P1889,4195 Frauenbildung. Von Helene Lange. Berlin 1889. “7 L. Oehmigke's Verlag (R. Appelius) 55. Kommandantenſtraße 55. Frauenbildung. Von Helene Tange. Berlin 1889. E. Oehmigke ³ Detta h M. Appelius.) 55. Kommandantenſtraße 55. Nd 8904 Es gehört zu den Wahrzeichen unſerer Zeit, daß alle großen Tages⸗ und Monatsblätter für die Frauenfrage ihre Spalten offen haben, daß unzählige Broſchüren, ja dickleibige Bände ſich mit ihrer Löſung beſchäftigen. Mehr und mehr kommt ſie der⸗ ſelben in allen Kulturländern nahe, und in neueſter Zeit be⸗ gegnen wir häufig in fremden und einheimiſchen Blättern der Notiz, daß die Deutſchen das einzige und letzte große Kulturvolk ſeien, das ſeine Frauen unter dem Druck mittelalterlicher Feſſeln läßt, das ihnen ihres Geſchlechts wegen die Stätten höherer Bil⸗ dung, die Vorbedingungen jeder höheren Berufsthätigkeit und dieſe ſelbſt verſperrt, und damit die Löſung der Frauenfrage, die hier, wie überall, nur durch eine Mündigmachung der Frau zu er⸗ reichen iſt, unmöglich macht. Die Widerſinnigkeit dieſer Ver⸗ hältniſſe wird von Frau Kettler unleugbar richtig dargelegt: „Die heutige Erziehung der Frau erhält ſie wirtſchaftlich un⸗ mündig, begiebt ſich aber trotzdem der Verpflichtung, die Un⸗ mündige zu verſorgen. . . .. Ein Kind iſt unmündig — dafür wird es verſorgt. Die Frau wird unmündig erhalten — dafür ſoll ſie ſich ſelbſt verſorgen. Dem Kinde wird geſagt: „biſt du hungrig? hier haſt du Brot, iß!“ Der Frau wird geſagt: „biſt du hungrig? verſchaff dir ſelbſt Brot. Dort oben liegen eine Menge Brote, ſiehſt du dort oben, wenn du die erreichſt, darfſt du davon eſſen, ſo viel du willſt; du darfſt aber nicht jene Leiter benutzen, ſie dir herunterzuholen, die iſt für die Männer da. Vielleicht kommt aber eins der Brote zu dir herunter. 1* 4 Hab' nur Geduld, vielleicht kommt eins von ſelbſt herunter, nur Geduld!"*) Woran liegt es nun, daß die deutſchen Frauen nicht er⸗ reichen können, was bei allen anderen Kulturvölkern gelang? Liegt es an den Frauen ſelbſt? Oder an den Männern? Oder an nicht zu beſeitigenden äußeren Verhältniſſen? An der Be⸗ antwortung dieſer Frage liegt offenbar viel; ſie muß entſchei⸗ dend ſein für die von uns zu betretenden Wege. Das Studium der Entwickelung der Frauenfrage bei anderen Nationen giebt uns vielleicht eine Handhabe; das ſtammverwandte England erſcheint am geeignetſten zu ſolcher Betrachtung. Es wird ſich dabei darum handeln, feſtzuſtellen, worin das Typiſche der dort ſo glücklich durchgeführten Bewegung liegt; die Beſonderheiten in der dortigen Entwickelung, die ſich etwa auf nationale Eigen⸗ tümlichkeiten zurückführen ließen und die ihre Außerung in ſpezifiſch engliſchen Einrichtungen gefunden haben, können ſelbſt⸗ verſtändlich nicht Gegenſtand der Nachahmung ſein. Was aber die Engländerin bei dieſer Bewegung geleiſtet, tritt weit zurück hinter das, was die Frau geleiſtet, das Nationale zurück hinter das Internationale. Denn die Frauenfrage iſt eine inter⸗ nationale. Gemeinſame Kulturintereſſen verbinden die Frauen aller Länder, und es iſt ein ſchöner Zug in der noch ſo jungen Bewegung, daß ein neidloſer, von gegenſeitiger Hochachtung zeugender Austauſch der Intereſſen, eine gegenſeitige Anerken⸗ nung zwiſchen den Frauen der verſchiedenen Nationen beſteht, die nicht immer den Männern eigen iſt. Und darum lernen wir gern von einander. Ich will vorausſchicken, daß ich gewarnt worden bin, zu ſagen, was ich in den folgenden Blättern zu ſagen habe. Einmal heißt es: die Zeit ſei jetzt für Frauen ungünſtig; zweitens: man müſſe fürchten, eine Sache in Deutſchland zu diskreditieren, wenn man von ihr rühme, ſie habe ſich in England bewährt. Darauf antworte ich 1) daß ich nicht abſehe, wie die Zeit durch bloßes *) Frauenberuf, herausgegeben von Frau Kettler, Jahrg. II, Jan. 1888. Heft 1, S. 16. 5 Abwarten und Stillſchweigen für die Frauen günſtiger werden ſoll; 2) daß Tagesvorurteile der Menge und unſelbſtändiger Geiſter möglicherweiſe — wenn man überhaupt zugeben will, daß die Wahrheit je diplomatiſch behandelt werden müſſe — in Betracht kommen könnten, wenn ich es mit der Menge zu thun hätte; da aber die vorliegenden Blätter ſich an die Denkenden in der Nation richten, ſo ſind ſolche Erwägungen überflüſſig. Und darum auch ohne weitere Vorrede: Ueber die heutige engliſche Mädchen⸗ und Frauenbildung ſind in Deutſchland vielfach irrige Meinungen verbreitet. Wir haben in den letzten zwanzig Jahren dem Bildungsweſen frem⸗ der Völker vielleicht weniger Aufmerkſamkeit geſchenkt als es verdient, und über die damit vorgenommenen Reformen ſcheinen kaum die engſten Fachkreiſe einigermaßen unterrichtet. So hört man denn bei uns immer wieder die engliſche Mädchenbildung als eine überaus geringwertige bezeichnen. Das liegt an einigen leicht zu überſchauenden Umſtänden. Vor etwa zwanzig Jahren nämlich war auch das herbſte Urteil über die engliſche Mädchen⸗ bildung zutreffend; ſie konnte einfach nicht ſchlechter ſein. Wer um dieſe Zeit in England war, hat dies Urteil mitbringen müſſen, und man weiß, mit welcher Zähigkeit ein einmal ge⸗ ſprochenes Urteil in der öffentlichen Meinung haftet. Sodann fußt man auf Erfahrungen, die man hier und da in deutſchen Penſionaten mit jungen Engländerinnen gemacht hat und begründet darauf ein abſprechendes Urteil. Das iſt eine ſehr leichte Art der Beweisführung. Man kann bekanntlich ein Volk nur in ſeinem eigenen Lande, nie im Auslande, wo es durch die Sprache, die ungewohnten Verhältniſſe ic. ſtark benachteiligt wird, ſtudieren. In dem gegebenen Fall kommt zweierlei hinzu. Einmal, daß die Bildung der engliſchen Mädchen eine durchaus anders geartete iſt, als die der un⸗ ſeren, daß ſie alſo möglicherweiſe in alten Sprachen und Ma⸗ thematik hier garnicht zur Geltung kommende Kenntniſſe haben, während ſie in modernen Sprachen, Litteratur und Geſchichte hinter unſeren Anforderungen zurückbleiben; zweitens und haupt⸗ ſächlich, daß der weitaus größte Teil der in deutſchen Penſionen 6 erzogenen jungen Engländerinnen Kreiſen entſtammt, die ihre Kinder auf privatem Wege, durch Erzieherinnen ic. bilden laſſen; ein etwaiger Mangel an Kenntniſſen erlaubt alſo keinen Rück⸗ ſchluß auf die in den höheren engliſchen Mädchen⸗Bildungs⸗ anſtalten gegebene Bildung. Thatſache iſt jedenfalls, daß das Mädchenſchulweſen und die ganze Frauenbildung in England in den letzten zwanzig Jahren einen Umſchwung erfahren haben, wie er gründlicher nicht gedacht werden kann. Was uns dabei intereſſieren muß, iſt die Art, wie dieſer Umſchwung zu ſtande gekommen iſt. Die folgen⸗ den Kapitel ſollen verſuchen, darüber zu orientieren. I. Die erſten Spuren der Frauenbewegung in England ſind ſchon im vorigen Jahrhundert zu ſuchen. 1792 veröffentlichte Mary Wollſtonecraft ihr „ Vindication of the Rights of Womane; in unſerem Jahrhundert ſetzten Sydney Smith und vor allem John Stuart Mill ihre energiſchen Beſtrebungen, den von Anbeginn der Welt unterdrückten Frauen zu ihrem Recht zu verhelfen, mit den ſchärfſten Waffen des Geiſtes fort. Die politiſche Seite der Bewegung ſoll hier außer Acht gelaſſen werden; auf dem Gebiet der Erziehung begann der Verſuch, den Frauen den ihnen gebührenden Anteil an der höchſten Kultur ihrer Zeit zu verſchaffen und ſie zu befähigen, das Ihre zu ihrer Förderung und Verbreitung beizutragen, in den vierziger Jahren unſeres Jahrhunderts; die ſoziale Revolution zu derſelben Zeit, in der das kontinentale Europa durch die Stürme einer poli⸗ tiſchen Revolution heimgeſucht wurde. Man fing an einzu⸗ ſehen, daß die Kultur der Frauen die Kultur des Volkes be⸗ deutet. Einflußreiche Perſonen ſuchten daher den niedrigen Zu⸗ ſtand der Mädchenbildung zu heben, und in der ganz richtigen 7 Einſicht, daß, wenn die Schulen beſſer werden ſollten, zunächſt die Lehrerinnen beſſer ausgebildet werden müßten, ging man an die Gründung von Anſtalten, die erwachſenen Mädchen eine tüchtige Ausbildung geben ſollten. Die erſte dieſer Anſtalten, Queens College, wurde im Jahre 1848 mit beſonderer Rück⸗ ſicht auf die Ausbildung von Lehrerinnen und Erzieherinnen in London errichtet. Sie verdankt ihr Entſtehen beſonders einigen Profeſſoren von Kings College, unter ihnen dem Rev. C. G. Nicolay und dem Rev. F. D. Maurice. Da ſich die Vorbildung der Beſucherinnen des College häufig als ſehr ungenügend er⸗ wies, ſo wurden ſpäter Schulklaſſen angehängt. Die Kurſe des College ſelbſt konnten bald erweitert werden und umfaſſen heute Religion und Kirchengeſchichte, elementare und höhere Mathe⸗ matik, Latein, Griechiſch, neuere Sprachen, Geſchichte, Natur⸗ wiſſenſchaften, Logik, Ethik und Muſik. Queens College iſt als das älteſte der engliſchen Colleges immer von großem Intereſſe, doch giebt es nicht den Typus der jetzigen engliſchen Frauencolleges.“) Es hat den Charakter, den es bei ſeiner Gründung erhielt, bis auf den heutigen Tag treu bewahrt. Es iſt das einzige Frauencollege, das unter männ⸗ licher Leitung ſteht und befolgt in allerbeſter Abſicht doch ſeinen Schülerinnen gegenüber ein vorſichtiges Anpaſſungsſyſtem, das mit ſtrenger Wiſſenſchaft nicht vereinbar iſt. Da das aber mit voller Abſicht geſchieht und ganz offen ausgeſprochen wird, ſo iſt dagegen nicht das Geringſte einzuwenden;““) das College erfüllt vielmehr, ebenſo wie die Kurſe, die in Kings College in London *) Der Name College wird in weiterem Sinne in England vielfach auch für Schulen angewendet; im engeren bezeichnet er die Gebäude, in denen in den engliſchen Univerſitäten die Studenten gemeinſchaftlich leben. Da auch ein großer Teil ihrer Studienarbeit im College ſelbſt abgemacht wird, ſo iſt der Name auch auf ſolche Anſtalten übertragen worden, die eine höhere Ausbildung, beſonders eine Vorbereitung auf die Univerſitäts⸗Examina gewähren, auch wenn kein In⸗ ternat damit verbunden iſt. **) „The college does not undertake to provide the full instruction which may be required for the Degree Examinations of the University of London.“ Queens College Calendar 1888, pag. 35. 8 neuerdings für Frauen eingerichtet ſind, eine wichtige Aufgabe: es vermittelt gebildeten Laien eine nach jeder Richtung hin ſchätzenswerte Fortbildung und ähnelt darin unſerem Viktoria⸗ lyceum. Eine zweite Anſtalt folgte bald. Noch in demſelben Jahre (1848) wurde eine Miß Reid in London durch einen Brief über⸗ raſcht, der die Mitteilung enthielt, daß ein halbes Dutzend ehren⸗ werter Männer bei einem freundſchaftlichen Mahl den unbefrie⸗ digenden Zuſtand der Frauenbildung beſprochen und den Ent⸗ ſchluß gefaßt hätten, hier Abhilfe zu ſchaffen, da ſie es nicht für richtig halten könnten, daß die mancherlei wohlthätigen Stiftungen zur Erziehung der Jugend einſeitig nur für Knaben und junge Männer verwendet würden. Das halbe Dutzend ehrenwerter Männer und der ganze Brief waren, wie ſich bald herausſtellte, eine harmloſe Erfindung von Miß Reid, die auf dieſe Weiſe am leichteſten einen Plan einzuführen hoffte, der ihr ſehr am Herzen lag. Sie hatte ſchon bei der Gründung von Queens College eifrig mitgewirkt, da ſie ſelbſt den Mangel einer höheren geiſtigen Ausbildung ſehr leb⸗ haft empfunden hatte, und dachte nun in einem anderen Teile Londons ein zweites College zu gründen, das auch 1849, nach Überwindung großer Schwierigkeiten, als Bedford College eingeweiht wurde. Auch Bedford College exiſtiert noch heutigen Tages und kann auf eine reiche, geſegnete Arbeit zurückblicken. Viele tüchtige und hochgebildete Frauen, die ihr ſpäteres Leben ganz in den Dienſt ihres Geſchlechts geſtellt und der Frauenſache große Dienſte geleiſtet haben, empfingen hier ihre Vorbildung. Erſt ſo ziemlich nach dem Vorbild von Queens College eingerichtet, hat Bedford College ſpäter vielfach zeitgemäße Umwandlungen erfahren, iſt jetzt mit einem Internat verbunden und bereitet ſo⸗ wohl zum Eintritt in andere Colleges als auch direkt auf die Examina der Londoner Univerſität vor. Es tritt dann eine längere Pauſe in der Bewegung ein, und erſt in den ſechziger Jahren, als der elende Zuſtand der 9 Mädchenbildung die öffentliche Aufmerkſamkeit mehr und mehr auf ſich zog, wird ſie wieder aufgenommen. Es war klar, daß mehr, weit mehr für die Ausbildung erwachſener Frauen — daß nur Frauen die Leitung der Mädchenerziehung haben könnten, daran zu zweifeln, fiel niemand ein — geſchehen mußte, wenn es in den Schulen anders werden ſollte, und die Ausbildung der Erwachſenen ſtieß wiederum auf erhebliche Schwierigkeiten wegen der ſchlechten Vorbildung. So bewegte man ſich in einem Zirkel, aus dem man den Ausgang dadurch geſucht und auch glücklich gefunden hat, daß man zunächſt die Schulen durch Ein⸗ richtung einer Prüfung zu vermehrter Anſtrengung und Sorg⸗ falt zu zwingen ſuchte. Für Knaben hatten ſchon ſeit längerer Zeit die ſogenannten junior und senior examinations an den Univerſitäten beſtanden, Examina für das Alter unter 14, reſp. 16 Jahren, die dazu dienen ſollten, das Vorhandenſein des in dieſem Alter wünſchenswerten, allerdings ja nur beſcheidenen Maßes von Kenntniſſen feſtzuſtellen. Im Jahre 1862 wurde ein Komité gebildet, das die Zulaſſung zu dieſem Examen auch für Mädchen durchzuſetzen ſuchte. 1863 wurde auch ein Verſuchs⸗ examen abgehalten, das wenig glänzende Reſultate zeigte. Um ſo eifriger war man um Förderung der Sache bemüht, und es iſt beſonders den Anſtrengungen von Miß Emily Davies zu ver⸗ danken, daß 1865 die local examinations zunächſt in Cambridge und bald nachher auch in Oxford für Mädchen freigegeben wurden. Wie man auch über dieſe Examina, die möglicherweiſe bald zu entbehren ſein mögen, an und für ſich denken mag, es iſt kein Zweifel, daß ſie zunächſt für die Hebung der Mädchen⸗ ſchulen von großem Wert geweſen ſind. Sie zeigten vor allen Dingen, wie erbärmlich es im ganzen mit der Mädchenbildung beſtellt war und förderten damit die Erkenntnis, daß hier not⸗ wendig in weitem Umfange Abhilfe geſchaffen werden mußte. Mit einer Energie, aber auch mit einem Erfolg ohne Gleichen gingen nun die engliſchen Frauen ans Werk. In dem kurzen Zeitraum von 20 Jahren hat ſich, wie ſchon erwähnt, in England eine vollſtändige Umwälzung in der Frauenbildung vollzogen, die allerdings durch den Umſtand bedeutend erleichtert 10 wurde, daß das höhere Erziehungsweſen in England vollkommen freigegeben iſt: es entbehrt dadurch einerſeits allerdings der weſentlichen Förderung, die eine ihre Zeit und Aufgabe richtig erfaſſende Regierung geben kann, hat aber andererſeits in un⸗ günſtigem Falle auch nicht den ermattenden Kampf zu beſtehen, der tüchtige Kräfte nutzlos aufreibt. Mehr und mehr erkannten die Frauen in England, daß, wenn ſie die Bewegung zu Gunſten einer höheren Ausbildung des weiblichen Geſchlechts zu einem befriedigenden Ausgang führen wollten, ſie nicht mit Untergeordnetem zufrieden ſein dürften, ſondern nur mit dem Beſten, was das Land bot; daß ſie, um die Leitung und Erziehung ihres eigenen Geſchlechts in der Hand zu behalten, um in der Geſchichte und Entwick⸗ lung des Landes die wichtige Kulturaufgabe erfüllen zu können, die dem weiblichen Geſchlecht zugewieſen iſt, auch die Anſtren⸗ gungen nicht ſcheuen durften, denen ſich der Mann zur Erfül⸗ lung ſeiner Aufgabe unterzieht, daß ſie mit einem Wort ſich Univerſitätsbildung aneignen müßten. Es könnte die Frage nach der Richtigkeit dieſes Schluſſes aufgeworfen werden. Es iſt ohne Zweifel Männern und Frauen eine verſchiedene Aufgabe in der Welt zugewieſen; zahlreiche phyſiſche und pſychiſche Verſchiedenheiten deuten darauf hin und ſcheinen ſomit auch eine Verſchiedenheit der Vorbereitung zu bedingen. Andrerſeits heißt es wiederum: Es giebt nur eine Wiſſenſchaft. Gewiß. Aber in der herkömmlichen Art ihrer Ueberlieferung, in den Vorſtudien, im gauzen Univerſitätsweſen endlich iſt nach dem allgemeinen Urteil ſo vieles reformbedürftig, daß man faſt bedauern möchte, daß auch die Frauen die alten, ſo vielfach der Ausbeſſerung benötigten Wege gehen wollen, wo vielleicht kürzere, ihnen gemäßere Wege zu demſelben Ziele führen. Aber ſo wahrſcheinlich es iſt, daß ſie ſich mit der Zeit eigene, ihrer Natur gemäße Wege ſuchen werden, ſo unterliegt es doch keinem Zweifel, daß ſie einerſeits dazu augenblicklich noch garnicht im⸗ ſtande ſein würden, da ſie innerlich noch nicht frei genug dazu ſind, daß aber einſtweilen auch die Männer keine andere Bildung als gründlich und ausreichend anerkennen würden, als eine der 11 ihrigen völlig gleiche. Es iſt das eine Wahrheit, die wir viel⸗ fach in Deutſchland auch erkennen müſſen. So hat die Er⸗ fahrung z. B. keineswegs gelehrt, daß die bei uns übliche Vorbereitung auf das höhere Lehrfach gerade eine günſtige Vorbedingung für den Mädch enlehrer ſei, und doch wird ſie von den Lehrern ſelbſt für die einzig richtige gehalten, und jeder Vorſchlag, Lehrerinnen für Oberklaſſen eine tüchtige, für ihre Zwecke geeignete, aber von der bisher für Männer üblichen abweichende Vorbildung zu geben, ſtößt gerade bei den Lehrern, die es ernſt mit der Mädchenſchule meinen, auf den Einwand: das iſt keine Wiſſenſchaft. Wenn ich perſönlich dieſen Einwand für unberechtigt halte, wenn ich glaube, daß man, auch ohne in den Fehler der Halbbildung und der Anpaſſung an die ſo⸗ genannten weiblichen Fähigkeiten zu verfallen, doch unbedenklich einen anderen Bildungsweg als den jetzt üblichen einſchlagen, daß man z. B. den Umweg durch die alten Sprachen ſich zum großen Teil ſparen könnte, ſo verſtehe ich doch, daß, wie die Sachen liegen, die Frauen in England zunächſt das Prinzip aufſtellten, genau denſelben Studiengang zu verfolgen und die⸗ ſelben Examina abzulegen wie die Männer. Wie ſie ſich innerlich zu der Frage ſtellten, darauf werde ich ſpäter Gelegenheit haben zurückzukommen; es waren vorläufig Opportunitätsgründe, die ſie beſtimmten: ſie wollten die ihnen ſo oft beſtrittene Fähigkeit nachweiſen, zu leiſten, was die Männer leiſten, und ſich ſo Ver⸗ trauen in ihre geiſtigen Fähigkeiten erwerben. Die Univerſitäts⸗ kurſe und Examina waren bekannt und gangbare Münze; ein neuer, nach eigener Einſicht und eigenem Urteil eingerichteter Kurſus würde, auch wenn thatſächlich mehr geleiſtet wurde, keine Anerkennung gefunden haben. Dieſe Anſicht wurde mit be⸗ ſonderem Eifer von Miß Emily Davies vertreten, die ihr in einem 1866 erſchienenen Buch: the higher education of women beredten Ausdruck gab. Die Schäden der bisherigen Mädchen⸗ bildung, die Notwendigkeit einer Anderung, die dazu einzu⸗ ſchlagenden Wege finden hier eine ebenſo gründliche als ſtiliſtiſch gewandte Erörterung. Einiges daraus mag nur für engliſche 12 Zuſtände Bedeutung haben; das meiſte iſt auch für unſere deutſchen Verhältniſſe völlig zutreffend. Mit großem Ernſt weiſt E. Davies auf die Gefahr hin, die darin liegt, junge Mädchen gerade in dem Alter, das am aller⸗ wichtigſten für die Bildung des Charakters erſcheint, in dem Alter zwiſchen Schule und Heirat, völlig ohne ernſte geiſtige Beſchäfti⸗ gung zu laſſen, ſie höchſtens als Dilettanten allerlei Liebhabereien betreiben zu laſſen, oder geradezu das Vergnügen zu ihrem Lebens⸗ zweck zu machen. Was ſoll nun ſtatt deſſen geſchehen? Die Ant⸗ wort hängt offenbar von den Umſtänden ab. Handelt es ſich um Töchter der beſſeren Stände (ladies), ſo ſollten ſie eben sthe education of a ladye, das iſt die höchſte und feinſte Kultur ihrer Zeit erhalten. „Die Gewohnheit ſcharfen Denkens und die Feinheit des Geiſtes, die den ſtudierten Mann auszeichnet, ſollte man nicht weniger in der Erziehung der Frauen als in der der Männer zu erreichen ſuchen. Das würde richtig ſein, wenn es ſich auch nur um den Reiz handelte, den hohe geiſtige Ausbildung dem geſelligen Verkehr verleiht, einen Reiz, der auf keine andere Weiſe zu erreichen iſt. Aber davon ganz ab⸗ geſehen ſind die Pflichten der Frauen aus den höheren Stän⸗ den derart, daß ſie ſowohl die verſchiedenartigſten Kenntniſſe als einen wohldisziplinierten Geiſt und Charakter verlangen. Es kommen häufig ſchwierige Fälle ſittlich⸗ ſozialer Fragen vor, in denen Frauen handeln und die Handlungen anderer leiten müſſen. Wie wenig fähig ſie auch dazu ſein mögen, die Verantwortlichkeit für ihre Handlungsweiſe und ihre Entſchei⸗ dung liegt doch auf ihnen. Und obgleich die natürliche Klugheit und der glückliche Inſtinkt, von denen wir ſo viel hören, ihnen oft zu Hilfe kommen, ſo müſſen wir andrerſeits auch mit Vor⸗ urteilen und falſchen Impulſen als ſtörenden Elementen rechnen, die leicht gründlich irre führen. Der Wert, den ein durchgebil⸗ deter Geiſt, der imſtande iſt, verwickelte Deduktionen zu ent⸗ wirren und eine Menge ſtreitender Intereſſen nach ihrem Wert abzuſchätzen, für die Behandlung ſchwieriger ſozialer Fragen hat, ſollte, meinen wir, genügend ins Auge fallen. Es würde wohl ratſam (worth while) erſcheinen, den wunderbaren unbewußten Inſtinkt, durch welchen nach allgemeiner Vermutung Frauen auf richtige Schlüſſe verfallen, niemand weiß wie, gegen die bewußte Fähigkeit einzutauſchen, ruhig und mit Verſtändnis alle Thatſachen eines Falles ins Auge zu faſſen und danach ſeine Handlungsweiſe einzurichten, mit klarer Anſchauung des wahrſcheinlichen Ausganges. Natürlich wird eine rein gelehrte Erziehung dieſe Fähigkeit nicht geben. Kenntnis der Welt und der menſchlichen Natur, die nur durch Beobachtung und Er⸗ fahrung zu erlangen ſind, gehen weiter als bloßes Bücherwiſſen. Aber die Gewohnheit der Unparteilichkeit und der Ueberlegung, die Gewohnheit, ein weites Gedankenfeld zu überblicken und, ſo weit es das menſchliche Auge vermag, in das Innere der Dinge zu dringen — die ſogar auch durch echtes Bücherſtudium allein erworben werden kann — wirkt auf eine Geiſtesdispoſition hin, die der Betrachtung von verwickelten Fragen jeder Art günſtig iſt. Ein Vergleich zwiſchen dem Urteil eines wiſſenſchaftlich gebildeten und dem eines ungebildeten Mannes über Dinge, die feine Unterſcheidung und Gedankenſchärfe erfordern, zeigt den Grad, in welchem der Intellekt durch Ausbildung für ſolche Aufgaben fähig gemacht werden kann. Eine umfaſſende und weitherzige Geiſtesbildung iſt wahrſcheinlich auch das beſte Korrektiv der Neigung, die Dinge unter kleinlichen Geſichts⸗ punkten zu ſehen, und iſt darum beſonders für Frauen wün⸗ ſchenswert, die der „Geſellſchaft“ den Ton zu geben haben. Eben ſo wichtig oder wichtiger noch wird die gründliche geiſtige Durchbildung der „erſten“ Frauen eines Volkes, wenn es ſich um wichtige ſoziale Einrichtungen zum Wohl der ärmeren Klaſſen handelt, um Hoſpitäler, um geſundheitliche Reformen, um Erziehungsfragen. Auch hier erſcheint ein klarer, im Denken geübter Kopf eben ſo wichtig als ein warmes Herz. — Daß endlich ein gründliches Studium für diejenigen nötig iſt, die unterrichten wollen, liegt auf der Hand. „Die Mangelhaftigkeit der Ausbildung der Lehrerinnen und Erzieherinnen iſt ein Nach⸗ teil, den auch ein hohes Maß von Verſtand und gutem Willen ⁴) E. Davies, The Higher Education of Women. London 1866, pag. 73 fl. 13 14 ihrerſeits nie ganz ausgleichen kann. Es iſt offenbar, daß die erſte Notwendigkeit für diejenigen, welche Kenntniſſe mitteilen ſollen, iſt, ſolche zu beſitzen, und es iſt eine der größten Schwie⸗ rigkeiten für Lehrerinnen, daß von ihnen verlangt wird, andere zu unterrichten, während ſie ſelbſt ſehr ungenügend unterrichtet ſind. Die Ernſteren und Gewiſſenhafteren unter ihnen widmen ihre Mußeſtunden fortgeſetzten Studien, und es mag unzweifel⸗ haft viel auf dieſem Wege erreicht werden; aber nur durch Überarbeitung, oft auf Koſten der Geſundheit; der Nachteile des Alleinarbeitens, ohne Lehrer, oft ohne gute Bücher und ohne den geſunden Sporn der Kameradſchaft, garnicht zu ge⸗ denken.“*) E. Davies weiſt hierauf die zahlreichen Einwände, in denen die Männer ſo erfinderiſch ſind, wenn es ſich um Hebung der Frauenerziehung handelt, gebührend zurück, und verlangt dann mit völlig richtiger Einſicht in das Unbefriedigende und Dilettantiſche eines unbeaufſichtigten und zielloſen Lernens auch für Frauen eine dem engliſchen Univerſitätsexamen (degree- examination) gleichſtehende Prüfung. Von der Einſetzung eines ſolchen Examens erwartet ſie eine Hebung der ganzen Frauen⸗ bildung; die colleges und Schulen würden genötigt werden, darauf Rückſicht zu nehmen, und vor allem würde die Be⸗ ſchaffenheit der Lehrkräfte einer ſtrengeren Kontrolle unterworfen und dadurch allmählich gehoben werden. Sie ſchließt mit einem Hinweis darauf, daß viele der Unterſcheidungen zwiſchen „männ⸗ lichen und weiblichen Beſchäftigungen“, „männlichen und weib⸗ lichen Eigentümlichkeiten“, ganz willkürlich gemacht und dem gegenwärtigen Zuſtand der Dinge entnommen ſind; wie ſie auch ſchon im Laufe der Unterſuchung darauf hingewieſen hat, daß vieles von dem, was die Frauen jetzt verlangen, ihnen früher anſtandslos bewilligt worden iſt, ſo daß die jetzige Be⸗ wegung nur den alten Zuſtand wieder herſtellen will, während die Verteidiger des jetzigen Zuſtandes als Neuerer anzuſehen ſind. „Thatſachen zu ſchaffen,“ ſagt ſie, „und dann von ihnen *) a. a. O. S. 80 f. 15 auszugehen, als ob ſie das Reſultat eines unabänderlichen Ge⸗ ſchicks wären, iſt eine Methode, die nur ſo lange überzeugt, als das Vorurteil ihr zu Hilfe kommt. „Jeder nach ſeiner Fähig⸗ keit“, „jedem Arbeiter die Arbeit, zu der er geeignet iſt“, das ſind Sätze von unbezweifelter Gültigkeit. Aber wer kann für einen anderen, — mehr noch, wer kann für die Hälfte des menſchlichen Geſchlechts ſagen: dies oder das iſt das Maß deiner Fähigkeit; dieſe und keine andere die Arbeit, die du im⸗ ſtande biſt auszuführen. „Sache der Frau,“ ſagt man, „iſt, zu helfen“ ſoder, wie wir es ausdrücken würden: die Frau ſoll die Gehülfin des Mannes ſein). Gewiß iſt dem ſo. Und iſt es etwa Sache des Mannes, zu hindern? Die unbe⸗ ſtimmte Erklärung, daß Frauen helfende Engel ſein ſollen, iſt keine Antwort auf die praktiſchen Fragen: Wem ſollen ſie helfen und wie? Die leichte Löſung, daß ihre Natur ſie darauf hin⸗ weiſt, das zu thun, was die Männer nicht thun können oder nicht ſo gut thun können, iſt nie praktiſch durchgeführt worden, inſofern alles, was es in der Welt zu thun giebt, die Beſorgung kleiner Kinder allein ausgenommen, von Männern gethan wird, und es giebt nichts, was ein unterrichteter Mann nicht beſſer thun könnte, als eine ununterrichtete Frau."*) E. Davies berührt endlich noch die Frage: was ſoll werden, wenn Frauen die Berufe der Männer mit ergreifen und ihnen ſo Schaden zufügen; eine Frage, die kaum ſo dringlich erſcheint, als die Gegenpartei ſie hinzuſtellen liebt, da wohl, ſo lange die Welt ſteht, die größere Mehrzahl der Frauen in der Sorge um die Ihren, in der Erziehung der Kinder aus⸗ reichende und ſie voll befriedigende Beſchäftigung finden wird. Ein etwaiges Berufsleben wird bei ihnen höchſtens ein Zwiſchen⸗ ſtadium bilden, das aber in mehr als einer Beziehung heilſam wirken kann. „Wird nicht das Eindringen der Frauen in ſchon überfüllte Berufszweige und Gewerbe,“ heißt es a. a. O. S. 173 ff., „die Lohnſätze erniedrigen und ſo, indem es die Männer weniger fähig macht, ihre Familien zu erhalten, auf die Dauer mehr *) a. a. O. S. 171f. 16 ſchaden als nützen? Was die Art und den Grad betrifft, in welchem der Arbeitsmarkt durch die vorgeſchlagene andere Ord⸗ nung (readjustment) beeinflußt werden könnte, ſo iſt es ſchwer, irgend etwas mit Beſtimmtheit vorauszuſagen. Es iſt unmög⸗ lich, im Voraus zu beſtimmen, wie viel Frauen das, was (mit einer ſehr deutlichen petitio principii) Männerarbeit genannt wird, ergreifen werden, und einen wie großen Teil ihres Lebens ſie dem widmen würden. Wenn Frauen, die ſo wie ſo für ihren Lebensunterhalt arbeiten müſſen, es in einer bisher un⸗ gewöhnlichen Weiſe thun wollen, ſo liegt es auf der Hand, daß genau in dem Maße, in welchem ihr Eintritt in einen neuen Beruf hier die Lohnſätze erniedrigen würde, er andrerſeits auf eine Steigerung derſelben in einem anderen, den ſie ſonſt er⸗ griffen hätten, hinwirken müßte, und ſo wäre das Gleich⸗ gewicht wieder hergeſtellt. Wenn andrerſeits Frauen ſich nicht ſelbſt erhalten, ſo werden ſie von irgend jemand anders erhalten und verzehren entweder gegenwärtigen Erwerb oder angehäufte Erſparniſſe. Sie vom Gelderwerben zurückhalten hindert ſie nicht es auszugeben. Wir wollen den nicht eben wahrſchein⸗ lichen Fall vorausſetzen, daß die Einführung der Frauen in den ärztlichen Beruf den Durchſchnitts⸗Honorarſatz um ein Drittel ermäßigte, in welchem Falle das Einkommen eines gewöhnlichen Arztes in demſelben Verhältnis vermindert werden würde. Setzen wir nun gleichfalls den durchaus nicht unwahrſcheinlichen Fall voraus, daß die Frau oder die Schweſter oder die Tochter des Arztes in der Ausübung ihres Berufs eine Summe ver⸗ dienen würde, die den Drittel, das er verloren hat, gleichkommt. Augenſcheinlich würde dann der Arzt und ſeine Familie nicht beſſer und nicht ſchlimmer daran ſein als vorher. Das Publikum würde inzwiſchen um ſo viel reicher ſein, da es den ärztlichen Beiſtand um ein Drittel billiger erhält. Was auch immer die augenblickliche Wirkung der Zulaſſung von Frauen zu irgend einem Beruf ſein möge, eins iſt gewiß, es kann niemals im Intereſſe der Geſellſchaft liegen, rein vom ökonomiſchen Stand⸗ punkt aus, irgend eine Klaſſe ihrer Mitglieder im Müßiggang zu erhalten. Ein Mann, der einen ſeiner Arme in einer Schlinge 17 tragen würde, um dem andren größere Wirkſamkeit und Be⸗ deutung zu ſichern, würde für wahnſinnig gehalten werden. Das eine freie Glied würde vielleicht etwas Extra⸗Geſchicklichkeit ab⸗ normer Art bekommen, aber es iſt augenſcheinlich, daß, im ganzen genommen, der Mann verlieren würde. Mit dem politiſchen Körper ſteht es genau ebenſo. Vom ökonomiſchen Standpunkt aus iſt es durchaus richtig, daß jedermann arbeite. Die Schwierigkeiten, welche exiſtieren, ſind ſittlicher oder äſthetiſcher Natur und erfordern zu ihrer Löſung Betrachtungen ganz andrer Art als die, welche die verhältnismäßig leicht zu löſende ökono⸗ miſche Frage anregt." II. Miß Davies' Buch hatte nur in Worte gefaßt, was in den ſechziger Jahren viele Köpfe und Herzen bewegte, und die hier ausgeſprochenen Ideen tauchten unaufhörlich in der Diskuſſion der Tagesblätter wieder auf und fanden die entſchiedenſte Billigung und Unterſtützung bei einflußreichen Männern. Man beſchloß ſchließlich, einen Verſuch zu wagen, den Frauen die Univerſitätsſtudien zu erſchließen. Im Jahre 1869 wurde in Hitchin, einige Stunden von Cambridge entfernt, ein Haus ge⸗ mietet, und einige der erſten Univerſitätsprofeſſoren, die das größte Intereſſe an dem Experiment zeigten, erklärten ſich bereit, trotz der damit verbundenen großen Opfer an Zeit und Be⸗ quemlichkeit, die Leitung der Studien zu übernehmen. Im Oktober 1869 fanden ſich ſechs Frauen in Hitchin zuſammen, um das neue und kühne Unternehmen zu beginnen. Sie waren nur mit den Elementen der alten Sprachen und der Mathematik bekannt, und die beſcheidenen Anforderungen des zſittle gos“ *) Die engliſchen Univerſitäts⸗Examina zerfallen in vorläufige (in Cam⸗ bridge „previous“ oder im Studentenſlang „little-go“ genannt) und in Aus⸗ Lange, Frauenbildung. 2 erſchienen ihnen gewaltig hoch. Nach einem Jahre harter und angeſtrengter Arbeit unterwarfen ſich fünf von ihnen in Cam⸗ bridge dieſem Vor⸗Examen. Die Examinatoren hatten ſich bereit erklärt, ihre Arbeiten zu prüfen und darüber nach Maßgabe der Anforderungen der Univerſität ihr Urteil abzugeben. Das Re⸗ ſultat war günſtig, und von den ſomit zu weiteren Studien berechtigten Frauen wurde nunmehr das Studium des mathema⸗ tiſchen reſp. klaſſiſchen Tripos aufgenommen und nach mehreren Jahren weiterer angeſtrengter Arbeit ehrenvoll abſolviert. In⸗ zwiſchen war ganz in der Nähe von Cambridge, in Girton, ein Stück Land gekauft und der Bau eines eigenen College in An⸗ griff genommen worden. Die Gelder dazu waren teils durch Hypotheken⸗Anleihen, teils durch öffentliche Subſkription beſchafft worden. „Während der Zeit des Baues,“ ſchreibt eine der Girtonians, eine junge Amerikanerin, deren Bericht die hier ge⸗ gebenen Data entnommen ſind“), „machten Studenten und Pro⸗ feſſoren das College zum Lieblingsziel ihrer Nachmittagsſpazier⸗ gänge und legten manchen Stein als Zeichen ihres Wohlwollens. Im Jahre 1872 wurde das Inſtitut unter dem Namen Girton College eröffnet. Im Oktober 1873 wurde das neue Gebäude tritts⸗Examina, die wiederum in ein leichteres und ein bedeutend ſchwierigeres zerfallen. Das erſtere, das degree-Examen, das das Recht verleiht, den Titel eines bachelor of arts zu führen, iſt nicht übermäßig ſchwer, und in Deutſch⸗ land iſt man, in begreiflicher Unkenntnis engliſcher Verhältniſſe, geneigt, die Univerſitätsleiſtungen danach zu beurteilen. Aber von dieſem ordinary degree denkt der Engländer ſelbſt nicht hoch. Wer wirklich leiſtungsfähig iſt, legt das weit ſchwierigere Examen „with honours“ ab, in Cambridge „tripos“ genannt. Was die Studentinnen betrifft, ſo wird von der weit überwiegenden Mehrzahl nach dem obligatoriſchen „little-go“ das „tripos“ in Angriff genommen und faſt ausnahmslos beſtanden; für den ordinarv degree können ſie überhaupt augen⸗ blicklich nur in nicht offizieller Weiſe geprüft werden. Auf das engliſche Prü⸗ fungsweſen und die mancherlei Unzuträglichkeiten, die es hat, die allerdings auch durch manche Vorteile aufgewogen werden, näher einzugehen, liegt für mich keine Veranlaſſung vor. Es iſt nicht von Frauen, ſondern von Männern eingerichtet worden und ſteht mit der Frauenfrage nicht in der geringſten Verbindung. Die Frauen haben ſich ſelbſtverſtändlich den Einrichtungen zu fügen, die ſie vorfinden, und können für dieſe in keiner Weiſe verantwortlich gemacht werden. *) An Interior View of Girton College, Cambridge 1876. 18 15 bezogen, und ſeit der Zeit iſt das Intereſſe der Univerſität Cambridge an ihrem Pflegekind großmütiger als je geweſen. Der kleine Bericht erſchien im Jahre 1876, alſo kurz nach der Gründung des neuen College, zu einer Zeit, in welcher die Univerſität als ſolche die neue Einrichtung noch nicht förmlich ſanktioniert hatte, in welcher folglich alles von dem guten Willen der Profeſſoren abhing. Die Berichterſtatterin kann nicht genug die Aufopferung einzelner Mitglieder der Univerſität rühmen, die ſelbſt die ſonſt ſo ſorgfältig für eigene Studien oder die ſo notwendige Erholung bewahrten Nachmittagsſtunden bereitwillig hergaben, um in Girton zu lehren, das damals ſelbſtverſtänd⸗ lich noch keine dort wohnenden Lehrkräfte hatte, die ja nur weiblichen Geſchlechts ſein konnten. Bei der Schilderung des Lebens im College empfindet ſie die Schwierigkeit, „einen Begriff von dem geſunden Ton, der dort herrſcht, zu geben, ohne in der Phantaſie amerikaniſcher Leſer den falſchen Verdacht zu wecken, als ob ſie es mit dem „strong-minded type'⸗ (den Emanzipierten) zu thun hätten, der mit Recht ſo gehaßt wird. Vielleicht kann man am beſten einen Begriff davon geben, wie falſch eine ſolche Vorſtellung von den Girton⸗Students ſein würde, wenn man hervorhebt, daß ſie ſich ihres repräſentativen Charakters durchaus nicht bewußt ſind. Sie ſcheinen ſich durch⸗ aus nicht als Vorfechterinnen einer „Sache“ zu betrachten; es iſt kaum jemals unter ihnen von ihrer exponierten Stellung vor den Augen des Publikums die Rede. Es ſind treuherzige engliſche Mädchen und Frauen, die da arbeiten um der Arbeit willen, aus freiem Antriebe, freudigen Herzens und völlig frei von jenem ungeſunden Streben nach Anerkennung, das häufig bei geiſtig arbeitenden Frauen ſo unangenehm hervortritt. Die Hälfte der Studentinnen etwa denkt Lehrerinnen zu werden, nicht Erzieherinnen, ſondern Lehrerinnen an Schulen und Vor⸗ ſteherinnen von ſolchen . . . . Die andere Hälfte der Stu⸗ dentinnen in Girton arbeitet ohne einen beſtimmten Beruf im Auge zu haben.“ Seit dem Erſcheinen dieſes Berichts ſind zwölf Jahre ver⸗ floſſen, und Girton College hat ein ſchnelles Wachstum erfahren. 2* 20 Das beſcheidene Gebäude, das zunächſt zur Aufnahme von 19 Studentinnen beſtimmt war, hat ſich nach allen Seiten hin ausgedehnt und zeigt ſich jetzt als ein überaus ſtattlicher Bau, der in ſeinem Innern an 100 Studentinnen birgt. Ein ſolcher Erfolg war nur möglich durch das große und thätige Intereſſe, das von allen Seiten dem Unternehmen gezeigt wurde. Frauen von Einſicht und Bedeutung, wie Lady Stanley of Alderley, Lady Goldſmith, Lady Ponſonby, Miß Davies, Miß Shirreff, opferten ihm Zeit und Mittel; mehrere Legate deckten einen großen Teil der Baukoſten, und die Zukunft des College er⸗ ſcheint jetzt völlig geſichert. Schon haben nach dem Bericht von 1887 ſeit der Gründung des College 129 Girtonians ihr Examen with honours in Cambridge beſtanden, und zwar 44 in klaſſiſcher Philologie, 36 in Mathematik, 1 in Mathematik und Geſchichte, 22 in Naturwiſſenſchaften, 2 in Naturwiſſen⸗ ſchaften und Philoſophie, 14 in Philoſophie, 8 in Geſchichte, 1 in neueren Sprachen und 1 in Theologie; außerdem haben 29 Studentinnen das Examen für den gewöhnlichen degree eines Bachelor of Arts beſtanden. Ein überaus reges Leben, innerlich und äußerlich, füllt heute das weite Gebäude. Diejenigen, die einen gänzlichen geſundheitlichen Ruin von einer vermehrten geiſtigen Anſtrengung der Frauen vorausſagen, würden erſtaunt ſein, anſtatt der erwarteten blaſſen, hohlwangigen und überſtudierten Blauſtrümpfe friſche junge Mädchen mit lebhaften Farben und energiſchen Bewegungen zu ſehn. Die außerordentlich liberale körperliche Verpflegung des College trägt dazu ohne Zweifel das ihrige bei; außerdem iſt die Arbeit ſelbſt, da die geſtellten Anforde⸗ rungen ſich mehr an den Intellekt als an das Gedächtnis wenden, in hohem Grade anregend. Endlich aber iſt die be⸗ lebende Wirkung friſcher Luft, kalten Waſſers und tüchtiger körperlicher Bewegung, zu der die weiten Raſenflächen vor dem College, ein Turnſaal und die lieblichen Wieſen und Felder um Cambridge um die Wette einladen, einer der erſten Glaubens⸗ artikel in Girton. Zu Fuß, zu Pferde und zu Wagen werden alltäglich bei gutem und ſchlechtem Wetter Ausflüge unter⸗ 21 nommen, und an jedem ſchönen Nachmittage kann man die Bälle des lamn-tennis unter dem friſchen Lachen der Studen⸗ tinnen auf dem Raſen vor dem College hin und herfliegen ſehen. Die äußere Disciplin iſt auf wenige, in ſolcher großen Gemeinſchaft durchaus notwendige Regeln beſchränkt, die ſich auf das Ein⸗ und Ausgehen der Studentinnen, Beſuche und dergleichen erſtrecken. Im übrigen ſind die Girtonians völlig frei, und der Gebrauch, den ſie von ihrer Freiheit machen, zeigt, daß ſie derſelben wert ſind. Eine gewiſſe Tagesordnung hat ſich faſt von ſelbſt gebildet. Der Tag beginnt etwa um 7 Uhr. Um 8 Uhr wird in einem der Unterrichtszimmer eine Morgenandacht abgehalten. Zwiſchen 8 Uhr 15 Minuten und 9 Uhr bleibt das Frühſtück auf dem Tiſche. Der Morgen gehört dann dem Studium. Die Studentinnen hören zum Teil die in Cambridge ſtattfindenden Vorleſungen gemeinſchaftlich mit den Studenten, oder ſie arbeiten mit den im College ſelbſt wohnenden Lehrerinnen (lecturers). Einzelne Vor⸗ leſungen der von Cambridge herüberkommenden Profeſſoren finden auch nachmittags ſtatt. Jede einzelne Studentin findet die ſorgfältigſte Rückſichtnahme auf ihren Studienplan, und häufig wird je nach Bedürfnis für eine oder zwei Hörerinnen eine eigene Vorleſung eingerichtet. Im ganzen erfahren die Vorleſungen, reſp. Unterrichtsſtunden, eine ſehr geſunde Be⸗ ſchränkung, die ſicher auch nicht wenig zu dem vorzüglichen Geſundheitszuſtand in den engliſchen Colleges beiträgt. Statt der 3—5 täglichen Unterrichtsſtunden, in denen in unſeren Seminaren, die ja allerdings durch das hier betriebene Vielerlei in einer üblen Lage ſind, zugeſchnittener Lernſtoff gegeben wird, werden eine bis zwei tägliche Unterrichtsſtunden für völlig ausreichend erachtet, um die nötige Einführung und Nachhilfe für das Privatſtudium zu geben, auf das das allergrößte Ge⸗ wicht gelegt wird. Dank der Großmut hochherziger Frauen und Männer wird mehr und mehr alles beſchafft, was dasſelbe unterſtützen kann; ein eigenes Laboratorium, ein ſtattlicher Bibliothekſaal, der ſich mit Hülfe von Vermächtniſſen ſchnell füllt, ein Leſezimmer und nicht zum wenigſten die behaglichen 22 Privatzimmer der Studentinnen laden geradezu dazu ein. Jede hat ihrer zwei, ein Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer, und faſt eine jede verſteht mit Hilfe von Büchern, Blumen, Bildern, Teppichen ſie thatſächlich zu einem kleinen Heim zu geſtalten. Hier wird, wenn nicht Vorleſungen ſind, den Morgen über ſtudiert. Das zweite Frühſtück (luncheon), das zwiſchen 12 und 3 eingenommen werden kann, bringt eine Unterbrechung, und die Arbeit wird nicht eher wieder aufgenommen, als bis eine tüchtige Bewegung in freier Luft dem Geiſt neue Elaſtizität gegeben hat. Dem Mittageſſen, das um 6 Uhr ſtattfindet und mächtige Braten und Mehlſpeiſen bringt, folgt häufig etwas Muſik, auch wohl ein Tanz. Nach demſelben wird je nach Be⸗ dürfnis wieder gearbeitet; das Erſcheinen des Thees, Kaffees oder Cacaos, der auf zierlichen Brettchen jeder Einzelnen ins Zimmer gebracht wird, ſorgt aber für eine Unterbrechung; häufig erfolgt auch eine Einladung zu einem Theeabend in einem der Privatzimmer, der die Stelle der ſtudentiſchen Com⸗ merſe vertritt und gewiß weniger Kopfſchmerzen hinterläßt als dieſe. Manche liegen dann um ½11 Uhr im Bett; bei andren brennt die Lampe noch um Mitternacht. Im ganzen herrſcht auch in Bezug auf die Arbeit ein geſunder Ton, fern von Über⸗ treibung, wenn auch vielleicht eifriger gearbeitet werden mag als bei einzelnen männlichen Kollegen; ſteht doch viel Zeit und Kraft zur Verfügung, die ſo mancherlei ſtudentiſche Zeitvertreibe ſonſt fortnehmen, und das iſt wohl ein Glück, da die zartere phyſiſche Konſtitution der Frau dieſer doppelten Anſtrengung wohl ſchwerlich gewachſen wäre. Die Anſtalt ſteht jetzt unter der tüchtigen und ſachkundigen Leitung von Miß Welſh, die zu den erſten gehörte, die von Hitchin aus mit ſeltenem Mut das kühne Unternehmen in An⸗ griff nahmen. Eine Vice⸗Miſtreß, Miß Ward, und einige im College ſelbſt wohnende Lecturers ſtehen ihr zur Seite. Zu dieſen weiß man die beſten Kräfte zu gewinnen. So iſt die Philoſophie durch Miß Conſtance Jones vertreten, die ſ. Z. ein Examen erſter Klaſſe darin ablegte, und die ſich um die Einführung Lotzes in England ein großes Verdienſt erworben 23 hat durch eine Überſetzung ſeines Mikrokosmos von ſeltener Vorzüglichkeit. So hatte man für classics (alte Sprachen und Geſchichte) Miß Ramſay gewonnen, die im vergangenen Jahre großes Aufſehen dadurch erregte, daß ſie im klaſſiſchen tripos die höchſten honours errang, d. h. auch ihre männlichen Mit⸗ bewerber ſchlug. Sie iſt der deutſchen Frauenwelt kürzlich durch einen Aufſatz von Marie von Bunſen bekannt geworden“). Die Times vom 20. Juni 1887 ſchreibt in einem Leitartikel über ſie folgendes: „In der That eine erſtaunliche Leiſtung! Miß Ramſay ſtand den philologiſch durchgebildetſten jungen Leuten unſerer beſten öffentlichen Schulen gegenüber, und ſie hat ihre Nebenbuhler auf deren eigenem Gebiet geſchlagen. Ja ſie hat ſich ihnen allen um den Unterſchied einer ganzen Ab⸗ teilung überlegen gezeigt, iſt nicht nur die erſte einer Klaſſe, zu der mehrere andere Kandidaten zugelaſſen werden, — nein, ſie befindet ſich in der ganzen erſten Abteilung allein. Zu einer gleich hohen Auszeichnung iſt noch niemals ein männlicher Student gelangt, in keinem der früheren Jahre war der Unter⸗ ſchied zwiſchen dem erſten und zweiten Sieger auf dem klaſſi⸗ ſchen Felde ſo ſcharf markiert. Miß Ramſay hat erreicht was überhaupt noch kein „senior classic' vor ihr erreicht hat.“ Miß Ramſay war damals 20 Jahre alt, d. h. um mehrere Jahre jünger als ihre Mitbewerber, hatte aber ſelbſtverſtändlich völlig die gleichen Anſprüche wie ihre männlichen Kollegen zu befrie⸗ digen. Sie hat ſich im Auguſt dieſes Jahres mit dem Maſter von Trinity⸗College in Cambridge verheiratet und wird ſomit leider dem College verloren gehen. Es iſt eine intereſſante Thatſache, daß die Studentinnen von Girton und Newnham nach Beendigung ihrer Studien recht oft heiraten und zwar Männer von hervorragender Bedeutung. Es ſcheint jenſeits des Kanals nicht ganz die Auffaſſung zu herrſchen, daß die Frau in der Hauptſache erſt in der Ehe zu lernen habe, und zwar „was und ſoviel der geliebte Mann durch ſeine Liebe als ihn erfreuend haben will.“ (Paul de Lagarde). Vielleicht hat *) Die Frau im gemeinnützigen Leben. 1888, 1. Heft, S. 69 ff. 24 man nicht ſo ganz Unrecht mit der Anſchauung, daß Mann und Kinder bei einer gründlich durchgebildeten Frau und Mutter in ihrem inneren und äußeren Leben nicht ſchlecht fahren werden. Kurze Zeit nachdem in Hitchin der erſte Verſuch auf der neuen Bahn unternommen war und ehe noch Girton College ſtand, hatte man in Cambridge ſelbſt die Begründung eines zweiten College in Angriff genommen, das heute unter dem Namen Newnham⸗College in freundſchaftlichem Wetteifer mit Girton auch über 100 Studentinnen ein behagliches Heim gewährt. Es verdankt ſein Entſtehen und ſein ſchnelles Wachs⸗ tum vor allem den uneigennützigen Beſtrebungen eines der aus⸗ gezeichnetſten Profeſſoren von Cambridge, des Profeſſors Henry Sidgwick, ſeiner Frau, einer Nichte des Marquis of Salis⸗ bury (des gegenwärtigen Premierminiſters von England) und der jetzigen Vorſteherin des College, Miß Anne Clough. „Dieſer Name“, ſo ſchreibt eine der Newnham⸗Students, „als der einer, die noch unter uns weilt, braucht hier nicht geprieſen zu werden; er muß für alle Newnham⸗Students gleichbedeutend ſein mit einem Mut und einer Entſchloſſenheit, einer Liebe und einer Selbſtverleugnung, auf welche in ſpäteren Zeiten die Worte angewendet werden können: oö zdo „ rofoc idon dpéoac ovde idcuct“). Auch dieſes College fand die reichlichſte Unterſtützung, moraliſch und praktiſch, und iſt im fröhlichen Aufblühen begriffen. Es hat mehrfach ſein Domicil gewechſelt, bis es eigene Gebäude errichten konnte; das erſte derſelben wurde 1875, das zweite 1880 eröffnet. Das ſtets wachſende Bedürfnis führte dann zur Errichtung eines dritten Gebäudes, das in Anweſenheit des Prinzen und der Prinzeſſin von Wales im Juni dſs. Jahres eröffnet worden iſt. Die drei Gebäude führen heute die Namen the old Hall, Sidgwick-Hall (unter der Leitung von Miß Gladſtone, der Tochter des früheren Premierminiſters) und Clough-IIall. *) Ilias I, 262, nach Voß: Solcherlei Männer ja ſah ich noch nie und ſehe ſie ſchwerlich. 25 Das Leben verfließt hier ziemlich in derſelben Weiſe wie in Girton, und unter der mütterlichen Sorge von Miß Clough verleben die Studentinnen eine glückliche Zeit, glücklich im Streben und in zweckvoller Arbeit. Nach dem Bericht von 1887 haben ſeit 1871 139 Studentinnen ihr Examen with honours beſtanden und zwar 25 in klaſſiſcher Philologie, 29 in Mathematik, 33 in Naturwiſſenſchaften, 18 in Philoſophie, 29 in Geſchichte, 5 in neueren Sprachen. Außerdem hat eine ziem⸗ liche Anzahl von Frauen verſchiedene Studien nach freier Wahl betrieben ohne ein Examen abzulegen, da Newnham im Gegen⸗ ſatz zu Girton auch dazu Gelegenheit bietet. Die Colleges in Cambridge hatten freilich noch manche ſorgenvollen Tage zu beſtehen, ehe ſie ſich der allgemeinen An⸗ erkennung und der geſicherten Stellung erfreuen konnten, die ſie heute genießen. Zehn Jahre lang hatten die Studentinnen beider Colleges nur durch das freundliche Entgegenkommen der Profeſſoren, nicht auf ein ausdrücklich zugeſtandenes Recht hin, und in nicht officieller Weiſe geprüft werden können. Mit dem Wachſen beider Inſtitute, innerlich und äußerlich, trat natürlich auch das Unbequeme und Unzureichende einer ſolchen Einrich⸗ tung immer mehr hervor, und man mußte dringend wünſchen, ein förmliches Recht auf Zulaſſung zu den Univerſitätsprüfungen zu erhalten. In Cambridge ſelbſt war wenig Oppoſition zu fürchten; die vorzügliche Haltung und die tüchtigen Leiſtungen der Studentinnen hatten den größten Teil der Gegner ent⸗ waffnet, und man glaubte unter den im Orte ſelbſt wohnenden Mitgliedern der Univerſität einer Majorität ſicher ſein zu dürfen. Aber die Einrichtungen der engliſchen Univerſitäten ſind derart, daß unter gewiſſen Bedingungen früher dort Graduierte ſich eine Stimme in den Angelegenheiten der Univerſität bewahren, und dieſe, zum größten Teil sunenlightened country memberse, waren es, deren Vorurteile und Gegnerſchaft man fürchtete. Im Jahre 1881 wurde ein Antrag eingereicht, Frauen in aller Form die Zulaſſung zu den Tripos⸗Examina zu bewilligen. Am 24. Februar ſollte er dem Senat der Univerſität Cambridge vorgelegt werden. Er wurde von einer Anzahl der erſten Pro⸗ 26 feſſoren unterſtützt. „Der vierundzwanzigſte“, ſo heißt es in einem kleinen Bericht (Newnham College Commemoration day, Februarv 24th 1881) „kam endlich, und die Straßen von Cam⸗ bridge ſahen den ungewohnten Anblick zahlreicher veralteter Talare (gowns, die Tracht der Univerſitätsmitglieder in Eng⸗ land), die Jahre lang unbenutzt gelegen hatten, und deren Träger aus allen Teilen des Landes herbeigeeilt waren und jetzt dem Senathauſe zuſtrömten. Eine ungewöhnliche Menge von Stimm⸗ berechtigten war verſammelt. Draußen harrten berittene Boten von Newnham und Girton in atemloſer Erwartung, um ihren Colleges die erſte Nachricht zu bringen. Unſeren Freunden innerhalb des Gebäudes war der Ausgang bis zuletzt zweifel⸗ haft, während mit feierlichem splacete oder snon placete jeder Stimmberechtigte nach der Reihe ſeine Entſcheidung abgab. „Selbſt den Hoffnungsvollſten unter ihnen war der Ausgang eine große und freudige Ueberraſchung, denn unſere Sache hatte eine Majorität von 398 gegen 32 Stimmen. Und ſo war der Kampf gewonnen. „Wenig war an dem Tage in Newnham gearbeitet worden, und die Gruppen von Studentinnen in den Hallen nahmen den Überbringer der frohen Nachricht mit einer Begeiſterung auf, die keine von den Anweſenden vergeſſen wird. „Obwohl es wahr iſt, daß wir noch nicht alle Privilegien der Univerſitätsmitglieder genießen, — denn wir wohnen den Vorleſungen (der Univerſitätsprofeſſoren) nur aus Höflichkeit bei, wie wir früher aus Höflichkeit examiniert wurden — ſo giebt doch der bisherige Erfolg gute Hoffnung für die Zukunft, und nun mag Newnham mit ſeinen roten Ziegelſteinmaſſen im Lauf der Jahre altersgrau werden in dem ſtolzen Bewußtſein, daß es nicht länger ein Accidens, ein Fremdling, ein unberechtigter Schützling iſt, ſondern ein von der Univerſität Cambridge an⸗ erkanntes Inſtitut.“ „Dies iſt die Thatſache, welche den 24. Februar zu einem roten Tage in unſerm Kalender gemacht hat. Vielleicht iſt keine Thatſache beſſer geeignet zu illuſtrieren, 27 was die engliſchen Frauen nicht müde werden hervorzuheben: die neidloſe und ſelbſtloſe Unterſtützung vorurteilsfreier Männer. Ein letztes bleibt zu erreichen. Die Univerſität gewährt den Frauen viel, aber doch nicht alles. Sie erkennt ſie als berechtigte Bewerberinnen um Zeugniſſe an, nicht aber als berechtigte Mitglieder der Univerſität; d. h. ſie gewährt ihnen weder die Titel (degrees) eines Bachelor of Arts ic. noch die Benutzung der Bibliothek, der Laboratorien und Muſeen, ob⸗ wohl in letzterer Beziehung durch das freundliche Entgegen⸗ kommen der Profeſſoren mancherlei Zugeſtändniſſe gemacht wor⸗ den ſind. Daß die Univerſität die degrees, d. h. den Namen verweigert, während ſie die Sache gewährt, hat ſeinen Grund wohl hauptſächlich in dem oben erwähnten Umſtand, daß nach Erfüllung gewiſſer äußerer Verpflichtungen mit dem Titel einer engliſchen Univerſität eine Stimme in ihrer Verwaltung und unter Umſtänden auch pekuniäre Vorteile verbunden ſein können. Mit der Erteilung der Grade würde dies Recht auch für die Frauen zugeſtanden werden müſſen. Bei dem großen Wohl⸗ wollen, das den Frauen von der Univerſität gezeigt worden iſt“), erſcheint vielen dies letzte Zugeſtändnis nur als eine Frage der Zeit, um ſo mehr als die Univerſität London inzwiſchen in dieſer Beziehung mit gutem Beiſpiel vorangegangen iſt und jeden Unterſchied zwiſchen ſtudierenden. Männern und Frauen aufgehoben hat. Bei dem ganz abweichenden Charakter der Univerſität London, die nur Examinationsbehörde iſt, ſind frei⸗ lich mit der Erteilung der Grade hier weſentlich andere Konſe⸗ quenzen verbunden. Die nächſte Folge der Eröffnung der Frauencolleges in Cambridge war die Eröffnung zweier Colleges in Oxford: Lady Margaret⸗Hall und Sommerville⸗Hall, die im weſentlichen den⸗ ſelben Charakter haben wie die Cambridger. *) Wie entſchieden das auch von Seiten der Studenten geſchieht, zeigt der Umſtand, daß in dem griechiſchen Drama, deſſen Aufführung für Cambridge immer ein Ereignis iſt, im Jahre 1885 eine der Girtonians auf allgemeines Verlangen die Frauenrolle übernehmen mußte. Miß Caſe von Girton ſpielte im Dezember des genannten Jahres die Athene in den Eumeniden des Äſchylus. 28 Dann erfolgte im Jahre 1878 der oben erwähnte ſehr wichtige Schritt: die Univerſität London wurde mit allen ihren Graden den Frauen eröffnet. Verſchiedene Colleges ſind ſeitdem in London ſelbſt zur Vorbereitung auf die dortigen Univerſitäts⸗Examina begründet worden. Die Vorleſungen in Univerſity⸗College werden mit Ausnahme der rein mediciniſchen von Studenten und Studentinnen beſucht, die Bibliothek, die Laboratorien ic. gemeinſchaftlich benutzt, ohne daß ſich die ge⸗ ringſte Unzuträglichkeit herausgeſtellt hätte, da man einander mit der Höflichkeit der guten Geſellſchaft begegnet, wie denn überhaupt die ganze Stellung, die die Studenten in dieſer Frage eingenommen haben, einen hohen Grad von äußerer Erziehung verrät, der ohne bedeutende innere Kultur nicht denkbar iſt. Die Studentinnen haben in Univerſity⸗College ihre eigene Lady Superintendent, Miß Moriſon, an die ſie ſich in allen Fällen um Auskunft und Unterſtützung wenden können, ohne daß in irgendwelcher Beziehung ein Druck ausgeübt wird. Um ferner den Studierenden in London ähnliche Vorteile zu gewähren, wie ſie Cambridge und Oxford in ihren Internaten beſitzen, iſt in der Nähe von Univerſity⸗College ein Studentinnenheim, College⸗Hall, gegenwärtig unter der Leitung von Miß Grove, errichtet, in dem auch die Mehrzahl der Beſucherinnen der Lon⸗ doner school of medicine, von der weiter unten die Rede ſein wird, eine äußerſt behagliche Unterkunft findet. Kleinere Col⸗ leges, wie das gleichfalls mit einem Internat verbundene vor⸗ zügliche Weſtfield⸗College (Hlampstead) ſuchen dem ſteigenden Bedürfnis auch in anderen Stadtgegenden entgegen zu kommen. Unter den übrigen engliſchen Colleges (es giebt deren noch in Mancheſter, Bangor, Cardiff ic.) verdient eins beſondere Er⸗ wähnung, einſtweilen nur wegen der unglaublichen Großartig⸗ keit ſeiner Gebäude, da es zu jung iſt, um ſich andere Aus⸗ zeichnungen errungen zu haben; es iſt das erſt 1886 in Gegen⸗ wart der Königin von England eröffnete Royal Holloway College. In etwa 1½ Stunden von London aus zu erreichen, erhebt es ſich nahe Egham auf einem mäßigen Hügel inmitten einer der lieblichſten engliſchen Landſchaften. Die Gebäude ſind 29 wahrhaft fürſtlich. Die für ihre Errichtung und Ausſtat⸗ tung verwendeten Summen belaufen ſich auf 600 000 Lſtr. (12 000 000 Mark). Sie ſind im franzöſiſchen Renaiſſanceſtil gehalten und umſchließen zwei durch ein Quergebäude getrennte Höfe. Die Länge, reſp. Breite des ganzen Rechtecks beträgt 550 reſp. 376 Fuß; einen beſſeren Begriff von der koloſſalen Größe des College bekommt man vielleicht, wenn man hört, daß es etwa 1000 Zimmer und an 3000 Fenſter zählt. Es iſt auf die ſehr bequeme Unterbringung von ca. 250 Studentinnen und die entſprechende Anzahl von Lehrkräften und Dienerſchaft be⸗ rechnet, beſitzt ſeine eigene Kapelle, eine Gemäldegallerie im Wert von 90 000 Lſtr., weitläufige wirtſchaftliche Baulichkeiten, hat Dampfheizung, elektriſche Beleuchtung ic. Es ſteht unter der Leitung von Miß Biſhop. Der Stifter des College, Thomas Holloway, entſprach mit der Gründung desſelben einem Lieblingswunſch ſeiner Frau, wie er das in der Stiftungsurkunde ausdrücklich bemerkt. Das College iſt, wie erwähnt, noch viel zu jung, um irgendwelche Erfolge aufzuweiſen; es hat ſein erſtes Studienjahr hinter ſich und hat noch mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen. Aber in ſeiner großartigen Ausſtattung — es ſind vom Stifter noch große Summen als Fonds gegeben worden — iſt es wiederum ein redender Beweis von dem großen und weitherzigen Inter⸗ eſſe, das die Frauenbeſtrebungen in England erregt haben. III.. Nur in einem Fache war auch in England ein ernſtlicher Kampf gegen Vorurteile und — Brotneid zu kämpfen: in der Medizin. Wie ſehr in der Frauenfrage die Brotfrage mitſpielt, zeigte ſich bei der Abſtimmung um die Freigebung der Londoner Univerſitätsgrade für Frauen. Die größte Liberalität zeigten die Stimmberechtigten der als Arts und Science bezeichneten Fakultäten (die in England weit weniger als bei uns als Brot⸗ 30 ſtudium betrieben werden), den härteſten Widerſtand leiſteten die Mediziner. In Arts ſtellte ſich das pro und contra wie 80 zu 20, in Science wie 89 zu 11; in der Medizin hingegen wie 21 zu 79. Der Anfang mit dem mediziniſchen Studium wurde be⸗ kanntlich durch eine Engländerin in Amerika gemacht. Miß Elizabeth Blackwell richtete im Jahre 1844 an alle damals in Amerika exiſtierenden dreizehn mediziniſchen Fakultäten eine Eingabe, in welcher ſie die Zulaſſung zum mediziniſchen Studium nachſuchte. Zwölf verweigerten dieſelbe. Eine derſelben, Ge⸗ neva Medical College in New⸗Vork, zog den Antrag in Über⸗ legung und beſchloß die Entſcheidung den Studenten zu über⸗ laſſen. Eine Verſammlung derſelben entſchied nicht nur zu Gunſten der Antragſtellerin, ſondern verpflichtete ſich zugleich durch einen Beſchluß — ſich ſtets als gentlemen der Dame gegenüber zu zeigen, ſo daß ſie ihren Schritt niemals zu bereuen haben ſollte. Der Beſchluß iſt ausgeführt worden. Damit war in Amerika den Frauen das mediziniſche Studium eröffnet, wenn es auch noch manchen Kampf koſtete, ehe es genügend Boden gewann. Waren doch unter den mediziniſchen Fakultäten Amerikas auch ſolche, die von der „unerhörten Anmaßung ſprachen, „die die Antragſtellerin mit dem Wunſch und der Hoffnung erfüllt hat, in einen Beruf einzudringen, der dem edleren Geſchlecht vorbehalten und gewidmet iſt,“ oder die Behauptung aufſtellten, „daß es unpaſſend und unmoraliſch ſein würde, eine Frau in die Natur und Geſetze ihres Organismus eingeweiht zu ſehen.“ In England begann der Kampf um 1860. Miß Elizabeth Garrett (jetzt Mrs. Garrett⸗Anderſon) ergriff das mediziniſche Studium, und da man wohl den Fall für ein Unikum halten mochte, das ſchwerlich irgendwelche Folgen nach ſich ziehen würde, ſo geſtattete man ihr die nötigen Examina abzulegen, wenn man ihr auch in Bezug auf das Studium mancherlei Schwierigkeiten bereitete, und nach 5 jähriger Arbeit fand ſie ſich als förmlich zugelaſſener Arzt. Als einige Frauen ihrem Beiſpiel folgten, wurde die Oppoſition rege und führte beſonders in Edinburgh, wo Miß Jex Blake im Jahre 1869 als erſte Studentin der Medizin angenommen worden war, zu den häßlichſten Scenen, ſo daß ſie und die nach ihr zum Studium zugelaſſenen Frauen nach London überſiedelten, wo ſie mit Hilfe von Mrs. Garrett⸗ Anderſon und Miß Thorne ein eigenes College zu gründen ſuchten. Einer der eifrigſten Verfechter ihrer Sache war ein junger Arzt, Dr. Anſtie, eine der ſeltenen, großherzigen Naturen, die ihren Enthuſiasmus und ihre Energie mit Vorliebe in den Dienſt der Unterdrückten und in den Dienſt einer Idee ſtellen. „In ſeinem Blut,“ ſchreibt Robert Wilſon in einem kleinen Ar⸗ tikel Aesculapia victrix, dem einige der gegebenen Daten entnommen ſind, „war ein merkwürdiger Zug der Ritterlichkeit der guten alten Zeit, die ihn weit und breit als den Bayard ſeines Berufs bekannt gemacht hatte, den unverſöhnlichen Feind aller derer in Amt und Würden, die ihre Macht zur Unter⸗ drückung benutzten. Seine geſellſchaftlichen Eigenſchaften, ſeine wiſſenſchaftlichen und litterariſchen Fähigkeiten und ſeine Be⸗ deutung in ſeinem Beruf hatten ſeinem Einfluß ein Gewicht ver⸗ ſchafft, das ſelten einem Manne ſeines Alters zugeſtanden wird, ſo daß, wenn er irgend eine „Sache“ aufnahm — und er war niemals ohne eine ſolche — viele ſeiner Berufsgenoſſen ſtets bereit waren, ihm zu helfen; ſelbſt die, welche ſeinen Ideen als utopiſch entgegentraten, machten ihre Oppoſition gern ſo gelinde als möglich. Von dem Tage an, wo Dr. Anſtie überzeugt war, daß Miß Jex Blake und ihre Gefährtinnen das Opfer niedriger Verfolgung waren, war ihre Schlacht in London halb gewonnen. Das iſt deutlich aus den Namen der höchſt bedeutenden Männer der Wiſſenſchaft zu erſehen, welche er am 22. Auguſt 1874 zu einer Zuſammenkunft nach ſeinem Hauſe in Wimpole Street be⸗ rief, wo beſchloſſen wurde, eine unabhängige Hochſchule für Arztinnen in London zu eröffnen, zu deren Dirigenten einſtimmig Dr. Anſtie erwählt wurde. Vierundzwanzig bedeutende Mediziner bildeten den Vorſtand der neuen Hochſchule, die in Henrietta⸗ (heute Händel⸗) ſtreet im Jahre 1874 eröffnet wurde. Dr. Anſtie ſollte die Eröffnung leider nicht mehr erleben. Er ſtarb kurz vor derſelben als ein 31 32 Opfer ſeines Berufs an einer Blutvergiftung, die er ſich bei einer Sektion zugezogen hatte. Die neue Schule befand ſich bis 1883 unter der Leitung von Dr. Norton, von da ab unter der von Mrs. Garrett⸗Anderſon, M. D. Die junge Schule hatte noch mancherlei ſchwere Kämpfe zu beſtehen; immer aber fanden ſich großmütige und vorurteilsloſe Männer innerhalb der Profeſſion ſelbſt, die den tapferen Frauen in dem Kampf um ihre gute Sache beiſtanden, ihnen Zulaſſung zu Hoſpitälern und guten kliniſchen Unterricht verſchafften, und ſo waren in ca. drei Jahren alle Schwierigkeiten beſeitigt — der letzte und bedeutungsvollſte Schritt war die ſchon erwähnte Frei⸗ gebung der Vorleſungen an der Londoner Univerſität (wo die Hülfs wiſſenſchaften der Medizin gehört werden können, während die Medizin im engeren Sinne in getrennten Kurſen ſtudiert wird) und ihrer Grade. Auch die finanziellen Schwierigkeiten wurden teils durch die Großmut einzelner Freunde der Sache, teils durch öffentliche Subſkription beſeitigt. Wer heute die school of medicine in der Händelſtraße in London beſucht, ſieht den eifrig thätigen und in ihrer Thätigkeit glücklichen Studentinnen wohl an, daß die Zeiten der ſchweren Sorge für ſie vorüber ſind, und wer einer Preisverteilung oder ſonſt einer Feier beizuwohnen Gelegenheit hat, freut ſich des herzlichen Verkehrs zwiſchen den Studentinnen und den Leiterinnen der Anſtalt und des augenſcheinlichen Intereſſes, das Männer von hoher Bedeutung in ihrer Profeſſion an dem aufblühenden Inſtitut nehmen. Das Haus iſt bei ſolchen Gelegenheiten in feſtlichem Schmuck; das Sektionszimmer iſt ſorgfältig verſchloſſen, die verſchiedenen notwendigen, aber nicht eben ſehr äſthetiſchen Modelle und Spirituspräparate des Muſeums ſind dem Anblick entzogen, und auf den Raſen, die hier, wie überall, wo die Um⸗ ſtände es irgend geſtatten, innerhalb der College⸗Mauern an⸗ gelegt ſind, herrſcht fröhliches Leben. Das thörichte Vorurteil, das im Anfang auch in England den Frauen in der Medizin die Wege verſperrte, iſt, wenn auch einige hochſtehende Arzte es mit aller Energie zu halten ſuchen, mehr und mehr im Schwinden; „ob,“ ſagt Robert Wilſon in der vorhin erwähnten Schrift, 33 weil die meiſten derer, die es hatten, geſtorben ſind, oder weil ſie weiſer geworden, iſt ſchwer zu ſagen. Engliſche Frauen ſtudieren in London Medizin und Wundarzneikunde ohne das geringſte Hindernis in ihrem eigenen College, unter Profeſſoren von hoher Bedeutung . . . . Was „die Welt“ betrifft, die einſt erklärte, daß eine ſolche Ausdehnung der „Sphäre der Frau die Geſellſchaft mit einem Krach vernichten müſſe, ſo ſieht ſie unbewegt zu, den Krach ebenſowenig fürchtend als ein nach⸗ gemachtes Erdbeben in einem Senſationsſtück. Aber nicht nur die „Geſellſchaft“, auch die „Weiblichkeit“, die in den Scheingründen der Gegner dieſer Sache eine ſo be⸗ deutende Rolle ſpielt, läuft nach den bisherigen Erfahrungen nicht die geringſte Gefahr durch das Studium der Medizin. Ja, die Weiblichkeit einer großen Anzahl von Patientinnen wird geſchont. Nirgends zeigt ſich klarer als hier, welchen Unſinn das gedankenloſe Publikum, durch lange Gewohnheit verführt, zu glauben und zu verfechten imſtande iſt. Es gelten vielfach, beſonders im Verkehr der Geſchlechter, Dinge als unweiblich, die nicht das geringſte Bedenken haben; es ſind andrerſeits Dinge Brauch, die eben nur die Gewohnheit erträg⸗ lich macht. Dasſelbe junge Mädchen, das durch unſere ganzen geſellſchaftlichen Einrichtungen an die zarteſte Schonung ſelbſt ihres pſychiſchen Ich, ja an die entſchiedenſte Verweichlichung in dieſer Beziehung gewöhnt iſt, wird gezwungen, ihr phyſiſches Ich, auch in Fällen, die ſehr eingehende Unterſuchungen nötig machen, einem fremden Manne anzuvertrauen. Den Widerſpruch und die Unnatur, die darin liegen, werden erſt ſpätere Zeiten ganz verſtehen, die von „Weiblichkeit“ einen ganz andren Begriff haben werden, als die unſeren, Zeiten, die für weiblich halten, was aus der Tiefe der Liebe und Sympathie entſpringt, an der Gottlob unſer Geſchlecht reich iſt. Und die iſt es auch, die unſere tapferen Vorkämpferinnen in England zum Ausharren veranlaßt hat. „Weil wir glauben, daß der ärztliche Beruf Platz und Arbeit für die Frauen bietet und gerade den weib⸗ lichſten Gaben und Tugenden Raum zur Entfaltung geſtattet, was auch allmählich allgemein anerkannt werden wird, ſo wird Lange, Frauenbildung. 3 34 alljährlich eine neue Gruppe von Frauen, klein, aber vom tiefſten Ernſt beſeelt, als Studentinnen der Medizin einge⸗ ſchrieben. Es würde wahrſcheinlich für das Publikum eine Überraſchung ſein (wie es für die Schreiberin ſelbſt war), zu ſehen, wie außerordentlich gering der Raum iſt, den sstrong⸗ mindednesse (Emanzipation) im gewöhnlichen Sinne des Wortes in den Reihen der Frauen einnimmt, die ihren Lebensberuf in der Medizin ſuchen. Und die Thatſache, daß dieſe unliebens⸗ würdige Eigenſchaft eher durch Abweſenheit als durch Anweſen⸗ heit unter ihnen glänzt, dürfte, wenn ſie allgemein bekannt und gewürdigt würde, ſinnende Geiſter zum Nachdenken darüber bringen, wie weit der ſcheinbare Grund für dieſen Vorwurf auf die Stellung zurückzuführen ſein mag, in welche die Bahn⸗ brecherinnen der Bewegung durch willkürliche und unritterliche Oppoſition gebracht wurden. Es iſt nie ein wahreres Wort geſprochen. Wir werden dieſelbe Erfahrung in Deutſchland, wo die Oppoſition der Männer gegen eine höhere Ausbildung des weiblichen Geſchlechts in demſelben Maße erbitterter als die Brotfrage dringender iſt, ohne Frage in erhöhtem Grade machen müſſen. Es werden um dieſer Sachlage willen die Frauen ſich zu einem Kampf ent⸗ ſchließen müſſen, der durchaus nicht in ihrer Natur liegt, der aber um ihres eigenen Geſchlechts willen zur Gewiſſensſache wird, und der dann vielen Männern willkommene Gelegenheit geben wird, auf die „Unweiblichkeit“ der ganzen Bewegung hinzuweiſen. Und leider werden ſich immer Frauen finden, die ihnen darin zur Seite ſtehen. In England iſt jetzt die Partei derer, die den ärztlichen Beruf für unweiblich halten, im Schwinden begriffen. „Kein gebildeter und vorurteilsloſer Menſch glaubt heutzutage, daß ärztliche Praxis oder mediziniſche Studien durchaus eine Frau demoraliſieren müſſen. Der Dienſt der Kranken hat zu jeder Zeit einen eigentümlichen, aber, wie es ſcheint, ſehr natürlichen Reiz für Frauen gehabt, und es läuft einfach dem geſunden *) Women and Medicine. A prize Essay by Edith A. Huntley. 1886. 35 Menſchenverſtand zuwider, vorauszuſetzen, daß eine Frau durch ſolchen Dienſt ihrem Geſchlecht etwas vergebe, daß ſie ihn uur leiſten dürfe, wenn dazu keine gelehrte Bildung, keine Wiſſen⸗ ſchaft nötig iſt. Und doch wollen die ſonderbaren Leute, die „ihre Töchter lieber im Sarge ſehen möchten“ als in einem Krankenzimmer — es ſei denn als Nachfolgerinnen der uner⸗ müdlichen Miß Gamp (d. h. als Pflegerinnen), uns dergleichen glauben machen. . . . Sie haben ſich glücklich zu dem Ge⸗ danken überredet, daß die Anweſenheit einer Frau an einem Krankenbette ihren Charakter notwendig ſchädigen muß, wenn ſie nicht etwa zu unwiſſend iſt, um herauszufinden was dem Kranken fehlt. Aber ſie täuſchen niemand ſonſt. Wie Emerſon in ſeinen s English-Traitse ſagt, die meiſten Engländer ſind gottlos in ihrem Skepticismus einer Theorie gegenüber, aber ſie küſſen den Boden vor einer Thatſache. Was iſt nun die Thatſache in dieſem Falle, wie die meiſten aufgeklärten Männer ſie ſehen? Nun, daß elf Jahre lang in England Frauen Medizin ſtudiert und praktiziert haben, durch die öffentliche Meinung im hohen Grade unterſtützt, aber ohne daß ſie in der Geſellſchaft als Töchter, Frauen und Mütter im geringſten an Achtung verloren oder die kleinſte Spur von Entartung in Bezug auf edlere Eigenſchaften des Herzens und des Gemüts gezeigt hätten. Cadit questio. Die Mehrheit der Engländer denkt ohne Zweifel mit dem verſtorbenen Grote, daß eine Frau, die in ihrer Jugend wirkliche Liebe zum Lernen zeigt und echtes Streben nach einer unabhängigen Stellung, die ſie in den Stand ſetzt, ſich ſelbſt zu ernähren, wenigſtens eine ebenſo gute Chance als der Mann haben ſollte, ihre Gaben ſo weit wie möglich nutzbar zu machen. Was iſt nun thatſächlich bis jetzt in England in der Medizin erreicht worden, und welches ſind die äußeren Chancen für Frauen, die den ärztlichen Beruf ergreifen? Nach dem neueſten Bericht der Londoner School of Medicine for Women (1888) ſind bis jetzt 60 Frauen in das Regiſter der ſtaatlich *) Aesculapia victrix. S. 31f. 3* 36 anerkannten Arzte eingetragen. Ein Teil derſelben übt in Eng⸗ land, ein Teil im übrigen Europa, ein Teil in Indien, teils unter günſtigen Verhältniſſen den ärztlichen Beruf aus. Doch ſcheinen die Verhältniſſe durchaus noch nicht ſo zu liegen, daß der Beruf Gegenſtand eigenſüchtiger Speculation werden könnte. Und es iſt gut, daß dem ſo iſt, daß vorläufig noch echte Be⸗ geiſterung und der feſte Wille, für eine gute Sache Entbehrungen zu ertragen, durchaus nötig erſcheinen für Frauen, die den ärzt⸗ lichen Beruf erwählen wollen. Es iſt intereſſant, was Mrs. Garrett⸗Anderſon über dieſen Punkt ſagt: „Wir wiſſen ſehr wohl, daß das Bedürfnis nach weiblichen Arzten nicht in den vor⸗ nehmſten, ſondern in den gebildetſten Kreiſen und unter den Armen vorhanden iſt. Es wird kaum bei kleinen Ge⸗ werbetreibenden, noch in der Klaſſe der müßigen faſhionablen Frauen empfunden. Nun giebt es zwei Schichten der Geſell⸗ ſchaft, die den Arzten die meiſte Praxis gewähren: erſtens die Armen, die, vermutlich der beſtändigen Melancholie ihres Lebens wegen, ſich immer mehr oder weniger in ihrer Geſundheit er⸗ ſchüttert fühlen und die Arzeneinehmer par excellence ſind; zweitens die reichen und müßigen Frauen, die nur wenig Arzenei nehmen, aber gern viele Beſprechungen mit ihrem angenehmen, heiteren Arzt haben. Dieſe letzte Schicht kann im eigentlichen Sinne als goldbringend bezeichnet werden. Arme Frauen nehmen die Arzenei, und reiche Frauen bezahlen das Honorar. Aber es iſt ſchwerlich vorauszuſetzen, daß dieſer Klaſſe von Patientinnen jemals Ärztinnen ſo annehmbar ſein werden als Ärzte. Wenn man nun alle „feinen Damen“, alle Männer und faſt den ganzen Mittelſtand ausſchließt, ſo muß es eine ziemlich lange Zeit erfordern, eine Praxis zu erlangen. Es bleiben einem die Armen, die gebildeten Berufsklaſſen (professional class), und die höchſte Ariſtokratie. Auch hier ſind noch Schwierigkeiten. Leute, die ſich einer eben ihre Praxis beginnenden Arztin an⸗ vertrauen möchten, haben ſchon ihren Arzt, und ſie fühlen ganz richtig, daß es nicht recht iſt, ihn aufzugeben, wenn er ſie bis⸗ her zufriedengeſtellt hat. Auch empfinden ſie ganz natürlich Anfängerinnen gegenüber Mißtrauen. Dann iſt da die weitere 37 Schwierigkeit, die jeder junge Praktiker fühlt: ſich bekannt zu machen. Niemand hat Luſt einen völlig Fremden zu konſul⸗ tieren. Man muß ihn kennen oder von ihm gehört haben. Die oberflächlichſte Bekanntſchaft genügt oft, die Leute einen Mann oder eine Frau konſultieren zu laſſen, wahrſcheinlich, weil die meiſten Leute im tiefſten Herzen an ihre eigene Ge⸗ ſchicklichkeit als Charakterleſer glauben, und wenn ſie einen Arzt nur eben geſehen haben, ſo fühlen ſie, daß ſie in gewiſſem Grade wiſſen, ob ſie ihm trauen können oder nicht. Aus allen dieſen Urſachen iſt es meiner Meinung nach ſicher, daß eine Frau, wenn ſie auch noch ſo gut auf ihre Berufspflichten vor⸗ bereitet iſt, immer eine gewiſſe Zeit brauchen wird, ehe ſie es zu einer Praxis bringt. Aber ich habe keinen Zweifel, daß eine ſolche Frau es in einem mäßigen Zeitraum doch zu einer ſolchen bringen wird.“ Zu allen von Mrs. Anderſon erwähnten Schwierigkeiten kommt noch eine andere: daß den Arztinnen bis jetzt nämlich außerordentlich wenig Gelegenheit geboten wird, den Teil ihrer Ausbildung zu erlangen, der erſt nach Beendigung des eigent⸗ lichen Kurſus beginnt. „Wenn ein junger Mann ſeine Studien beendet und ſeine Examina beſtanden hat, ſo ſucht er gewöhn⸗ lich weitere Erfahrungen zu ſammeln, indem er einen Poſten in einem Hoſpital oder als Aſſiſtenzarzt annimmt, ehe er ſich als ſelbſtändiger Arzt niederläßt oder einen verantwortlichen öffentlichen Poſten antritt. Aber für die Arztin, die ihre Studien abgeſchloſſen hat, giebt es nur wenige und unbedeutende Möglichkeiten dieſer Art. Wenn ſie ihr Studium vollendet, ihre Examina beſtanden und ihr Diplom erworben hat, ſo iſt ſie ſofort eine ausgewachſene (kull-fledged) Arztin, und es iſt möglich, daß ſie ſofort auf irgend einen wichtigen Poſten geſtellt wird, wo ſie nicht etwa den Vergleich mit jungen, ihr that⸗ ſächlich gleichſtehenden Leuten, ſondern mit Männern von Er⸗ fahrung und profeſſioneller Bedeutung auszuhalten hat, und wo jeder Fehler, den ſie machen mag, als Probe für den Wert der Arztinnen im allgemeinen weitergetragen und beſprochen wird. Alles das muß man erwarten, aber es macht die Aus⸗ 38 übung des ärztlichen Berufs durch Frauen ganz beſonders ſchwer und verantwortlich. Frauen, welche die Arbeit über⸗ nommen haben, müſſen den tiefſten Ernſt fühlen und völlig entſchloſſen ſein, ſich nicht nur auf Examina vorzubereiten, ſon⸗ dern auf die ernſteſte Verantwortlichkeit, für die es keine ober⸗ flächliche Vorbereitung, keine Königswege und Abkürzungen (short cuts). giebt. Sie müſſen erwarten, noch ſehr lange und ſehr oft Prüfungen unterworfen zu werden, nachdem ihre letzte beſtanden iſt, Prüfungen durch kritiſche Augen und unfreund⸗ liche Ohren, und durch Vergrößerungs⸗ und Vervielfältigungs⸗ gläſer, die eifrigſt bei jedem Verſehen und Irrtum angewandt werden. Sie werden noch auf lange Zeit einen ſehr ungleichen Kampf haben, aber ihr Werk iſt des Ringens, ihre Schlacht — da doch eine Schlacht ſein muß — des Schlagens wert; und vielleicht wird eine künftige Generation mit Verwunderung auf den alten Streit über die „Arztinnenfrage“ blicken und faſt nicht glauben, daß ſie jemals zu einer Streitfrage gemacht worden iſt. Aber einſtweilen kann nur ehrliche, geduldige Arbeit, nicht die Polemik den Sieg erringen." Trotz aller hier berührten und anderer Schwierigkeiten iſt nun ein gut Teil Arbeit in England vollbracht worden. Schon giebt es Hoſpitäler für Frauen, die nur von Frauen geleitet werden. Verfaſſerin dieſes wird nie eine alte Arbeiterin in dem Londoner New Hoſpital for Women, das unter der Leitung von Mrs. Garrett⸗Anderſon ſteht, vergeſſen, die in smany a 'ors⸗ pitale geweſen, und die, eben von weiblicher Hand operiert, nicht genug rühmen konnte, daß die Frauen doch endlich jetzt anfin⸗ gen, an ihr eigenes Geſchlecht zu denken. Sie war unzweifel⸗ haft in den früheren Hoſpitälern auch auf das Gewiſſenhafteſte beſorgt worden; ihre beſondere Dankbarkeit erklärte ſich mir aus der trotz mangelhafter Lokalität (es wird jetzt der Bau eines neuen Hoſpitals in Angriff genommen) verhältnismäßig großen Behaglichkeit der ganzen Umgebung. Nirgends fehlten Blumen und Bilder; ſoweit es möglich iſt, war den Kranken der Ein⸗ druck eines eigenen Heims gegeben. Auch an dieſem Hoſpital nehmen Arzte erſten Ranges regen Anteil und ſind immer, 39 wenn die Ärztinnen es wünſchen, zu Konſultationen mit ihnen bereit. In vielen Städten befinden ſich ferner dispensaries (Orte, wo Arznei, ev. unentgeltlich, ausgeteilt wird) unter weiblicher Leitung, und nach dem Urteil engliſcher Männer iſt die Zeit ſicher nicht fern, wo alle Hoſpitäler, Schulen, dispensaries, Ar⸗ beitshäuſer, Aſyle, Gefängniſſe, Beſſerungsanſtalten, Auswande⸗ rungsſchiffe ic. ꝛc. ihre feſt angeſtellten Ärztinnen haben werden. Damit würden ſich natürlich auch die äußeren Chancen des Berufs bedeutend verbeſſern. Daß derſelbe überfüllt werden könnte, iſt aus mehreren Gründen vorläufig nicht anzunehmen. Einmal iſt denn doch das Studium ein recht ſchwieriges, zeitraubendes und koſtſpieliges, ſo daß es niemals „Mode“ werden wird; andrerſeits heiraten ſehr viele, ja, nach Robert Wilſon die überwiegende Mehrzahl der Arztinnen. „In der That, man ſollte faſt denken, daß die Männer in ſonderbarem Widerſpruch gerade den Typus von Frauen heiraten, deren geiſtige Neigungen ſie zu verabſcheuen vorgeben, oder daß ſie klugerweiſe die Ehe als eine Löſung der Konkurrenzfrage betrachten.“ Der größte Teil dieſer Frauen verwendet dann ſeine Kenntniſſe wohl nur zum Beſten der Familie und ſtiftet ohne Frage beſonders durch vorbeugende rationelle Körperpflege hier unendlich viel Segen. Diejenigen aber, die trotz ihrer Verheiratung ihren Beruf beibehalten, er⸗ werben ſich meiſtens als Hausfrauen und Mütter dieſelbe Achtung wie als Arztinnen; die Energie und das Pflichtbewußtſein, das ihnen ihr Studium und ihr Beruf gegeben hat, ſcheint ihre Kräfte zu verdoppeln. Endlich wird das Bedürfnis nach weib⸗ lichen Arzten ohne Frage bald ſo bedeutend ſteigen, daß an Über⸗ füllung des Berufs auf lange hinaus nicht zu denken iſt. Eng⸗ land hat ein weites und dankbares Feld in Indien gefunden, dankbar nicht in pekuniärer Hinſicht, aber im höchſten Grade dankbar für alle die, die Elend zu lindern und unerträglichen Druck zu mildern für die Aufgabe der Frau halten. Erſt ſeit kurzem iſt das entſetzliche Schickſal der Hindufrauen zum Gegen⸗ ſtand allgemeiner Teilnahme geworden, und mit großer Energie 40 arbeiten ſchon engliſche Frauen daran, es zu erleichtern; mit der ärztlichen Hilfe ſuchen ſie Belehrung und geiſtige Unterſtützung in jeder Beziehung zu verbinden. Da ihnen allein wirklich freier Zutritt zu den Harems und Zenanas verſtattet iſt, ſo iſt ihr Einfluß von garnicht zu berechnender Tragweite. Eine förm⸗ liche Geſellſchaft unter dem Patronat der Königin iſt beſonders durch den Einfluß der Lady Dufferin zuſammengetreten, um weib⸗ liche Arzte für Indien zu gewinnen. Da zugleich der Unterricht der indiſchen Mädchen, der, wenn überhaupt, zwiſchen ihrem 8. und 10. Jahre bisher von Brahminen erteilt wurde, auch jetzt möglichſt in weibliche Hände gelegt wird — es ſind Schulen gegründet worden, die unter Aufſicht eines weiblichen Inſpektors ſtehen — ſo iſt Hoffnung, daß mit der Zeit den indiſchen Frauen ein anderes Los geſchaffen werden kann, als das ent⸗ ſetzliche, unter dem ſie ſeit Jahrtauſenden ſchmachten! So eröffnet ſich den Frauen ſegenbringende Thätigkeit nach allen Seiten. Es fehlt nun natürlich auch in England nicht an gelegent⸗ licher Oppoſition; es giebt Frauen, die den Ruin ihres Ge⸗ ſchlechts, Männer, die den Ruin der Wiſſenſchaft vorausſagen: ſie werden Gottlob alljährlich ſeltener. Für die Stellung des feingebildeten Mannes zur Frauenfrage iſt eine Rede bezeichnend, die Lord Granville, der Kanzler der Univerſität London, am 29. Juni 1888 vor einer Verſammlung, die die Beſchaffung genügender Geldmittel für College Hall, das Heim der Londoner Studentinnen, beriet, gehalten hat, und die die Times vom 30. ſo wiedergiebt: „Noch manches Jahr, nachdem ich zuerſt in das öffentliche Leben eingetreten war, würde jemand, der eine Dis⸗ kuſſion über den Gegenſtand einleiten wollte, den wir mit Er⸗ laubnis des Lord⸗Mayor heute hier beſprechen, mancherlei Dinge haben ſagen müſſen, die heutzutage durchaus überflüſſig ſind. Der Vorſitzende hätte auf die Thatſache hinweiſen müſſen, daß. obwohl ein gewiſſer Glaube exiſtiert, der da leugnet, daß die Frau eine Seele hat, es im ganzen wahrſcheinlicher iſt, daß ſie nicht nur eine Seele, ſondern auch einen Geiſt hat; daß, wenn 41 ſie einen Geiſt hat, der vermutlich durch Ausbildung gewinnen würde. Er würde vielleicht ſogar eine dunkle Anſpielung auf die Möglichkeit gewagt haben, daß Bildung dasſelbe für den weiblichen wie für den männlichen Verſtand thun könnte (Heiter⸗ keit); aber als verſtändiger Mann würde er dem Rat gefolgt ſein, den man George Stephenſon gab, nicht zu hoch zu greifen und eben ſo wenig zuzugeben, daß eine Frau denſelben akade⸗ miſchen Grad erringen könne als der Mann, als daß eine Dampfmaſchine mehr als 15 (engliſche) Meilen in einer Stunde machen könnte. Aber die Tage folgen einander ohne ſich zu gleichen. Ich bin ſicher, daß ſich heute niemand in dieſem Ge⸗ bäude befindet, der leugnen würde, daß die höchſte Erziehung, die unter rationellen Bedingungen den Frauen gegeben wird, ſowohl für ſie ſelbſt als für die menſchliche Geſellſchaft (commu⸗ nity) ein Vorteil iſt. (Hört, hört!) Ich will daher denen nichts vorwegnehmen, die Ihnen wahrſcheinlich mit vielem Erfolg aka⸗ demiſche Betrachtungen über das Wünſchenswerte einer höheren Ausbildung für Frauen vortragen werden, — eine Thatſache, über welche wir, wie ich ſicher annehme, alle einig ſind; ſondern ich will mich darauf beſchränken, die Diskuſſion über die praktiſche und dringende Frage einzuleiten, wie wir ein angenehmes und ſicheres Heim (das ſchon erwähnte College Hall) für ſolche Frauen, die die Gelegenheit zu höherer Aus⸗ bildung an Univerſity College und Women's Medical School benutzen möchten, ſicher fundieren können. . . .“ Der Vorſitzende erwähnt dann, daß ein Unwohlſein Sir Henry Acland, einen um die höhere weibliche Ausbildung höchſt verdienten Mann, zu ſeinem Leidweſen von der Verſammlung ferngehalten habe; er würde nach einer ſchriftlichen Mitteilung ſehr gern ſeine feſte Überzeugung ausgeſprochen haben, „daß ausreichende Mittel beſchafft werden müßten, um den Frauen eine ebenſo gute Erziehung zu ſichern als den Männern (Hört, hört! und Bravo!). Ich erlaube mir,“ fährt Lord Granville fort, „den Studentinnen von College Hall meine Glückwünſche für ihre Haltung, ihr Wiſſen und ihre Erfolge auszuſprechen. 42 Möge ihre Arbeit nicht nur durch die Ehren, die das College und die Univerſität verleihen, gekrönt werden, ſondern möge ihr ein langes, glückliches und nützliches Leben folgen. So ſpricht der Kanzler der Univerſität London! Es war ungefähr um dieſelbe Zeit, daß preußiſche Abge⸗ ordnete, die ſich mit einer für die Frauen wichtigen Vorlage zu beſchäftigen hatten, meinten: Die Welt werde nicht untergehn, wenn die Frauen noch warteten. IV. Über allem, was ſo für die höhere Ausbildung der Frauen geſchah, vergaß man nun die Mädchenſchulen keineswegs; ihre Reform wurde vielmehr mit ſeltener Energie in Angriff ge⸗ nommen, und im Laufe von nicht zwei Jahrzehnten hat ſich auch hier eine große und vollſtändige Umwälzung vollzogen. Zwei Umſtände haben den engliſchen Frauen die Aufgabe, die ſie ſich geſtellt, weſentlich erleichtert. Zunächſt war nicht die Rede davon, daß ihnen etwa die Männer Leitung und Erziehung der Mädchen ſtreitig machen könnten. Das Gefühl, daß für Mädchen⸗Erziehung und ⸗Unterricht Frauen in erſter Linie maß⸗ gebend ſein müſſen, daß ſie in vielen Fällen allein maßgebend ſein können, iſt ein allgemeines. In den ſtädtiſchen Schul⸗ Deputationen (school-boards) haben Frauen Sitz und Stimme; in London beſtand man darauf, daß ſie hineingewählt wurden, weil man, wie die Bürger ſagten, „ja auch Mädchen zur Schule ſchicke.“ Dieſe Schwierigkeit, die größte bei uns, fiel alſo ganz fort. Es war freilich klar, daß bisher die Frauenleitung ſich als völlig ungenügend erwieſen hatte; der Grund war aber ebenſo klar: die Frauen waren ungenügend vorbereitet geweſen; man hatte alſo Veranſtaltungen getroffen, ſie beſſer vorzubereiten. In Deutſchland hat man anders geſchloſſen. Die weibliche Leitung hatte ſich als ungenügend erwieſen, wie Direktor Nöldeke in einer der gelegentlichen wegwerfenden Bemerkungen ſeiner 43 Schrift: „Von Weimar bis Berlin“ anführt, folglich mußten Männer die Sache in die Hand nehmen. Es ſoll keinen Augen⸗ blick geleugnet werden, daß ſie es in gewiſſenhafteſter Weiſe gethan; ebenſowenig aber kann verkannt werden, daß ein ſchwerer Miß⸗ griff in der ganzen Einrichtung liegt; es iſt darüber genügend a. a. O. berichtet worden“). Daß im übrigen die natürliche Neigung des Mannes ihn verhältnismäßig ſelten der Mädchen⸗ ſchule zuführt, daß alſo doch wohl die Brotfrage ein Wort mit⸗ ſpricht, ergiebt ſich aus dem Umſtande, daß in Preußen nur ca. 14 pCt. der unſicheren Privatmädchenſchulen von Männern geleitet werden, ca. 86 pCt. von Frauen; von den ſicher fundierten öffentlichen höheren Mädchenſchulen hingegen ca. 92 pCt. von Männern, nur ca. 8 pCt. (meiſtens katholiſche) von Frauen. Iſt die Frauenleitung ſo durchaus ungenügend, ſo dürfte ſie an den Privatſchulen auch nicht geduldet werden. Der zweite Umſtand, der den Frauen in England ihre Aufgabe ſo bedeutend erleichterte, iſt ſchon erwähnt: das mittlere und höhere Unterrichtsweſen ſteht in England nicht unter der Regierung. Das kann unter Umſtänden ein großer Nachteil ſein; es kann aber auch zum Vorteil werden; es hängt das wohl mit der Kraft einer Nation zu eigener Initiative zuſammen. Wir haben in Preußen ſchon beides erfahren, den Vorteil und den Nachteil. Es hat Zeiten gegeben, wo eine Hebung des ganzen Schulweſens durch einen ſeine Aufgabe richtig erfaſſenden Miniſter erfolgte; wir haben aber auch rückläufige Perioden durchzumachen gehabt, die ſchwere Wunden geſchlagen. Die Entwicklung des engliſchen Lebens iſt derart geweſen, daß ſchwerlich je eine Bevormundung der Erziehung der Kinder der gebildeten Stände geduldet werden wird; haben doch be⸗ deutende Schulmänner, wie der Rev. Edw. Thring, ſelbſt gegen die Leitung des Volksſchulweſens durch die Regierung Wider⸗ ſpruch erhoben. „Zum erſten Mal in der engliſchen Geſchichte, meint er mißbilligend, „legt eine despotiſche Macht Geleiſe für den menſchlichen Geiſt und verlangt, daß alle ſie befahren ſollen *) Die höhere Mädchenſchule und ihre Beſtimmung. Berlin, Appelius, 1888. 44 und im Namen der Freiheit und der Aufklärung gezwungel werden, dafür zu bezahlen. Die prinzipielle Erörterung der Frage, ob es richtiger ſei, den gebildeten Klaſſen eine Vereinbarung über die Art der Erzie⸗ hung ihrer Kinder ſelbſt zu überlaſſen und nur durch Examina und etwaige Verweigerung oder Gewähr gewiſſer Berechtigungen eine Kontrolle auszuüben, oder ob detaillierte Vorſchriften und genaue Überwachung zu einem beſſeren Reſultat führen, liegt ganz außer dem Bereich dieſer Schrift. Aber es liegt auf der Hand, daß in dem vorliegenden Fall, wo es ſich um Mädchen⸗ erziehung handelte, eine Sache, die nur von Frauen mit voller Begeiſterung in Angriff genommen wird und naturgemäß wer⸗ den kann, die abſolute Freiheit des Handelns für die engli⸗ ſchen Frauen und Mädchen ein Vorteil war. Daß eine gewiſſe Einheitlichkeit, wie ſie anderswo durch die Überwachung der Regierung hergeſtellt wird, wünſchenswert war, ſah man ſehr wohl ein; man wußte ſie zu erreichen durch Gründung einer umfaſſenden Geſellſchaft. Im Jahre 1871 trat beſonders durch die Bemühungen von Mrs. William Grey eine Anzahl von Männern und Frauen zu einer sNational Society for Improving the Education ok Women of AlI Classese zuſammen; der lange Titel wurde ſpäter in „ Women's Education Uniong ab⸗ gekürzt. Lord Lyttelton nahm ſich der Bewegung auf das Leb⸗ hafteſte an, und es iſt hauptſächlich ſeinen Bemühungen zu verdanken, daß Prinzeß Luiſe, Marchioness of Lorne, die Schweſter unſerer Kaiſerin Friedrich, deren lebendiges Intereſſe für alle Erziehungsfragen ſie teilt, den Vorſitz übernahm; ſie hat ſeitdem mit großem Eifer für die Geſellſchaft gewirkt, die viele der beſten Namen Englands umfaßt. Eine der Hauptaufgaben, die die Geſellſchaft ſich ſtellte, war die Begründung guter public dax schools for girls, d. h. höherer Mädchenſchulen (day schools im Gegenſatz zu den mit Internaten verbundenen boarding schools). Zu dieſem Zweck wurde eine sGirls Public Day Schools Companye gegründet, welche nach dem Muſter der tüchtigen Privatſchule von Miß Frances Buß nunmehr eine Reihe von Schulen eröffnete. Das 45 erforderliche Kapital wurde raſch gezeichnet und wirft jetzt, wo die Geſellſchaft 32 Schulen zählt, eine ausreichende Rente ab. Es ſind in dieſen Schulen bis zum März 1888 an 20,837 Mädchen unterrichtet worden, 32 Vorſteherinnen, 348 ſtändige Lehrerinnen und 130 Lehrkräfte für Extraſtunden ſind an den⸗ ſelben beſchäftigt. Das Gehalt der Vorſteherinnen beſteht teils in einem Fixum, teils in einer nach der Menge der Schülerinnen bemeſſenen Tantiéme, ſo daß es zwiſchen 300 und 700 E ſchwanken mag; es gewährt ſelbſt für England ein ſehr behag⸗ liches Auskommen. Die Geſamtausgaben für Gehälter be⸗ liefen ſich im letzten Jahre auf 60,617 15 s. 10 d.; 1162 11 s. 11 d. wurden für Freiſtellen und Preiſe ausgegeben. Gewiß ein Privatunternehmen, vor dem man alle Achtung haben muß. Dem gegebenen Beiſpiel folgte man bald in allen Teilen Englands nach; andere Geſellſchaften wurden gegründet, die im weſentlichen dieſelben Ziele verfolgten, und die Anzahl der jetzt in England vorhandenen shigh schoolse — das iſt der all⸗ gemein dafür angenommene Name — wird auf mindeſtens 150 geſchätzt. Ihre Zahl vermehrt ſich ſtetig. Sie üben auch auf die Leiſtungen der Privatſchulen einen heilſamen Druck aus, und viele leiſtungsunfähige Schulen ſind ſchon vor ihnen verſchwunden. Die ligh schools hatten ſich vor allen Dingen vorgenommen, die Fehler zu beſeitigen, die man den bisherigen Mädchenſchulen in England mit großem Recht zum Vorwurf gemacht hatte, und die bei den Prüfungen ſo traurig zu Tage getreten waren: den Mangel an Gründlichkeit und Sicherheit in den Elementen; den Mangel an Syſtem; die Nachläſſigkeit und glänzende Ober⸗ flächlichkeit; die Zeitverſchwendung zu gunſten bloßer saccom⸗ plishmentse, den Mangel an Organiſation ic. Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieſe Abſicht erreicht worden iſt; man kann den engliſchen high schools die oben angeführten Män⸗ gel nicht vorwerfen. Die Vorſteherinnen derſelben haben eine gründliche Bildung, ohne daß man bei ihnen gerade auf ein Spezialſtudium ſieht; man hat im Gegenteil lieber, daß ſie eine Bildung beſitzen, die ſie befähigt, Spezialſtudien zu ſchätzen 46 ohne ſie zu überſchätzen, und man zieht ſolche vor, die Gelegen⸗ heit gehabt haben, noch etwas anderes kennen zu lernen als die Schulſtube. Für die Lehrerinnen iſt keine beſondere Art der Vorbildung, kein beſtimmtes Examen obligatoriſch, wie das bei den unter der Regierung ſtehenden Elementarſchulen der Fall iſt. Es giebt beſondere Seminare für Lehrerinnen an mittleren und höheren Mädchenſchulen (in Cheltenham, London und Cambridge); viele Lehrerinnen — ihre Zahl iſt im Steigen be⸗ griffen — empfangen hier ihre Vorbildung; andere, beſonders die in den oberen Klaſſen angeſtellten, nur auf der Univerſität; ſie erſetzen die akademiſch gebildeten Oberlehrer. Manche unter⸗ werfen ſich dem ſeit 1880 in Cambridge, ſpäter auch in London eingerichteten Examen in der Theorie, Geſchichte und Praxis der Erziehung; obligatoriſch iſt auch dieſes nicht. Es kann ſich alſo eine Lehrerin ihr Wiſſen lediglich auf privatem Wege erwerben; ſehr viele der für fremde Sprachen angeſtellten thun das durch längeren Aufenthalt im Auslande. Der Engländer ſchätzt die Methode außerordentlich hoch; beſonders vor den deutſchen Elementarmethoden mit ihrem bis ins kleinſte gehenden ſorgfältigen Ausbau hat er großen Reſpekt. Um dieſe Methoden zu ſtudieren, kommen alljährlich Lehrer und Lehrerinnen nach Deutſchland; man ſucht ſich das Gute der⸗ ſelben anzueignen und für die eigene Lehrthätigkeit zu verwerten. Wenn nun trotzdem eine entſchiedene Abneigung gegen den ſchon häufig gemachten Vorſchlag, eine beſtimmte techniſche Vorbildung oder wenigſtens das oben erwähnte Examen obligatoriſch zu machen, in England herrſcht, ſo liegt das in dem nicht wegzuleugnenden Umſtande, daß mit einer derartigen Ein⸗ richtung leicht ein gewiſſes Schablonentum Platz greift zum Schaden der echten, auf dem Gebiet der Erziehung doch nur allein wirkſamen Individualität. Daher läßt man eine gewiſſe Wahl in der Art der Vorbildung. Auch ohne das gerade zu billigen, kann man doch den Erwägungen, die bei der Diskuſſion dieſer Frage vorangeſtellt werden, eine gewiſſe Berechtigung nicht abſprechen, doch würde die Erörterung derſelben hier zu weit führen. — Wenn einem nun doch verhältnismäßig ſelten 47 Verſtöße gegen anerkannte pädagogiſche Grundſätze aufſtoßen, — dahin gehört ein gelegentlich zu weit gehendes Vortragen — ſo ſpricht das für die ſorgfältige Auswahl der Lehrerinnen und die tüchtige Leitung der Vorſteherinnen. Ein Zuhochgreifen in Stoff und Darſtellung habe ich kaum je gefunden. In einem kürzlich in Berlin gehaltenen Vortrage über die engliſchen Mädchenſchulen hieß es, daß in denſelben das Diktieren eine ſehr große Rolle ſpiele und daß die Lehrerinnen mit „Haufen von Büchern“ das Katheder beſtiegen. Ich kann dieſe Erfahrungen als perſönliche natürlich nicht beſtreiten, aber auch nicht beſtätigen, da ich in 50—60 Stunden, die ich in engliſchen colleges und high schools anhörte, nie Gelegenheit hatte, ſie zu machen. Ich habe auch nicht einen einzigen Satz diktieren hören. Es ſcheint mir alſo doch eine nicht berechtigte Verallgemeinerung auf Grund einer ungenügenden Anzahl von Einzelbeobachtungen vorzuliegen. Es hieße in denſelben Fehler verfallen, wenn ich behaupten wollte, das Diktieren käme nie vor. Iſt es doch einer der Grundfehler des alten engliſchen Schulſyſtems geweſen — bei uns ſoll es freilich auch nicht unerhört ſein — jedenfalls aber ſtellen ſich die Schulleitungen in ganz bewußten Gegenſatz zu dieſem alten Syſtem. Das „mechaniſche Abrichten“ wird mit Erfolg von ihnen be⸗ kämpft. Der Unterricht iſt im ganzen ein gründlicher und geſchickter, und beſonders auf der Oberſtufe iſt mir mehrfach eine originelle, belebende Art der Behandlung entgegengetreten, die dem Gegenſtand auf eine ungewöhnliche Art beizukommen und dadurch Intereſſe zu erregen wußte. An den im Berufsleben ſtehenden engliſchen Frauen, Lehrerinnen, Schulvorſteherinnen, Arztinnen, die ich auch Ge⸗ legenheit hatte, in großen, ſchwierig zu leitenden Verſammlungen kennen zu lernen, muß einem überhaupt jetzt eine größere Selbſtändigkeit und Originalität auffallen, die ſie ſehr vorteil⸗ haft von der ſtereotypen Engländerin von vor 20 Jahren unter⸗ ſcheidet. Die gründliche Durchbildung, das energiſche, von guten und klugen Männern unterſtützte Handeln, hat ein ruhiges und ſicheres Selbſtbewußtſein, fern von jeder Emanzipation, 48 und eine weitherzigere Weltanſchauung gezeitigt. Es iſt die Probe auf unſer Exempel. „Es wächſt der Menſch mit ſeinen größern Zwecken.“ Für uns eröffnet das eine frohe Ausſicht. Auch unſere Stunde wird ſchlagen, und wir brauchen keine Konkurrenz zu ſcheuen, ſobald man uns das eine gewährt hat, was nötig iſt, um die latenten Kräfte zur Wirkſamkeit zu rufen: Freiheit der Arbeit und ein geeignetes Feld für dieſelbe. Wenn die oben erwähnten Verhältniſſe ihre umwandelnde Kraft in erſter Linie an den Frauen zeigen, die innerhalb des Berufslebens ſtehen, ſo iſt es doch, beſonders da ſich ſehr viele Frauen aus den höchſten Kreiſen für dasſelbe auf das Leb⸗ hafteſte intereſſieren, fraglos, daß eine viel eindringendere Reform des geſellſchaftlichen Lebens die Folge davon ſein wird. Wenn Kaſtenweſen und Standesvorurteile, wenn religiöſe Eng⸗ herzigkeit, wenn vor allen Dingen feſtſtehende geſellſchaftliche Traditionen bisher eine ſo große Rolle in dem politiſch ſo freien England geſpielt haben, ſo iſt das nicht zum geringſten die Schuld ſeiner engherzigen, in Vorurteilen groß gewordenen Frauen geweſen. Durch die Frauen ſelbſt wird darin ein glücklicher Umſchwung eingeleitet werden. Aber zurück zu den high schools. Ich will verſuchen, einen Einblick in die Organiſation derſelben und das hier be⸗ folgte Unterrichtsſyſtem zu geben und meine Gedanken darüber auszuſprechen. Der deutſchen Beſucherin fallen zwei Dinge ſofort auf. Erſtens der ſchon erwähnte Umſtand, daß die Leitung aus⸗ ſchließlich in Frauenhand liegt; zweitens die Wahl der Unter⸗ richtsſtoffe. An der Spitze jeder engliſchen high school ſteht eine Vorſteherin. Die der Anſtalt ganz angehörigen Lehrkräfte ſind weibliche; für einzelne Fächer werden wohl Männer angeſtellt, die alſo mit der Anſtalt nur in loſem, äußerem Zuſammenhang ſtehen. Prinzipiell ausgeſchloſſen iſt der Männerunterricht durch⸗ aus nicht; nur würde man nie einen Mann verwenden, wo Frauenunterricht zu haben iſt. Das gilt ſelbſtverſtändlich nur für die high schools; in den von erwachſenen Mädchen be⸗ 49 ſuchten colleges iſt der Unterricht gleichmäßig auf Männer und Frauen verteilt. Auf den eigentlichen Univerſitäten erhalten die Studentinnen ſogar den wichtigeren Unterricht durch Männer, da ſie zum Teil dieſelben Vorleſungen mit den Studenten hören, ein Syſtem, das ſich vorzüglich bewährt. Und wie bewährt ſich das in den Mädchenſchulen befolgte Syſtem? Können wirklich Frauen ganz allein, ohne irgend⸗ welche männliche Beihilfe, große öffentliche Schulen leiten? Die thatſächlichen Erfolge ſtellen das ganz außer Zweifel. Das Geſchäftliche — für das ſelbſt die wohlwollenden Vertreter der Frauenintereſſen in Deutſchland einen techniſchen Direktor vor⸗ ſchlagen — wird in muſtergiltiger Weiſe erledigt; die Disziplin iſt eine vorzügliche und wird mit ſehr geringen äußeren Mitteln aufrecht erhalten. Eine bemerkenswerte Wohlerzogenheit bei aller harmloſen Fröhlichkeit und die völlige Abweſenheit des herausfordernden Tons, den ſich Mädchen, die ausſchließlich unter Männerleitung ſtehen, nur zu leicht aneignen, fällt angenehm auf. Das Uhrwerk des großen Schulorganismus bewegt ſich mit geräuſchloſer Sicherheit; der Verkehr zwiſchen Lehrerinnen und Schülerinnen iſt in weitaus den meiſten Fällen ein freundlicher und herzlicher und die ſittliche Hal⸗ tung eine vorzügliche. Ehrenhaftigkeit gegen die Lehrerinnen gilt durchweg bei den Mädchen als guter Ton; ſie wird ver⸗ dient durch das Vertrauen, das den Kindern geſchenkt wird, ſo lange ſie ſich desſelben nicht unwürdig gezeigt haben. Wenn das hier gezeichnete Bild ſich ſo vorteilhaft von dem unterſcheidet, das deutſche Kollegen von den Lehrerinnen an ihren Schulen häufig entwerfen, ſo hat das ſeinen guten Grund. Die engliſche Lehrerin und Vorſteherin genießt unbezweifelte äußere und innere Autorität. In der deutſchen öffentlichen höheren Mädchenſchule dagegen wiſſen und fühlen die älteren Schülerinnen ſehr wohl, in wie geringem Anſehen das ſemina⸗ riſtiſche Wiſſen ihrer Lehrerin bei den akademiſch gebildeten Lehrern ſteht und eine wie niedrige Stellung ſie — Aus⸗ nahmen natürlich abgerechnet — im Schulorganismus ein⸗ Lange, Frauenbildung. 4 50 nimmt“). Kein Wunder, daß ſie gelegentlich verſuchen, ihr den Reſpekt zu verſagen, welcher der mit der beſten Erziehung, die das Land bietet, ausgeſtatteten Kollegin in England als ſelbſtverſtändlich gewährt wird. Da muß denn manchmal ein ſcharfer Ton nachhelfen. Wo Frauen mit voller Auto⸗ rität wirken können wie in England, und Gottlob auch an der deutſchen Privatmädchenſchule, ſo lange man ihr das Leben läßt, trifft das ſchon ein, was Hermann Oeſer in einer feinen und treffenden Bemerkung für die Zukunft erwartet: „Ich nehme als ſelbſtverſtändlich an, daß manche Lehrerin, die ſich heute durch Schärfe in einem Kollegium „behauptet“, deſſen männliche Mitglieder der Disziplin der Kolleginnen nicht trauen, unter veränderten und wahreren Verhältniſſen Liebe nicht mehr für Schwäche und Schärfe nicht mehr für Größe halten wird.“ Schaffen wir ſolche wahreren Verhältniſſe; geben wir der Lehrerin eine ausreichende Bildung und äußerlich die ihr gebührende, einflußgebende Stellung, und die Klagen über Schärfe, Verbitterung, Mangel an Disziplin, und was ihr ſonſt von den Kollegen vorgeworfen wird, werden verſchwinden. Daß alſo die Mädchen unter Frauenleitung ſtehen, daß die Frau bei ihrer Erziehung die erſte Rolle ſpielt, kann nur entſchieden gutgeheißen werden; es fragt ſich nun, ob die aus⸗ ſchließliche Verwendung von Lehrerinnen wünſchenswert iſt. Ich habe mich ſchon wiederholt dahin ausgeſprochen, daß ich nicht der Meinung bin. Ich ſchätze männliche Verſtandesſchärfe zu hoch, als daß ich ſie für unſere Mädchen entbehren möchte; ich erkenne an, daß der Unterricht des Mannes, gerade weil *) Im 7. Heft der Buchner'ſchen Zeitſchrift für weibliche Bildung (1888) erwähnt ein Mädchenſchuldirektor gelegentlich als allgemein bekannt, daß Lehrerinnen an der öffentlichen höheren Mädchenſchule keinen leitenden Einfluß hätten. Die Bemerkung entſpricht ja leider den Thatſachen; dem Ausländer muß ſie wie eine Ironie erſcheinen. Lehrerinnen keinen leitenden Einfluß in Mädchenſchulen! Die Zeitſchrift für weibliche Bildung hat überhaupt, ſehr im Gegenſatz zu dem liberalen Verhalten der „Mädchenſchule“ (Heſſel und Dörr), in der Lehrerinnenfrage eine Haltung beobachtet, die mit ihrem Titel kaum in Einklang zu bringen iſt. Im Grunde zwar kann ihre Art der Polemik unſerer Sache nur nützen. 51 dem Mädchen darin viel der eigenen Auffaſſung Fremdes ent⸗ gegentritt, fördernd und anregend wirkt, vorausgeſetzt, daß er ſich auf einem Gebiet bewegt, auf dem die Eigenart der Frau nicht durchaus notwendig erſcheint; vorausgeſetzt, daß der Mann nicht Fächer zu vertreten hat, zu deren wirk⸗ ſamer Bearbeitung mit noch unerzogenen Mädchen Gleich⸗ heit des Denkens und volles Verſtändnis der Mädchennatur unerläßliche Bedingungen ſind. Darum wünſche ich ein Zu⸗ ſammenwirken des Mannes mit der Frau beim Unterricht der Mädchen, freilich ſo, daß, wie es in der Natur liegt, die Frau dabei die erſte Stelle erhält. Das Verhältnis beſteht ja in der Weiſe thatſächlich und zu allſeitiger Befriedigung an guten deutſchen Privatmädchenſchulen. Syſtem gegen Syſtem gehalten, iſt das engliſche dem in unſeren öffentlichen höheren Mädchenſchulen befolgten ent⸗ ſchieden vorzuziehen. Beſſer die Einſeitigkeit, die die heran⸗ wachſenden Mädchen in der Schule lediglich in Frauenhand giebt, — eine Einſeitigkeit, die ja ihr unbeanſtandetes Analogon in der Knabenſchule hat — als die Unnatur, die Männer in leitender und Frauen in einflußloſer Stellung, ohne wiſſenſchaft⸗ liche Durchbildung, den Mädchen gegenüberſtellt. Damit wird ſyſtematiſch in Deutſchland eine Überſchätzung des männlichen und eine Unterſchätzung des weiblichen Elements und weiblicher Fähigkeiten bei den Mädchen großgezogen, die für die Heraus⸗ arbeitung ihrer Individualität, für die Erfüllung ihrer ſpäteren Verpflichtungen geradezu verhängnisvoll werden muß; es wird die Entwickelung der edelſten weiblichen Eigenſchaften, die hier wie überall vorzugsweiſe an das Beiſpiel geknüpft iſt, nicht nur nicht gefördert, ſondern geradezu gehemmt; das iſt der ſchwere Schaden in unſerer öffentlichen höheren Mädchenſchule. Als Experiment betrachtet, iſt das engliſche Syſtem jedenfalls intereſſant. Was in Deutſchland als Möglichkeit nicht nur von Männern, ſondern auch von vielen Frauen ge⸗ leugnet wird (auf ihr Studium fremder Schulverhältniſſe wirft das jedenfalls ein eigentümliches Licht) exiſtiert hier als That⸗ ſache. Frauen leiten ohne die geringſte männliche Unterſtützung 4* 52 große Mädchenſchulen, die unſeren öffentlichen in nichts nach⸗ ſtehen, ja, eine weitergehende wiſſenſchaftliche Bildung geben wie dieſe. Sie zeigen ſich den damit verbundenen Aufgaben in Bezug auf Organiſierung, Unterricht, Verwaltung und Dis⸗ ciplin völlig gewachſen; auch vor der Aufgabe, bei Gelegenheit Anſprachen an die Kinder zu halten, der deutſche Pädagogen die Frau nicht gewachſen glauben, ſcheuen ſie nicht zurück. Man kann zwar alles das auch in Deutſchland ſehen, da unter den von Frauen geleiteten Privatſchulen ſich auch eine Anzahl recht großer befindet; man ſpricht da aber immer von „Aus⸗ nahmen“ oder nimmt an, der erſte Lehrer der Anſtalt ſei eigent⸗ licher Regent. Solche Fiktionen können den berichteten That⸗ ſachen gegenüber nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Frauenleitung offenbart ſich dem deutſchen Beſucher der engliſchen high schools gelegentlich auch in charakteriſtiſchen Eigentümlichkeiten. Es iſt auf Fraueneinfluß zurückzuführen, daß ſich eine Geſellſchaft für die Ausſchmückung der Schul⸗ zimmer gebildet hat. Man iſt bemüht, ihnen das Kaſernen⸗ artige zu nehmen. Die Schülerinnen ſelbſt legen ein Blumen⸗ fenſter an, oder ſie tragen eine Stein⸗, eine⸗Muſchelſammlung zuſammen, oder ſie ſchmücken ihr Klaſſenzimmer mit Bildern. Auch der Kamin wird im Sommer mit Farnkräutern oder blühenden Blumen beſtellt. Wem fiele nicht Montaigne ein: „Man ſollte die Schulzimmer mit Blumen beſtreuen. Für alles Geſundheitliche iſt man auf das ſorgfältigſte bedacht. Die Subſellien ſind nach dem allerbeſten Syſtem ge⸗ arbeitet. Jede der Schülerinnen hat ihr eigenes Pult mit daran befeſtigtem Sitz, allen Anforderungen der Hygiene entſprechend. Vorzügliche Ventilationsvorrichtungen ſorgen für friſche Luft, die in England in unglaublichem Maße konſumiert wird. Ver⸗ faſſerin geſteht offen, daß ihr deutſcher Organismus ſich manch⸗ mal dem Kreuzfeuer von zwei, drei Luftzügen nicht gewachſen zeigte. Wie in den Colleges, ſo wird auch in den high schools für körperliche Bewegung in der ausreichendſten Weiſe geſorgt. Es 53 geſchieht das hier durch Turnen, zu dem die Mädchen faſt alle Tage, und ſei es für eine halbe Stunde, angehalten werden. Auch für die Reinlichkeit wird ganz beſondere Sorge getragen. Die Einrichtungen im Waſch⸗ und Ankleidezimmer ſind muſter⸗ giltig. Eine außerordentlich praktiſche Vorkehrung ſcheint mir, daß jedes Kind in der Schule die Stiefel auszuziehen hat wenn es kommt, um dafür ein Paar niedriger Schuhe, an denen keine Abſätze geduldet werden, anzuziehen. In einer langen Reihe numerierter Fächer ſind die Fußbekleidungen aufgeſtellt. Hier ſpricht freilich der engliſche Geldbeutel ein Wort mit! Einzelne andere Einrichtungen der engliſchen higl schools, die ihnen freilich nicht eigentümlich ſind, ſondern als Syſtem durch ganz England gelten, haben mir gründlich mißfallen; das ſind die vielen Examina, die öffentlichen Belobigungen, die goldenen Liſten und dergl.; ſie ſcheinen mir für Kinder bedenk⸗ lich. Einzelne Vorſteherinnen haben dieſe Dinge auch beſchränkt; auch in dieſer Beziehung wird nicht uniformiert, ſondern eine gewiſſe Freiheit gelaſſen; die öffentliche Meinung aber hält an dieſen Einrichtungen ſo hartnäckig feſt, daß doch wenigſtens durchweg den Prüfungen ein beſtimmender Einfluß auf den Unterricht gewährt werden muß. Die Kurſe der engliſchen high schools erfordern wie die der deutſchen Gymnaſien zu ihrer völligen Abſolvierung einen Schulbeſuch bis zum 18. oder 19. Jahre, und da das engliſche Mädchen doch nicht früher in das geſellſchaftliche Leben eintritt, ſo läßt man ſie vielfach die Schule ſo lange beſuchen, wenn ſie auch in den oberen Klaſſen nicht alle Fächer mitnimmt. Was nun den Unterricht ſelbſt betrifft, ſo fällt zunächſt der in den erſten Anfangsgründen fort, da beim Eintritt in die engliſchen higl schools, der meiſtens mit 8 Jahren erfolgt, Schreiben, Leſen und Rechnen bei den Kindern vorausgeſetzt wird. Dieſe Elementarfertigkeiten werden in Kindergärten er⸗ worben, die nur hin und wieder mit den high schools in Ver⸗ bindung ſtehn. In den erſten Jahren werden dann ſo ziemlich dieſelben Fächer betrieben wie bei uns; nur ſpielt das Engliſche nicht dieſelbe Rolle, wie bei uns das Deutſche. Die Anzahl 54 der Stunden iſt geringer, da der Sonnabend völlig freigegeben wird. Etwa vom 12. Jahre ab tritt dann das Lateiniſche und Mathematik auf, denen meiſtens von da ab aufſteigend ein immer breiterer Raum gewährt wird, wenn auch nicht ganz in demſelben Maß wie in den Knabenſchulen. Er wird, wie hier und in unſeren eigenen Knabenſchulen, gewonnen auf Koſten der Mutterſprache und der modernen Sprachen, häufig auch der Geſchichte. Ein Normalplan iſt von den Geſellſchaften, die die high schools gegründet haben, nicht aufgeſtellt, da man nur auf günſtige Reſultate rechnen zu können glaubte, wenn man der Individualität der Vorſteherinnen einigen Spielraum ließe; ſo liegt es in deren Hand, auf welche Seite des Unterrichts das ſtärkſte Gewicht gelegt werden ſoll. Da aber von den high schools aus häufig das junior- und senior-Examen ab⸗ gelegt wird, da ferner die Schülerinnen von dort aus häufig die Univerſität beſuchen, ſo iſt doch ein Vorwiegen der klaſſiſchen und mathematiſchen Studien in den Oberklaſſen der engliſchen high schools Regel. Es werden die auch bei uns gebräuch⸗ lichen lateiniſchen und griechiſchen (das Griechiſche iſt fakultativ) Autoren geleſen, in der Geometrie der Euklid bis zum XI. Buch inkl. durchgearbeitet, in der Algebra mit quadratiſchen Gleichun⸗ gen und dem binomiſchen Satz abgeſchloſſen. In den oberen Klaſſen iſt vieles fakultativ. „Man hat alle Urſache,“ ſagt Dr. C. Schöll in der Schmidt'ſchen Encycl. (2. Aufl., 3. Bd., S. 1130), „mit den Leiſtungen dieſer Schulen zufrieden zu ſein. Es wird auf Gründ⸗ lichkeit des Unterrichts gedrungen und das Schaugepränge ver⸗ mieden . . .. Die Prüfungsreſultate in den einzelnen Fächern, wie Bibelkenntnis, Mathematik, Geographie und Deutſch waren bis jetzt meiſt und zum Teil ſehr befriedigend“ und f. S.: „Die Erfahrung hat gezeigt, daß tüchtige Frauen, was umſichtige Leitung, Disziplin und Mitteilung von Kenntniſſen betrifft, Männern nicht nachſtehen.“ — Der Ausſpruch iſt als der eines Mannes hier von doppeltem Wert, um ſo mehr als Schölls Urteil über die engliſchen Schulen im allgemeinen ſehr ſcharf iſt. Aber eines Bedenkens kann ich mich doch hinſichtlich des 55 Syſtems der engliſchen high schools nicht erwehren. Es hat zwar ein Recht, zunächſt in Bezug auf das, was es erreichen will, beurteilt zu werden. Das iſt ausgeſprochenermaßen eine gründliche intellektuelle Bildung. Es iſt kein Zweifel, daß dieſe durch das Syſtem erreicht werden kann, reſp. erreicht wird. Es iſt ja dasſelbe, das man ſeit Jahrhunderten in den Knabenſchulen befolgt. Aber iſt das Syſtem an und für ſich berechtigt? Soll eine in der Hauptſache formale intellektuelle Bildung Endziel der Schule ſein? Ich muß zur Beantwortung dieſer Frage etwas weit aus⸗ holen. V. Es giebt ein reizendes franzöſiſches Märchen von Jean Macs. Es handelt von einem kleinen Knaben, der immer der Erſte in der Schule war und große Dinge da gelernt hat: er weiß, wann Rom gegründet iſt, kann einen abſoluten Hauptſatz von einem relativen unterſcheiden und weiß die De⸗ partements der Loire am Schnürchen. Er hat eine kleine Freun⸗ din, die nur eins gelernt hat: il faut obéir au bon Dieu et etre bon comme lui avec tout le monde. Er findet daher, daß ſeine kleine Freundin keine paſſende Spielgefährtin mehr für ihn iſt; da nimmt eine gütige Fee beide an die Hand und führt ſie zuerſt zu einem großen Hiſtoriker, dann zu der erſten Schriftſtellerin des Landes; ſie verſetzt ſie endlich in ein zu⸗ künftiges Zeitalter, mitten nach Centralafrika, das zu jener Zeit das civiliſierteſte Land des Erdballs iſt. Überall wird der Knabe beſchämt: der große Hiſtoriker zeigt ihm wie wenig ſeine Weisheit von der Gründung Roms feſtſteht; die Schriftſtellerin lacht ihn mit ſeinen Hauptſätzen aus, und von den Departe⸗ ments der Loire weiß niemand mehr etwas in jenem zukünftigen Zeitalter; ſie ſind bei einem großen Erdbeben im Jahre 2500 n. Chr. verſchwunden. Alles aber beugt ſich vor dem, was das kleine Mädchen gelernt hat, und auch nach Tauſenden von Jahren 56 iſt und bleibt die höchſte Weisheit: il faut obéir au bon Dieu et étre bon comme lui avec tout le monde. Das heißt auf eine Formel gebracht: die ſittlichen Wahr⸗ heiten ſind wichtiger als alles Wiſſen. Damit ſind wir aber noch nicht fertig. Die Frage iſt nun: 1) was iſt ſittlich? 2) wie weit und wodurch kann eine Ein⸗ wirkung auf das ſittliche Wollen, ſpeciell beim Kinde, ſtatt⸗ finden? und endlich 3) wie weit hat die Schule damit zu thun? Was iſt ſittlich? Das Kind im Märchen antwortet: il faut obéir au bon Dieu et étre bon comme lui avec tout le monde. Der Philoſoph ſagt: ſittlich iſt das, was, allgemein zur Ausübung gebracht, die höchſtmögliche Glückſeligkeit aller Menſchen gewährleiſtet. Die beiden Sätze verhalten ſich offenbar wie das Ideal zum Erreichbaren. Gut ſein wie Gott gegen jedermann, das heißt wie die Vorſehung mit der Menſchheit verfahren. Das ſetzt göttliche Vollkommenheit, ſetzt Allweisheit und Allwiſſenheit voraus. Das iſt unerreichbar, wenn es auch unſer Streben beeinfluſſen ſoll. Und es iſt gut, daß der Menſchheit ein Un⸗ erreichbares, ein Ideal bleiben muß. Den Weg dahin aber weiſen die, die das Herz voll gött⸗ licher, erbarmender Liebe haben. Sie ſind die Größten des Menſchengeſchlechts. Zu ihnen ſehen wir auf; ſie ehren wir wie die Gottheit; „ihr Beiſpiel lehrt uns jene glauben. Thun, was, allgemein zur Ausübung gebracht, die höchſt⸗ mögliche Glückſeligkeit aller Menſchen gewährleiſtet. Das iſt als erreichbar wenigſtens zu denken. Die Principien, nach denen zu dem Ende gehandelt werden muß, ſucht die Menſch⸗ heit in gewaltiger intellektueller Arbeit; in roheſter Form ſoll ſie das äußere Geſetz bieten; die Irrtümer und Fehler desſelben laſſen den jedesmaligen Begriff der Sittlichkeit, der eng mit dem intellektuellen Standpunkt zuſammenhängt, erkennen. So führt uns beides zur Sittlichkeit, Religion und Wiſſenſchaft. Die enge Verbindung zwiſchen Sittlichkeit und Intellekt iſt nun eine Wahrheit, die das Kindermärchen nicht lehren kann; auch auf dieſem Gebiet, wie auf ſo vielen, muß zuerſt durch 57 Scheidung eine ſcharfe Definition ermöglicht werden, ehe zu⸗ ſammengefaßt werden kann. Für uns Erwachſene aber iſt der Satz, daß zu echter Sittlichkeit nicht nur Wille, ſondern auch Einſicht nötig ſei, richtige Wertſchätzung der Dinge und der Ideen, eine abgedroſchene Wahrheit. Ein Autodafé erſcheint uns nicht ſittlich, auch wenn es aus reinſter Überzeugung her⸗ vorgegangen; ſelbſt die ſinnloſe Aufopferung einer Mutter, die ſich in ihrem Sohn dadurch einen ſelbſtſüchtigen Schwächling heranzieht, kann uns, ſo hoch wir völlige Selbſtaufopferung ſchätzen, nicht als ſittlich erſcheinen. In ihrer Kindheit konnte die Menſchheit den ſittlichen und den intellektuellen Teil ihres geiſtigen Lebens von einander un⸗ abhängig glauben; wir wiſſen heute, daß ſie nur zuſammen einen Fortſchritt ermöglichen: „daß wir unſere Pflicht thun wollen, iſt der moraliſche Teil, daß wir wiſſen, wie wir ſie zu thun haben, iſt der intellektuelle Teil. Je genauer dieſe beiden Teile miteinander verbunden ſind, deſto größer iſt die Harmonie, mit der ſie wirken, und je genauer die Mittel dem Zweck entſprechen, deſto vollſtändiger wird die Beſtimmung unſeres Lebens erfüllt und die Grundlage für den weiteren Fort⸗ ſchritt der Menſchheit gelegt werden.“ So Buckle in ſeinen grundlegenden Kapiteln über dieſe Materie. Wenn nun aber logiſches Denken und ein weiter geiſtiger Horizont als ſehr wichtige Faktoren zu echt ſittlichem Han⸗ deln gelten müſſen, ſo führen ſie andrerſeits an und für ſich durchaus noch nicht zur Sittlichkeit. Wäre dem ſo, ſo hätte intellektuelle Kultur nicht ſo oft ſeit Rouſſeau in paradoxen Eſſays mit dem Gegenteil verbunden werden können. Es muß die Gewohnheit dazu kommen, dieſe Faktoren auf ethiſchem Gebiet zu verwerten, und es muß als Hauptfaktor der ſittliche Wille dazu kommen. Und das führt uns auf die zweite Frage: wie weit und wodurch kann eine Einwirkung auf das ſittliche Wollen, ſpeciell beim Kinde, ſtattfinden? Die Antwort liegt ſchon in dem vorhin Geſagten. Eine ſolche Einwirkung kann direkt ſtattfinden durch religiöſe Unter⸗ weiſung, ſie muß aber auch indirekt ſtattfinden auf dem Um⸗ 58 wege durch den Intellekt; die richtige Einſicht muß vermittelt werden. In beiden Fällen aber wird die Unterweiſung nie abſtrakt ſein dürfen. Das Kind ſcheut vor Predigten zurück. Aber es iſt einem anderen im höchſten Grade zugänglich, der Wirkung auf ſeine Einbildungskraft, der Begeiſterung. Daher die Wirkung des Beiſpiels, des Symbols, der Poeſie. Den ſittlichen Willen entzünden wir am ſicherſten durch die Vor⸗ führung hoher, edler Menſchengeſtalten aus religiöſer und pro⸗ faner Geſchichte wie aus der Dichtung. Was hat nun endlich die Schule damit zu thun? Nach der Meinung vieler garnichts. Da iſt ſie nur Wiſſensfabrik, da ſoll ſie möglichſt ſchon die Kenntniſſe übermitteln, die die Grundlage des zukünftigen Berufs bilden, ſoll Fachvorſchule ſein. Nach der Mei⸗ nung der größten Pädagogen aber hat ſie eine ganz andere Aufgabe, und die fällt ihr, wie die Familienverhältniſſe heute liegen, gerade jetzt mehr wie je zu. Sie hauptſächlich kann ſyſtematiſch auf die Entwicklung des ſittlichen Willens und die Entfeſſelung der geiſtigen Kraft einwirken; ſie kann das am beſten, indem ſie in die Betrach⸗ tung menſchlichen Thuns und Treibens einführt. Menſchliches Leben iſt nun einmal der Gegenſtand unſerer Erkenntnis; an ihm ſoll der Intellekt ſich üben, an ihm richtige Einſicht gewinnen; an ihm ſoll die Wirkung ethiſcher Geſetze gezeigt werden. Ich bin ſchon früher einmal für ein Fach „Lebenskunde“ eingetreten; wenn auch nicht den Namen, die Sache ſollten wir haben. Den Rahmen, in den ſich die hierhergehörigen elementaren ethiſchen, nationalökonomiſchen, geſellſchaftlichen und techniſchen Begriffe einſchließen laſſen, haben wir in den landläufigen Schulfächern. In der Religion können wir nicht nur ſittlicher Erkenntnis, ſondern ſittlicher Wirkung ſicher ſein, wenn wir nicht Dogmen⸗ geſchichte geben, ſondern die unmittelbare Einwirkung göttlichen Lebens auf menſchliches zeigen, die Thatſachen des Gewiſſens, der Nächſtenliebe, der Freude am Guten in den Mittelpunkt des Unterrichts rücken und ihre Wirkungen am eigenſten Leben des Kindes und der Welt, in der es ſich bewegt, veranſchaulichen; wenn wir das Kind lehren, ſich in jedem Augenblick ſeines Lebens unter dem Auge Gottes zu fühlen. In der Geſchichte 59 können wir Intellekt und ſittliches Wollen zugleich üben, indem wir einführen in Ereigniſſe und Kulturverhältniſſe der Ver⸗ gangenheit und der Jetztzeit; indem wir die Dinge aus der Vogelſchau anſehen und ſo in ihrem wahren gegenſeitigen Ver⸗ hältnis erfaſſen lehren; indem wir zeigen, wie auf die Dauer immer und überall die großen ſittlichen Ideen den Sieg davon⸗ tragen. Im deutſchen Unterricht endlich iſt die beſte Gelegen⸗ heit geboten, alles das im freieſten Austauſch zu erörtern, an⸗ knüpfend an die großen Ideale, die unſere Dichter geſchaffen. So lehrt die Schule das Leben erfaſſen und verſtehen, indem ſie auf eine höhere Warte ſteigen lehrt und überall das ethiſche Ziel unverrückt im Auge hält. Und darum erſcheint mir die Theorie richtig, welche die ſogenannten ethiſchen Fächer, Religion, Geſchichte und Deutſch, in den Mittelpunkt des Schulunterrichts ſtellt“). Das Menſchliche und Sittliche wird damit unmittelbar Mittelpunkt des Denkens; an ihm bildet ſich Intellekt und Gemüt, an ihm entwickelt ſich geiſtige Kraft und ſittlicher Charakter, und ſomit trifft der Idealismus, wie ſo oft, ſo auch hier mitten ins Schwarze. Denn wenn wir geiſtige Kraft und ſittlichen Charakter entwickeln, ſo haben wir viel beſſer für das wirkliche Leben vorbereitet, als die, welche den Kopf nur mit ödem, poſitivem Wiſſen erfüllen; gegen ſie iſt das Macé'ſche Märchen ſo recht eigentlich geſchrieben. Poſitives Wiſſen wird von ſelbſt erreicht, da wir ja nur an poſitivem Material arbeiten können; Denken lernt man nur an Thatſachen. Dieſe werden aber feſter haften und, wenn verloren, leichter wieder errungen werden können, wenn ſie in begrifflichem Zuſammenhange, in ſelbſtändiger geiſtiger Thätigkeit erfaßt ſind, als wenn ſie als zerſtreutes Vielfaches dem nicht danach verlangenden Geiſt auf⸗ gedrängt werden. *) Dieſe Theorie erſcheint mir, es braucht das kaum erwähnt zu werden, ebenſo richtig für Knaben⸗ wie für Mädchenſchulen; ich erkenne an, daß ſie für erſtere, die in ein durch äußere Umſtände aufgenötigtes Syſtem gepreßt ſind, augenblicklich ſchwer zu verwirklichen wäre; in der Mädchenſchule ſind wir Gott⸗ lob weniger durch äußere Umſtände an der Durchführung rein pädagogiſcher Principien gehindert. 60 Hier liegt nun freilich die Schwierigkeit! Es iſt unendlich viel ſchwerer, Lehrer zu finden, die einer ſolchen Behandlung der ethiſchen Fächer gewachſen ſind, als gute Lehrer für die mehr oder rein intellektuellen Fächer, für Naturwiſſenſchaften, für Mathematik, für Sprachen: für dieſe Fächer iſt eben nur ein guter Kopf, für die erſteren ein ganzer, innerlich durchgebildeter Menſch nötig. Viele Lehrende, denen die ethiſchen Fächer an⸗ vertraut werden, wiſſen daher mit der ethiſchen Seite derſelben nichts anzufangen. Wie viel wird ſowohl in den Mädchen⸗ wie in den Knabenſchulen in der Religion nur Dogmatik getrieben, in den deutſchen Stunden nur philologiſche Allotria, in der Ge⸗ ſchichte nur ein Einpauken von Thatſachen und fertigen Urteilen. Solch ein Unterricht iſt allerdings faſt ſchlimmer als keiner; ſo geht beides leer aus: das ſittliche Gefühl und der Intellekt, und der Geiſt gewöhnt ſich an ein Spiel mit Formeln, die für das eigene Urteil ſpäter ein ſchweres Hemmnis werden. Was auch ſonſt ſeine Fehler ſein mögen, dieſem entgeht ein rein auf formal⸗ intellektuelle Bildung gerichtetes Syſtem. Ein anderer, noch gewichtigerer Grund wird wohl gegen die ſtarke Betonung der ethiſchen Fächer und zu Gunſten der rein intellektuellen aufgeſtellt. Die ethiſchen Fächer geben einen ganz gewaltigen Einfluß auf die Entwicklung des Charakters. Eine kräftige Individualität — und nur eine ſolche wirkt auf die Schüler — bringt auch bei dem ſorgfältigſten Streben nach Objektivität ihre eigene Auffaſſung in der Behandlung der Religion, der Geſchichte, der Dichtung zur Geltung und beeinflußt das ganze innere Leben der Schüler, oft weit ſtärker als die Familie. Wie viele Väter und Mütter müſſen fühlen, daß ſich das geiſtige Leben ihrer Kinder, beſonders in den ſpäteren Jahren des Schullebens, ihrer eigenen Einwirkung faſt völlig entzieht. Wo die Stärke eines Syſtems liegt, liegt eben auch ſeine Schwäche. Die Gedankenſuggeſtion, die auf dieſe Weiſe von der Schule aus getrieben wird, kann einer ganzen Nation zum Segen, ſie kann ihr aber auch zum Unſegen gereichen, das läßt ſich nicht verkennen. Aus dieſer Empfindung heraus iſt entſchieden die Bewegung entſtanden, die den Religionsunterricht 61 aus der Schule entfernen möchte, und nur aus dieſer Empfindung heraus läßt ſie ſich begreifen. Aber eben dieſes Beiſpiel bringt uns auch auf den eigent⸗ lichen Grund einer etwaigen Gefahr. Sie kann lediglich dann entſtehen, wenn verſucht wird, den ethiſchen Unterricht in den Schulen nach einer beſtimmten Richtung hin zu beeinfluſſen durch dahin zielende Regulative, durch ein dieſem Zweck angepaßtes Beförderungs⸗ und Zurückſetzungs⸗Syſtem. Die Geſchichte der Schulen hat ſolche Perioden aufzuweiſen; eine derſelben iſt noch in lebhafter Erinnerung. Wenn in diefer Weife der freie Geiſt geknechtet, der ethiſche Unterricht Tendenzzwecken dienſtbar ge⸗ macht wird, wenn er in ſeiner jedesmaligen Färbung alle etwaigen Schwankungen maßgebender Kreiſe mitmachen muß, wenn die Geſinnung uniformiert und patentiert werden ſoll, dann wäre freilich das Syſtem vorzuziehen, das den rein intellektuellen Fächern den Vorrang gewährt. Dann, aber auch nur dann, hat das andere Syſtem Gefahren. Wird aber der Individualität eine gewiſſe Freiheit gewährt, ſo wird nie von einer ernſtlichen Gefahr die Rede ſein können. Individualitäten wirken immer anregend; ſie allein können „Herz zu Herzen ſchaffen“, weil es ihnen recht von Herzen geht. Die Einſeitig⸗ keit der einen Individualität wird durch die andere aufgehoben; der Schüler fühlt durch ſein ganzes Schulleben hindurch, daß Menſchen auf ihn wirken, Menſchen mit eigenem inneren Leben und heiligen Überzeugungen, nicht bloße Figuranten. Nur durch Menſchen von ausgeſprochener Individualität kann ein Schulweſen hochkommen, nur durch Achtung vor der Individualität ſich auf der Höhe erhalten. Es iſt ein erfreuliches Zeichen für die ſteigende Beachtung, die die Notwendigkeit innerer Selbſtändig⸗ keit und individueller Bedeutung im modernen Bewußtſein findet, daß ſelbſt auf dem Gebiet des Militärweſens der Geiſt des Führers durch Abſchaffung ſtarrer Formen freigemacht wird zu ſelbſtändigem Entſchluß, daß ſelbſt für die einzelnen Soldaten das feſte Zuſammenſchließen zu Kolonnen nicht mehr zeitgemäß erſcheint. Wie viel eher wird da die Notwendigkeit verſtanden werden, auch im Schulweſen der berechtigten Eigenart ſelbſtändiger 62 Geiſter Spielraum zu laſſen und ihnen dadurch eine möglichſt ausgiebige Wirkſamkeit zu ſichern; wie viel eher wird begriffen werden, daß auch hier die „zerſtreute Ordnung“ ſicherer zum Ziel führt, als die „geſchloſſene“; die Gleichmäßigkeit der wiſſenſchaftlichen Leiſtung iſt dabei ebenſo wenig aus⸗ geſchloſſen, wie Gleichmäßigkeit der techniſchen Ausbildung bei den Soldaten. Jedenfalls muß aber auch dem Schüler eine Waffe in die Hand gegeben werden, die es ihm ermöglicht, in wachſender Selbſtändigkeit ſeinen Lehrern gegenüber zu treten; der Geiſt muß allmählich frei gemacht, zu einer Kontrolle über das, was der Lehrer ſagt, befähigt werden, damit dem jurare in verba ma⸗ gistri vorgebeugt werde; das geſchieht am beſten durch eine gründliche formale Bildung, durch Pflege der mehr intellektuellen Fächer. Sie in den Mittelpunkt zu ſtellen iſt darum nicht rat⸗ ſam, weil leicht eine gewiſſe Kälte des Gemüts, ein echter Be⸗ geiſterung unfähiger Egoismus großgezogen wird. Echte und tiefe Bildung wird immer nur an der Betrachtung von Menſchen⸗ welt und Leben erzogen; wenn in Verbindung damit die Natur⸗ wiſſenſchaften eine vernünftige Pflege erfahren, da das geiſtige Leben nur im Zuſammenhang mit dem körperlichen, der Menſch nur im Zuſammenhang mit der Natur voll verſtanden werden kann, ſo ergäbe das meiner Meinung nach die echte huma⸗ niſtiſche Bildung. Daß das Syſtem unter den oben erörterten Vorausſetzungen Schaden bringen kann, ſtößt die Gültigkeit der ihm zu Grunde liegenden Gedanken nicht um, jedes Syſtem iſt des Mißbrauchs fähig; eben ſo wenig der Umſtand, daß es nur unter tüchtigen Lehrern Erfolg verſpricht; es giebt auch nur wenige Gertruds, und doch ſind die Gedanken Peſtalozzis unanfechtbar. Dieſe humaniſtiſche Bildung, Knaben in der Hauptſache von Männern, Mädchen in der Hauptſache von Frauen gegeben, wäre mein Schulideal. Eben weil die ethiſchen Fächer dieſe Macht über die Gemüter, dieſen unbedingten Einfluß auf die Charakterentwicklung geben, darum habe ich ſie in der Mädchen⸗ ſchule für die Lehrerinnen beanſprucht. Daß noch nicht bei allen die Einſicht in die Bedeutung gerade dieſer Fächer vorhanden 63 iſt, davon zeugt das naive Erſtaunen, das ſelbſt manche Lehrerin über dieſe Wahl an den Tag legte. Wenn wir nun die deutſchen und die engliſchen Mädchen⸗ ſchulen vergleichen, ſo iſt es offenbar, daß wir mehr den ethiſchen, die Engländer den intellektuellen Unterricht betonen. Beide ſind vielleicht ein wenig ins Extrem gegangen; im ganzen ſtehe ich, wie eben ausgeführt, entſchieden auf unſerer Seite. Den Wert unſeres deutſchen Syſtems an ſeinen Wirkungen nachzuweiſen, wird einſtweilen ſchon aus dem Umſtande unmöglich ſein, weil es aus mehreren Gründen auch bei uns noch zu keiner recht wohlthätigen Wirkung hat gelangen können. Es ſcheint mir überhaupt zweifel⸗ haft, ob ein ſolcher Nachweis je möglich ſein wird. Wer will den ſubtilen Fäden, die zu einer ſittlichen Wirkung zuſammen⸗ laufen, in ihrem Verlauf nachſpüren? Man kann nicht Menſchen wie Fabrikware auf Beſtellung nach einem Modell fertigen. Individualität und äußere Umſtände beſtimmen darüber, ob die Samenkörner, die wir ausſtreuen, Wurzel ſchlagen. Wir haben unbekümmert darum weiter zu arbeiten; ein Durchſchnittserfolg wird ſicher nicht ausbleiben, wenn er auch nicht immer greifbar iſt; die feinere Sittlichkeit gehört eben zu den Imponderabilien. Einen Unterricht wie unſeren deutſchen finden wir nun in den engliſchen high schools, wo er natürlich „Engliſch“ heißen müßte, ſehr ſelten, wenigſtens in der Ausdehnung und mit dem klaren Zielbewußtſein, das ſich in unſerer Idee damit verbindet. Eine Entſchuldigung iſt allerdings dafür anzuführen: wir finden in unſerer Litteratur gerade für dieſen Zweck einen ganz anderen Anhalt, als die Engländer. Es giebt keine Litte⸗ ratur in der Welt, die ſo geeignet wäre zu ethiſcher Wirkung und zugleich ſo rein und edel, daß ſie in ihren Meiſterwerken auch für Kinder unbedenklich in gleichem Maße verwertbar wäre wie die deutſche. Es würde eine ſchwierige Arbeit ſein, aus der engliſchen Litteratur — von der franzöſiſchen garnicht zu reden — einen Kanon von Dichterwerken zuſammenzuſtellen, die ge⸗ eigneten Unterrichtsſtoff böten, und doch wäre mit aller Mühe nichts zu finden, was an Mannigfaltigkeit, Reinheit und Tiefe der Wirkung auf ein eben zum Selbſtbewußtſein erwachendes 64 Gemüt ſich mit Schillers und Uhlands Gedichten, mit Hermann und Dorothea, Iphigenie, Taſſo, der Jungfrau, dem Nathan auch nur im Entfernteſten meſſen könnte. Trotz alledem ſollte und müßte aber auch mit dem Vor⸗ handenen in geeigneter Weiſe gewirkt werden. Es iſt zwar der (freilich vielfach nur fakultative) Religionsunterricht da, doch aber müßte neben dieſem unmittelbar an das Herz, an den Glauben ſich wendenden Unterricht ein anderer beſtehen, der für dieſelben Wahrheiten auf dem Umwege durch den Intellekt zu wirken ſuchte. Dieſer Mangel im engliſchen Schulweſen — in den Knabenſchulen liegt er in gleicher Weiſe vor — wird aber auch vielfach empfunden, und man ſucht nach Mitteln, ihm abzuhelfen. Eine kleine Broſchüre von E. A. Manning: Moral Teaching in Schools weiſt darauf hin und ſchlägt einen elementar ge⸗ haltenen Kurſus in Ethik zur Abhilfe vor; wir würden da mit unſerem „deutſchen“ Unterricht — NB. wenn er richtig erteilt wird! — immer noch im Vorteil ſein, weil er unmerklich und als ſelbſtverſtändlich, an hohe und edle Phantaſiegeſtalten an⸗ knüpfend, das übermittelt, was ein ſolcher Kurſus in der Ethik nur ſyſtematiſch und ſo zu ſagen abſichtlich geben kann. Viel⸗ leicht ließe ſich doch unter ſtärkerer Herbeiziehung der Proſa⸗ litteratur, als das bei uns nötig iſt, ein litterariſcher Mittelpunkt für ſolchen ethiſchen Unterricht ſchaffen. Der Mangel im engliſchen Schulweſen wird nun zwar — das muß erwähnt werden — durch einige Faktoren, die das häusliche und geſellſchaftliche Leben in England bietet, zum großen Teil wieder ausgeglichen, Faktoren, die zum Glück mächtig genug ſind, auch die Nachteile wieder auszugleichen, die eine mit deutſchen Begriffen unverträgliche zu große Nachſicht in der erſten Kindheit mit ſich bringen muß. Das ſind 1. eine vorzügliche Kinderlitteratur, 2. Anleitung zu praktiſcher Wohlthätigkeit von der früheſten Kindheit an. Eine angeborene Wahrhaftigkeit und eine entſchiedene Energie des Willens kommen dazu. Ich kann nur kurz auf die beregten Punkte eingehen. Wenn unſere klaſſiſche Litteratur unvergleichlich mehr zu ethiſcher Ver⸗ wertung für die Jugend geeignet iſt als die der Engländer, ſo 65 ſchlägt hingegen ihre unterhaltende Litteratur für Kinder und beſonders für junge Mädchen, wie ſie durch Miß Vonge, Maria Edgeworth, Louiſa Charlesworth, Florence Montgomery, Miß Sewell und ſehr viele andere vertreten iſt, unſere Clara Cron, Clementine Helm und wie ſie heißen mögen, vollſtändig aus dem Felde. Wir haben den oben ge⸗ nannten Schriftſtellerinnen eigentlich nur die einzige Ottilie Wildermuth in ihrer geſunden, wenn auch manchmal etwas nüchternen Lebensauffaſſung gegenüber zu ſtellen. Im übrigen aber krankt unſere Litteratur für junge Mädchen an dem ſehr bedenklichen Übelſtande, daß ſie in eine unwahre Welt einführt, ihnen die Freuden des Ballſaals, der Geſellſchaft, der Kränz⸗ chen ic. in glänzendem und falſchem Lichte darſtellt und alles thut, um Regungen zu verfrühen, die weit beſſer noch ein paar Jahre ſchliefen. Die engliſchen Schriftſtellerinnen aber ſtellen ihre jungen Leſerinnen vor ihrem Alter angemeſſene pſychiſche Probleme und bringen ſie zum Nachdenken darüber; ſie ſtellen die Welt dar, wie ſie wirklich erſcheint, aber vom Standpunkt eines Menſchen aus, der es ernſt mit ſeiner inneren Entwickelung nimmt. Dieſe Lektüre — und engliſche Kinder leſen ſehr viel — vertritt zum Teil die Stelle, die unſer deutſcher Unterricht ein⸗ nimmt; ſie bringt zu innerer Einkehr und wirkt auf das ſittliche Wollen. Zu praktiſcher Ausübung desſelben aber wird den engliſchen Kindern meiſtens mehr Gelegenheit geboten als unſe⸗ ren. Sie lernen menſchliches Elend und Hülfsbedürftigkeit mehr aus eigener Anſchauung kennen, ſie werden möglichſt früh an⸗ geleitet, ihre Kräfte in den Dienſt der Nächſtenliebe zu ſtellen. Thätige Hilfe im Dienſt der Armen und Kranken gehört zu den Pflichten, deren ſich jede engliſche Frau bewußt iſt und zu deren Ausübung ſie ihre Töchter anhält. Und ein beſonders hübſcher Zug einiger Londoner high schools iſt es, daß ſich dort old girls' associations gebildet haben, deren ausgeſprochener Zweck es iſt, nach Kräften menſchlichem Elend, das ſich nirgends ſo nackt und offen zeigt als in der Hauptſtadt Englands, ſteuern zzu helfen. So gleicht das Haus und das praktiſche Leben jenen Mangel Lange, Frauenbildung. 5 66 im engliſchen Schulſyſtem aus. Trotzdem ſollte auch in der Schule das Nötige geſchehen, und bei dem entſchiedenen Inter⸗ eſſe, das verſchiedene der leitenden engliſchen Frauen dem Gegen⸗ ſtand zeigen, iſt das auch früher oder ſpäter zu erwarten. Während wir ſo dem engliſchen Syſtem eine Anleihe bei dem deutſchen empfehlen konnten, fragt es ſich, ob wir nicht, was den andren Punkt, die intellektuelle Bildung betrifft, eine ſolche bei dem engliſchen machen könnten. Daß in Bezug auf die intellektuelle Bildung in den deutſchen Mädchenſchulen nicht genug geſchieht, iſt mir nicht nur aus eigener Erfahrung ſondern auch aus den Mitteilungen von Männern, die als Examinatoren junger Mädchen reiche Erfahrungen geſammelt haben, völlig klar. Während häufig gute Kenntniſſe in Litteratur, Geſchichte und neueren Sprachen gefunden wurden, waren durchſchnittlich die Leiſtungen im deutſchen Aufſatz geringwertig und die Fähig⸗ keit zum ſelbſtändigen, logiſchen Denken in ſehr niedrigem Maße entwickelt. Wer mit der Ausbildung junger Mädchen zu thun hat, wird es beſtätigen, daß nichts ſchwieriger iſt, als ſie zu eigenem Denken zu bringen. Und doch finden wir, daß ſie als Schülerinnen der Unter⸗ und Mittelklaſſen friſch und fröhlich gedacht haben; auf der Oberſtufe dagegen tritt eine gewiſſe Lähmung ein. Das mag vielleicht damit zuſammenhängen, daß hier vom Intellekt (nicht mit dem Gedächtnis zu verwechſeln!) keine genügende, kräftige Anſpannung verlangt wird. Die längſt⸗ getriebenen alten Fächer werden ohne große Anſtrengung weiter bearbeitet, — und es wäre entſchieden ein Vorteil, wenn ein ganz neuer Denkſtoff an die Mädchen heranträte gerade in den Jahren, wo ſie ſchlaff zu werden pflegen, und ſie zu energiſcher Aktion veranlaßte. Welches Fach könnte das ſein? Die engliſchen high schools bieten da alte Sprachen und Mathematik. Die alten Sprachen werden in den engliſchen Mädchen⸗ ſchulen ausgeſprochenermaßen nicht einer etwaigen ethiſchen, ſondern lediglich ihrer intellektuellen Bedeutung wegen betrieben. Man iſt nicht der Meinung, daß die radebrechende Schullektüre der alten Klaſſiker im Urtert das Gemüt mit antiken Ideen und 67 Gefühlen erfüllen könne; man betont aber ſtark den Wert der geiſtigen Gymnaſtik, die ſie gewährt. Es würde wohl kaum hier der Platz ſein, auf den Streit, der jetzt in Deutſchland und auch in England in Bezug auf den Bildungswert der alten Sprachen herrſcht, des Näheren einzugehen; ich verweiſe in dieſer Beziehung auf eine der vorzüglichſten Schriften, die in den letzten Jahren über den Gegenſtand erſchienen ſind, auf Clemens Nohl's Pädagogik, reſp. auf ſeine Ausführungen über die lateinloſe Mittelſchule, denen ich nur Wort für Wort zuſtimmen kann. Die öffentliche Meinung ſpricht ſich ja auch von Jahr zu Jahr lauter gegen die Oberherrſchaft des humaniſtiſchen Gymnaſiums, reſp. der alten Sprachen aus, und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß man die geiſtige Gymnaſtik, die man nur durch ſie geben zu können behauptet, längſt auf anderem Wege geſucht und auch gefunden hätte ohne das künſtliche Syſtem von Berechtigungen, die gerade dies Studium erzwingen. Sein formaler Bildungswert iſt gewiß groß; das Leben verlangt aber heute zu viel, als daß wir die Ausbildung unſerer geiſtigen Kräfte viele, die beſten Jahre hindurch, an ein Mittel binden, das mit dem wirklichen Leben nie etwas zu thun haben kann und eine gewaltige Ueberbürdung mit ſich bringt. Meine perſönliche Anſicht geht dahin, daß ſich eine Entlaſtung des Schulunterrichts, die doch dringend notwendig erſcheint, nur durch Beſchränkung, reſp. Vereinfachung des Sprachunterrichts erreichen laſſen wird. Es erſcheint mir ſehr wahrſcheinlich, daß eine nicht allzuferne Zukunft den Unterricht in den alten Sprachen thunlichſt beſchränkt und daß man ſich in den modernen Sprachen möglichſt raſch eine elementare Kennt⸗ nis aneignet, — vermutlich nach einer verbeſſerten analy⸗ tiſchen Methode, ferner durch Lektüre und indem man den Unterricht nur durch ſolche Inländer, die im Auslande ſelbſt die Sprache ſtudiert haben, erteilen läßt — um ſich dann der Sprache als Mittel zum Zweck zu bedienen, um durch ſie in fremdes Volksleben und fremde Weltanſchauung einzudringen. Denn das iſt der eigentliche Wert ſprachlicher Bildung, daß ſie es uns ermöglicht, eine breitere geiſtige Strömung zu überblicken, 5 68 daß alſo auch ſie an ihrem Teil der ethiſchen Durchbildung dient. Die Methode aber, die das bei Kindern allein möglich macht, läßt ſich nur bei lebenden Sprachen voll durchführen, weil es nur hier Sprechende, nur hier lebendige, uns voll verſtändliche Gegen⸗ wart giebt. Die formale Bildung, von der ſo viel im Sprach⸗ unterricht die Rede iſt, wird eher beſſer als ſchlechter wegkommen, wenn man die grammatiſchen Turnkünſte, die jetzt vor den Beſitz der Sprache gelegt werden, bei den Anfangsgründen auf das allernotwendigſte beſchränkt und in der Hauptſache erſt vornimmt, wenn wenigſtens einiges Material dazu vorhanden iſt, ſo daß ſich thatſächlich die Regel aus den Beiſpielen abſtrahieren läßt. Man ſollte immerhin ſchon jetzt an der Mädchenſchule, in der in dieſer Beziehung doch noch etwas mehr Freiheit herrſcht, als in der Knabenſchule, darauf wirken, daß die modernen Sprachen aus dieſen Geſichtspunkten betrieben würden, daß die Lektüre und das lebendige Wort entſchieden das Übergewicht bekämen über die Grammatik. Gegen die Einführung der alten Sprachen in die Mädchen⸗ ſchule würde ich mich alſo entſchieden erklären. In England iſt ihre Einführung zum Teil auf den Einfluß der Männer (der Examinationsbehörden), zum Teil auf uralte Sitte zurück⸗ zuführen. Nicht nur Lady Jane Grey las den Plato; das Studium der Alten iſt niemals ganz vom weiblichen Geſchlecht in England vernachläſſigt worden. Wenn auch vielleicht nicht in den boarding schools, ſo wurde es doch ſehr viel privatim betrieben. Dann haben wohl Opportunitätsgründe ſtark mit⸗ gewirkt. Für die Colleges erſcheint eine gründliche Vorbildung in den altklaſſiſchen Sprachen notwendig.“ *) Die von mir hier ausgeſprochenen Anſichten über die alten Sprachen werden von vielen der Führerinnen der engliſchen Frauenbewegung geteilt. Sie haben ſich nur einſtweilen dem mächtigen Druck der Verhältniſſe gefügt. Aber auch in England iſt der Widerſtand gegen die Oberherrſchaft der alten Sprachen ſo mächtig im Wachſen wie in Deutſchland, und wenn nicht alles täuſcht, ſo ſind, wenn auch nicht die Tage, ſo doch die Jahre gezählt, in denen ſie die conditio sine qua non für alle höheren Studien waren. Es würde, wenn ſich das bewahrheitet, das Studium der altklaſſiſchen Sprachen in den high 69 Dergleichen Opportunitätsgründe wären zum Teil ja auch für Deutſchland geltend zu machen, ſo lange die Vorherrſchaft der alten Sprachen dauert. Es wäre gewiß mancher Mutter lieb, wenn ſie wenigſtens die Arbeiten ihres Quintaners oder Quartaners noch beaufſichtigen könnte; auch läßt ſich nicht ver⸗ kennen, daß der Beſitz einiger Kenntnis wenigſtens der lateiniſchen Sprache bei den vielen lateiniſchen Citaten in wiſſenſchaftlichen Werken oft ſehr wünſchenswert erſcheint. Es wäre daher auch wohl nichts dagegen einzuwenden, wenn unſere Selekten neben den anderen Fächern, die ſie zur Auswahl ſtellen, auch dieſes böten, und es iſt eigentlich zu verwundern, daß das nirgends geſchieht; wird doch das weniger verwendbare Italieniſch vielfach gelehrt. Endlich iſt ja eine gründliche Kenntnis der alten Sprachen für die gelehrten Berufe obligatoriſch. Leider aber findet ſich für die, die etwa auf fremden Univerſitäten ſich zu einem ſolchen Beruf vorbereiten wollen, in Deutſchland keine Gelegenheit, die nötigen Vorkenntniſſe anders als auf dem teuren Wege des Privatunterrichts zu erwerben. Da thäte dringend Abhilfe Not. So entſchieden eine Umwandlung aller Mädchenſchulen in eine Art von Gymnaſium, die Umwandlung der allgemeinen Schule, in eine Fachſchule zu widerraten wäre, ebenſo dringend iſt die Gründung einer Anzahl von Fach⸗ ſchulen zu wünſchen, die denen, welche die Univerſität beſuchen wollen, die nötige Vorſchulung gewähren. Es wäre völlig früh genug, wenn die Mädchen vielleicht mit dem vierzehnten Jahre, in einem Alter, wo ſich ſchon ungefähr die Fähigkeiten beurteilen laſſen, wo man auch ſchon ungefähr wiſſen kann, ob das Er⸗ greifen eines Berufs notwendig werden wird, in eine ſolche Vorſchule eintreten könnten; viele würden vermutlich noch viel ſpäter eintreten und mit gereiften Geiſteskräften noch raſch genug schools und zum Teil auch in den Frauen⸗Colleges in England beſchränkt werden können. Das iſt auch der offen ausgeſprochene Wunſch gerade von Miß Clough und Mrs. Sidgwick, die eben nur dem unbeſtreitbar wahren: „wir müſſen lernen, wie die Männer lernen, oder ſie erkennen uns nicht an“ nachgegeben haben. 70 das Notwendige ſich aneignen. So, als Fachvorſchulen, haben Mädchengymnaſien oder Realſchulen Sinn, und die auf Errich⸗ tung derſelben zielenden Beſtrebungen verſchiedener Frauenvereine ſollten gerade von Frauen um ſo mehr unterſtützt werden, als es nach den bisherigen Erfahrungen nicht den Anſchein hat, als ob auf anderem Wege als dem der Selbſthilfe in nächſter Zukunft etwas zu erreichen ſein würde. Aber zurück zur Mädchenſchule. Möchte ich hier die wünſchenswerte formale Bildung nicht an klaſſiſche Sprachen, die immer nur ein ſehr geringer Pro⸗ zentſatz der Mädchen zu ſpäteren Studien verwerten wird, knüpfen, ſo möchte ich um ſo dringender Naturwiſſenſchaften und Mathematik befürworten. Naturwiſſenſchaften werden ja in der Mädchenſchule betrieben; ſie brauchen nur mit mehr Ernſt, weniger dilettantiſch und mit mehr Anſprüchen an das eigene Denken betrieben zu werden, als das ſtellenweiſe geſchieht, um ein vorzügliches Bildungsmittel abzugeben. Von der Rolle, die ſie als notwendige Ergänzung der ethiſchen Fächer, zur Vervollſtändigung der Lebenskunde ſpielen, iſt ſchon oben die Rede geweſen; beſonders groß iſt aber auch ihr Wert als formales Bildungsmittel. Der Schüler lernt durch ſie richtige Beobachtung der Wirklichkeit, lernt, daß er „nur durch ruhiges und beſonnenes Fortſchreiten von der ſicher begründeten That⸗ ſache“ zur Wahrheit gelangen kann. — Sehr zu wünſchen aber wäre nach meiner Meinung noch die Einführung der Mathe⸗ matik, der Algebra wie der Geometrie, in die Mädchenſchule. Nicht nur halte ich ihren Wert für die formale Bildung für höher als den der Sprachen — die Unerbittlichkeit, mit der ein falſcher Schluß das Weiterkommen verhindert, iſt ein uner⸗ ſetzliches Erziehungsmittel — es wird darin auch gerade das geboten, was wir ſuchten: ein ganz neuer und darum anregen⸗ der und fördernder Gegenſtand. Ich geſtehe nun offen, daß ich ſelbſt erſt durch die Erfahrung von dem Vorurteil habe zurück⸗ kommen müſſen, daß die Mathematik ein den Mädchen im allge⸗ meinen unzugängliches Fach ſei. Es wird in England mit großem Eifer betrieben, nicht nur in den high schools, ſondern es wird 71 auch auf den Univerſitäten mit Vorliebe der ſchwierige mathe⸗ matiſche Tripos, der ſehr eingehende Kenntniſſe verlangt, in Angriff genommen. Die Leiſtungen der ligh schools ſind, das erkennt auch Schöll an (Schmidts Encycl. Bd. 3, S. 1132), gründlich und tüchtig, und die Prüfungsliſten der Univerſitäten weiſen nach, daß auch in der höheren Mathematik ſehr Be⸗ friedigendes geleiſtet wird. Ich glaube, es würde der formalen Bildung unſerer Mädchen, der Schulung im Denken und Schließen, außerordentlich förderlich ſein, wenn einige Mathe⸗ matikſtunden wöchentlich gegen anderes, Entbehrlicheres auf den Stundenplan geſetzt würden, — ein Aderlaß bei den Sprachen wäre ganz unbedenklich — wenn dadurch der rein intellektuellen Bildung neben den ethiſchen Fächern Rechnung getragen würde. Ich finde mich bei dieſem Wunſch in Übereinſtimmung mit Clemens Nohl, der die Behauptung, daß man Mädchen mit Rechnen und Mathematik ferne bleiben ſolle, als „eins der zahlreichen, von Theoretikern erdichteten, von anderen gedankenlos nachgeſprochenen pädagogiſchen Dogmen“ bezeichnet, „das die erſte beſte in einer Mädchenſchule verſtändig gegebene Rechen⸗ oder Mathematikſtunde über den Haufen wirft.“ Er wünſcht dieſe Fächer als geſundes Gegengewicht gegen das „ſentimentale, überſchwängliche, ſchwärmeriſche Treiben“, das leider nur zu oft in Mädchenſchulen, unter dem Vorwande das Gemüt zu pflegen, geduldet wird. Wenn ich nunmehr mein Geſamturteil über die Frauen⸗ bewegung und das Frauenbildungsweſen in England abgeben ſoll, ſo iſt es folgendes. Was der Frauenbewegung zu einem ſo glücklichen Ausgang verholfen hat, das ſind drei Umſtände: 1) das unbeirrte, feſte Zuſammenſtehn der engliſchen Frauen ohne Parteiung und Schwankung; 2) die großherzige Hilfe tüchtiger Männer; 3) der Umſtand, daß die Frauen nicht nur gleiche Rechte wie die Männer erſtrebt, ſondern auch gleiche Lei⸗ ſtungen von ſich verlangt haben. Das iſt es, was für uns vorbildlich ſein kann. Den reichen Geldmitteln, die ſich der Frauenbewegung zu Gebote ſtellten, meſſe ich nur ſekundäre Bedeutung bei; ſie ſtehen in demſelben Verhältnis zu den ganzen übrigen engliſchen Ein⸗ 72 richtungen, wie unſere Mittel zu den unſeren. So gut wir ein ausgebildetes höheres Bildungsweſen für Männer haben, ſo gut könnten wir ein ſolches für Frauen haben — wenn wir wollten, — wenn bei uns dasſelbe Intereſſe dafür vorhanden wäre, wie in England. Was ſodann das Mädchenſchulweſen im beſon⸗ deren betrifft, ſo beſteht ſein größter Vorzug in der entſchie⸗ denen Betonung des Fraueneinfluſſes. Die ausgeſprochene Bevorzugung der intellektuellen Fächer vor den ethiſchen hin⸗ gegen, die England mit faſt allen fremden Nationen teilt, will meinem deutſchen Bewußtſein nicht zuſagen. Doch aber würde ich, wenn auch nicht die alten Sprachen, ſo doch die Mathematik als formales Bildungsmittel gern in unſere Mädchen⸗ ſchulen herübernehmen; wie ich auch dringend die Errichtung von Fachſchulen befürworte, die der von Jahr zu Jahr wachſen⸗ den Schaar derer, die weitere Studien treiben möchten, die nötige Vorbildung gewähren. Im übrigen iſt fraglos das engliſche Mädchenſchulweſen in vieler Beziehung noch weiterer Entwickelung bedürftig, das erkennen die Engländerinnen ſelbſt am willigſten an; der innere Ausbau kann aber auch in einem ſo kurzen Zeitraum nicht vollendet ſein. Es darf uns aber wohl freuen, daß Frauen zu den erſten gehört haben, die mit dem allbekannten mechaniſchen Betrieb des engliſchen Schul⸗ weſens gebrochen haben, unter dem das Knaben⸗ und eigent⸗ liche Privatſchulweſen noch ſchwer leidet, und unter dem vor allem die arg reglementierte Volksſchule zu Grunde zu gehen droht; es iſt ſicher zu erwarten, daß dieſe Frauen auf dem betretenen Wege fortſchreiten werden und mit allen etwaigen Reſten des alten Syſtems bei ſich aufräumen. Die abſolute Freiheit der Entwickelung, die das engliſche höhere Schul⸗ weſen genießt, macht hier die Abſtellung von Fehlern und ver⸗ alteten Einrichtungen leicht, ſobald einmal der Entſchluß dazu gefaßt iſt. Und die energiſche Initiative und große geiſtige Beweglichkeit, die die engliſchen Frauen bei der Inangriffnahme der gewaltigen Reform, die ſich in verhältnismäßig ſo kurzer Zeit vollzogen, gezeigt haben, ſichert ihrer Arbeit eine gedeihliche 73 Zukunft, trotz der Fehler, die etwa zu Anfang dabei begangen ſind. Für Deutſche wird in dieſer Beziehung das Urteil unſeres berühmten Landsmannes, des Prof. Max Müller in Oxford von Intereſſe ſein, auf deſſen Anregung die Gründung der high school in Oxford zum großen Teil zurückzuführen iſt, und der den high schools und der daran von Frauen geleiſteten Arbeit das allergünſtigſte Zeugnis ausſtellt.“ VI. Wenn man die Möglichkeit der Zulaſſung von Frauen zu deutſchen Univerſitäten erörtert und dabei auf das Beiſpiel Englands hinweiſt, ſo wird einem gewöhnlich erwidert, daß dort Verhältniſſe ganz eigener Art vorlägen und daß eine ²) In dem 11. Heft der Buchner'ſchen Zeitſchrift für weibliche Bildung (1888) glaubt eine Lehrerin, die ihren Namen nicht genannt hat, eine Schilde⸗ rung des engliſchen Schulweſens zu geben, indem ſie ihre perſönlichen Erlebniſſe in einer boarding school und in der engliſchen Privatſchule ſchildert. Die high schools und colleges werden garnicht erwähnt; ihre Exiſtenz ſcheint der Dar⸗ ſtellerin nicht bekannt zu ſein. Es iſt befremdlich, daß gerade dieſe Zeitſchrift, die den Standpunkt der öffentlichen höheren Mädchenſchule in Deutſchland vertritt, eine ſolche Schilderung für vollgültig hält. Sie würde vermutlich da⸗ gegen proteſtieren, wenn ein beliebiges deutſches Mädchenpenſionat (!) oder ſelbſt die Privatſchule als typiſch für das deutſche Mädchenſchulweſen hingeſtellt wür⸗ den, obwohl durch die ſtaatliche Aufſicht dafür geſorgt iſt, daß die Leiſtungen der öffentlichen und der Privatſchulen hier die gleichen ſind; in England aber beſteht zwiſchen dieſen und den high schools ein Unterſchied wie zwiſchen Tag und Nacht. Es giebt ſelbſtverſtändlich gute boarding schools und gute Privat⸗ ſchulen; viele von ihnen aber verdanken ihr Daſein einer bedenklichen pädagogi⸗ ſchen Induſtrie, und hier werden dann die ſchlechten Methoden und ganz un⸗ zureichenden Einrichtungen der alten Zeit noch bewahrt und vermutlich bei dem Mangel an Kontrolle bewahrt werden, bis beſſere Schulen an ihre Stelle treten. Nicht nach dieſen, ſondern nur nach den durch ſtrenge Selbſtkontrolle zu ſehr achtungswerten Leiſtungen gelangten high schools und colleges kann die weib⸗ liche Bildung des jetzigen England beurteilt werden; nur das Studium einer 74 Parallele zwiſchen hier und dort gar nicht zu ziehen ſei. Dieſe Antwort ſcheint ſo außerordentlich plauſibel und richtet ſich doch im Grunde nur gegen eine Vorausſetzung, die gar nicht gemacht worden iſt. So thöricht wird wohl niemand ſein, die engliſchen Einrichtungen, wie ſie ſind, nach Deutſchland übertragen zu wollen. Daß ich perſönlich niemals daran denken würde, dafür einzutreten, — einzelne überall empfehlenswerte Dinge aus⸗ genommen — glaube ich in den vorliegenden Blättern zur Genüge ausgeſprochen zu haben. Was übertragen werden ſoll, iſt vielmehr das Princip, nach welchem den Frauen einer Nation dieſelben Studien freizugeben ſind, dieſelben Erleichte⸗ rungen zu gewähren, dieſelbe Förderung zu geben iſt wie den Männern. Dies Princip geſetzt, werden ſich die Dinge in Anzahl derſelben befähigt dazu. An untergeordneten Schulen wird man natürlich immer ſchlechte Erfahrungen machen, wie anderswo auch; an den beſſeren Anſtalten arbeiten deutſche Kolleginnen mit Freudigkeit. Zu einer An⸗ ſtellung an denſelben verhelfen natürlich nur vorzügliche Leiſtungen; es war mir eine ganz beſondere Genugthuung, ſowohl in der erſten Lehrerin (classical lecturer) in Holloway College, Fräulein Thereſe Dabis, als auch in einer Lehrerin in Newnham College (demonstrator at the Chemical laboratory), Fräulein Ida Freund, Landsmänninnen begrüßen zu dürfen. Sie haben ſich zu ihren Stellungen durch das mit ſehr gutem Erfolg abſolvierte Studium des klaſſiſchen, reſp. naturwiſſenſchaftlichen tripos in Cambridge fähig gemacht. — Was endlich das nun ſchon chroniſch gewordene Mißverſtändnis der oft wieder⸗ holten Worte Luiſe Büchners betrifft, ſo hat die Schreiberin des erwähnten Artikels, da kein Grund vorliegt, mala fides vorauszuſetzen, einfach nicht ordent⸗ lich geleſen; die Worte beziehen ſich nicht auf die deutſche Mädchenſchule an ſich, ſondern auf das Syſtem Mädchen in erſter Linie durch Männer bilden zu laſſen, während „eine jede echt weiblich fühlende Frau, wenn ſie die Erfah⸗ rungen ihres Lebens überblickt, uns darin beiſtimmen wird, daß vorzugsweiſe für das angehende Jungfrauenalter weibliche Lehrkräfte und weiblicher Einfluß zu verwenden ſind.“ Das ſind Luiſe Büchners Worte; daß man dieſe Wahr⸗ heit in Deutſchland nicht anerkennt, erregt das höchſte Befremden aller auswär⸗ tigen Nationen und hat das harte, aber gerechte Wort veranlaßt. Die Auf⸗ faſſung, der es entſprungen, ſollte wohl am wenigſten von Frauenſeite Wider⸗ ſpruch erfahren. Ein ſolcher iſt übrigens auch, als es zuerſt geſchrieben wurde, in keiner Weiſe laut geworden; das Wort iſt jetzt nur im Partei⸗Intereſſe ent⸗ ſtellt, und ich halte es für meine Pflicht, Luiſe Büchner, der wir ſehr viel verdanken, vor dieſer Entſtellung zu bewahren. 75 Deutſchland auf deutſche Weiſe entwickeln, wie ſie ſich in England auf engliſche Weiſe entwickelt haben. Die meiſten europäiſchen Staaten — von Amerika ganz abgeſehen — haben jetzt dies Princip wenigſtens in Bezug auf die Univerſitätsſtudien entweder ſchon ganz durchgeführt, oder ſie haben doch mit ſeiner Durchführung begonnen. Sehen wir uns die einzelnen Staaten darauf hin an“). Frankreich iſt den Frauen ſchon ſehr früh und in der großmütigſten Weiſe entgegengekommen. Von 1866—1882 ſind ſchon 109 akademiſche Grade an Frauen gegeben worden. Auch die mediziniſche Fakultät machte hier wenig Schwierigkeiten. Man kam ſehr ſchnell von dem Vorurteil zurück, daß der weib⸗ liche Intellekt dem mediziniſchen Studium nicht gewachſen ſei, und mit großem Freimut erklärte Erneſt Legouvé, früher ein Gegner der Sache, daß ſeine Meinung, Frauen ſeien zu wiſſen⸗ ſchaftlichen Studien nicht fähig, irrig geweſen ſei. — Es fehlte nun in Frankreich an Vorbereitungsanſtalten für die Univerſi⸗ täten. Erſt nach dem Sturz des zweiten Kaiſerreichs, nach den demütigenden Erfahrungen der ſiebziger Jahre geſchah etwas Ernſtliches für die Frauen, aus der richtigen Erkenntnis, daß die Hebung des ganzen Volks mit der Hebung ſeiner Frauen im engſten Zuſammenhang ſtehe. Der Antrag Camille Sée's auf Begründung von Frauenlyceen wurde aus dieſem Grunde angenommen. „Unſer Geſetz iſt zugleich ein moraliſches, ein ſociales und ein politiſches“, ſo plaidierte er 1880 für dasſelbe in der Kammer; „es betrifft die Zukunft und die Sicherheit Frankreichs, denn von den Frauen hängt die Größe wie der Verfall der Nationen ab.“ Die Stimmung des Landes kam dem Geſetz Sée freudig *) Die nachfolgenden Daten ſind zum Teil direkt aus der Quelle geſchöpft, d. h. von der betreffenden Univerſitäts Verwaltung oder zuverläſſigen Vericht⸗ erſtattern am Orte ſelbſt geliefert worden, zum Teil einem Buch entnommen, das 1884 unter dem Titel The Woman Question in Europe durch Theodore Stanton herausgegeben wurde. Die Artikel, die den Stand der Frauenfrage in den verſchiedenen Staaten behandeln, ſtammen aus zuverläſſigſter, einheimiſcher Feder. 76 entgegen. Die Stadt Rouen war eine der erſten, die ein Mädchenlyceum einrichtete. Es koſtete eine Million Franken; die Hälfte wurde ſofort vom Staat, die andere Hälfte von der Gemeinde gegeben. Am Tage vor der Eröffnung waren 202 Schülerinnen angemeldet. Im Jahre 1882 wurden vom Staat 10 Millionen Franken zu weiterer Gründung von Lyceen be⸗ willigt, die ſeit der Zeit in großem Umfange erfolgt iſt. Über England iſt eingehend berichtet worden. Vom Jahre 1867 bis heute folgte dort die Freigebung eines Rechts nach dem andern, die Gründung eines Colleges nach dem andern. Die Zahl der ſtudierenden Frauen iſt von 5 auf etwa ebenſo viele Hunderte angewachſen. Die Schweiz hat bekanntlich gleichfalls ſehr früh den Frauen ihre Univerſitäten geöffnet. Zürich ging 1868 voran; es folgten dann in den ſiebziger Jahren Genf, Bern und Neu⸗ chätel. Die Frauen haben hier, wie in England und Frank⸗ reich, genau dieſelben Verpflichtungen zu erfüllen, wie die Männer, genießen aber auch völlig dieſelben Rechte. Es folgte dann Schweden mit der Freigebung der Uni⸗ verſitätsſtudien für Frauen. Vom Jahre 1870 ab waren ſie zu⸗ gelaſſen; von 1873 ab konnten ſie in den ſchönen Wiſſenſchaften und in der Medizin dieſelben akademiſchen Grade erlangen, wie die Männer. Die vorzügliche Haltung der ſtudierenden männ⸗ lichen Jugend den Frauen gegenüber wird allgemein gerühmt. Dänemark folgte 1875. Es eröffnete den Frauen die einzige Univerſität, Kopenhagen; ſie dürfen in allen Fakultäten mit Ausnahme der Theologie akademiſche Grade erwerben. In Italien war man der Sache der Frauen ſchon lange günſtig geſinnt. Der Unterrichtsminiſter Bonghi eröffnete ihnen die Univerſität noch am Vorabend ſeines Falls (1876). In Rußland hatten die Frauen ſchon 1867 um Zulaſſung zu den Univerſitäten gebeten; ihre Bitte war ihnen aber von dem Unterrichtsminiſter Grafen Tolſtoi rundweg abgeſchlagen worden. Die Profeſſoren der Univerſität zu St. Petersburg machten dann von ihrem Recht, öffentliche Vorleſungen zu halten, in der Weiſe Gebrauch, daß thatſächlich die Frauen zehn 77 Jahre lang ihre Studien verfolgen und examiniert werden konnten, ohne daß ihre Zulaſſung offiziell ſtattgefunden hatte. Derſelbe Miniſter willigte dann ein, Kurſe für Frauen an der Univerſität St. Petersburg einzurichten; ſie wurden im Jahre 1878 eröffnet und ſehr zahlreich beſucht. Die Univerſitäten Moskau, Kiew, Kaſan u. a. folgten. — Daß Finnland ganz beſonders weit iſt in allem, was die Frauen betrifft, iſt wohl allgemein bekannt. 1880 wurde in Amſterdam die erſte Frau inſkribiert. Holland war aber eigentlich inſofern allen andren Staaten voraus geweſen, als dort (nach einer direkten Auskunft des Rector magnificus zu Amſterdam) die Frauen niemals von den Univerſitätsſtudien ausgeſchloſſen geweſen waren. Das neue, 1876 gegebene Geſetz für den höheren Unterricht brauchte ihnen aus dieſem Grunde das Studium nicht erſt zu geſtatten. Sie haben in jeder Beziehung dieſelben Rechte, wie die ſtudie⸗ renden Männer, können alſo wie dieſe immatrikuliert werden und jeden akademiſchen Grad erlangen, falls ſie die dazu nötigen Examina ablegen. Die erſte Immatrikulation in Amſterdam erfolgte, wie ſchon erwähnt, 1880; an der Groninger Univerſität ſchon früher. An allen vier holländiſchen Univerſitäten (Leiden, Utrecht, Groningen, Amſterdam) ſtudieren Frauen, wenn auch ihre Zahl nicht ſehr groß iſt. Auch in Belgien wurde 1880 die erſte Frau zugelaſſen (in Brüſſel); ſeit 1883 wurde die Zulaſſung von Frauen allge⸗ mein, und es ſtudieren jetzt Frauen in Brüſſel, Lüttich und Gent mit gutem Erfolg. In demſelben Jahre 1880 bittet in Norwegen die erſte Frau, Cecilie Thoreſen, um Zulaſſung zum Studium auf der Univerſität Chriſtiania. Nach den Statuten mußte ſie zurück⸗ gewieſen werden; es wurde aber ſofort von einem Parlaments⸗ mitglied ein Antrag eingebracht, den Frauen die Zulaſſung zum Studium und zwar zum examen artium und examen philo- sophicum zu geſtatten. Die Unterrichtskommiſſion befürwortete den Antrag einſtimmig; in den Häuſern ging er mit einer einzigen Stimme dagegen durch; am 15. Juni 1882 wurde er 78 Geſetz. Bei der Immatrikulation von Cecilie Thoreſen ſchickten die Studenten, die ſich der Bewegung höchſt günſtig gezeigt hatten, eine Beglückwünſchungsadreſſe. Über den Stand der Dinge in Spanien und Portugal habe ich von kompetenteſter Seite folgende Auskunft erhalten. Es giebt daſelbſt kein Geſetz, welches den Frauen den Zutritt zu den öffentlichen Unterrichtsanſtalten, als Lernende oder Lehrende, verwehrte, auch keine ſpeziellen Verfügungen darüber in den Statuten einzelner Hochſchulen. Wo daher Frauen den Eintritt verlangen, wird er ihnen nicht verſagt. Die allgemeine und, wie es ſcheint, einigermaßen gerechtfertigte Anſicht geht nun zwar dahin, daß die ſüdlichen Frauen weder Luſt, noch Geiſtes⸗ und Körperkraft zu wiſſenſchaftlicher Bethätigung haben; doch erkennt man ohne Furcht und Zögern Ausnahmen an und ver⸗ fährt dieſen gegenüber mit wahrem Freiſinn und vollendeter Courtoiſie, citiert auch gern und mit Bewunderung die Namen ſolcher Frauen. Die thatſächliche Beteiligung an akademiſchen Studien iſt gering; die eben erwähnte Anſicht ſcheint ſich dadurch zu beſtätigen. Es ſtudieren in Madrid, Valladolid und Barcelona einzelne Frauen, zum größten Teil Medizin. Die portugieſiſche Univerſität Coimbra iſt bisher von keiner Frau beſucht worden; dagegen befinden ſich auf der mediziniſchen Hochſchule zu Porto augenblicklich drei junge Damen, die ſeit mehreren Jahren mit Erfolg und ohne jede äußere Schwierigkeit ſtudiert und die Anatomie beſucht haben. Wenn das Univerſitätsſtudium noch große Ausnahme iſt, ſo finden dagegen die alljährlich ſtattfindenden Elementar⸗ und Gymnaſialprüfungen, zu denen in Portugal unterſchiedslos jeder Knabe und jedes Mädchen zugelaſſen wird, unbekümmert darum, wo und in welcher Weiſe der Einzelne ſeine Kenntniſſe erworben hat und unter völlig gleichen Bedingungen — ſeit etwa ſechs Jahren ſehr rege Beteiligung; es unterwerfen ſich denſelben Hunderte von jungen Mädchen. — Die Frage der Gründung von Mädchenlyceen zu allgemeinerer Förderung der Studien wird ventiliert; ein heftiger Federkrieg iſt darüber entbrannt, da 79 der Wunſch ſehr vieler Portugieſen dahin geht, daß ihre Frauen auch in Zukunft „ſo reizend liebenswürdige und thörichte Kinder bleiben, wie ſie ſeit Adam geweſen ſind. Es bleiben an großen Nationen übrig: Deutſche, Un⸗ garn, Türken. Deutſch⸗Öſtreich hat wenigſtens einen Anfang zu verzeichnen. Eine Miniſterialverfügung vom Jahre 1878 hat die Zulaſſung von Frauen zu den regelmäßigen Vorleſungen ermöglicht. Jeder einzelne Fall iſt beſonders zu prüfen, und die Entſcheidung darüber, ob die Zulaſſung zu gewähren ſei, ſteht dem Profeſſoren⸗ Kollegium der betreffenden Fakultät im Einverſtändnis mit dem Dozenten zu. Immatrikulation und damit Erreichung eines aka⸗ demiſchen Grades iſt ausgeſchloſſen. — Es liegt auf der Hand, daß dieſer Erlaß viel und garnichts ſein kann, je nachdem die Profeſſoren einer Univerſität dem Frauenſtudium geneigt ſind oder nicht. In Wien iſt man ihm mit entſchiedenem Wohl⸗ wollen entgegengekommen. Die dort ſtudierenden Frauen, dar⸗ unter meine Berichterſtatterin, Frau Dr. Schubert, können das Entgegenkommen der Profeſſoren und die rühmliche, reſervierte Haltung der Studenten nicht genug hervorheben. — Die Frauen haben hier nun freilich alle Verpflichtungen der männlichen Studenten zu erfüllen, ohne deren Rechte zu erlangen; legen ſie das Maturitätsexamen ab, ſo wird es ihnen nur privatim be⸗ ſcheinigt; auch ſtatt eines regulären Kollegienheftes erhalten ſie nur private Beſcheinigungen der betreffenden Profeſſoren; dennoch iſt die Zulaſſung zu den Vorleſungen inſofern von größtem Wert, als der Beſuch derſelben auf anderen Univerſitäten, wo Frauen einen akademiſchen Grad erlangen können, wie in Zürich, voll angerechnet wird. Hoffentlich folgt dieſem Anfang bald eine Fortſetzung! In Ungarn iſt von drei Frauen der Verſuch gemacht worden, Zugang zu den Univerſitäten Budapeſt und Klauſen⸗ burg zu finden. Die Univerſitätsbehörden waren geneigt, ſie zu⸗ zulaſſen, indem ſie den Grundſatz vertraten: „Wer die vorge⸗ ſchriebene Vorſchulung nachweiſt, wird, ob Mann ob Frau, zur Immatrikulation, beziehungsweiſe zu den Prüfungen zugelaſſen; 80 der Kultusminiſter Trefort verweigerte jedoch ſeine Zuſtimmung. Da dieſer im Laufe des Jahres geſtorben iſt, ſo wird vielleicht auch in Ungarn bald den Frauen die Zulaſſung gewährt; der Tag iſt alſo möglicherweiſe nicht mehr fern, wo die deutſchen Frauen allein in Europa — auf die Balkanhalbinſel wird man wohl kein Gewicht legen wollen — vom Univerſitäts⸗ ſtudium ausgeſchloſſen ſind. VII. Verſuche, auch in Deutſchland den Frauen den Zugang zu den Univerſitäten zu verſchaffen, ſind in den letzten Jahrzehnten vielfach gemacht worden, wenn auch nur von ihrem eigenen Geſchlecht. Einzelne Profeſſoren ſind auch in Deutſchland der Sache freundlich geſinnt, ohne ſich aber zum Vorkämpfer der Frauen aufzuwerfen. Es finden wohl hin und wieder Zu⸗ laſſungen zum Hoſpitieren — beſonders von Ausländerinnen — ſtatt; neuerdings ſcheint auch darin eine größere Beſchränkung einzutreten. Zum ordentlichen Hören wird niemand zugelaſſen, und im ganzen deutſchen Reich findet ſich auch niemänd, der einer Frau das Maturitäts⸗ oder gar ein höheres Examen ab⸗ nähme. Die deutſchen Frauen ſind alſo genötigt, auf eine weiter⸗ gehende Bildung zu verzichten oder ſie ſich im Auslande an⸗ zueignen. Man kann alſo nicht eben behaupten, daß die beiden großen Nationen deutſcher Zunge in dieſer Frage einen ſehr fort⸗ geſchrittenen Standpunkt einnehmen; in Öſtreich liegt die Sache aber doch noch günſtiger als in Deutſchland. Die Frage beantworten, warum gerade in unſerer Zeit von den Frauen der Zutritt zu den Univerſitäten nachgeſucht wird, heißt zu⸗ gleich den ganzen Grund der Frauenfrage angeben;es tritt in unſe⸗ rer Zeit materielle und geiſtige Not an die Frauen heran, wie noch nie zuvor. Materielle Not: denn der Erſatz der Handarbeit durch 81 Maſchinenarbeit einerſeits, die zunehmende Eheloſigkeit andrer⸗ ſeits läßt eine Menge von Frauen unverſorgt, die vergebens eine lohnende Beſchäftigung ſuchen; genau dieſelben Umſtände ſchaffen da, wo leidliche Vermögensverhältniſſe die materielle Not weniger fühlbar machen, eine geiſtige Not, die nicht minder ſchwer zu ertragen iſt. !Niemand hat ſie beredter geſchildert als E. Davies. „Viele Väter,“ ſagt ſie, „wiſſen ohne Zweifel ſehr wohl, daß ihre Töchter ſehr wenig zu thun haben. Aber das erſcheint ihnen durchaus nicht ſchlimm. Sie wünſchen, ſie hätten ſelbſt etwas weniger zu thun und können ſich allerlei intereſſante Dinge aus⸗ denken, die ſie vornehmen würden, wenn ſie nur ein wenig mehr Muße hätten. Die Mädchen brauchen ja nur zu wählen, und ſie müſſen augenſcheinlich den Müßiggang vorziehen, oder ſie würden ſchon etwas zu thun finden. Wenn das heißen ſoll, daß halberzogene junge Mädchen nicht ernſthaft arbeiten, wenn ſie durchaus keine Veranlaſſung haben, ihre natürliche Trägheit zu überwinden, ſo iſt das ohne Zweifel wahr. Frauen ſind nicht energiſcher als Männer, und ein gewöhnliches junges Mädchen kann ebenſo wenig ohne Grund oder Anleitung ernſt arbeiten, als ein gewöhnlicher junger Mann . . . . Leute, die nicht in nahe Berührung mit jungen Mädchen kommen, haben keinen Begriff, bis zu welchem Grade ſie dabei unter Gewiſſensunruhe leiden. „Die Unzufriedenheit der modernen Mädchen“ iſt nicht nur thörichte Selbſtquälerei. Vielbeſchäftigte Männer nnd Frauen — und Leute mit discipliniertem Geiſt — können ſich nur ver⸗ mittelſt einer gewiſſen Anſtrengung ihrer Einbildungskraft in die Lage hineindenken. Wenn ſie es voll vermöchten, würden ſie nicht mehr das Herz haben zu reden wie ſie thun. Denn das iſt das Härteſte für das moderne Mädchen, daß ſie in einer Zeit lebt, in welcher man den Müßiggang für eine Schande hält. Die geſellſchaftliche Atmoſphäre hallt wieder von Ermah⸗ nungen zu handeln, in der lebendigen Gegenwart zu handeln. Überall hören wir, daß das wahre Glück in der Arbeit zu finden iſt, daß es ohne Arbeit keine Muße giebt, daß Leute die nichts thun, unfruchtbare Feigenbäume ſind, die nur Platz weg⸗ nehmen. Und in dieſer Atmoſphäre lebt und atmet das moderne Lange, Frauenbildung. 6 82 Mädchen. Sie iſt kein Stein, und ſie lebt nicht unter der Erde. Sie hört die Leute reden — ſie hört Predigten — ſie lieſt Bücher. Und beim Leſen ſtößt ſie auf Stellen wie dieſe: . . . „Oue de femmes, si vous exceptez les meres qui se donnent à leur famille, que de femmes, hélas, dont la vie se passe entiére dans de futiles occupations, ou dans des conversa- tions plus futiles encore! Et l'on s'étonne que, rongées d'ennui, elles recherchent avec frénésie toutes les distrac- tions imaginables! Elles accusent la monotonie de leur existence d'étre la cause de ce vague malaise; la vraie cause est ailleurs, elle est dans la fadeur intolerable, non d'une vie dépourvue d'événements et d'aventures, mais d'une vie dont on wentrevoit pas la raison ni le but. On se sent vivre sans qu 'on y soit pour quelque chose, et cette vie inconsciente, inutile, absurde, inspire un mécontentement trop fondé.a“) „Solche Dinge lieſt das moderne Mädchen, und jedes Wort wird durch ihre eigene Erfahrung beſtätigt ... Sie ſucht Rat, und ſie findet ihn. Sie wird aufgefordert, um ſich zu blicken, die Pflicht zu thun, die am nächſten liegt . . . Sie ſieht um ſich und ſieht keinen beſonderen Grund zu thätiger Anſtrengung. Die Pflichten, die nahe liegen, werden durch eine energiſche Mutter oder ältere Schweſter beſorgt . . . . ſie fühlt durchaus keinen Antrieb, irgend eine beſondere Beſchäftigung aufzunehmen, und ſo lange ſie ruhig und liebenswürdig und geſund iſt, ver⸗ langt niemand von ihr das Geringſte weiter. Ihre Verwandten und Freunde — ihre Welt — ſind ganz zufrieden, daß ſie ſo dahinlebt, nur ihren eigenen Launen und Einfällen oder denen der Ihrigen folgend. Der Rat, der ſo leicht gegeben werden, ſo ſchwer befolgt werden konnte, ſetzt gerade das voraus, was fehlt: einen durchgebildeten und disziplinierten Charakter, der imſtande iſt, auf ſich ſelbſt zu ſtehen und ein geſtecktes Ziel ſtetig, ohne Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Belohnung zu ver⸗ folgen. Können wir uns wundern, daß in den meiſten Fällen *) Sermons par T. Colani. Deuxiéme recueil, p. 293. 83 die Mädchen mit dem Strom treiben, ſich ſelbſt verachtend aber gleichgültig ſich in das ergebend, was ihre Beſtimmung zu ſein ſcheint? „Ein Appell an ihre natürlichen Erzieher wird meiſtens ent⸗ weder, ohne weiteres. verworfen oder mit vorwurfsvollem Er⸗ ſtaunen aufgenommen. Man ſieht es als eine gerechte Urſache der überraſchung und Enttäuſchung an, daß wohlerzogene Mädchen, in einer behaglichen Häuslichkeit, einen Wunſch oder Gedanken haben ſollten, der über ſie hinausgeht. Und vielleicht iſt es nur natürlich, daß die Eltern nur ungern Beſtrebungen ihrer Töchter gutheißen, die andere Pflichten und Intereſſen betreffen als die, zu ihrem Behagen und Vergnügen beizutragen. Wenn ſie als feſtſtehend annehmen, daß das außer der Heirat der einzige Zweck iſt, für den die Frauen geſchaffen ſind, ſo bekennen ſie ſich dadurch nur zu der allgemeinen Auffaſſung der menſchlichen Geſellſchaft. Ohne Zweifel glauben ſie auch aufrichtig, daß, wenn ſie ihre Töchter bis zu deren Heirat für ſich behalten, ſie das Beſte für ſie und zugleich das Angenehmſte für ſich thun. Wenn die Töchter eine andere Anſicht haben, ſo denken die Eltern, es kommt daher, daß ſie noch jung und unerfahren ſind und nicht imſtande zu urteilen. Die Thatſache iſt, daß die Eltern unerfahren ſind. Ihre Jugend war in hundert Dingen ver⸗ ſchieden von der Jugend dieſer Generation . . . . Ohne Zweifel iſt die Jugend unwiſſend und braucht Leitung. Aber man ſollte ihr helfen und raten, nicht ſie ſchweigen heißen. Die Eltern nehmen eine ſchwere Verantwortung auf ſich, wenn ſie das Sehnen nach einem weiteren und zweckvolleren Leben erſticken.“ (a. a. O. S. 47 ff.. Und das geſchieht täglich, und nicht nur in England, ſon⸗ dern auch in Deutſchland. Wer hat den Mut zu ſagen, daß die warme, vom tiefſten Mitgefühl zeugende Schilderung der Miß Davies auf unſere Familien nicht paſſe, wer den Mut zu behaupten, daß jedes junge Mädchen unſerer wohlhabenden Familien genügende Beſchäftigung für ihr inneres und äußeres Leben finden könne, wenn ſie nur wolle? Ein Teil gewiß. Es giebt Familien, in denen die Töchter ausreichend und be⸗ 84 friedigend durch häusliche Pflichten in Anſpruch genommen werden; es giebt ferner eine große Zahl junger Mädchen, die, ohne wirklich beſchäftigt zu ſein, voll befriedigt ſind, als liebe und gern geſehene Haustöchter ihren Eltern und den Freunden des Hauſes das Leben zu verſchönern, bis ſie heiraten oder, wenn ſie nicht heiraten, als überall willkommene „Tante“ eine fried⸗ liche und oft in hohem Grade ſegensreiche Exiſtenz zu führen. Segensreich aber iſt dieſe Exiſtenz nur, wenn ſie freiwillig ge⸗ wählt wird; kämpft die Tochter, die nur das Leben ver⸗ ſchönern ſoll, mit dem heißen Wunſch, zu nützen, eine eigene Exiſtenz ſich zu ſchaffen, ſo iſt es eine Verſündigung am Menſchengeiſt, ihr das zu verſagen, wo nicht wirkliche Pflichten ſie binden. Und was für eine Exiſtenz ſoll ſie ſich ſchaffen? — Die, welche ſie wählt. Offenbar können und ſollen nicht alle dieſe jungen Mädchen ſtudieren; das Zauber⸗ wort gegen den modernen Peſſimismus iſt nicht Univerſitäts⸗ ſtudium, ſondern Arbeit, zweckvolle Arbeit überhaupt. Daß das Bedürfnis danach immer mächtiger wächſt, das zeigt der Zudrang zum Lehrerinnenexamen ſelbſt von ſolchen, denen mate⸗ rielle Not fernbleibt und vorausſichtlich auch fern bleiben wird; die nur nach einer feſten Disziplin verlangen, nur arbeiten, zu einem beſtimmten Zweck arbeiten wollen. Selbſt der öde Gedächtniskram, der ihnen zu dieſem Examen noch vielfach zu⸗ gemutet werden muß, ſcheint ihnen der inneren Leere ihrer bis⸗ herigen Exiſtenz, dem Dilettieren hier und da, dem geiſtigen Naſchen in den zielloſen Selekten und Vortragscyklen vorzu⸗ ziehen. Man klagt über dieſen Zudrang zum Lehrerinnenexamen und will ihn als ein böſes Zeichen faſſen: es kann kein beſſeres geben. Daß das geſchieht, was früher unerhört geweſen wäre, daß die Töchter unſerer erſten Familien nach Arbeit, nach vernünftiger, geiſtiger Anleitung und Kontrolle verlangen, daß ſie den Stand heben, auf den ſie früher herab⸗ zuſehen geneigt waren, das iſt ein nicht hoch genug anzu⸗ ſchlagender Gewinn. Aber nicht allen ſagt eben dieſer Beruf zu. Mögen ſie ſich eine andere Eriſtenz ſchaffen. Es iſt gleichfalls im höchſten 85 Grade erfreulich, daß die Krankenpflege berufsmäßig erlernt und betrieben wird, daß die Kindergärtnerei ſich ernſterer Auf⸗ merkſamkeit gerade der gebildeten Stände erfreut; daß das Ge⸗ biet des Kunſtgewerbes und des Gewerbes überhaupt anfängt für die Frauen in Betracht gezogen zu werden. Aber das alles genügt nicht. Soll eine Arbeit erlöſen, ſo muß man ſie nach dem inneren Bedürfnis wählen, muß man nach Maß⸗ gabe ſeiner Kräfte thätig ſein dürfen, kein Gebiet ſollte principiell verſchloſſen ſein, auch das der höheren geiſtigen Bildung nicht. Denen, die geiſtig hungern, ſollte man daher die beſte geiſtige Nahrung freigeben, die Deutſchland zu bieten vermag; niemandem ſollte in deutſchen Landen unbarmherzig irgend eine Gelegenheit zur Ausfüllung innerer Oede verſagt, niemand gezwungen werden, zu erſticken, was wir aufs Höchſte ſchätzen ſollten: die Sehnſucht nach ernſthafter Geiſtes⸗ und Be⸗ rufsarbeit. Und doch wird dieſer Geiſtesmord alle Tage in unſerem Vaterland begangen.) Wer aber ſolchen idealen Gründen nicht zugänglich iſt, den ſollten praktiſche Gründe beſtimmen, für die Freigebung akade⸗ miſcher Studien und der darauf begründeten Berufe auch für Frauen zu ſprechen: ihre immer dringender werdende Not einer⸗ ſeits, die Notwendigkeit, ſie in gewiſſen Berufen thätig zu ſehn, andrerſeits. Die Notlage unter den deutſchen Frauen leugnet man immer noch gern; es iſt ſo ſehr unbequem, ſie zugeben zu müſſen. Aber Zahlen beweiſen. Nun gab es nach der Volks⸗ zählung vom 1. December 1885 in Deutſchland 15,181,823 ehe⸗ mündige, d. h. über 16 Jahre alte Frauen. Davon waren verheiratet 7,944,445, d. h. 52,3 pCt., ledig 5,155,241, d. h. 34 pCt., verheiratet geweſen 2,082,137, d. h. 13,7 pCt. Es ſind demnach in Deutſchland 7,237,378 Frauen, d. h. 47,7 pCt., die ſich ſtets wieder ergänzen, ohne „natürlichen Verſorger“, ganz abgeſehen davon, daß viele, die einen ſolchen beſitzen, auch nicht verſorgt ſind. Es ſcheint ferner die Zahl der Unverheirateten und Witwen, die nicht oder nur nebenſächlich erwerbend thätig ſind (teils als Haushaltsangehörige, teils ſelbſtändig), die alſo durch Familienanſchluß oder durch ſelbſtändiges Vermögen ſo 86 geſtellt ſind, daß, wenn auch geiſtige Not, ſo doch materielle nicht an ſie herantritt, auf über zwei Millionen angeſchlagen werden zu können. Danach bleiben, abgeſehen von den vielen verheirateten Frauen, die noch auf irgendwelche Weiſe zu dem Unterhalt ihrer Familie erwerbend beitragen müſſen, gegen fünf Millionen Unverheiratete und Witwen, die zeitweiſe oder dauernd ihren Lebensunterhalt verdienen und zum Teil noch Andere verſorgen müſſen. Was zunächſt die unteren Stände betrifft, ſo findet ein Teil der dieſen angehörigen Frauen verhältnismäßig leicht ein Auskommen, teils in dienender Stellung in reiner Frauenarbeit, teils in Konkurrenz mit dem Mann, mit dem ſie hier völlig gleichgeſtellt ſind, auch in Bezug auf die leicht zu erwerbende äußere Ausbildung. Ein großer Teil hat wohl un⸗ ſäglich ſchwer zu ringen mit bitterem Elend; aber er hat wenig⸗ ftens den Troſt, nicht ſchlimmer daran zu ſein als der Mann; es ſind hier keine willkürlich gemachten Unterſchiede zwiſchen Mann und Frau. Die Frauenfrage in den unteren Ständen macht darum nur einen integrierenden Teil der ſozialen Frage aus und hängt mit ihrer Löſung zuſammen. Ein willkürlich geſchaffenes, alſo auch leicht abzuſtellendes Mißverhältnis beſteht erſt in den mittleren und oberen Klaſſen, in denen überdies relativ viel mehr unverheiratete Frauen ſind. Hier erſt ſteht der Mann der Frau privilegiert gegenüber; er hat außer den Vor⸗ teilen, die die Natur ihm verlieh, noch eine Menge von Vor⸗ teilen, die ihm die Geſellſchaft, d. h. er ſelbſt, zugeſprochen hat, und macht ſo der Frau das Elend, deſſen Höhe die oben ange⸗ führten Zahlen wohl ahnen laſſen, doppelt fühlbar. Ihm wird jede Gelegenheit zur Ausbildung und alle nur denkbare Erleich⸗ terung geboten; der Frau wird ſelbſt die ſtaatliche Beſtätigung einer etwa ſelbſtändig erworbenen höheren Bildung (die Lehre⸗ rinnenbildung ausgenommen) verweigert; ihm ſtehen in den zahlloſen Beamtenſtellen eben ſo viele lebenslängliche Ver⸗ ſorgungen zu Gebote, an denen die Frau nur in ganz geringem Maße Anteil hat. Wenn ſich einmal ein Verzweiflungsſchrei gerade aus den ge⸗ bildeteren Klaſſen, alsden ausſichtsloſeſten, erhebt, wennihre Frauen 87 den Verſuch machen, auch für ſich irgendwelche von den Privi⸗ legien des Mannes zu erwerben, um in die durch die Verhält⸗ niſſe notwendig gemachte Konkurrenz eintreten zu können, ſo werden ſie immer wieder auf den natürlichen Beruf der Frau hingewieſen. Wahrlich, wer den oben angeführten Zahlen gegen⸗ über noch den Mut hat, die nach Brot oder einem befriedigen⸗ den Wirkungskreis Verlangenden auf einen Beruf hinzuweiſen, den ein ſehr großer Teil der deutſchen Frauen nicht oder nicht mehr erfüllen kann, den beneide ich nicht um ſein Herz und um ſeine Einſicht. Solchen Zahlen gegenüber iſt das Wort vom natürlichen Beruf, von der Stellung der Frau als Gehülfin des Mannes eine Unbarmherzigkeit. Dieſe Zahlen ſtellen ſich zwar in andren Ländern nicht weſentlich anders; überall fängt man aber auch hier an, die willkürlich gemachten Unterſchiede aufzu⸗ heben; man ſucht das Schickſal der Frau durch Freigebung aller Berufe zu erleichtern und ſo wenigſtens einem Teil genügen⸗ des Auskommen zu verſchaffen. Es bleibt auch dann bei der größeren phyſiſchen und geiſtigen Widerſtandskraft des Mannes und ſeiner dadurch bedingten höheren Konkurrenzfähigkeit noch Elend in Menge übrig. Ich habe es nun hier und heute nur mit den gelehrten Berufen zu thun; es liegt auf der Hand, daß damit nur einer beſtimmten Klaſſe, einer verhältnismäßig geringen Anzahl von Frauen geholfen würde; wie auch für andre geſorgt werden kann, das zeigen Frankreich, England, Belgien, die Schweiz, zum Teil auch Süddeutſchland mit ihren Anſtellungen von Frauen im Eiſenbahn⸗, Poſt⸗ und Telegraphen⸗ dienſt. Daß hier wie überall die Befähigung das erſte Wort ſprechen muß, iſt ſelbſtverſtändlich; daß aber die Befähigung zu all dieſen Berufszweigen gerade den preußiſchen Frauen abgehen ſoll, iſt doch kaum glaublich. Es iſt ferner die Notwendigkeit hervorgehoben, Frauen in gewiſſen Berufen thätig zu ſehen. Dahin gehört zunächſt der ärztliche.“) Daß das Zunehmen der Frauenkrankheiten weibliche * Frau Profeſſor Weber hat in mehreren Veröffentlichungen dieſe ethiſche und fanitäre Notwendigkeit den deutſchen Männern genugſam und aus entſchie⸗ denſter Überzeugung ans Herz gelegt. 88 Arzte zu einem gar nicht mehr wegzuleugnenden Bedürfnis macht, iſt allgemein anerkannt, und doch nimmt ſelten jemand die Partei der Frau gegenüber dem nicht ausſchließlich edlen Motiven ent⸗ ſpringenden Widerſpruch der Ärzte. Dieſe dagegen haben noch neuerdings einen beredten Anwalt in Profeſſor Wilhelm Wal⸗ deyer gefunden, der auf der Naturforſcherverſammlung zu Köln einen öffentlichen Proteſt gegen die allgemeine Freigebung des mediziniſchen Studiums für Frauen erhoben hat. Ich darf dieſen Proteſt bei der Bedeutung Waldeyers und bei der großen Wichtig⸗ keit der Frage um ſo weniger unberückſichtigt laſſen, als er mehrere Punkte von prinzipieller Bedeutung berührt. Wenn Profeſſor Waldeyer zunächſt meint, daß ſchon im Alter⸗ tum die Stellung der Frauen bei den Kulturvölkern keine ungünſti⸗ gere geweſen ſei als die der Männer, ſo bedürfte es, um davon zu überzeugen, wohl beweiskräftigerer Beiſpiele als das gelehrte und politiſierende Hetärentum Griechenlands und die Frauen der römiſchen Kaiſerzeit! Wenn dieſe Frauen vielleicht thatſächlich keine hemmende Schranke kannten, ſo hinderte ſie etwas anderes, in Kunſt und Wiſſenſchaft etwas zu leiſten: wie ihre Mit⸗ ſchweſtern durch mechaniſche Arbeit oder den lähmenden Druck unwürdiger Abhängigkeit, ſo waren dieſe Frauen durch üppiges Wohlleben entnervt und zu geiſtiger Initiative unfähig gemacht; ſie konnten mit ernſten geiſtigen Fragen höchſtens kokettieren. Ein zwiefacher Fluch hat im ganzen Altertum auf der Frau ge⸗ laſtet: der geiſttötende Druck mechaniſcher Arbeit oder der er⸗ ſchlaffende Reiz träger Üppigkeit: ſie iſt entweder Sklavin oder Luxusartikel geweſen. Auch die Frau des Mittelalters, die ſich ſchon durch feine Geiſteskultur auszeichnete und darin vielfach Befriedigung fand, hat die ſtärkſten Antriebe zu geiſtiger Arbeit noch nicht gekannt: weder die Notwendigkeit beruflicher Aus⸗ nutzung derſelben, noch das Gefühl äußerer und innerer Selb⸗ ſtändigkeit, das die Not unſerer Tage raſch gezeitigt hat, noch endlich die geiſtige Not, die in der raſtlos thätigen Gegenwart ganz anders empfunden wird als im beſchaulichen Mittelalter, das für innere und äußere Not das gleiche Univerſalmittel bei der Hand hatte: das Kloſter. Wir können alſo mit Recht be⸗ 89 haupten, daß erſt heute die Vorbedingungen beſtehen, die es der Frau ermöglichen, zu zeigen, wozu ſie wirklich fähig iſt. Aber ich gebe vollſtändig zu, daß, wenn in den Frauen eine große produktive Kraft lebendig geweſen wäre, ſie ſich auch durch die obenerwähnten ungünſtigen Umſtände nicht hätte unter⸗ drücken laſſen; ich erkenne gern an, daß bei der geiſtigen Veran⸗ lagung der beiden Geſchlechter dem Manne dieſe produktive Kraft in ungleich höherem Maße zugefallen iſt als der Frau, daß alſo Wiſſenſchaft und Kunſt bis ans Ende der Welt ihre Haupt⸗ förderung vom Manne erfahren werden. Dieſer Produktivität des Mannes ſtellt Waldeyer die Rezeptivität des Weibes gegen⸗ über. Aber dabei vergißt er völlig, daß zwiſchen beiden ein drittes liegt: die praktiſche Ausübung. Es iſt wohl möglich, daß die Frau ſelten oder nie eine Wiſſenſchaft um ein Weſentliches fördern wird, warum ſollte ſie deshalb nicht ausübend darin thätig ſein können? Wenn man die Grenze für die Ausübung gelehrter Berufe da ziehen will, wo die ſelbſtändige Schöpfer⸗ kraft aufhört, ſo werden allerdings diesſeits der Grenze mit wenigen Ausnahmen alle Frauen ſtehen, aber auch mindeſtens 90 pCt. der Männer. Wenn von den jetzt im Beruf ſtehenden Arzten und Lehrern z. B. alle die ausgemerzt werden müßten, denen die Fähigkeit abgeht, ihre Wiſſenſchaft ſelbſtändig zu för⸗ dern, ſo würden 9/10 der Menſchheit nicht wiſſen, von wem ſie ſich kurieren und unterrichten laſſen ſollten. Warum dieſe Fähig⸗ keit zu ſelbſtändiger Förderung eines Berufs der Ausübung des⸗ ſelben ſo günſtig ſein ſoll, vermag ich nicht einzuſehen. Der Arzt, der Lehrer, die die Fähigkeit zu ſelbſtändiger wiſſenſchaft⸗ licher Arbeit haben, ſind nicht unbedingt die beſten in ihrer äußeren Berufsthätigkeit; ſie werden leicht ihre täglichen Forde⸗ rungen gelegentlich hintenanſetzen. Die Frau, deren geiſtige Befähigung wohl zu ſicherer und ſelbſtändiger Ausübung des ärztlichen oder Lehrerberufs, wenn auch nicht zu weſentlicher Förderung der Wiſſenſchaft ausreicht, wird eben darum mit ihrem ganzen Sein ſich der praktiſchen Ausübung ihres Berufs hingeben. Von einem idealen Geſichtspunkt aus müßte ſie alſo gerade willkommen geheißen werden; entlaſtet ſie doch den Mann 90 und macht ſeine Kraft zu weiterer Förderung ſeiner Wiſſenſchaft frei. Und daß, wie Waldeyer fürchtet, durch Zulaſſung der Frauen zum mediziniſchen Studium eine geringere Beteiligung der Männer an demſelben eintreten würde, könnte doch nur dann ein Schade ſein, wenn dieſe Männer thatſächlich den Frauen an Befähigung überlegen wären. Das aber kann doch nur die Konkurrenz ergeben. Profeſſor Waldeyer hat ganz recht: Die furchtbarſte Waffe des Menſchen iſt das Gehirn. Wenn ich nun nur einſehen könnte, warum, wenn dieſer Satz, wie mir unbeſtreitbar erſcheint, richtig iſt, die Männer immer noch äußere Gewalt anwenden, d. h. die Frauen durch Zwang fernhalten von der geiſtigen Arena! Wenn es wahr iſt, daß „noch überall da, wo Mann und Frau in freien Wettbewerb auf demſelben Felde traten, das Weib unterlegen“ iſt, warum ſetzt man denn immer Himmel und Erde in Bewegung, um die Frauen von ſolcher Niederlage zurückzuhalten? Warum appelliert auch Pro⸗ feſſor Waldeyer an die Behörden zum Schutz des ſtarken Ge⸗ ſchlechts gegen das ſchwache? Es muß doch wohl wahr ſein, daß mit dem weiblichen Gehirn irgend etwas nicht in Ordnung iſt; nicht einmal die Logik dieſes Verfahrens will ihm ein⸗ leuchten. Doch die Wiſſenſchaft ſoll darunter leiden, wenn Frauen in die gelehrten Berufe eintreten! Und die Männer ſollten nicht Manns genug ſein, ſie zu halten? Es iſt doch pſychologiſch ein ſehr feiner Zug, daß ſchon Adam ſagen muß: „Das Weib gab mir, und ich aß.“ So behauptet auch Max Nordau in einer Vorrede, die ich ungern in dem Buch einer Frau ſah, daß die Frauen ſchuld ſeien an dem Verfall der deutſchen Litte⸗ ratur. „Das Weib gab mir, und ich aß.“ — Der Einwand iſt wohl kaum ernſthaft zu nehmen. In dem, was Profeſſor Waldeyer ſodann von der geſchlecht⸗ lichen Differenzierung und der daraus von ſelbſt ſich ergebenden Arbeitsteilung ſagt, liegt ſehr viel Wahres. Er zieht aus dieſen Erwägungen den Schluß: „Die Frau bleibe in demjenigen Kreiſe, in welchem ſie ihre natürliche Kraft und Entwickelungs⸗ fähigkeit besitzt." Ganz recht, aber welcher ist dieser Kreis? 91 Das beſtimmt der Mann für ſie. Man ſpricht ſo viel von Inſtinkten der Natur. Wenn nun gegenwärtig die Frauen in immer ſteigender Menge ihren Anteil an der Kulturarbeit, an den Berufen, die der Mann mit Beſchlag belegt hat, fordern, ſo, meine ich, iſt das ein ſolcher Inſtinkt, ein Vorgefühl, daß ſie eben noch für einen weiteren, als den ihnen bisher vom Manne zugewieſenen Kreis „natürliche Kraft und Entwickelungsfähigkeit beſitzen; ſo iſt das ein Kampf der Natur gegen die, die ſie unterdrücken wollen. Die notwendige Arbeitsteilung ſcheint mir durchaus nicht mit der von Profeſſor Waldeyer ſo plauſibel gemachten Berufsteilung zuſammenzufallen. Da hätten jeden⸗ falls wir Frauen noch recht viel zu fordern, denn die Berufe gehören faſt alle den Männern. Frau Weber macht darauf aufmerkſam, daß die Chineſen in Nordamerika jetzt ſchon waſchen und bügeln; ſoll etwa auch das als „männlicher Beruf“ rekla⸗ miert werden? Aber wir Frauen ſind ſehr duldſam, niemand von uns wird dagegen proteſtieren. Wir verlangen beſcheiden nichts weiter, als daß mutatis mutandis das Leſſing'ſche Wort vom Prediger und dem Komödienſchreiber hier angewendet werde: „Darf der Mann weibliche Berufe ergreifen? Warum nicht? wenn er will. Darf die Frau männliche Berufe aus⸗ üben? Warum nicht? wenn ſie kann.“ Soweit die Natur ſelbſt eine Berufsteilung vornimmt, ſind wir ganz einverſtanden; Mathilde Lammers hat Recht, wenn ſie meint, am Ambos werde ſie ſich immer nur einen Mann, an der Wiege nur eine Frau denken können. Die innere Leitung des Hausweſens, das ſtille Walten in der Familie wird ſich die Frau nie nehmen laſſen; die Verteidigung dieſes Hausfriedens nach außen durch phyſiſche Kraft wird ſich der Mann vorbehalten. In dieſer Trennung liegt Natur; nicht aber in der Trennung von geiſti⸗ ger und mechaniſcher Arbeit, von denen letztere willig, auch wo ſie große phyſiſche Anſtrengung erfordert, der Frau zuerkannt, erſtere als die intereſſantere, befriedigendere und — lohnendere vom Manne reklamiert wird. Die Frauen haben dasſelbe Recht auf geiſtige Arbeit wie der Mann, und die Differenzierung der Geſchlechter wird immer nur zum Teil in der Berufsteilung 92 zum Ausdruck kommen. Zum Teil wird ſie ſich in der Eigen⸗ art geltend machen, in der der gleiche Beruf aufgefaßt, in der innerhalb desſelben gewirkt wird. Wenn der Mann beiſpiels⸗ weiſe zum Lehrberuf größere Gedankenſchärfe, Syſtematik, Kraft mitbringt, ſo die Frau eine größere Beweglichkeit, Anpaſſungs⸗ fähigkeit, Geduld; durch Beteiligung beider Geſchlechter an dem Beruf kann er nur gewinnen; eins wird vom anderen lernen. Es kommt dazu, daß gerade beim Lehrberuf und beim ärztlichen die Zweigeſchlechtlichkeit des Menſchengeſchlechts ein Grund mehr dafür iſt, den Beruf beiden Geſchlechtern frei⸗ zugeben; Mädchen werden i. a. beſſer durch Frauen, wie Knaben durch Männer unterrichtet, und viele kranke Frauen wollen nun einmal lieber durch Frauen behandelt werden. Trotz aller Bedenken, die er erhebt, erkennt nun Profeſſor Waldeyer an, daß es eine ernſte Aufgabe ſei, den Frauen an⸗ dere „Lebens⸗ und Exiſtenzbedingungen zu ſichern“; er giebt zu, daß die Frauenfrage ein warmes und nachhaltiges Intereſſe verdient. Aber mir iſt nicht erfindlich, nach welcher anderen Richtung hin ſich das bethätigen ſoll, als darin, daß die Schranken niedergeriſſen werden, die die Frau hindern, ſich ſelbſt andere Exiſtenzbedingungen zu ſchaffen. Nur dadurch iſt ihr geholfen. Ich glaube, daß es Profeſſor Waldeyer Ernſt iſt mit ſeinem Intereſſe an der Sache; er verſchmäht, obwohl prinzipieller Gegner des Frauenſtudiums, die beliebten, ſonſt üblichen Uebertreibungen und Entſtellungen, wenn er auch auf das Urteil einiger ſehr unritterlicher Gegner der Frauen zu viel giebt. Aber bei allem Nachdenken kann ich keinen Weg ausfindig machen, auf welchem er dies Intereſſe bethätigen will, und ſonderbarer Weiſe giebt er ſelbſt auch keinen an. Denn daß er den Vorſchlag macht, den Dozenten anheimzugeben, ein⸗ zelne beſonders begabte Frauen zu ihren Vorleſungen zuzulaſſen, kann kaum als ernſtliche Förderung der Frauen⸗Intereſſen be⸗ trachtet werden. Vom Mann verlangt man das Maturitäts⸗ examen, keine beſondere Begabung. Alle Männer wollen ein⸗ mal ihr Brot verdienen, auch die nicht beſonders Begabten, die nur durch Fleiß zu einer Durchſchnittsleiſtung gelangen 93 können; dasſelbe gilt heute von vielen Frauen; warum ſollten ſie unter Ausnahmebedingungen geſtellt werden? Aber genug von dieſer Sache und genug vom ärztlichen Studium. Zu den praktiſchen Gründen, aus welchen die Univerſität den Frauen geöffnet werden ſollte, wird auch die Notwendigkeit gerechnet, wiſſenſchaftlich durchgebildete Lehre⸗ rinnen zu ſchaffen. Wie ich perſönlich zu dieſer Frage ſtehe, habe ich genugſam ausgeſprochen. Ich würde es für ſehr verfehlt halten, wenn akademiſche Studien, beſonders philologiſche, für Lehrerinnen an den Oberklaſſen der Mädchenſchulen obligatoriſch gemacht würden. Die Erfahrungen in England, wenn ſie mich auch überzeugt haben, daß auch der Durchſchnitt der Frauen — wo Hunderte ſtudieren, kann man nicht wohl mehr von bloßen Ausnahmen ſprechen — wiſſenſchaftlichen Studien in höherem Grade gewachſen iſt, als ich angenommen, wenn ſie mich ferner auch überzeugt haben, daß weibliche Art dabei voll⸗ kommen gewahrt werden kann, haben mich doch in meiner Anſicht nicht irre machen können. Jedermann weiß, daß die engliſchen Univerſitäten nicht wie die unſeren in erſter Linie Fachſchulen der vier Fakultäten, ſondern mehr Pflegeſtätten allgemeiner Bildung ſind. Eben dieſes Charakters und der weniger hohen Ziele wegen eignet ſich die engliſche Univerſität meiner Auffaſſung nach beſſer dazu, die Lehrerin, die ja keine Gelehrte ſein ſoll, vorzubilden. Aber ſolche Dinge ſind Anſichts⸗ ſachen, und ich kann nicht verlangen, daß allen Bäumen eine Rinde wachſe. Ich habe meinerſeits die Begründung beſonderer Anſtalten für Lehrerinnen gewünſcht und beantragt, Anſtalten, in denen ihren Studien bei aller wiſſenſchaftlichen Vertiefung doch eine Richtung auf die ſpäter damit zu verbindenden Zwecke gegeben werden könnte. Dieſer Antrag iſt rundweg abgeſchlagen worden, ohne daß Wege in Ausſicht geſtellt wären, auf denen die Lehrerinnen ſich ſonſt die ſo dringend notwendige Durch⸗ bildung aneignen könnten. Jeden Verſuch, die aufgeſtellten Ideen auch nur teilweiſe zu verwirklichen, begrüße ich mit Freuden; ſo die Einrichtung von Fachkurſen (Geſchichte und 94 Deutſch) im Viktoria⸗Lyceum, die hauptſächlich durch das warme Intereſſe unſerer Kaiſerin Friedrich für die Lehrerinnen ermög⸗ licht wurde. Aber das iſt ein einziger kleiner Fußpfad, den zu gehen nur wenigen möglich iſt. Will man nicht mehr breite, gerade Straßen zum Ziel ſchaffen, ſollen unter behördlicher Sanktion nur dieſe beiden Fächer in einer einzigen Stadt Deutſchlands gelehrt werden — bloße Privatveranſtaltungen haben aus nahe⸗ liegenden Gründen nicht den geringſten Wert — ſo erſcheint es unbillig, ſolchen Lehrerinnen, die zeitlicher und räumlicher Gründe wegen dieſen Weg nicht gehen können, zu verwehren, ſich irgendeinen andren Weg, und ſei es ein Umweg, zu dem dringend zu wünſchenden Ziele zu ſuchen. Wenn ſie daher — wie mir mehrfach vorgekommen iſt — den Wunſch haben, in irgend einem Fach Univerſitätsſtudien zu machen, wenn ſie glauben, damit eine Förderung für ihren Beruf, eine größere Befrie⸗ digung für ihr eigenes Streben zu erreichen, ſo ſollte man ſie nicht daran hindern. Da die Behörde der Lehrerin nach Ab⸗ legung des Lehrerinnenexamens die Befähigung, auch in den Oberklaſſen zu unterrichten, garantiert, ſo iſt ſie zur Erlangung der formellen Berechtigung ja an keinen beſtimmten Studien⸗ gang auf der Univerſität gebunden und könnte ungehindert nach freier Wahl einzelne Zweige ergreifen. So wenig ich das bloße Univerſitätsſtudium für geeignet zur Vorbildung für Lehrerinnen halte, ſo entſchieden ich dabei bleibe, daß ſehr ernſte Gefahren für unſere Mädchenſchule darin liegen würden, wenn es obli⸗ gatoriſch gemacht würde, ſo ſehr ich an meinen beſonderen Wünſchen feſthalte, ſo erſcheint mir doch die Notwendigkeit, den Lehrerinnen die Möglichkeit zu gewähren, irgendwo und wie wahre Wiſſenſchaft kennen zu lernen, ſo dringend, daß ich bei der gänzlichen Ausſichtsloſigkeit für meine eigenen Pläne dieſem fakultativen Studium einzelner Zweige das Wort reden möchte. Iſt es ein Übel, ſo iſt es jedenfalls von zweien das kleinſte, und wir ſind es zu wählen faſt gezwungen. Es handelt ſich nach der gänzlichen Zurückweiſung unſerer gewiß nicht unbeſcheidenen Forderungen um die Frage: ſollen 95 unſere Lehrerinnen wieder auf Jahrzehnte hinaus zu ausſichts⸗ loſem Elementarwiſſen verurteilt ſein, oder ſollen ſie nach durch⸗ gemachter ſeminariſtiſcher Vorbildung wenigſtens die Möglich⸗ keit eines weiteren Studiums haben; ſollen ſie auf dieſe Weiſe, auf einem Umwege, verſuchen, die ſo dringend notwendige Ver⸗ einigung von praktiſcher und wiſſenſchaftlicher Bildung zu er⸗ langen. In Zürich hat man dieſen Weg ſchon ſeit längerer Zeit eingeſchlagen, und ich meine, es ſei unbillig, die zurückzuhalten, die ihn gehen wollen. Es würden ſich gewiß auch mit der Zeit Stipendien finden, wie ſie jetzt ſchon für Studentinnen der Medizin und der Naturwiſſenſchaften möglich gemacht worden ſind. Vor einer Überſchätzung gerade des philologiſchen Studiums wäre aber doch zu warnen. Ein paar Jahre im Auslande ver⸗ lebt, genügende Vorſchulung vorausgeſetzt, ſind für den fremd⸗ ſprachlichen Unterricht an den Oberklaſſen unſerer höheren Mädchenſchulen von viel entſchiedenerem Wert als philologiſche Studien, die unendlich vieles umfaſſen, was für die Mädchen⸗ ſchule durchaus unfruchtbar iſt. Litterariſche, geſchichtliche und naturwiſſenſchaftliche Studien würden weit mehr für Lehrerinnen zu empfehlen ſein, wenn — ja, wenn es ein Deutſchland gäbe, in dem die Wiſſenſchaft auch für die Frauen frei iſt! Daß ſo manche meiner Kolleginnen, wie mir in letzter Zeit nahe getreten iſt, lieber einen Univerſitätskurſus, als einen für ihre Zwecke geeigneteren, mehr auf die ſpätere Verwertung in der Schule berechneten Kurſus durchmachen möchte, erklärt ſich leicht aus dem ſchon vielfach erwähnten Umſtande, daß der Mann, auf deſſen Urteil doch in dieſen Dingen alles ankommt, ein Studium nicht als voll gelten laſſen will, das, als dem ſeinigen gleichwertig bezeichnet, doch nicht gleichartig iſt. Es verlangt vielleicht gleiche Anſtrengung, gleiche Zeit⸗ und Geld⸗ opfer, ohne doch zum Schluß dieſelbe unbedingte Geltung zu gewähren, wie das überall bekannte und anerkannte akademiſche Studium und der akademiſche Grad. Später wird man über dieſe Dinge anders denken; einſtweilen wird man mit Grün⸗ den dieſer Art zu rechnen haben und wird es darauf ſchieben müſſen, wenn ſo dankenswerte Bildungsveranſtaltungen, wie die 96 am Viktoria⸗Lyceum getroffenen, auf die Dauer doch nicht die Anerkennung und die Beteiligung finden ſollten, die wünſchens⸗ wert ſind. Es tritt noch ein anderer Umſtand erſchwerend hinzu. Die dort ſtudierenden Berliner Lehrerinnen haben nebenher ihre volle Schullaſt zu tragen. Wenn hier etwa beteiligte Be⸗ hörden ein Intereſſe an dem Gelingen des Experiments be⸗ thätigen wollten, ſo könnte das durch Erteilung eines wenn auch nur teilweiſen Urlaubs, wie ihn in ähnlichen Fällen Männer leicht erhalten, geſchehen. So kommt mir die Sache ſo vor, als ob man einen angehenden Schwimmer, von dem man ohnehin ſchon fürchtet, daß er ſchwächer iſt als ein anderer, mit einer ſchweren Laſt um den Hals ſchwimmen lehren will. Aber vielleicht würde die Ausſicht auf eine ſpätere, angemeſſene Verwendung der Studien die doppelte Laſt ertragen laſſen. Die Frau arbeitet eben ſo ungern zwecklos wie der Mann. Was in dieſer Beziehung zu erwarten ſteht, iſt ganz richtig durch das Dante'ſche Wort bezeichnet worden: „Laßt, die ihr eingeht, jede Hoffnung ſchwinden.“ Es wäre nicht unmöglich, daß dieſe Um⸗ ſtände die neuen Kurſe zu einem Danaergeſchenk für die deut⸗ ſchen Frauen machten; wenn ſie im Sande verliefen, würde man dies Reſultat einem Mangel an Bildungsbedürfnis zu⸗ ſchreiben, während es auf ganz andere Urſachen zurückzuführen wäre. Einſtweilen wollen wir hoffen. Es iſt ein ſehr günſti⸗ ges Zeichen für das Bildungsbedürfnis unſerer Lehrerinnen, daß ſie ohne jede Ausſicht auf Beförderung und trotz der vollen Be⸗ rufsarbeit das Studium in Angriff genommen haben; wünſchen und hoffen wir, daß Kraft und Mut bis zum Schluß aus⸗ reichen; wenn keine andere, ſo wird wenigſtens die deutſche Privatſchule thätige Anerkennung dafür haben. 97 VIII. Es wird nunmehr genügendes Material vorliegen, um an die ordnungsmäßige Beantwortung der zu Anfang aufgeworfenen Fragen zu gehen: Woran liegt es, daß den deutſchen Frauen nicht gelingen will, was bei allen anderen Kulturvölkern gelang? Liegt es an den Frauen ſelbſt? Oder an den Männern? Oder an nicht zu beſeitigenden äußeren Verhältniſſen? Ich will die Reihenfolge der Fragen für die Beantwortung umkehren. Denn die äußeren Verhältniſſe ſind es ja immer, die man in erſter Reihe vorſchiebt, wenn wir Frauen darauf hin⸗ weiſen, daß in anderen Ländern die Frauenfrage auf dem beſten Wege ſei, durch Gewährung der entſprechenden Freiheiten und Zugeſtändniſſe entſchieden zu werden. Man ſagt uns dann, daß in Deutſchland noch ſo viel Männer zu verſorgen ſind. Das iſt aber in anderen Ländern auch der Fall, ohne daß ihnen bei der Bewerbung um eine Stelle ihr Geſchlecht allein dort einen ſo entſchiedenen Vorzug verſchaffte, wie das in Deutſchland ge⸗ ſchieht. Ich weiß wohl, die Frage nach dem Grunde dieſes Vorzugs wird für ſehr vorwitzig gehalten werden. Aber dem unbefangenen Denken will es ſo garnicht einleuchten, warum dem Starken mehr der Schutz der Regierung zu teil werden ſoll, als der Schwachen, die im Kampf ums Daſein ſo manche Nach⸗ teile hat, daß es einem faſt erſcheinen möchte, als ob ſie eher in eine geſicherte Stellung gebracht werden müßte. Und ſo iſt es faſt unvermeidlich, daß die Schwachen einmal nach dem Grunde forſchen. Iſt der Mann etwa Menſch erſter, die Frau Menſch zweiter Klaſſe in Deutſchland? Oder nimmt man an, der Frau thue der Hunger weniger weh als dem Mann? Wir werden bedeutet, man müſſe den Mann zuerſt verſorgen, denn damit verſorge man noch andere. Mir iſt nun aber kaum eine verdienende Frau bekannt, die nicht von ihrem Verdienſt ent⸗ weder alte Eltern oder ſtudierende Brüder unterſtützte, jüngere Geſchwiſter verſorgte oder ſonſt Hülfsbedürftigen etwas zufließen ließe. Der Grundſatz dürfte alſo durchaus nicht immer gegen Lange, Frauenbildung. 7 98 die Frau entſcheiden. Aber er iſt überhaupt nicht durchführbar. Die Konſequenz wäre, daß verheiratete Männer immer — nicht bloß bei gleicher Qualifikation, wo das ja bisweilen geſchehen mag, — den unverheirateten vorgezogen würden, daß der An⸗ ſpruch auf eine Stelle mit der Kopfzahl der Familie wüchſe; ja, in weiterer Verfolgung des Prinzips: daß die Gehälter im Ver⸗ hältnis zum Kinderreichtum ſtänden und bei der Geburt jedes Kindes erhöht würden; daß ſie in umgekehrtem Verhältnis zu den Privateinkünften ſtänden 2c.! Wer wird im Ernſt ſolche Ab⸗ ſurditäten aufſtellen wollen! Verwirft man aber die Konſequenz, ſo kann auch das Prinzip nicht gelten. Und in der That wird es nur den Frauen gegenüber geltend gemacht. Bei der Kon⸗ kurrenz der Männer gilt, wie man annimmt, nur ein Grund⸗ ſatz: die Stellung bekommt allemal der, der am fähigſten dazu iſt; warum dehnt man dieſen Grundſatz nicht auf Männer und Frauen aus? und warum giebt man nicht den Frauen ſo gut wie den Männern Gelegenheit, die etwa fehlende Befähigung zu erlangen? Es ſind offenbar nur zwei Möglichkeiten da: entweder ſind alle Männer fähiger als alle Frauen, dann haben ſie eben von der Konkurrenz nichts zu fürchten und können die Frauen durch Gewährung ihrer Forderungen ad absurdum führen, oder es ſind einige Frauen fähiger als einige Männer; iſt es da gerecht, die unfähigeren Männer in Stellen zu laſſen, die den fähigeren Frauen gebühren? Kurz, ich werde mich wohl auf meine Frage mit der Ant⸗ wort begnügen müſſen, die ich kürzlich einem kleinen Mädchen geben hörte, das ſich beklagte, ſein Bruder habe das größere Stück Kuchen bekommen: „Dafür iſt er auch ein Junge.“ Die Antwort hatte eine verblüffend überzeugende Wirkung. Aber prüfen wir weiter die Verhältniſſe, die, als Deutſch⸗ and ganz allein eigentümlich, ſtets für die Nichtgewährung der Frauenforderungen verantwortlich gemacht werden. Unſere Uni⸗ verſitätsverhältniſſe ſollen es nicht geſtatten. Warum nicht? Die Examina ſeien ſchwerer, als anderswo. Kann ſein; wer ver⸗ langt denn, daß ſie für die Frauen leichter gemacht werden? Es wird ja nur verlangt, daß den Frauen unter denſelben 99 Bedingungen Zutritt gewährt werde wie den Männern; ſind nur wenige imſtande, dieſe Bedingungen zu erfüllen, — das wird zu Anfang vermutlich der Fall ſein — ſo können ja die ſich freuen, die das Frauenſtudium möglichſt zu beſchränken wünſchen; warum aber die Schwierigkeit der Examina ein Grund für die Nichtzulaſſung der Frauen ſein ſoll, iſt mir unerfindlich. Ferner: unſere Studenten würden ſich weibliche Kollegen niemals gefallen laſſen. Sollten ſie wirklich in der Kultur ſo viel weiter zurück ſein, als die der anderen Nationen? Aber das bringt mich auf einen Punkt, der weitläufiger behandelt ſein will. Es iſt wahr, der deutſche Student hat noch mancherlei vom alten Burſchen: ich glaube aber doch, daß ihm Achtung genug vor der Frau innewohnt, um ſie zu reſpektieren, auch wenn er ſie bisher ungewohnte Wege wandeln ſieht, falls ſie dabei Frau bleibt. Aber das verlange ich gar nicht von ihm, daß er ſolche Frauen achte, denen die Wiſſenſchaft Neben⸗ zweck und das Leben der Studentin Hauptzweck iſt. Und ich fürchte, in dieſer Beziehung iſt früher in unſerem Nach⸗ barlande, der Schweiz, von ſtudierenden Ausländerinnen mancherlei Falſches geſchehen, das nun den Nachfolgerinnen Schwierigkeiten bereitet. Den Grund zu etwaigen Ausſchreitungen unweiblicher Art ſehe ich hauptſächlich in dem Umſtande, daß den zum Teil noch recht jungen Mädchen keine andere Wahl freiſteht, als wie ein junger Student in ungebundener Weiſe zu wohnen, zu eſſen, zu leben, ohne Anſchluß vor allem an ältere, gebildete Frauen. Da geht leicht ganz allmählich die Fühlung für das Angemeſſene zu Grunde; da tritt an die Stelle des: Erlaubt iſt, was ſich ziemt, das: Erlaubt iſt, was gefällt. Dagegen giebt es nur ein Mittel, das in England, allerdings im Anſchluß an ſchon be⸗ ſtehende Sitten, mit ſicherem Takt ergriffen iſt: Die Einrichtung von Internaten, in denen die Studentin Anſchluß an ältere, fein⸗ gebildete Frauen findet und — nicht etwa deren Zwangseinfluß, aber ihrem moraliſchen Einfluß zugänglich iſt; in denen ſie dieſelbe Freiheit genießt, die die gebildete Frau in ihrer Häus⸗ lichkeit hat, oder beſſer geſagt, ſich nimmt. Denn die Freiheit, ein Straßen⸗ und Wirtshausleben zu führen, die dem jungen 7* 100 Mann nach den Gymnaſialjahren als das höchſte Gut erſcheint, die nimmt ſich eben die gebildete Frau nicht, auch wo es die äußeren Umſtände geſtatten. Da ſie aber anregenden Verkehr nicht im Wirtshaus und nicht auf der Gaſſe ſuchen kann, ſo bedarf ſie um ſo dringender desſelben im Hauſe. Der Frau dürfen während der Studienjahre nicht die Inſtinkte abhanden kommen, die ſie im Hauſe ihr Glück finden laſſen; ſie darf nicht den Maßſtab verlieren für das, was ſie zu thun und zu laſſen hat. Mit der Zeit und bei anderer Erziehungsweiſe wird ſie mit ſicherer Fühlung mancherlei Klippen vermeiden lernen, an denen ſie jetzt noch leicht ſcheitert. Selbſtſichere und glücklich beanlagte Naturen werden ja auch jetzt ohne Gefahr ihr Leben als Studentin auf eigene Hand regeln können; den meiſten un⸗ ſerer unſelbſtändig erzogenen deutſchen Mädchen aber würde ein Heim wie die engliſchen (wenn auch weniger luxuriös) mit ſeinem gemütlichen Verkehr, ſeinen Muſik⸗ und Theeabenden, ſeinem gelinden Zwang — denn nur ein ſolcher darf es ſein — ein außerordentlich willkommener und nützlicher Anhalt ſein; es würden auch, wie Frau Weber ganz richtig bemerkt, viele Eltern ihre Töchter leichteren Herzens ihrem Studiendrang folgen laſſen, wenn das — wenn auch noch ſo tadelloſe — Alleinleben außer⸗ halb der Familie und befreundeter Kreiſe nicht wäre. Wie aber die jungen Studentinnen eines gemütlichen häus⸗ lichen Anſchluſſes bedürfen, ſo bedürfen ſie auch gelegentlich des Rats und der Hilfe für ihre Studien. Beide können ihr ſchwer⸗ lich ganz in derſelben Weiſe wie dem Studenten durch die Pro⸗ feſſoren zu teil werden; unbefangener und lieber wird ſie die Frau darum angehen. Es iſt denkbar, daß an der Spitze des Heims — wie das z. B. in Girton College der Fall iſt — eine Frau ſteht, die den Studiengang der Studentinnen kennt und teilweiſe ſelbſt abſolviert hat, die alſo im Heim ſelbſt Rat er⸗ teilen und thätige Hilfe leiſten kann. — In Univerſity College in London dagegen iſt, wie ſchon kurz erwähnt, die Einrichtung getroffen, daß einer Lady ſuperintendent im Univerſitätsgebäude ſelbſt ein Amtszimmer angewieſen iſt, wo ſie für alle Studen⸗ tinnen, die ihren Rat und ihre Hilfe brauchen, zugänglich iſt. 101 Die Einrichtung hat ſich als ſehr praktiſch bewährt und nicht zu den geringſten Unzuträglichkeiten geführt, da die Haltung der Profeſſoren den Studenten die ihrige vorſchrieb. Darauf würde wohl überhaupt in der ganzen Frage der Schwerpunkt fallen; an und für ſich iſt ſicher gegen ernſte geiſtige Arbeit, von Frauen, die in geordneter Gemeinſchaft leben, zu einem ernſten Zweck unternommen, nichts einzuwenden; diejenigen, die geiſtige Arbeit überhaupt für unweiblich halten, ziehe ich nicht in Be⸗ tracht, da ich ſie nicht zu überzeugen weiß. Ich meinesteils glaube nicht, daß irgend eine deutſche Studentenſchaft in un⸗ paſſender Weiſe gegen ſolche Frauen vorgehen würde. Kurz, an äußeren, nicht zu ändernden Umſtänden ſcheint es mir in Deutſchland nicht zu liegen, wenn die Frauen nichts erreichen. Selbſt finanzielle Schwierigkeiten können als Grund nicht vorgeſchoben werden; ſo arm iſt Deutſchland nicht, daß nicht die Vorkehrungen getroffen werden könnten, die für das Frauenſtudium nötig wären, zumal ja in vielen Beziehungen die Einrichtungen benutzt werden würden, die für die Männer ſo wie ſo ſchon vorhanden ſind. Liegt es denn an den Männern? Ohne Zweifel tragen ſie einen großen Teil der Schuld. Schon lange mühen ſich einzelne einſichtsvolle Frauen, die Männer für ihre Sache zu intereſſieren; es wird wohl nicht geleugnet werden können, daß ſie nicht das Entgegenkommen gefunden haben, wie in anderen Ländern. Das Jahr, in dem Girton College gegründet wurde, in dem die Profeſſoren und Studenten in Cambridge mit dem größten Intereſſe die wachſende Anſtalt beobachteten, iſt dasſelbe Jahr 1872, in welchem die Weimarer Lehrerverſammlung die Frauen, die ſie für den Plan einer ſehr beſcheiden gedachten Akademie für Frauen intereſſieren wollten, mit Spott und Hohn wahrhaft überſchüttete. Auch die Anträge, die die Frauen ſpäter nach dieſer Richtung hin den Behörden einreichten, ſind völlig unbeachtet geblieben. Bei den in Menge neu gegründeten Mädchenſchulen ſind lediglich Männer als Dirigenten und erſte Lehrer an⸗ geſtellt, obwohl ſich viele Frauen, trotzdem ſie nach wie vor auf Autodidaxie angewieſen waren, an Privatſchulen bewährt 102 hatten; ein Antrag des Lettevereins, höhere Bildungsanſtalten für Frauen zu gründen, wurde abgewieſen, ebenſo ſcheiterten die dahin zielenden Bemühungen des Allgemeinen deutſchen Frauenvereins unter ſeinen rührigen Vorſteherinnen L. Otto⸗ Peters, A. Schmidt und H. Goldſchmidt. Wo man mit Frauen in irgendwelchen Branchen Verſuche anſtellte, geſchah es mit ſchlecht verhehltem Mißtrauen; argwöhniſch beobachtete man, und bei dem geringſten Anlaß gab man die Verſuche auf. Wo Frauen ſonſt in „männlichen“ Berufen thätig waren, fanden ſie, wo nicht direktes Übelwollen, ſo doch wenigſtens nicht das geringſte Entgegenkommen. Es ſind das alles nur Thatſachen, die ich berichte; es würde mir leicht ſein, ſie durch eine lange Reihe anderer zu vermehren. Worin haben ſie nun ihre Urſache? Es wäre offen⸗ bar ungerecht, wenn man das Verhalten der Männer lediglich auf Konkurrenzfurcht und Übelwollen ſchieben wollte, obwohl dieſe Momente mit in Anſchlag gebracht werden müſſen. Bei einem großen Teil der Männer liegt offenbar nur Gleich⸗ gültigkeit vor. Sie haben über die Frauenfrage nie nach⸗ gedacht. Sie kennen die Notlage nicht, die ſie geſchaffen. Daß ſie ſie nicht kennen, iſt zum größten Teil die Schuld ihrer eigenen Frauen. „Es iſt die Frau, die den Mann für die Frauenſache gewinnen müßte. Dieſe liegt den Berufswegen der meiſten Männer weit ab. Was ihnen davon zu Ohren kommt, iſt ſo zufälliges, unzuſammenhängendes Stückwerk, daß ſie ſich gelangweilt oder auch amüſiert oder empört davon abwenden. Es iſt intereſſant, zu beobachten, wie wir die meiſten Empörten unter den Ritterlichſten ihres Geſchlechts finden. Gerade Männer mit hohen Vorſtellungen von der Frau, von ihrem ſchweren natürlichen Beruf und von den Pflichten, die dagegen zu leiſten ſind, wenden ſich mit Abſcheu von den Zumutungen ab, die eine neue Weltordnung dem Teile der Menſchheit ſtellt, den ſie zu ſchützen, zu erhalten ſich als verpflichtet erklären. Es iſt mir öfter Gelegenheit geworden, bei dem tieferen Eindringen in die Sache bei ſolchen Männern zu beobachten, wie der eigene ritter⸗ liche Standpunkt ſie hoch über die Wirklichkeit hinwegſehen ließ, 103 hinweg über die zahlloſen Geſchöpfe, die eben keine ſolchen Ritter aufzuweiſen haben, wohl aber alle Bedürfniſſe des harten Lebens, um deren Befriedigung gekämpft ſein will. Jeder edle Mann läßt ſich durch Logik, durch Hinweiſen auf beſtehende That⸗ ſachen ſeine Vorurteile beſeitigen, um dem Recht, dem er ſich unwiſſentlich verſchloſſen hatte, Platz zu machen. Wir ziehen hier aber auch jene Männer in Betracht, deren Spott die einzige Antwort auf die Frauenfrage iſt. „Der Spott endigt, wo das Verſtändnis beginnt“, ſagt eine Seelenkundige. Und in der That kann der Spott auf dieſem Gebiete keinen anderen Ur⸗ ſprung, als den der vollſtändigſten Unkenntnis haben. Jeder Mann, und hätte er auch nur ein halbes Gewiſſen, müßte er⸗ ſchrecken, wenn man ihn durch das thatſächliche Elend, dem die Frauenbewegung entſprungen, überzeugte, daß er auf Koſten dieſes Elends ſeinen Witz übt, daß er mit dieſem Spott, den er ſo ſiegesgewiß führt, tauſend Möglichkeiten tötete, die dem Hungernden Brot, dem Unglücklichen Glück, ja dem auf ehr⸗ loſen Wegen Wandelnden die Ehre hätten retten können.“) Wenn in England die Männer genauer über die Frauen⸗ frage unterrichtet ſind und ſomit weniger aus Unkenntnis haben fehlen können, ſo liegt der Grund darin, daß die Frauen, be⸗ ſonders ihre eigenen Frauen, ſie beſſer damit bekannt gemacht haben, daß ſich überhaupt die verheirateten Frauen hier mehr für die Frage intereſſieren. Ich will gewiß das deutſche Familienleben nicht angreifen; es zeichnet ſich in vielen Be⸗ ziehungen, die ich nicht anders haben möchte, vor dem anderer Nationen aus; aber es iſt auch leichter geeignet, die Frauen ſelbſtſüchtig — oder richtiger familienſüchtig — zu machen. Das Leben der „deutſchen Hausfrau“ geht ſo völlig in ihren eigenen Intereſſen und denen der Ihren auf, daß ſie kaum — von rühmlichen Ausnahmen ſelbſtverſtändlich abgeſehen — einen Gedanken für die Mitſchweſtern hat, die draußen entweder im buchſtäblichen Sinne oder doch geiſtig darben und nach einem *) Familie und Individuum. Von J. M. — Frauenberuf, II. Jahrg. Heft 1, S. 23. 104 Inhalt für ihr Leben ſuchen. So verſäumt ſie es, ihren Mann für einen Kampf zu gewinnen, den die Frauen nur mit den Männern zuſammen ſiegreich unternehmen können. Erſt wenn — vielleicht mit dem Verluſt des Verſorgers — eigene Not ſie treibt, kommt ſie zum Nachdenken darüber, daß der Frau Wege geöffnet werden müſſen, auf denen ſie ſelbſt ſich das verſchaffen kann, was ſie braucht, und was ihr nur zu häufig niemand ſonſt giebt. Es giebt ſogar Fälle, in denen die Frau den Mann von einem Eintreten für die Frauenbildung direkt zurückhält. Das iſt ein ſehr verhängnisvoller Fehler. Es giebt für mich keinen höheren und edleren Beruf für die Frau, als den, für den Kreis der Ihrigen im rechten Sinne zu leben, und niemand in der Welt flößt mir größere und aufrichtigere Verehrung ein, als eine Mutter, die ihren Kindern alles das iſt, was ſie ſein ſoll. Aber eben um meiner entſchiedenen Verehrung willen für „die deutſche Hausfrau“, wie ſie ſein ſoll, für die Frau, die nicht nur ihre Töchter zu erziehen, ſondern auch die Intereſſen ihres Mannes und ihrer erwachſenen Söhne zu teilen vermag, möchte ich gegen den Aberglauben proteſtieren, der die Hausfrau und die wiſſenſchaftlich gebildete Frau in Gegenſatz ſetzt, und der einen unheilbaren Riß in das deutſche Leben zu bringen droht. Denn die Frau, die die großen Intereſſen ihres Mannes gar nicht verſteht, iſt auch nicht imſtande, den Idealismus in ihm zu pflegen und zu ſtärken, der materiellen Vorteil um höherer Güter willen verſchmäht; ſie wird im Gegenteil verſuchen, ihn in ihren engen Geſichtskreis hineinzuziehen. Es heißt, das Beſte an der Frau ſei ganz etwas andres als das Wiſſen. Das iſt ein ſehr wahres Wort. Und wenn ſie dies Beſte nicht hat und hätte alle Weisheit und Erkenntnis, ſo wäre ſie ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Das Wort gilt vielleicht noch mehr von der Frau als von dem Mann. Ich gehe noch weiter: es giebt Ausnahmenaturen, denen eine Art von Intuition vielfach das Wiſſen zu erſetzen ſcheint; die aus der Tiefe ihres eigenen, reichen Innern Offen⸗ barungen zu ſchöpfen ſcheinen, die anderen von außen her kommen müſſen. Glückſelig die, die mit ſolchen Menſchen in Berührung 105 kommen. Solche Naturen giebt es auch unter den Männern; ich brauche nur Peſtalozzi zu nennen. Aber dieſe Ausnahme⸗ naturen ſind viel ſeltener, als man beſonders in Bezug auf das weibliche Geſchlecht zugeben will, von dem man behaupten möchte, daß es auf alles mit dieſer Art von Intuition verfiele. Für die Durchſchnittsfrau iſt eine gründliche Bildung, ganz abgeſehen von der dringenden Not, die ſie treibt, ſie zu er⸗ werben, genau dasſelbe und genau ſo ſchätzenswert wie für den Mann. Was ſie für beide bedeuten kann, vorausgeſetzt, ſie beſitzen das eine, was not thut, das glaube ich in dieſen Seiten zur Genüge ausgeſprochen zu haben. Die irren ſicher, die da meinen, Bildung thue für den Mann alles, für die Frau nichts. Die Furcht vor einer gründlichen Frauenbildung iſt ſelbſt in Deutſchland ſpezifiſch modern; das Mittelalter kannte ſie nicht. Erſt unſere Zeit iſt die Schöpferin des „Blauſtrumpfes“ weil erſt unſere Zeit den Frauen das Wiſſen verwehrt, dadurch das Verlangen danach krankhaft ſteigert und zu allerlei Excen⸗ tricitäten verführt. Frauen nun, die zu einer gewiſſen geiſtigen Indolenz neigen, bringen nur zu gern ihren Männern die Mei⸗ nung bei, daß der Frau wirklich kaum Zeit bleibe zu irgend⸗ welchem ernſteren Studium, daß es auch kaum ratſam für ſie ſei, ſich damit zu befaſſen, und machen ſie dadurch abgeneigt, das Ihrige zu einer geiſtigen Befreiung des weiblichen Ge⸗ ſchlechts beizutragen, von der ſie zu glauben gelehrt ſind, daß ſie es ſeinem eigentlichen Beruf entfremde. Seit ich die viel⸗ beſchäftigte Frau eines Geiſtlichen, deren Haus nie leer von Beſuchen war, die mehrere eigene und eine große Reihe von Pflegekindern hatte und all deren Anſprüchen gerecht zu werden wußte, jeden Mittag ihre Stunde zu ernſthafter wiſſenſchaft⸗ licher, nicht etwa Roman⸗Lektüre finden ſah, ſeitdem weiß ich, daß es der Hausfrau auch in unſerer Zeit unter den ſchwierig⸗ ſten Verhältniſſen möglich iſt, geiſtiges Leben zu pflegen, und die Erfahrung hat mich gelehrt, daß Frauen, die unaufhörlich auch an dem Ausbau ihrer geiſtigen Welt arbeiten, erſt recht geeignet ſind, ihren Hausfrauen⸗ und Hausmutterberuf im echten Sinne zu erfüllen. 106 Vielleicht liegt es an all den oben erörterten Umſtänden, wenn wir in Deutſchland noch keinen Henry Sidgwick, keinen Dr. Anſtie, keinen Thomas Holloway haben! Und doch, wenn wir auch wenig Männer nennen können, die wirklich thätig für uns eingetreten ſind — einer dieſer wenigen iſt der Präſident Lette geweſen — ſo mehren ſich doch ſchon die, die uns ihre Stimme nicht verſagen würden, die gerecht genug ſind, unſere Anſprüche und die Notwendigkeit ihrer endlichen Berückſichtigung anzuerkennen. Ich kann mir nicht verſagen, einen derſelben zu citieren, um den deutſchen Frauen zu zeigen, daß wir auch in unſerem Vaterland — wie das übrigens auch zur Genüge die Bewegung des vorigen Jahres zu Gunſten einer beſſeren Ausbildung der Lehrerinnen gezeigt hat — der Hilfe tüchtiger Männer nicht ganz entbehren. Clemens Nohl ſpricht in ſeiner Pädagogik für höhere Lehranſtalten von der abſoluten Notwendigkeit, dem weiblichen Geſchlecht eine tüchtige Ausbildung zu gewähren; die Mutter bedarf ihrer um der Familie willen, die Unverheiratete um ſich ſelbſt zu erhalten. „Daß die Jungfrau nämlich beſtimmt iſt, Gattin und Mutter zu werden, mit dieſem ſo verſtändig und natürlich klingen⸗ den Lehrſatz verfährt die Wirklichkeit oft ſehr unhöflich und rückſichtslos. Freilich hat es mit dieſer „Beſtimmung“ ſeine Richtig⸗ keit, wenn die Jungfrau einen Mann findet, der ſie und eine Familie ernähren kann, der auch ihrer Achtung und Liebe würdig iſt, wie ſie der ſeinigen. Sonſt ſieht es mit dieſer „Beſtimmung“ gerade aus wie mit der Beſtimmung des Menſchen zur Tugend, zur Geſundheit, zum Wohl⸗ ſtand, zum Glück. . . Nun muß aber ein Mädchen, das die Ver⸗ ſorgung durch einen braven und wohlſtehenden Mann nicht findet, ihre eigene Ernährerin werden, und da wird es wohl nicht zweifelhaft ſein, daß eine gute Schulbildung dieſes einſichtsvolle, oft von der unerbittlichen Not gebotene Streben in vielen Fällen in hohem Grade fördern kann. . . Und wenn der Staat und auf der Höhe ihrer Aufgabe ſtehende ſtädtiſche Verwal⸗ tungen ſchon ſeit Jahrhunderten für die männliche Jugend Lehranſtalten, von der niedrigſten Fachſchule bis hinauf zu der Univerſität, gegründet haben, in denen ſie ſich ganz oder wenigſtens teilweiſe auf ihren künftigen 107 Beruf vorbereiten kann, weshalb ſollte die weibliche Jugend nicht denſelben Anſpruch erheben dürfen?“ „Oder ſoll es in deutſchen Landen, wo man in vergangenen Jahr⸗ hunderten den Jungfrauen und Frauen ſo hohe Ehren erwies, und wo das gebildete Weib immer noch das ihm gebührende Anſehen ungeſchmälert genießt, gleichwohl beſondere materielle und ſittliche Gefahren in ſich ſchließen, als Mädchen das Licht der Welt zu erblicken? Wenn gebildete Eltern bei ihrem Tode ihren Kindern keine Reichtümer hinterlaſſen können — und das iſt doch die Regel — ſollen dann die Töchter, welche keine eheliche Verſorgung gefunden haben — und dieſe Fälle mehren ſich von Jahr zu Jahr — bei näheren oder entfernteren Verwandten das Gnadenbrot eſſen? Sollen ſie im ſtillen oder laut klagen, daß ſie ſich der Menſchheit nicht nützlich machen können, weil dieſe ihre gerne ge⸗ leiſteten Dienſte verſchmäht und ihnen zur Verwertung ihrer geiſtigen Kräfte keine Gelegenheit geben will? Soll, weil ſie nicht gelernt haben, ſich geiſtig zu beſchäftigen, die Langeweile ſie gehaltloſer oder gar ſchmutziger Romanlektüre überliefern, oder ſie zu unlieblichen Klatſchbaſen machen? Sollen ſie in der Not des Lebens Schaden an ihrer Seele nehmen und moraliſch zu Grunde gehen?“ . .. „Es giebt wenige auf eine gewiſſe Bildung gegründete Berufsarten, in denen das Weib nicht ganz Tüchtiges leiſten kann; und das Privi⸗ legium, welches das männliche Geſchlecht bisher in den meiſten Fächern in Anſpruch nahm und z. T. noch beanſprucht, iſt, näher beſehen, ein völlig unberechtigtes. Hier ſteht in erſter Linie der Lehrerberuf. Seitdem Peſtalozzi in der Mutter die natürliche Lehrerin und Erzieherin des Kindes entdeckt und dadurch in dieſer wichtigen Thätigkeit das Weib zu hohen Ehren gebracht hat, iſt die Verwendung weiblicher Lehrkräfte in Familien und Schulen auf die Tagesordnung gekommen und wird auch von derſelben nicht verſchwinden, bis die Parität der Geſchlechter auf dieſem Gebiet zur voll⸗ kommenen Durchführung gebracht iſt. . . . Die Zeit iſt ſchwerlich mehr ferne, wo man, wie auf den Lehranſtalten für die männliche Jugend Lehrer, ſo auf denjenigen für die weibliche Jugend möglichſt ausſchließlich Lehrerinnen beſchäftigen wird.“ „Es kann ſchon an ſich der Lehrer als Mann für die Natur und das ganze Weſen des Mädchens das Verſtändnis nicht haben, welches die Lehrerin als Genoſſin desſelben Geſchlechts ganz zweifellos beſitzt; er wird deshalb in der Behandlung der Schülerinnen viel leichter Miß⸗ griffe begehen als dieſe. Er kann ferner in Dingen, auf welche es in 108 der weiblichen Erziehung weſentlich mit ankommt, nämlich in der Pflege des Ordnungsſinnes, der Pünktlichkeit, Reinlichkeit, gefälliger Körper⸗ haltung, des Anſtandes und guter Sitte nicht annähernd die Anleitung geben und die Aufſicht üben, die ſich bei der Lehrerin von ſelbſt ver⸗ ſteht. Auch hört beim Lehrer das in der Erziehung ſo wichtige Element der Vorbildlichkeit zum großen Teil auf, weil das Weib, reſpektive das Mädchen teilweiſe ganz andere Tugenden zu üben hat, als der Mann, und dieſelben Tugenden beim Mann und beim Weib nicht ſelten ganz verſchiedene Geſtalten zeigen. Junge, insbeſondere unverheiratete Lehrer in Klaſſen mit heranreifenden oder herangereiften Mädchen zu beſchäftigen, hat ferner ſeine pädagogiſchen, ja ſogar ſeine ſittlichen Bedenken, die hier nicht weiter zu beſprechen ſind; ältere Lehrer aber entbehren leicht der Friſche des Unterrichts, deſſen Mädchen faſt noch mehr als Knaben und Jünglinge bedürfen.“ „Zwar giebt es Lehrer, die mit Schülerinnen, kleinen und großen, den richtigen Ton zu treffen wiſſen und an Mädchenſchulen eine ſegens⸗ reiche Wirkſamkeit üben; und andererſeits giebt es Lehrerinnen, die nichts leiſten und in einer geradezu verderblichen Thätigkeit ſtehen. Aber viel⸗ fach werden an Mädchenſchulen, in denen vorzugsweiſe Lehrer beſchäftigt ſind, abgeſehen von den oben bezeichneten Mängeln, die einen ihr An⸗ ſehen auf die Unerbittlichkeit der Schulzucht gründen, die häufiger Strafen nicht entbehren kann, bei der aber die weibliche Jugend noch mehr als die männliche zu verwildern pflegt, die anderen von den geriebenen Schülerinnen, meiſt ohne es zu ahnen, beſchwindelt und gehänſelt werden; während in Mädchenſchulen, an welchen vorzugsweiſe Lehre⸗ rinnen thätig ſind, vorausgeſetzt, daß dieſe ihrem Beruf wiſſenſchaftlich gewachſen ſind, ernſte Disziplinarfälle ſel⸗ tener ſind, Unterricht und Erziehung mehr geräuſchlos von ſtatten gehen und der Verkehr der Lehrenden und Lernenden nicht ſelten von dem edlen Geiſt des Vertrauens und der Liebe getragen wird. . . . „Daß Lehrerinnen in treuer Pflichterfüllung Lehrern nicht nachſtehen, daß ſie ſich ebenſo pünktlich in der Schule und in ihren Klaſſen einfinden, wie dieſe, ſich ebenſo gründlich auf ihre Lektionen vorbereiten, ebenſo gewiſſenhaft die häuslichen Korrekturen beſorgen . . . das alles kann garnicht beſtritten werden. . .. Schwer ins Gewicht fällt in der Lehrerinnenfrage noch das Urteil der . . . reichs⸗ ländiſchen ärztlichen Kommiſſion, daß das Weib auch in phyſiſcher Ausdauer dem Manne nicht nachſtehe; eine ver⸗ gleichende Statiſtik der bei Lehrern und Lehrerinnen vorkommenden 109 Schulverſäumniſſe würde auch wohl in dieſer Beziehung überraſchende Reſultate liefern. . . . „Bedenken wir nun, daß in Preußen über 50 000 Elementarlehrer angeſtellt ſind, ſo muß ſich uns bei dem Blick auf dieſe ungeheure Zahl ſofort die Frage aufdrängen, ob dieſe alle in Wirklichkeit „Be⸗ rufene“ ſind, ob ſich nicht im Gegenteil gar viele darunter finden, denen zu ihrem Stand entweder das Geſchick oder die Neigung oder ſogar beides fehlt. Ähnlich ſteht es ganz zweifellos mit einem ſtarken Bruchteil der nach Dauſenden zählenden an höheren Unterrichtsanſtalten beſchäftigten wiſſenſchaftlichen Lehrer, ſo daß wir auch hier einer Fülle ungenügender oder gar ſchädlicher Er⸗ ziehungs⸗ und Unterrichtsthätigkeit begegnen müſſen. Wir ſtehen hier vor Thatſachen und Einrichtungen, die widerſinniger garnicht gedacht werden können. Weil aus dem männlichen Geſchlecht die für den Schul⸗ dienſt tauglichen Perſonen in genügender Anzahl nicht beſchafft werden können, . . . ſo greift man, um die vorhandenen Stellen alle zu beſetzen, zu untauglichen. Und doch könnten aus dem weiblichen Geſchlecht, dem das Geſchick und die Gabe, mit der Jugend zu verkehren, ſichtbarlich in mindeſtens demſelben Grade angeboren iſt wie dem männlichen, Tauſende von brauchbaren Lehrerinnen und Erzieherinnen herangebildet und mit dieſen jene Lücken in natürlichſter Weiſe ausgefüllt werden; aber man ſchließt ſie zu gunſten unbrauchbarer Lehrer noch vielfach vom Unter⸗ richt ſelbſt an Mädchenſchulen aus.“ „Dieſe empörende Ungerechtigkeit, dieſe geradezu rohe und plumpe Bevorzugung des ſtarken Geſchlechts vor dem ſchwachen war noch allenfalls zu erklären zu einer Zeit, wo man von der Brauchbarkeit des weiblichen Geſchlechts für das Unterrichtsfach noch keine ſicheren Proben hatte und noch nicht eine Menge geſitteter Mädchen in die unerbittliche Notwendigkeit verſetzt waren, ſich mit irgend einer Fertigkeit oder Kunſt ehrlich und anſtändig durch das Leben zu ſchlagen. Nachdem aber jene Brauchbarkeit ſeit Jahren und an einer nicht mehr kleinen Anzahl von Lehranſtalten zweifellos nachgewieſen iſt und ſelbſt die eigenſinnigſte Dummheit an die eben beſagte Notwendig⸗ keit zu glauben beginnt, werden und müſſen Staat und Städte ſich endlich dazu verſtehen die beiden Geſchlechter in dieſer Frage mit vollkommen gleichem Maß zu meſſen. . .. Auf den unter⸗ ſten Klaſſen der Volksſchulen, in welchen ohne Bedenken Knaben und Mädchen gemeinſam unterrichtet werden können, ſind Lehrerinnen wie Lehrer anzuſtellen; nicht das Geſchlecht, ſondern die Brauchbar⸗ 110 keit muß hier entſcheiden. Auf den mittleren und oberen Klaſſen der Volksſchule ſind mehr als bisher die Geſchlechter zu trennen und die Mädchenklaſſen Lehrerinnen zu übergeben. Auf mittleren und höheren Mädchenſchulen ſelbſt in den oberen Klaſſen iſt da, wo brauchbare Lehrerinnen beſchafft werden können, von der Anſtellung von Lehrern, ſelbſt der brauchbarſten, abzuſehen, und ſind die letzteren den Unterrichtsanſtalten für die männliche Jugend zu überlaſſen, damit ſie hier an die Stelle der unbrauchbaren treten, die ſich auf ganz anderen Arbeitsſtätten nützlich machen ſollen und meiſtens auch können. . .. Die geſteigerte Verwendung weiblicher Lehr⸗ kräfte in der hier gegebenen Weiſe würde demnach nicht bloß Tauſenden von talentvollen, ſtrebſamen Jungfrauen, die der materiellen Verſorgung entbehren, Gelegenheit geben, dieſelben in einer ihren Anlagen und Kräften entſprechen⸗ den Berufsthätigkeit zu finden, ſondern ſie würde den ge⸗ ſamten Unterricht in den niederen und höheren Lehranſtal⸗ ten in ſeiner Qualität aufs unzweifelhafteſte verbeſſern.“ ... „Aber es giebt noch andere Berufszweige, in welchen das weibliche Geſchlecht dem männlichen vollkommen eben⸗ bürtig iſt; zu denſelben gehört u. a. ein Teil des Poſt⸗, Telegraphie⸗ und Eiſenbahndienſtes. Es wird zwar behauptet, daß die in dieſen Beſchäftigungen mit Damen gemachten Verſuche keine günſtigen Reſultate geliefert hätten, und daß die Herren Chefs des Eiſenbahn⸗ und des Poſt⸗ und Telegraphenweſens infolgedeſſen keine Freunde der Verwendung weiblicher Kräfte in ihren Reſſorts wären. Sollte dieſes letztere der Fall ſein, ſo läge trotz der hohen Verdienſte, welche dieſe Männer ſich in ihren Verwaltungsgebieten erworben haben, doch die Frage nahe, ob die in dieſem Punkt angeſtellten Verſuche wirk⸗ lich in voller Objektivität und ohne Übereilung ſtattgefunden haben, und ob die hohen Herren ſich nicht von Vorurteilen leiten laſſen. . . Oder ſind die Frauen in anderen Ländern, z. B. in Frankreich und Belgien, wo man ſie in großer Zahl auf den verſchiedenſten Vertrauenspoſten finden kann, klüger und zuverläſſiger als bei uns? . . . . „Wenn in dem Bisherigen ſchon wiederholt behauptet werden konnte, daß gewiſſe Gebiete menſchlicher Thätigkeit durch Verwendung auch weib⸗ licher Arbeitskräfte auf denſelben gewinnen werden, ſo müſſen wir nun⸗ mehr der Überzeugung Ausdruck geben, daß eine gehobene Bildung des weiblichen Geſchlechts und eine dadurch gemehrte Befä⸗ 111 higung desſelben zur Teilnahme an der großen Kultur⸗ thätigkeit unſerer Zeit auf die geſamte Menſchheit befreiend, erleuchtend, auf dem Gebiet der Religion, der Sittlichkeit, ſelbſt des ſozialen und politiſchen Lebens beſſernd und för⸗ dernd wirken wird. . . . Die großen und kleinen Kulturaufgaben komplizieren und mehren ſich; bisher hat nur die halbe Menſchheit, die männliche, an ihrer Löſung gearbeitet; dieſelbe mußte daher vielfach eine einſeitige, eine unbefriedigende ſein; es iſt Zeit, daß man auch die andere Hälfte, das in geiſtigen Anlagen dem männlichen ebenbürtige und das⸗ ſelbe notwendig ergänzende weibliche Geſchlecht an dieſer Löſung mit⸗ beteiligt.“ Dank und Ehre dem Mann, der Idealität genug beſitzt, dem kleinen, eigenen Vorteil entgegen ſo der Wahrheit die Ehre zu geben! Ich habe mit Abſicht ſo ausführlich citiert, da eine beſſere Darlegung der Sachlage nicht denkbar iſt und da ſie aus der Feder eines Mannes doppelt wichtig erſcheint. Es iſt mir ſchwer geworden, nicht auch noch die Ausführungen über den letzten Punkt, die Kulturarbeit der Frau, herzuſetzen; ich verweiſe aber auf die Arbeiten Nohls ſelbſt, die in allen ihren Teilen in ihrer Klarheit und unerſchrockenen Wahrheitsliebe ihrem Verfaſſer zur höchſten Ehre gereichen und bei der immer dringender werden⸗ den Schulreform die größte Berückſichtigung zu erfahren ver⸗ dienten.““) Wenn ſich nun trotz einzelner Stimmen zu unſeren Gunſten nicht leugnen läßt, daß an dem Stande der Frauenfrage in Deutſchland die Männer viel Schuld tragen, daß ſie vielfach aus Vorurteil, aus Konkurrenzbeſorgnis oder auch aus Un⸗ kenntnis und Gleichgültigkeit den Frauen die Wege noch gewalt⸗ ſam verſperren, ſo iſt andrerſeits unbeſtreitbar, daß an dieſem *) Pädagogik für höhere Lehranſtalten von Clemens Nohl, I. Teil, S. 149 ff. Gera, Hofmann. **) Es ſind bis jetzt 3 Teile ſeiner Pädagogik erſchienen: I. Teil: Die Lehranſtalten; II. Teil: Die Methodik der einzelnen Unterrichtsgegenſtände; III. Teil: Die Vorbildung wiſſenſchaftlicher Lehrer auf ihren Beruf. Gera, Theodor Hofmann. 112 Verhalten der Männer wir Frauen vielfach ſelbſt Schuld ſind. Der Unterlaſſungs⸗ und Begehungsſünden vieler verheirateter Frauen iſt ſchon gedacht; es iſt zu hoffen, daß darin ſchon die nächſte Zukunft eine Änderung bringt, da die jetzige Generation ſchon vor der Heirat die Frage vielfach erörtern hören und viel⸗ leicht aus eigenſter trüber Erfahrung kennen lernen wird. Bis jetzt iſt es immer noch eine im Verhältnis zur Bevölkerung ge⸗ ringe Zahl deutſcher Frauen, die ſich nicht irre machen läßt in Bezug auf das zu erreichende Ziel; viele, ſehr viele von denen, die wohl etwas erreichen möchten, ſcheuen entweder die Mittel, oder ſie glauben auf halbem Wege ſtehen bleiben zu müſſen; einzelne ſchweigen auch aus Furcht, das Mißfallen der Männer zu erregen. Aber wer ſich ſcheut zu mißfallen, wird niemals Reformen durchſetzen können. Ich bin nun gewiß die letzte, die ihrem gedrückten, zagen⸗ den Geſchlecht Mangel an Selbſtvertrauen“) und Konſequenz übelnimmt; wird es doch dem Mann oft ſchwer, ſeine Gedanken zu Ende zu denken, wie viel mehr der Frau unter dieſen Um⸗ ſtänden. Die Zeit wird da allmählich Wandel ſchaffen, den Geſichtskreis erweitern und die Zagenden ſtärken. Wenn aber der Mangel an Selbſtvertrauen oder die Kurzſichtigkeit in Form eines öffentlichen Proteſtes auftritt, wie das bei der vorjährigen Bewegung zur Hebung der Lehrerinnenbildung mehrfach geſchah, ſo erfordert doch das Intereſſe der Sache eine Abwehr. Manche Dinge zwar, wie die Anwendung des bibliſchen Spruches: „Er ſoll Dein Herr ſein“ auf die Schule (wie mögen ſich nur die Privatſchulvorſteherinnen mit ihrem Gewiſſen abfinden!), richten ſich von ſelbſt; in dem trefflichen kleinen Artikel von A. Klapp (Lehrerin, Heft 24, IV. Jahrg.), der die weiteren Konſequenzen für Frauen, die ſich etwa Diener halten oder für die Mütter *) Zu bedauern iſt freilich, daß die Zaghaftigkeit ſo weit geht, daß ſelbſt gegen eine öffentliche Herabſetzung unſeres Geſchlechts, wie ſie, leider von Frauen⸗ ſeite! auf der Eiſenacher Verſammlung (1. bis 4. Oktober 1888) vorgenommen worden iſt, ſich unter den anweſenden Lehrerinnen trotz ihrer entſchiedenen Miß⸗ billigung kein ſofortiger Proteſt erhob. 113 erwachſener Söhne darlegt, hat dieſe Anſicht überdies, wie früher ſchon durch Frau Loeper⸗Houſſelle ihre gebührende Abfertigung gefunden. Und wenn es Lehrerinnen giebt, die eine gründ⸗ liche Bildung, wie ich ſie für ſie verlangt habe, auch heute noch für verwerflich und bedenklich halten, ſo, meine ich, richtet ſich das auch von ſelbſt, trotz des „brava!“ der „grünen Blätter.“ Auch die Proteſte im Namen der Weiblichkeit laſſen mir ein völlig gutes Gewiſſen. Weiblichkeit! Schönes, gemißhandeltes Wort! Was liegt nicht alles darin: Liebe, Vertrauen, Idealis⸗ mus, Opfermut und Seelengröße! Und was möchte man damit verbinden? Zimperlichkeit und Unnatur. Wenn Frauen vor den ungewohnten Aufgaben zagen, die unſere Zeit an ſie ſtellt, ſo iſt ihnen das, wie geſagt, in keiner Weiſe übelzunehmen, aber die ſich ihnen nicht gewachſen fühlen, ſollten doch, wenn überhaupt geſchrieben werden muß, nur im Namen der eigenen Unfähigkeit ſchreiben, und nicht durch ihre Bemerkungen, die, wenn überhaupt, ſo doch nur für die jetzige Ausbildung der Frauen Gültigkeit haben, den entſchiedenen Gegnern unſerer Sache in die Hände arbeiten. Gottlob, daß ich ihnen das mutige Wort Helene Adelmanns entgegenhalten kann: „Ich fühle, wenn ich meine ganze Energie als Lehrerin auf ein Fach konzentrieren dürfte, daß ich es in meinem Fache mit jedem Manne aufnehmen könnte. Wer es nicht fühlt, daß er ſo das Tüchtigſte leiſten könnte, nun, der ſpreche anderen die Kraft dazu nicht ab, ſo lange dieſe anderen in den Grenzen echter Weiblichkeit bleiben.“ Hier rufen wir: brava! Aber auf einen anderen Vorwurf, der mir öffentlich ge⸗ macht worden iſt, glaube ich, antworten zu müſſen. Man hat mir Mangel an Dankbarkeit vorgeworfen. Dankbarkeit? — Ich bin ſo gern dankbar. Aber ich ge⸗ ſtehe, ich weiß nicht recht, wofür ich es ſein ſoll. Wir verdanken den Männern alles, wird mir geſagt. Wenn wir rechnen wollen, ſo ließe ſich wohl auch allerlei nach der anderen Seite anführen. Frauenſorge und Liebe umgiebt den Mann von der Wiege bis zum Grabe; ſie ſchafft ihm das Behagen und die Muße, deren Lange, Frauenbildung. 8 114 er zu freiem geiſtigen Schaffen bedarf. Von Anbeginn der Welt haben die Frauen für die Männer geſorgt, ſie kleinlicher mate⸗ rieller Sorgen enthoben, in alten Zeiten die härteſten Sklaven⸗ dienſte für ſie geleiſtet und ein ſprüchwörtlich gewordenes Mär⸗ tyrertum getragen. Aber wenn dem ſo war, ſo iſt es ſelbſt⸗ verſtändlich, daß wir den Zuſtand hiſtoriſch werden begreifen müſſen. Wie iſt das ſo gekommen? Die natürliche Neigung reicht nicht aus zur Erklärung; das Altertum zeigt einen Zu⸗ ſtand ſo entſchiedener Barbarei, daß nicht der geringſte Zweifel beſtehen kann, daß das Recht des Stärkeren Ausgangs⸗ punkt für die Geſtaltung der Dinge geweſen iſt. Mit dieſem Recht zwang der Mann die Frau zu Dienſten, wie ſie ihm genehm waren. Aber er gab ihr ein Äquivalent dafür: er ver⸗ ſorgte ſie als Vater, Gatte, Bruder. Und die Zeiten waren ſo rauh, die Sitten ſo roh, daß wir uns die Exiſtenz der Frau ohne einen perſönlichen Schutzherrn und Verſorger gar nicht vor⸗ ſtellen können. Daß der Mann aus dieſer Verſorgung das Recht der Bevormundung ableitete, war wohl natürlich; Gründe höherer Art, die ihn hätten hindern können, eine ſolche in letzter Inſtanz doch wieder nur auf das Recht des Stärkeren zurück⸗ zuführende Bevormundung auszuüben, konnten jene Zeiten bru⸗ taler Kraft nicht kennen. Es ſcheint nun dieſer Entwicklung der Dinge zu entſprechen, daß mit der Verſorgung auch die Bevor⸗ mundung aufhört. Wenn nun gegenwärtig eine ſo große Zahl deutſcher Frauen auf Selbſterhaltung angewieſen iſt, ſo ſcheint es durchaus unbillig, daß der Mann, der ihnen gegenüber nicht mehr als Verſorger auftritt, der ihnen keinen Schutz vor Not gewährt, doch eine Bevormundung in Bezug auf Studium und Berufsthätigkeit dieſer Frauen ausüben will, deren Konſequenzen die nicht durch ihn verſorgte Frau hindern, ſich ſelbſt in der Weiſe zu erhalten, die ihren Wünſchen und ihren Fähigkeiten vielleicht entſpricht. Er ſchneidet ihr eine Bildung zu, wie ſie ſeiner Anſicht nach für ſie paſſend iſt; eine Bildung, die aber ihren eigenen Anſprüchen und ihren eigenen Bedürfniſſen keines⸗ wegs mehr entſpricht. Ich kann beim beſten Willen darin einen Grund zur Dankbarkeit nicht ſehen. 115 Aber gern und von Herzen will ich den Männern dankbar ſein, die den Frauen helfen, die Freiheit der Bildung zu er⸗ langen, die rechtliche und ideale Erwägungen ihr zu geben ver⸗ anlaſſen ſollten. Der Ausgangspunkt für die Geſtaltung der Dinge, wie ſie ſind, war, wie oben erörtert, die phyſiſche überlegenheit des Mannes. Genau in demſelben Maße nun, in dem die Achtung vor phyſiſcher Überlegenheit ſchwindet, die Achtung moraliſcher Eigenſchaften ſteigt, genau in demſelben Maße giebt überall der Mann das mit ſeiner phyſiſchen Über⸗ legenheit zuſammenhängende Vormundſchaftsrecht freiwillig wie⸗ der auf, denn zwingen kann ihn dazu ſelbſtverſtändlich nichts als eben dieſe Achtung. Und ich meine, die deutſchen Frauen verdienten die eben ſo gut als die der anderen Nationen. Nie⸗ mand iſt auch eifriger die Frau zu preiſen, als der deutſche Mann, von Waliher von der Vogelweide an bis in die neueſte Zeit. Aber ich meine, es ſei an der Zeit, dieſe Achtung durch Handlungen zu beweiſen. Der Knabe, der, zum Manne ge⸗ reift, ſich der unendlichen Liebe und Sorge erinnert, mit der ſeine Mutter ihn gehegt, ſollte ſeinen Dank damit abtragen, daß er ihrem Geſchlecht zu der Stellung verhilft, zu der es ein Recht hat. Es wäre doch vielleicht jetzt den Frauen die geiſtige Reife zuzutrauen, die nötig iſt, um ſelbſt zu entſcheiden, was gut für ſie iſt. Und wenn ſie nach ausreichender geiſtiger Nahrung, nach zweckvoller Arbeit verlangen, ſo ſollte man ſie ihnen nicht hartnäckig verweigern. Wenn ein Stamm von Wilden den Grad von Intelligenz zeigte, der jetzt in den deutſchen Frauen verkörpert iſt, würden ihm die Männer nicht auf das Bereitwilligſte ihre Hochſchulen öffnen? würde nicht jeder deutſche Profeſſor gern das Seine thun, um dem „höchſt bildungsfähigen Stamm“ die Kultur zugänglich zu machen, nach der er verlangt? Würde der Fall denkbar ſein, daß dieſer Stamm immer wieder vergeblich um Zulaſſung zu europäiſcher Bildung petitionierte und mit Spott zurückgewieſen würde? Jeder gebildete Mann würde das für eine erbärmliche Eng⸗ herzigkeit erklären und ſich eines ſolchen Betragens ſchämen. Und doch befolgt man genau dies Verfahren den 8* 116 deutſchen Frauen gegenüber, weil ſie eben Frauen ſind, aus keinem andren Grunde. Warum alſo ſollen ſie ein ſo tiefes Dankgefühl gegen die deutſchen Männer hegen, daß ſie an den von ihnen gemachten Einrichtungen nicht Kritik zu üben wagten? Aber zurück zu den Frauen. Wenn bei der öffentlichen Diskuſſion der immer dringender werdenden Frauenfrage ſich auch herausſtellt, daß es unter den Frauen ſelbſt der Lauen und Halben, der Kurzſichtigen und Ängſtlichen noch viele giebt in Deutſchland, daß es noch an einem feſten Zuſammenſchließen fehlt, wie es anderwärts zu Erfolgen geführt hat, ſo wäre es doch ungerecht, nicht freudig anzu⸗ erkennen, daß die Zahl der innerlich ſelbſtändigen, wohl im echten Sinne weiblichen, aber doch zielbewußten und konſequent denkenden Frauen in ſtetem Wachſen begriffen iſt. Und es iſt kein Zweifel, daß dieſe Frauen ſpäter einmal bei ihrem jetzt noch zweifelnden und zagenden, der eigenen Kraft noch nicht bewußten Geſchlecht das rechte Verſtändnis finden werden. Das muß der Troſt dieſer Pioniere ſein. Und wie gern, wie freudig iſt man Pionier für eine ſo große und lautere Sache, wie die geiſtige Hebung und Befreiung eines ganzen Geſchlechts. Dieſe Freudigkeit hilft ſogar über das nieder⸗ drückende Bewußtſein hinweg, daß dieſe Pionierarbeit nun ſchon von tapferen Vorgängerinnen ſeit 25 Jahren gethan worden iſt, ohne daß große Reſultate aufzuweiſen wären wie in andern Ländern; ſie hilft auch über ein wenig perſönliche Verkennung fort; weiß man doch, wofür man ſie trägt. Aber man hat geglaubt, die deutſche Nation vor dieſen Pionieren warnen zu müſſen: „Dieſe Frauen“, heißt es, „wollen eine totale Umwälzung der ſozialen Stellung der gebildeten Frau bezwecken.“ Was heißt das eigentlich? Sollen wir unter ſozialer Stellung die Stellung der Frau zur menſchlichen Geſellſchaft, zum Berufsleben überhaupt verſtehen, ſo iſt es vollkommen richtig, wir wollen verſuchen, mit Hilfe tüchtiger Männer eine Veränderung der ſozialen Stellung der Frau herbeizuführen. 117 Wir wünſchen der Frau dieſelbe Freiheit für ihre geiſtige Aus⸗ bildung zu ſichern wie dem Mann, und damit wird allerdings allmählich eine kleine Verſchiebung im Berufsleben ſtattfinden, inſofern an die Stelle einzelner unfähiger Männer einzelne fähigere Frauen treten. Denn die Befähigungsfrage haben wir immer vorangeſtellt, da ſie allein im Kampfe entſcheiden kann. Die fähigen Männer haben daher nichts zu fürchten; eine Warnung vor unſrem Beginnen kann ſomit nur eine Konſequenz aus leicht zu erratenden Prämiſſen ſein. Soll aber unter ſozialer Stellung die Stellung der Frau zum Manne, zu ihrem Manne, verſtanden ſein, ſo iſt für dieſe nicht das Geringſte aus einer Hebung der Fähigkeiten und der äußeren Stellung der Frau zu befürchten; denn die Stellung der Frau zu ihrem Manne iſt überhaupt nicht von ſeiner Supe⸗ riorität abhängig. Die innere Superiorität iſt durchaus nicht immer auf ſeiten des Mannes; bei den niederen Ständen, wo die Ausbildung der Geſchlechter gleich iſt, nicht einmal die intellektuelle. Wenn trotzdem die Frau dem Manne ſein Leben hindurch all die unzähligen Dienſte leiſtet, die ihm das Daſein angenehm und behaglich machen, wenn ihr Leben „ein ewiges Gehen und Kommen, oder ein Heben und Tragen, Be⸗ reiten und Schaffen für andere“ iſt, wenn „ſie ſich ganz vergißt, und leben mag nur in andern“, ſo iſt das, weil ſie die Liebe und das tiefſte Bedürfnis ihrer Natur dazu treibt, und das wird ſich immer gleich bleiben, ob ſie nun in ihren Muße⸗ ſtunden die Marlitt oder den Sophokles lieſt, oder ich müßte mich auf die Frauennatur ſchlecht verſtehen. Wo freilich noch Reſte der alten Unterdrückung vorhanden ſind, wo der Frau noch unter geſetzlichem Schutz allerlei Unwürdigkeiten geboten werden dürfen, da thut ſie ganz recht, wenn ſie verſucht Abhilfe zu erlangen, und es ift zu hoffen, daß ſie bei der in Ausſicht ſtehenden Reform auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts die Hilfe hochgeſinnter Männer findet, ſoweit es ſich darum handelt, ihr den geſetzlichen Schutz zu ſichern, deſſen ſie gegen den mög⸗ lichen Mißbrauch der Gewalt ſeitens des eigenen Mannes bedarf. Der beſſere Teil aber des ehelichen Verhältniſſes, wie es ſich 118 jetzt in allen Kulturländern geſtaltet hat, iſt auf Neigung und auf Natur gegründet und eben darum vor jedem „Emanzipations⸗ verſuch“ ſicher. Dieſe Verſuche richten ſich immer nur darauf, die Schranken zu durchbrechen, die der geiſtigen Ausbildung und der Erwerbsfähigkeit der Frau gezogen ſind, nicht auf eine Enderung der Stellung der verheirateten Frau in der Familie. Den Pflichten, deren Erfüllung dieſe Stellung naturgemäß von der Frau fordert, werden ſich nur rohe Naturen entziehen wollen; ſie werden dazu nie die Unterſtützung der echten Frau finden. Nie wird dieſe auch daran denken, dem Mann zu ver⸗ ſagen, womit die Liebe ihn von jeher verſorgt und vielleicht auch verwöhnt hat; nur muß der Mann nicht glauben, als ſchuldigen Tribut ſeiner vermeintlichen Superiorität einfordern zu können, was ihm nur die Liebe, die aber auch voll und für alle Zeit gewährt. Und wo ſoll nun dieſe Bewegung ein Ende finden? — Genau da, wo die Natur der Dinge und die Natur des Weibes es gebieten. Glaube doch niemand, eher ein Halt gebieten zu können, und glaube doch auch niemand, daß Gefahren vor⸗ liegen können, wenn man einfach die Natur ſprechen läßt; ſie ſelbſt wird zur Zurücknahme etwaiger Mißgriffe zwingen. Die Zukunft wird ſich nach der Mündigſprechung der Frau aller Wahrſcheinlichkeit nach in Deutſchland ſo geſtalten. Nach wie vor wird der größere Teil der Frauen der Aufgabe leben, den Ihrigen ein glückliches, gemütvolles Heim zu ſchaffen; es iſt die Natur, die dafür garantiert. Wenn ſpäterhin ein Teil der verheirateten Frauen, die eben Luſt und äußere Umſtände dazu trieben, ernſtere Studien gemacht haben werden als bisher, viel⸗ leicht in der Vorausſetzung der Notwendigkeit beruflicher Ver⸗ wertung derſelben, ſo werden ſie, auch wenn dieſe Notwendigkeit wegfällt, mit der ideellen Verzinſung ihrer Arbeit wohl zufrieden ſein dürfen; das tiefere Verſtändnis von Intereſſen, die ſie ſonſt nur mit ihren Sympathien begleiten konnten, weil etwa geliebte Menſchen ſie verfolgten, der größere Geſichtskreis, die wirkliche Einſicht in Ziele und Beſtrebungen von Mann und Söhnen kann dem häuslichen Leben nur zu gute kommen. Von den 119 unverheirateten Frauen werden zum Teil dieſelben Erwerbs⸗ zweige ergriffen werden, wie heutzutage; dazu aber werden ein paar neue gekommen ſein, die denen, deren Anlagen ihnen eine Konkurrenz mit dem Mann ermöglichen, die gleiche innerlich befriedigende, äußerlich angeſehene und materiell lohnende Stel⸗ lung gewähren wie ihm. Unter den gelehrten Berufen werden es vorzüglich der ärztliche und der wiſſenſchaftliche Lehrberuf ſein. Die Möglichkeit, durch eigene Kraft zu geſicherter, lohnender, ſelbſtändiger Stellung zu gelangen, wird ohne Zweifel viele Ehen verhindern, die jetzt aus Furcht vor Mangel oder weil die Ehe⸗ loſigkeit als ein Schimpf gilt, geſchloſſen werden, die alſo auf unſittlichem Grunde ruhen. Auch von dieſer Seite geſehen, wird alſo das eheliche und das Familienleben nur gewinnen; wie auch der Umſtand, daß den Töchtern des Hauſes in der Schule durchweg Frauenleitung und ⸗Einfluß zu Teil werden könnte, dem Familienleben indirekt zu gute kommen müßte. So ſtellt ſich dem unbefangenen Auge die Zukunft dar, nicht als das Zerrbild einer verkehrten Welt, in der Cigaretten und zerriſſene Kleider als Attribute der Frauen ſo gern vorgeführt werden. Ein Stück freilich von dieſem Zerrbild könnte leicht verwirklicht werden, wenn der Widerſtand gegen die notwendig gewordene Entwicklung noch lange fortgeſetzt wird. Denn je länger und gewaltſamer ein von der Natur Gewolltes in ſeiner Entwicklung gehemmt wird, um ſo bedenklicher und beſorgnis⸗ erregender werden die Afterbildungen ſein, die der empor⸗ ſchießende Saft nach falſcher Richtung hin treibt. Das Frauen⸗ leben in Deutſchland iſt ein innerlich geſundes; wird ihm aber noch lange die notwendig gewordene Freiheit der Entwicklung verſagt, ſo können die Folgen nicht ausbleiben; ſie werden viel gefährlicher ſein als die Folgen der „Emanzipation“; ein Wort, das zu einem wahren Schreckgeſpenſt geworden. Es geht aber damit, wie mit den meiſten Geſpenſtern; ſieht man genau hin, ſo iſt es nur ein Nebelſtreif. Das zeigen die Vorgänge in an⸗ dern Ländern. In den meiſten derſelben iſt den Frauen nach kurzem Kampf Freiheit der Entwicklung gewährt worden; mit dem Kampf verſchwanden auch die unangenehmen Emanzipa⸗ 120 tionserſcheinungen, die immer nur eine Folge unberechtigter Oppoſition geweſen ſind, und was einem in England z. B. am allermeiſten auffällt, iſt das durchaus Weibliche der Frauen, die in der Mitte der Bewegung und in „männlichen“ Berufen ſtehen. In Deutſchland wird die ſtarke Oppoſition auch gelegentlich unangenehme Reſultate zeitigen. Bis jetzt haben nur wenig dentſche Frauen ſich irgendwo im Auslande eine tiefere Bildung erworben; wollen ſie ſie im Inlande verwerten, ſo ſtoßen ſie auf die größten Schwierigkeiten; ſie haben einen aufreibenden Kampf mit Übelwollen und Vorurteilen zu beſtehen, und wenn das auch bei manchen ohne jede Schädigung ihrer weiblichen Eigen⸗ ſchaften geſchehen iſt — wir in Berlin haben alle Urſache ſtolz zu ſein auf die Vertreterinnen unſeres Geſchlechts, die hier in ſogenannten männlichen Berufen ſtehen — ſo zeigt ſich doch bei anderen ein unangenehmes Bewußtſein der Ausnahmeſtellung, die ſie nur durch Aufbietung großer Energie und nach Be⸗ ſeitigung vieler Hinderniſſe haben erringen können. Sie ſind Phänomena und fühlen ſich als ſolche. Der Kampf, den ſie haben beſtehen müſſen, iſt manchmal in ihrem Auftreten zu ſpüren. Das machen ſich ſelbſtverſtändlich die Gegner der Frauen⸗ bewegung zu nutze. Aber das iſt eine einfache Kinderkrankheit. Wie den Deutſchen augenblicklich das lange ſchmerzlich ent⸗ behrte Bewußtſein, eine Nation zu ſein, zu mancherlei Über⸗ treibungen führt, ſo wird vielleicht im Anfang das Bewußt⸗ ſein, dies oder jenes Examen gemacht zu haben, ſich im Auf⸗ treten mancher Frauen unangenehm fühlbar machen. Bei ihrem ſo ſtark geförderten Autoritätsglauben haben ſie vor allem, was bis jetzt ausſchließlich Männer leiſten konnten, eine ſo weit⸗ gehende Hochachtung, daß die gleiche Leiſtung in ihnen leicht ein übermäßiges Selbſtgefühl weckt. Aber ſolche Regungen werden ſchnell verſchwinden, wenn das Erreichte nichts Außer⸗ gewöhnliches mehr iſt. Will man die Pocken vermeiden, ſo darf man das Impffieber nicht ſcheuen. Will man ſchwere ſoziale Schäden verhüten, will man verhüten, daß der geiſtige Riß, der jetzt durch die Männer⸗ und Frauenwelt in Deutſchland geht und ein gegenſeitiges Verſtändnis erſchwert, unausfüll⸗ 121 bar werde, ſo muß man ein wenig kindiſches Gebahren, das auf Rechnung der bisherigen geiſtigen Unmündigkeit kommt, für den Anfang mit in den Kauf nehmen. Die aber von ernſten Gefahren für die deutſche Familie ſprechen, die angeblich aus einer Veränderung der ſozialen Stellung der Frau erwachſen ſollen, die kennen entweder die Frau gar nicht, oder aber ſie nehmen dergleichen Redensarten mit vollem Bewußtſein zum Deckmantel für anderweitige Beweggründe. Ein Gleiches gilt von denen, die auf ſchwere Gefahren hin⸗ weiſen, die angeblich der leiblichen Geſundheit der Frauen durch eine Erweiterung ihrer Berufsſphäre drohen. In einem längeren Artikel der Kölniſchen Zeitung vom 14. Oktober 1888, der ſich im übrigen in ſeiner nicht eben feinen Auffaſſung und Geſinnung der Notiznahme entzieht, findet ſich eiu, leider auch von einem Ber⸗ liner Blatt mit einer lobenden Bemerkung abgedruckter Paſſus, in welchem die Behauptung aufgeſtellt wird, in der Stadt Berlin ſchleiche eine große Anzahl „müder Greiſinnen von kaum 30 Jahren“ umher, die in dem Beſtreben, ſich männliche Bildung anzueignen, alle Friſche des Gefühls, alles weibliche Empfinden neben der Geſundheit des Körpers eingebüßt haben. „Der wahrhaft gebildete Mann weicht ihnen aus, der ungebildete flieht ſie (daß auch das ein ſchwerwiegendes Argument ſein ſoll, er⸗ ſcheint recht ſonderbar. D. V.), und das geſunde, natürliche Weib vermeidet ihren Umgang. So ſtehen dieſe Mädchen als Zwitterbildungen zwiſchen den Geſchlechtern“ ic. Bei der erſten Lektüre iſt man geneigt, über den Unſinn herzlich zu lachen, beſonders wenn man ſelbſt in Berlin lebt und vergebens nach den umherwankenden Greiſinnen von kaum 30 Jahren ausſchaut. Das heißt: doch nicht vergebens. Wir ſehen genug ſolcher Greiſinnen, blaſſe, hohlwangige Näherinnen und Fabrikmädchen, arme Arbeiterfrauen mit abgezehrten Kindern an der Hand; wir werden durch ſie auf Schritt und Tritt an eine abzutragende Schuld der Geſellſchaft gemahnt. Wir ſehen deren auch unter den reichen Frauen, die ihren Tag in öden Vergnügungen vertändeln, deren Kopf leer, deren Herz tot iſt. Unter den geiſtig Arbeitenden ſind mir perſönlich keine ſolchen Lange, Frauenbildung. 9 122 „Greiſinnen“ bekannt. Aber darum will ich nicht leugnen, daß es unter den heutigen Verhältniſſen deren geben mag. Da könnte man wohl zunächſt fragen, ob die Frauen ihre Geſund⸗ heit nicht genau mit demſelben Recht in einem ſie geiſtig be⸗ friedigenden und lohnenden Beruf ruinieren dürfen wie als Näherin oder Fabrikarbeiterin oder im Strudel der Geſellſchaft? Aber es giebt noch ganz anderes zu erwidern. Wenn ſie ihre Geſundheit ruinieren, was iſt ſchuld daran, als der Umſtand, daß ſie zu verzehnfachter Arbeit gezwungen werden, da ihnen die Hilfe abgeſchnitten iſt, die dem Mann gewährt wird? Wenn ſie, wie der Verfaſſer jenes nicht eben von viel Herz zeugenden Artikels behauptet, ihren Kopf mit Thatſachen aus allen möglichen Wiſſenſchaften angefüllt haben, „ohne auf irgend einem Gebiet den verbindenden Faden gefunden zu haben,“ was iſt ſchuld daran, als daß man ihnen die An⸗ leitung verſagt und ſie auf unzureichende Mittel beſchränkt? Wie ſchwer es iſt „den verbindenden Faden“ zu finden, ſelbſt wenn man ſolche Anleitung genoſſen, zeigt der fragliche Artikel ſelbſt, der primäre und ſekundäre Urſachen nicht auseinander zu halten vermag. Wenn die „verbitterten“ Frauen, auf die der Verfaſſer mit ſolchem Phariſäertum herabblickt, „innerlich tief unglücklich“ werden, ſo liegt das nicht an ihrem geiſtigen Streben, — ihr Streben iſt ſo hoch und rein wie das des Mannes — ſondern an dem Umſtand, daß ſie überall abgewieſen werden mit ihrem Anſpruch auf Arbeit, auf zweckvolle Arbeit; nicht einmal für die Erziehung und Belehrung ihres eigenen Ge⸗ ſchlechts kommen ſie in erſter Linie in Betracht. Kein Wunder, wenn ſie verbittert werden. Verbittern thut nur eins: die Be⸗ rufsloſigkeit, das vergebliche Streben zu wirken und zu nützen. Wir alle aber, denen die gütige Natur die Zähigkeit verlie⸗ hen hat, auszuharren im Kampf mit den Verhältniſſen, die wir mitten in einem ſchönen, unſer ganzes Herz ausfüllenden Berufs⸗ leben ſtehen, wir wollen nicht aufhören, für unſere „verbitterten Mitſchweſtern zu kämpfen, auf die auch nur der ungebildete Mann mit Spott herabſieht. Wer nichts für ſich ſelbſt will, darf alles ſagen und alles fordern. 123 Ich bin vorläufig zu Ende mit dem, was ich auf dem Herzen hatte. Ich habe es einfach und ohne Umſchweife aus⸗ geſprochen, da mir völlig die Fähigkeit abgeht, Arabesken um meine Gedanken zu ziehen. Ich habe nur den Wunſch, daß meine Worte ſo aufrichtig und ehrlich aufgenommen werden, wie ſie gemeint ſind, daß ſie vor allen Dingen vorurteilslos geprüft werden. Das zwar weiß ich, daß diejenigen, die jede Ver⸗ änderung zu fürchten Urſache haben, da ſie ſich ihr nicht ge⸗ wachſen fühlen, gegen das, was ich geſagt habe, aus allen Kräften proteſtieren werden im Namen der guten alten Zeit, der Familie, vielleicht auch der deutſchen Wiſſenſchaft. Ich aber wende mich an das Gerechtigkeitsgefühl und die geſunde Ver⸗ nunft aller ſelbſtändig denkenden deutſchen Männer! Ich rufe ihnen zum Schluß das Wort Ludwig Schwerin's zu: „Die Beſchränktheit, in die man das ſogenannte ſchwache Geſchlecht gebannt, iſt ein von den Altvordern ererbtes Vorurteil, iſt Menſchenſatzung, phyſiologiſch und pſychologiſch unbegründet, ein Gemiſch heidniſch antiker und chriſtlich ſcholaſtiſcher Weltan⸗ ſchauung. An dieſem dem Weibe zugefügten Unrecht nun zieht ein Geſchlecht nach dem andern vorüber, ſorglos, unbekümmert. Das weiblich Hohe und Zarte wird und kann durch echte, wahre Bildung keinen Schaden leiden. Druck von G. Bernſtein in Berlin. In I. Gehmigke'g Verlag (R. Appelius) in Verlin, 55 Kom⸗ mandantenſtraße, erſchienen ferner von derſelben Verfaſſerin: Helene Lange, Schiller's philoſophiſche Gedichte. Sechs Vorträge, gehalten in Berlin. Preis . . . . 1 M. 60 Pf. elegant gebunden 2 M. 50 Pf. Die höhere Mädchenſchule und ihre Beſtimmung. Begleitſchrift zu einer Pe⸗ tition an das Preußiſche Unterrichtsminiſterium und das Preußiſche Abgeordnetenhaus. 1888. Preis 80 Pf. Précis de l`Histoire de la Littéra- ture francaise. 2. Auflage. 1888. Preis 1 M. 25 Pf. Druck von G. Bernſtein in Bertin.