange Chriſtiam. Der berühmte Naturforſcher läßt auch in dieſen Novellen ſeine Eigenart nicht verkennen. Scharfe Beobachtung, feine Charakteriſtik und ein bis⸗ wrilen an's Sarkaſtiſche ſtreifender Humor zeichnen dieſe Lebensbilder aus. die dem Leſer das kleinſtaatliche Mittel⸗ und Süddeutſchland theils in der Zeit vor 1848, theils um und bald nach 1870 vor Augen führen. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In⸗ n. Auslandes. 2 N12<107857479010 G Heke Litt. W. 951