Lily Braun Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre Verlag von Albert Langen/München Yx 3988943 74 2 30— 71 Dieses Buch ist zurückzugeben bis zum: 1.1.2225 Best.-Nr. 19 Ag 140/Va 500000 10/55 Memoiren einer Sozialiſtin Kampffahre Von Lily Braun ſind bei Albert Langen erſchienen: Memoiren einer Sozialiſtin Lehrjahre Roman 55. Tauſend Memoiren einer Sozialiſtin Kampfjahre Roman 43. Tauſend Lebensſucher Roman 47. Tauſend Die Liebesbriefe der Marquiſe Roman 33. Tauſend Die Emanzipation der Kinder Eine Rede 10. Tauſend Mutter Maria Eine Tragödie 3. Tauſend 318 Memoiren einer Sozialiſtin [2] Kampfjahre Roman von Lily Braun 43. Tauſend Albert Langen, München 1926 Copyright 1911 by Albert Langen, Munich D 1959.1166 Hochschule für Außenhandel - Bibliothek - Übernommen v. d. Dt. Staatsbibl. 14sb: 670t I Erſtes Kapitel Eine gewitterſchwüle Juninacht. In der Kabine unten hatte ich es nicht ausgehalten. Die ein⸗ 85 geſchloſſene Luft legte ſich zentnerſchwer auf Kopf und Bruſt, und das melancholiſch eintönige An⸗ ſchlagen der Wellen an die Fenſter preßte mir das Herz zuſammen, als ob das Unglück ſelbſt es in ſeinen harten Händen hielte. „Ich bin ſeefeſt,“ hatte ich der warnenden Stewar⸗ deß zugerufen, als ich die ſchwankende Treppe hinauf⸗ geſtiegen war. Zwei⸗, dreimal atmete ich auf, tief und ſchwer, wie nach überſtandener Anſtrengung, ehe ich mich in den Korbſtuhl fallen ließ. Am Himmel jagte, vom Wind gepeitſcht, ein ſchwarzes Wolkenheer. Dunkel und drohend rollten die Wellen dem Schiff entgegen. Kein Mondſtrahl ſpiegelte ſich in ihnen, kein Stern er⸗ leuchtete das finſtere Firmament. Langſam verſchwanden am Horizont die Küſte von Holland und mit ihr die letzten freundlichen Lichter. Ich war allein — ganz allein. Ich ſammelte meine Gedanken, die das Fieber der letzten Tage durcheinander⸗ gewirbelt hatte wie der Sturm die Schaumperlen auf dem Waſſer. War das Gebäude meines neuen Lebens, das ich mir droben auf den Bergen mit eigenen Händen Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II I 2 ſtolz und ſelbſtſicher errichtet hatte, nichts als ein Karten⸗ haus geweſen, das ein Stoß mit der Hand umzuwerfen vermochte? Ich griff ſuchend in die Taſche meines Mantels, es war kein Traum, ſondern grauſame Wirk⸗ lichkeit: meiner Mutter Brief kniſterte noch darin. Ich konnte ihn auswendig. Schon auf der Fahrt von Grainau nach Berlin hatte ich ihn gewiß zehnmal geleſen. „Es iſt mir, Gott ſei Dank, möglich geweſen, Deinen Brief ohne Wiſſen Deines Vaters in die Hand zu be⸗ kommen,“ hieß es darin, „und ich ſchreibe Dir in größter Haſt, Gott anflehend, daß es meinen Worten gelingen möchte, das Schrecklichſte von uns allen abzu⸗ wenden. Was ich immer ſchon fürchtete, als ich mit anhören mußte, wie Dein verſtorbener Mann und Du unſeren Herrn und Heiland verleugnetet, und in Euren EEthiſchen Blättern“ las, wie Ihr immer wieder für die Umſturzpartei eintratet, das iſt jetzt geſchehen. Der Samen, den Georg in Deine Seele ſtreute, iſt auf gegangen: kühl und geſchäftsmäßig, als handle es ſich um den Plan eines Spaziergangs, teilſt Du uns mit, daß Du Deine Redaktionsſtellungen aufgegeben haſt, um Dich ganz und gar der Sozialdemokratie in die Arme zu werfen. Deine große Verirrung, Dein Unglaube haben Dich, wie es ſcheint, für alles, was Pflicht, Ge⸗ horſam, Liebe und Rückſicht heißt, blind und taub ge⸗ macht, ſonſt müßteſt Du wiſſen, daß Du mit einem ſolchen Schritt Deinem ganzen bisherigen Verhalten Deinen Eltern, Deiner Familie gegenüber die Krone aufſetzeſt. Dieſer Partei, die alles beſudelt und mit Füßen tritt, was uns heilig iſt: Gott und Chriſtentum, Familie, Ehe, Monarchie und Militär, ſollen wir unſer 3 Kind überlaſſen? Es wäre in dem Augenblick für uns geſtorben! Aber freilich, das iſt Dir einerlei, Du wirfſt leichten Herzens alles über Bord, was Deinem Eigen⸗ ſinn, Deinem Ehrgeiz, Deiner Eitelkeit hindernd in den Weg tritt. Wenn Du aber damit Deinen armen Vater mordeſt — von mir will ich gar nicht reden, eine Mutter ſcheint dazu da zu ſein, daß die Kinder ſie mit Füßen treten —, wirſt Du auch dann noch Deiner Selbſt⸗ herrlichkeit froh werden können?! Du weißt, daß es ihm in letzter Zeit gar nicht gut geht. Vor ein paar Tagen ſiel er vom Pferd; er ſagt, er ſei geſtürzt, Bruder Walter aber, der dabei war, iſt überzeugt, daß es ein leichter Schlaganfall geweſen iſt. Die kleine Braune, deren Ruhe du kennſt, machte keinerlei Bewegung, er glitt eben einfach aus dem Sattel. Seitdem leidet er an Schwindel und Kopfſchmerz und iſt ſchwerer zu be⸗ handeln denn je. Jede Aufregung kann einen neuen Anfall hervorrufen, der ihn tötet. Ich wollte nur, ich könnte dann mit ihm ſterben, ehe ich ſo etwas mit Dir erleben müßte . . .7⸗ Als ich dieſen Brief erhalten hatte, waren meine Austrittserklärungen aus den Redaktionen der „Ethiſchen Blätter“ und der „Frauenfrage“ ſchon verſandt worden. Kaum in Berlin angekommen, fand ich die Mitteilung davon in der Preſſe und die nötigen Kommentare dazu: „Frau von Glyzcinski hat den längſt erwarteten Schritt getan, und die Sozialdemokratie kann ſich ob dieſer ebenſo intereſſanten wie pikanten Aquiſition ins Fäuſt⸗ chen lachen“ . . . ſo und ähnlich lauteten ſie. Am nächſten Morgen in aller Frühe war meine Schweſter blaß und verängſtigt zu mir gelaufen: I* 4 „Wir ſind mit dem Arzt im Komplott,“ hatte ſie mit ſtockender Stimme geſagt, während die Tränen ihr un⸗ aufhaltſam über die Wangen liefen, „er verbietet Papa, auszugehen. So lieſt er wenigſtens im Kaſino die Zei⸗ tungen nicht. Und die Poſt wird dem Briefboten an der Hintertreppe abgenommen . . . Ach, Alix, — du weißt nicht, wie gräßlich es zu Hauſe iſt . . Ich muß Papa immer was vormachen, damit er nichts merkt und Mama nicht zu ſehr quält . . Am liebſten liefe ich ſelber davon . . .“ Zu Tiſch war ich dann mit ihr zu den Eltern ge⸗ gangen. Meines Vaters Anblick hatte mich erſchüttert. „Kommſt du wirklich noch zu einer halben Leiche?! hatte er bitter lachend geſagt. „Ihr könnt's ja wohl gar nicht erwarten, daß eine ganze draus wird. Herr Gott, — wie hübſch könntet ihr dann eurem Vergnügen leben!“ Mama begleitete mich nach Hauſe: „Habe den Mut, ihm deinen Entſchluß ins Geſicht zu ſagen! — So einen Brief ſchreiben und alle Folgen auf Mutter und Schweſter abwälzen, — das iſt freilich eine Heldentat, die dir ähnlich ſieht!“ Abends war Frau Vanſelow noch gekommen, — tief bekümmert. „Ich verſtehe Ihren Entſchluß, — wenn ich ſo jung wäre wie Sie, ich täte dasſelbe —, aber das hindert mich nicht, ihn ſchmerzlich zu bedauern. Unſere „Frauenfrage“ iſt nichts ohne Sie. Und darum bitte ich Sie recht herzlich: wenn ich ſchon die Mit⸗ redakteurin verlieren ſoll, ſo doch wenigſtens nicht die Mitarbeiterin. Mehr als je können Sie jetzt für die 5 Einheit der ganzen Frauenbewegung wirken.“ Und dann hatte ſie mir die Einladung zum Internationalen Frauenkongreß nach London vorgeleſen, die auf unſer beider Ramen lautete. „Wie viel könnten gerade Sie, meine liebe, junge Freundin, dort lernen und leiſten — England, das klaſſiſche Land der Frauenemanzi⸗ pation . . . In der Racht kämpfte ich einen ſchweren Kamyf. Meine Überzeugungen, meine Zukunftsträume, meine Hoffnungen ſtanden alle bis an die Zähne gewappnet auf wider mich. Sehr langſam, ſehr müde ſchlich ich am Tage dar⸗ auf zu den Eltern. Roch nie war mir der Flur, in dem auch heute, an einem ſtrahlenden Frühſommertage, das kleine Lämpchen brannte, ſo eng, ſo dunkel vor⸗ gekommen und die Zimmer mit ihren ſchweren Vor⸗ hängen ſo kalt. Raſch, wie ein Schulmädchen, das den eingelernten Vers herunterhaſpelt, um nur nicht ſtecken zu bleiben, erzählte ich von der Einladung nach England. „Wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich mit Frau Vanſelow hinüberreiſen. Ich kann dabei viel ge⸗ winnen. Die engliſche Frauenbewegung iſt uns weit voraus, die ganze ſoziale Hilfstätigkeit iſt glänzend or⸗ ganiſiert, — ich werde mir für meine eigene Arbeit ein Muſter nehmen können. In ſchlechte Geſellſchaft komme ich auch nicht,“ hatte ich mit erzwungenem Lächeln hinzugefügt, „denn Gräfinnen und Herzoginnen ſind unſere Gaſtgeber . . .“ Mama verſtand. Sie ſtrahlte. Klein⸗Ilschen, die ſich bei meiner Ankunft verſchüchtert in eine Ecke ge⸗ 6 flüchtet hatte, ſprang auf und wirbelte luſtig im Zimmer umher, der Vater ſchien förmlich elektriſiert von all den Ausſichten, die ſich mir boten. Er ſtudierte das Kurs⸗ buch, das Konverſationslexikon und ſchickte die Minna zum nächſten Buchhändler, um den neueſten Bädecker von London zu holen. Immer wieder griff er verſtohlen nach meinen Händen und ſtreichelte ſie ſo ſanft, ſo leiſe, daß ich den Kampf der Racht vergaß und nichts fühlte als ſeine Liebe. Die Reiſevorbereitungen, der Abſchied, — der Vater hatte ſich's nicht nehmen laſſen, mich frühmorgens zur Bahn zu bringen und mir, wie ein feuriger Liebhaber, einen Strauß blühender Roſen in die Hand zu drücken, — die Eiſenbahnfahrt in Begleitung von Frau Van⸗ ſelow und Frau Schwabach, die unaufhörlich von ihrer Vereinsarbeit ſprachen, hatten mich bis zu dieſem Augen⸗ blick nicht zu Atem kommen laſſen. Ach, und warum ſchlief ich nicht jetzt, ſtatt herauf⸗ zubeſchwören, was vergangen war, und in ſchmerz⸗ hafter Sehnſucht an den zu denken, den ich nicht er⸗ wecken konnte? Ich ſah die Racht um mich her und die große Einſamkeit — war Georg nicht erſt jetzt für mich geſtorben? Mich fröſtelte; feucht und kalt klebten mir die Kleider am Leibe. „Ich will ſchlafen gehen,“ murmelte ich . . . und die Augen fielen mir zu . . . .. 7 Im Morgengrauen lag die Küſte Englands vor mir, unfreundlich und nüchtern. Mit jener un⸗ wirſchen Rückſichtsloſigkeit aller Unausgeſchla⸗ fenen haſteten und ſtießen ſich die Schiffspaſſagiere. Ich ließ mich ſchieben, — es war ja alles ſo ſchrecklich gleichgültig. „Frau von Glyzcinski?!“ — Überraſcht ſah ich auf. „Miſter Stratford?“ — Der rotblonde Hüne, der mich eben begrüßt hatte, nickte erfreut. Wie einen Gruß von Georg, ſo empfand ich ſeinen Händedruck; er war ſein beſter Freund geweſen, ſeine Schriften, ſeine Briefe hatten ihn mir wie ein Echo Georgs er⸗ ſcheinen laſſen. Und mit leiſem Lächeln mußte ich der Stunde gedenken, in der mir der Verſtorbene geſtanden hatte, daß er zwiſchen uns den Heiratsvermittler habe ſpielen wollen, ehe er daran zu denken wagte, ich könne ihn — den armen Gelähmten — jedem anderen vorziehen. Stratford war überzeugter Sozialiſt, wie Georg, nur daß er noch mit aller Energie an dem Standpunkt der Ethiſchen Geſellſchaft feſthielt: ſich offiziell keiner Partei anzuſchließen. Wir gerieten während der Eiſen⸗ bahnfahrt nach London in eine eifrige Debatte. „Grade Menſchen wie wir können für die Verbreitung der Ideen des Sozialismus außerhalb der politiſchen Organiſation weit mehr und nachhaltiger wirken, als wenn wir ihre eingeſchriebenen Mitglieder wären,“ ſagte er. „Wir verzetteln und verzehren unſere Kräfte nicht im Kleinkram des Parteilebens, wir finden Gehör, wo wir ſonſt von vornherein auf Mißtrauen ſtoßen würden. 8 „Und Sie als Ethiker können es verteidigen, daß wir mit geſchloſſenem Viſier kämpfen und unſere Über⸗ zeugungen durch Hintertüren in die Häuſer tragen? rief ich. „Ich komme mir dabei vor wie ein Feigling und ein Betrüger!“ Er lenkte ein: „Sie mögen in Deutſchland, wo der ganze Sozialismus ſich in der Partei konzentriert, zu dieſer Empfindung ein Recht haben, bei uns gibt es nichts, das der deutſchen Sozialdemokratie auch nur an⸗ nähernd ähnlich wäre. Wir ſind viel zu individualiſtiſch, um uns herdenweiſe zuſammenſcharen zu laſſen; Sie werden daher unſeren Sozialismus und ſeine Ausbreitung nicht nach dem Dutzend kleiner Vereine beurteilen müſſen, ſondern nach den Scharen freier Sozialiſten, die in allen Geſellſchaftsſchichten zu finden ſind.“ Meine Unwiſſenheit in bezug auf engliſche Verhält⸗ niſſe fiel mir plötzlich ſchwer aufs Gewiſſen. Ich ließ meinen Begleiter erzählen, der ſich, wie es ſchien, gern reden hörte, und warf nur hie und da eine Frage da⸗ zwiſchen, um ſeinen Redefluß auf die von mir gewünſch⸗ ten Bahnen zu lenken. Ein Kaleidoſkop bunter Bilder reihte ſich vor mir auf: von der Ethiſchen Geſellſchaft an, deren Sprecher er war, bis zu den politiſchen Kämpfen zwiſchen der konſervativ⸗unioniſtiſchen Koali⸗ tion gegen das liberale Miniſterium Roſebery⸗Harcourt. Ich war ganz benommen, als wir uns London näherten. Einzelne Häuſer tauchten auf, grau, nüchtern, mit trüben Fenſterſcheiben und dünnen ſchwarzen Schorn⸗ ſteinen; ſie ſchoben ſich rechts und links zuſammen, enger und enger, ſie verdrängten ſchließlich das letzte Streif⸗ chen grünen Raſens; ſchmal, feuchtglänzend wie Rieſen⸗ 9 würmer, wanden ſich unten die Straßen zwiſchen den Mauern. Ein ſchmutzig⸗grauer Rebel umhüllte alles, nicht wie ein Schleier, der phantaſtiſche Vorſtellungen von dahinter verborgener Schönheit zu wecken vermag, — wie ein naſſes Tuch vielmehr, das die Häßlichkeit der Formen betont und jede Farbe verwiſcht, die ſie mildern könnte. In der Bahnhofshalle brannten die Bogenlampen, ſie wirkten wie flackernde Ollämpchen im Dunkel eines Kohlenbergwerks. Wir fuhren durch die Stadt: leichte Wagen und ſchwerfällige Omnibuſſe, Reiter und Radler ſchoben und drängten ſich hin und her, kein Fußbreit Weges blieb frei zwiſchen ihnen. Auf den Bürgerſteigen daneben haſteten die Fußgänger; gleich⸗ gültig, nur auf das eigene Vorwärtskommen bedacht, ohne einen Blick nach rechts und links. Selbſt die Kinder liefen ernſthaft, gradausſchauend weiter. Da war keiner, der Zeit hatte —, unſichtbar ſchienen in der Menge die Fronvögte der grauſamen Herrin Arbeit ihre Geißeln zu ſchwingen. Hier ſollte ich Frieden finden und eine ſichere Richt⸗ ſchnur für das kommende Leben?! „Weſtminſter! — das Parlament, hörte ich meinen Begleiter ſagen. Ich blickte auf. An einem Palaſt mit gotiſchen Türmen und Fenſtern fuhr der Wagen lang⸗ ſam vorbei. In vornehmer Abgeſchloſſenheit, hinter hohen Gittern lag er geſtreckt am breit dahinflutenden Strom. Schüchterne Sonnenſtrahlen brachen durch den Rebel, leuchteten durch das feine gotiſche Maßwerk, blitzten auf den Turmknäufen, ſprangen hinüber zu der altehrwürdigen Kirche und ließen ihre bunten Fenſter aufglühen, als ſtünde ſie im Feuer. 10 Ein ſchmaler Weg am Ufer der Themſe, hinter dem Parlament, einfach und ſtill wie eine Dorfſtraße, nahm uns auf. Wir waren am Ziel. Meine Wirte, zwei alte Leute, hatten faſt ihr ganzes Haus den Beſuchern des Frauenkongreſſes zur Ver⸗ fügung geſtellt. Sie empfingen mich ſo herzlich, als wären wir alte Freunde. Man verſammelte ſich grade zum Frühſtück. Warum waren die Leute nur alle ſo feierlich? Selbſt Stratford legte das Geſicht in würde⸗ volle Falten, — fünf himmelblau gekleidete Dienſt⸗ mädchen traten ein, — ein Harmonium ertönte, — helle Stimmen ſangen einen Choral. Dann las der Haus⸗ herr mit dem Tonfall katholiſcher Prieſter einen Bibel⸗ abſchnitt, — ein Gebet folgte. Alles kniete nieder, den Kopf in den Händen vergraben, — auch Stratford, Georgs Freund, der Atheiſt. Ich fühlte, wie ich rot wurde vor innerem Zorn; ich allein blieb ſtehen. „Wie können Sie nur?!“ frug ich ihn empört, als er ſich verabſchiedete. „Es iſt ja nur eine Form! „Durch all unſere Rückſicht auf die Form helfen wir die Sache erhalten! Am Abend wurde der Kongreß durch einen feier⸗ lichen Empfang der ausländiſchen Delegierten eröffnet. Eine Schar weißgekleideter Mädchen, mit breiten Schärpen in den Landesfarben über der Bruſt, bildete Spalier auf der Treppe von Queenshall; in ein Meer von Licht war der Rieſenraum getaucht, und alle Blumen des Sommers leuchteten und dufteten II rings umher. In großer Toilette erſchienen die Dele⸗ giertinnen, bei jeder Eintretenden ging ihr Rame flüſternd von Mund zu Mund. Und wie ſie bekannt waren, ſo kannten ſie ſich untereinander und begrüßten ſich wie alte Kriegskameraden. Ich kam allein in meinem ſchwarzen Trauerkleid, über das der Witwenſchleier ſchwer herunter⸗ ſiel. Es war ein leerer Raum um mich, als ob meine dunkle Erſcheinung alles Bunte, Helle von ſich ſtieße. Mich kannte niemand. Ein ſcheu⸗verwundertes „Wer iſt das?“ ſchlug an mein Ohr. Auf der Eſtrade verſammelten ſich die Delegiertinnen, und jede von ihnen begrüßte im Ramen ihres Heimat⸗ landes die wogende Menſchenmaſſe unter uns. Da waren ſie alle, die alten Vorkämpferinnen, die Frauen Amerikas und Auſtraliens, die ihrem Geſchlecht die Hör⸗ ſäle der Univerſitäten und die Pforten zum Parlament eröffnet hatten. Ein neuer Weibestypus: ſtatt der weichen Madonnengeſichter, die die Stille und Enge häuslichen Lebens formt, ſchmale, ſcharf geſchnittene Züge, wie ſie die Welt ihren Bürgern meißelt; ſtatt des treuen, warmen Blicks, der über Kinderſtube und Küchengarten nicht hinauszuſchauen braucht, die wiſſen⸗ den, ernſten, leidenſchaftdurchfunkelten Augen jener, denen des Lebens dunkle Abgründe ſich offenbaren. Reben ihnen, den Siegerinnen, ſtanden die noch immer Beſiegten: die dunkeläugige Türkin im ſchimmernden Märchengewande der Scheherezade, die Abgeſandte In⸗ diens, den ſchlanken braunen Leib in weiche Schleier gehüllt. Stolz erzählten die einen von ihren Triumphen, klagend die anderen von ihren Leiden, — Triumphen auf dem Gebiete des wiſſenſchaftlichen, des ſozialen, des 12 politiſchen Lebens, — Leiden, hervorgerufen durch ſexuelle, ſoziale und rechtliche Unterdrückung, als ob Befreiung und Rot ihres Geſchlechtes damit erſchöpft wären. Immer heftiger ſchlug mir das Herz: ich ſah wie im Traum vor den Türen dieſes glänzenden Saales Scharen blaſſer Frauen im farbloſen Kleide der Arbeit, wie Werk⸗ ſtätten und Fabriken ſie allabendlich zu Tauſenden in ihr elendes Heim entlaſſen. Und als mein Rame ge⸗ rufen wurde, und die weiße brillantengeſchmückte Hand der Präſidentin ſich mit einer leiſe bevormundenden Be⸗ wegung auf meine Schultern legte, während ſie von Deutſchlands rechtloſen Frauen, von meinem erſten Auf⸗ treten für ihre politiſche Gleichſtellung ſprach, da wußte ich, was ich zu ſagen hatte. „Die Millionen Frauen, die unſere Hemden weben und unſere Kleider nähen, haben mich nicht delegiert, aber ich fühle mich als ihre Abgeſandte und nur als die ihre.“ Sekundenlanger Beifall unterbrach mich, — galt er nicht mehr meinem gebrochenen Engliſch und meiner Trauerkleidung als meinen Worten? Mit einem Blick voll Geringſchätzung ſtreifte ich die elegante Zuhörer⸗ ſchaft. Ich werde euch ſchon verſtummen machen — dachte ich. „Ihre Vorſitzende rühmte mich als die erſte deutſche Frau, die in öffentlicher Verſammlung das Stimm⸗ recht für ihr Geſchlecht gefordert habe. Ich muß dieſes Lob ablehnen. Seit Jahren tragen deutſche Arbeite⸗ rinnen von Ort zu Ort die Fahne der politiſchen Gleichberechtigung, und an der Spitze der Arbeiter⸗ partei, der Sozialdemokratie, ſteht ein Mann, dem die 13 Frauen der ganzen Welt zu Dank verpflichtet ſind: Auguſt Bebel.“ Ich hielt unwillkürlich inne, ich erwartete einen Tu⸗ mult, ſtatt deſſen erhoben ſich alle Hände zu einmütigem Applaus, und ſelbſt die Damen des Präſidiums, unter denen ſich die vornehmſten Frauen Englands befanden, lächelten mir freundlich zu. Am Ausgang des Saals trat mir eine ſtarkknochige ältere Frau entgegen. In dem Druck ihrer harten, un⸗ behandſchuhten Hand erkannte ich die Arbeiterin. „Ich bin Sozialdemokratin,“ ſagte ſie, „und möchte Sie als Genoſſin begrüßen.“ Auf dem Heimweg begleitete ſie mich, und ich gab meiner Verwunderung und meiner Freude Ausdruck über das Erlebte. Sie lachte geringſchätzig. „Was wollen Sie?! Wir ſind in England! Wenn ein Prinz Anarchiſt und eine Ariſtokratin Sozialiſtin iſt, ſo gilt das als ganz beſonders intereſſant. Paſſen Sie auf: man wird ſich um Sie reißen. Für unſere Sache aber hat das gar keine Bedeutung.“ Sie nannte mir ihren Ramen — Amie Hicks — und ihre Wohnung, fern im äußerſten Rorden Londons. „Beſuchen Sie mich einmal; ich werde Sie in Arbeiterkreiſe führen.“ Im Trubel der nächſten Zeit war daran nicht zu denken. Der Kongreß und ſeine Veranſtaltungen nahmen mich ganz in Anſpruch. Ich fehlte zwar oft; nicht nur, um den Morgen⸗ und Abendandachten aus dem Wege zu gehen, mit denen die Sitzungen regelmäßig eingeleitet und geſchloſſen wurden, ſondern auch, um Zeit zum Schreiben zu gewinnen. In Gedanken an meine zuſammenſchmelzende Bar⸗ ſchaft ſtieg mir das Blut oft ſiedendheiß in die 14 Schläfen. Das ſogenannte Gnadenquartal war mir als Witwe eines Univerſitätsprofeſſors freilich bewilligt worden, aber ſchon vom nächſten Monat ab hatte ich nichts Sicheres zu erwarten als meine kleine Penſion von hundert Mark monatlich. Ich hatte kaum an den pekuniären Ausfall gedacht, als ich meine Redaktions⸗ ſtellungen aufgab. Run hieß es: arbeiten, zuſammen⸗ ſchreiben, was ich zum Leben nötig hatte. Ich wußte nicht einmal, wie viel das war. Ich hatte nie mit dem Pfennig gerechnet. Wie gut, daß mein Trauerkleid mir wenigſtens erſparte, den Luxus der anderen mitzumachen. Mit Einladungen wurden wir überſchüttet: vom Lord⸗ Mayor an, der uns mit dem ganzen Pomp ſeiner un⸗ nachahmlich würdevollen Stellung empfing, wetteiferte alles in ſchier grenzenloſer Gaſtfreundſchaft. Hinaus aufs Land führten uns Extrazüge, — jenes Land voll rührender, weicher Schönheit, mit ſeinen grünen, ſanft geſchwungenen Hügeln, ſeinen dunklen Buchengruppen und ſtillen, roſenumſponnenen Häuſern. Faſt unmerk⸗ lich für Auge und Sinn geht die freie Natur in den Blumengarten, in den Schloßpark über, nicht wie bei uns, wo die ihr mit allen Mitteln mühſam aufge⸗ zwungene Kultur oft ſo verletzend wirkt wie protziger Reichtum neben dürrer Armut. Und in die Häuſer Londons waren wir geladen, die, wie Menſchen von alter Kultur, nach außen die gleichförmige, oft langweilig wirkende Maske guter Erziehung tragen und erſt dem Gaſt, dem ſich die Pforten öffnen, den ganzen inneren Reichtum individuellen Lebens zeigen. Berlin und die Berliner ſielen mir dabei ein, wo Faſſaden und Kleider, um Originalität vorzutäuſchen, einander an Buntheit zu 15 übertreffen ſuchen, während im Inneren Tapeziergeſchmack und Konvention uneingeſchränkt herrſchen. In Wohltätigkeits⸗ und Bildungsanſtalten aller Art wurden wir eingeführt, und wie in der Frauenbewegung, ſo imponierte mir hier die Einheitlichkeit ihrer Organi⸗ ſation, deren gewaltige Räderwerke ſo ſelbſtverſtändlich ineinander griffen wie die jener Dampfturbinen, bei deren Anblick wir nicht wiſſen, ob wir die praktiſche Kunſt ihrer Schöpfer oder die fremdartig⸗neue Schön⸗ heit ihres Baus mehr bewundern ſollen. Der Kongreß ſelbſt war eine Parade, wie faſt alle Kon⸗ greſſe. Die Reden, die gehalten, die Berichte, die ge⸗ geben wurden, waren den Eingeweihten ihrem Inhalt nach aus Büchern und Broſchüren bekannt. Der Aus⸗ tauſch von Meinungen, der das wichtigſte geweſen wäre, wurde an zweite Stelle gerückt, er hätte die Ordnung und den Glanz der Heerſchau am Ende trüben können. So wäre als Gewinn allein die Anknüpfung perſönlicher Beziehungen übrig geblieben, aber auch er war bei näherem Zuſehen für mich nur gering: dieſe Frauen hatten mir nichts Reues zu ſagen. Ihr A und O, das Frauenſtimmrecht, war für mich in dem Augenblick er⸗ ledigt geweſen, als ich die Selbſtverſtändlichkeit ſeiner Forderung erkannt hatte. Bei einer internen Sitzung der Delegationen wurde ich zur Präſidentin für Frauenſtimmrecht in Deutſchland gewählt. Meine ablehnende Haltung wurde unter all⸗ gemeinem Erſtaunen als eine Aufgabe des Prinzips be⸗ trachtet. „Sie alle haben ihre ganze Kraft auf die Löſung dieſer einen Frage konzentriert,“ ſagte ich in dem Ver⸗ I6 ſuch, mich verſtändlich zu machen, „ich bewundere Sie, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Das Frauenſtimm⸗ recht iſt heute für mich nicht mehr das Ziel, für das ich mein Leben einſetze, es iſt nur ein Ziel, nur eine Etappe ..“ Man verſtand mich nicht, von irgend einer Seite fiel ſogar das ſcharfe Wort: „. . . unbrauchbar für praktiſche Arbeit.“ Gleich nach der Schlußſitzung des Kongreſſes wechſelte ich mein Domizil. Freunde von Stratford — ein libe⸗ raler Parlamentarier und ſeine ſchöne elegante Frau — hatten mich in ihr Haus am Hydepark eingeladen. Alles trug dort den Anſtrich ausgeſuchteſter Vornehm⸗ heit: vom Zeremoniell der Lebensweiſe, dem deutſchen Hauslehrer und der franzöſiſchen Gouvernante bis zu dem würdevollen, glattraſierten Bedienten und dem nied⸗ lichen Kammermädchen. Hausherr und Hausfrau ver⸗ ſtießen mit keiner Miene und keiner Bewegung gegen die Regeln der guten Geſellſchaft, und doch wurde ich den Eindruck nicht los, der uns gegenüber guten Kopien großer Meiſterwerke oft befällt: wir erſtaunen über die Technik und vermiſſen um ſo ſchmerzhafter den Geiſt. Daß Stratford ſich hier heimiſch fühlte, mit allen Fibern die parfümierte Luft dieſer von tauſend Richtigkeiten überladenen Salons einatmete, machte ihn mir noch fremder. Und als ich ihn in der Ethiſchen Geſellſchaft reden hörte inmitten einer Korona von lauter typiſchen Vertretern der Geldariſtokratie, denen ſeine Sittenpre⸗ digten dieſelbe angenehme Emotion boten wie die Moral der bibliſchen Geſchichten den Frommen in der Kirche, da mußte ich mir ſeine Briefe, ſeine Schriften ins Ge⸗ 17 dächtnis rufen, um noch Georgs Freund in ihm zu er⸗ kennen. Er ging den Weg, den ich nach dem Wunſche meiner Familie gehen ſollte, — wie würde ich jemals imſtande dazu ſein?! „Sie ſind ſehr ungerecht,“ ſagte er eines Tages, als ich ihm in meiner heftigen Art, die der Unruhe meines eigenen Innern entſprang, über ſeine Tätigkeit als „Modeprediger“ Vorwürfe machte. „Sie kennen mich nur von der einen Seite.“ Roch am ſelben Abend ſollte ich die andere kennen lernen. An der Ecke von zwei engen Straßen, beim Scheine einer trübe flackernden Laterne ſprach er über die Ethik des Sozialismus. Zuerſt blieben nur ein paar neugierige Bummler ſtehen, aber je ſtärker ſeine Stimme von den Mauern widerhallte, deſto mehr Menſchen ſammelten ſich um ihn. Müde, zerlumpte Geſtalten krochen wie Nachtgeſpenſter aus den Kellern hervor, Hoftüren öffneten ſich, und umwogt von einer Wolke ekler Gerüche erſchienen Frauen mit zerwühlten Zügen, halbwüchſige Mädchen, deren freches Grinſen allmählich zuckendem Schluchzen wich. Mit wüſtem Ge⸗ ſchrei ſtießen ſich trunkene Burſchen aus der nächſten Kneipe heraus, und nach und nach entzündeten ſich Lichter des Verſtehens in ihren eben noch blöd glotzen⸗ den Augen. Die Straße wurde ſchwarz vor Menſchen. Stratford ſprach mit ſteigender Begeiſterung. Um ſeinen roten Bart tanzten die Lichter der Laternen, ſeine Augen ſtrahlten vom eigenen Feuer. Ich hörte kaum, was er ſagte, ich ſah nur die Wirkung ſeiner Worte. Aus den vertierteſten Geſichtern brach ein Schein von Menſchen⸗ 2 Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 18 tum hervor, ein froher Zug von Hoffnung verwiſchte tiefe Kummerfalten. Wir gingen ſchweigſam durch die Racht nach Hauſe. Vor der Türe reichte ich ihm die Hand. „Ich würde Sie nach dem, was ich eben erlebte, um Verzeihung bitten, meiner Vorwürfe wegen, wenn ich nicht grade dadurch wüßte, daß Sie doppelt ſchuldig ſind. Ein Mann wie Sie gehört der Sache des Sozia⸗ lismus, und keiner anderen . . . „Vielleicht haben Sie recht,“ antwortete er leiſe, „wären nur nicht der Feſſeln ſo viele, die uns an das andere Leben ſchmiedeten — „Wir werden ſie beide zerbrechen müſſen Im Hauſe meiner Gaſtfreunde drehte ſich das Intereſſe faſt ausſchließlich um Fragen der Politik. Was für andere Frauen der Geſell⸗ ſchaft der Flirt, die Kunſt, die Toilette, das Theater war: Reizmittel für ihr Rervenſyſtem, — das war die Politik für Mrs. Dew. Faſt täglich war ich mit ihr im Parlament; ſei es, daß wir den Kommiſſions⸗ beratungen des neuen Fabrikgeſetzes beiwohnten — das Hublikum hatte ohne weiteres Zutritt — oder in den Wandelgängen und auf der Themſeterraſſe zwiſchen Tee und Eis mit den Abgeordneten debattierten. Seltſam: man nahm uns ernſt; vergebens erwartete ich auf den Zügen der Männer jenes gönnerhaft mitleidige Lächeln, mit dem meine Landsleute die politiſierende Frau zu betrachten pflegten. Eine gewiſſe Zurückhaltung mir gegenüber entſprang weniger der Tatſache, daß ich ein 19 Weib, als daß ich eine Deutſche war, die offenbar nur im Bilde der „guten Hausfrau“ im Bewußtſein der Engländer lebte. Schon war es gewitterſchwül in den feierlich⸗hohen Hallen des Parlaments, bei jeder Gelegenheit drohte ein Wetterſtrahl die Regierung zu ſtürzen, und die von Elektrizität geladene Luft drang bis hinter die engen Gitterſtäbe der Damengalerie. Unruhiger als ſonſt raſchelten die ſeidenen Kleider, unterdrückte Erregung durchzitterte die Flüſtergeſpräche. Man achtete kaum der Redner im Saal, man erwartete nur die Kataſtrophe. Da plötzlich klang eine Stimme von unten empor, rollend wie ferner Donner, — dann wieder tief und ſchwer wie der Ton rieſiger alter Kirchenglocken, — die Damen ver⸗ ſtummten, — drängten ſich enger an das Gitter, — und aus ihrer bequemen Stellung auf den weichen Polſter⸗ ſitzen reckten ſich die Abgeordneten auf. Ich hörte nur die Stimme, den Redner ſah ich nicht, aber ich empfand ihn als einen, der zum Herrſchen beſtimmt war. „Wer iſt das?“ — „John Burns!“ — John Burns — der Verräter?! So war er in der deutſchen ſozialiſtiſchen Preſſe von dem Augenblick an bezeichnet worden, wo er ſich grollend von der engliſchen Partei losgeſagt hatte. Roch am ſelben Abend ſtellte Mr. Dew ihn mir vor. Ich war zuerſt enttäuſcht: Alles überragend hatte ich den Träger dieſer Stimme mir gedacht, nun trug er auf dem unterſetzten kräftigen Körper nur den Kopf eines Rieſen: Dunkle Haare erhoben ſich widerſpenſtig über der breiten, ſcharf durchfurchten Stirn; hinter buſchigen Brauen glänzte ein Augenpaar, das in ſeiner mächtigen Färbung und fieberhaften Lebendig⸗ 2* 20 keit der Herkunft aus dieſem helläugigen Volke Hohn ſprach. Er ſchüttelte mir kräftig die Hand. Die ſeinige war breit und ſchwer, ſie zeugte von dem Hammer, den ſie geführt hatte; — wie war es möglich geweſen, daß ihr die rote Fahne entglitt, die ſie einſt an der Spitze des Heers der Arbeitsloſen durch das entſetzte London ge⸗ tragen hatte? War dieſer Mann nicht der geborene Schöpfer und Führer einer großen, einigen ſozialiſtiſchen Partei Englands? Ich unterdrückte keine der Fragen, die ſich mir aufdrängten. „Ich weiß, daß die Sozialdemokraten, beſonders die deutſchen, mich für einen Verräter halten,“ ſagte er, „aber ſie verſtehen die Situation nicht. In Deutſch⸗ land würde ich nicht anders handeln als Bebel und Liebknecht, aber hier . . .“ mit einer raſchen Bewegung ſchob er die Teetaſſe beiſeite und zeichnete auf die weiße Marmorplatte des Tiſchs einen Punkt mit einem großen Kreis rings herum. „Sehen Sie,“ fuhr er fort, „dieſer Punkt iſt der Sozialismus, um den Kreis herum ſteht die deutſche Regierung, Ihr Militär, Ihre Polizei, und dieſe treiben naturgemäß alle freidenkenden Elemente dem Mittelpunkt zu, mit dem ſie ſich, infolge des äußeren Drucks, feſt vereinigen. Bei uns beſteht der Mittelpunkt, aber der Kreis fehlt, und ſo ſtrömen die Strahlen dieſer ſozialiſtiſchen Sonne ungehindert nach allen Richtungen aus.“ Ich lächelte ein wenig un⸗ gläubig. „Ich werde Ihnen beweiſen, was ich ſage, fügte er raſch hinzu. „Sie kommen morgen mit mir —, er ließ mir gar keine Zeit zu Einwendungen, ſondern beſtimmte Ort und Stunde für unſere Zuſammenkunft. 21 Von da an trafen wir uns oft, im Parlament wie im Londoner Grafſchaftsrat. Ich ſah erſtaunt, mit welchem Reſpekt Mitglieder aller Parteien dieſem Manne begegneten, der noch vor wenigen Jahren im unter⸗ irdiſchen London Gasleitungen gelegt hatte; aber noch mehr erſtaunte ich über den freudigen Stolz, mit dem er mir ſtädtiſche Einrichtungen als „Strahlen der ſozia⸗ liſtiſchen Sonne“ erklärte, in denen ich nichts anderes ſehen konnte als bürgerlich⸗ſoziale Reformen. „Der deutſche Marxismus hat Sie blind und taub gemacht,“ ſagte er eines Tages ungeduldig, als ich mich für die Kommunaliſierung der Verkehrsmittel durchaus nicht begeiſtern konnte. „Laſſen Sie ſich von den Fabiern in die Schule nehmen. „Den Fabiern?! „Eine Geſellſchaft von „Salonſozialiſten“, würde man bei Ihnen in Deutſchland ſagen. Tüchtige Leute dar⸗ unter . . . Mit einem ihrer Begründer und Leiter, Sydney Webb, machte er mich im Teezimmer des Grafſchafts⸗ rats bekannt. Ich wußte von ſeiner Frau, die als junges Ding ihr reiches Elternhaus verlaſſen hatte, um der Sache der Arbeiter zu dienen, und nun, ge⸗ meinſam mit ihrem Mann, durch Wort und Schrift für Genoſſenſchaften und Gewerkſchaften tätig war. Ich wußte auch, daß ſie der Frauenbewegung fern, ja ihren Forderungen ſogar vielfach feindlich gegenüberſtand. Ge⸗ leſen hatte ich keines ihrer Bücher, nur mit einer ge⸗ wiſſen Scheu ging ich darum zu ihr. Eine blühend ſchöne Frau fand ich, mit dem ganzen Reiz ſtarken geiſtigen Lebens in den Zügen und einer Güte und 22 Anmut des Weſens, der meine Steifheit nicht lange ſtandhielt. Durch ſie erfuhr ich von der Macht und Größe der engliſchen Gewerkſchaftsbewegung und fand den Weg in die Häuſer jener Arbeiter, die ſich durch die Kraft ihrer Organiſation aus phyſiſcher und geiſtiger Verſklavung befreit hatten. Wie ein Stück verwirk⸗ lichter Zukunftsſtaat kam es mir vor, wenn ich ſie draußen, vor Londons Toren, in ihren Gärten traf oder vor dem Kamin ihres Wohnzimmers oder am gut beſetzten Tiſch. Wahrhaftig: hier hatten die Strahlen der ſozialiſtiſchen Sonne aus ödem Land neues Leben hervorgerufen. In den Verſammlungen der Fabier, die ich von da an regelmäßig beſuchte, wurden theoretiſche und prak⸗ tiſche Fragen des Sozialismus von allen Seiten be⸗ leuchtet und erörtert. Jene Scheu, zu ſagen, was man denkt, die die Menſchen überall ſchwach und klein macht, wo religiöſer, ſittlicher oder politiſcher Fanatismus die Wahrheit an ſich zu beſitzen vorgibt, ſchien hier ver⸗ ſchwunden, und mir war, als ſiele Licht auf den Weg, den ich zu gehen hatte. „Es iſt nicht wahr, daß die Befreiung der Arbeiter⸗ klaſſe nur ein Werk der Arbeiterklaſſe ſelbſt ſein kann, — es iſt nicht wahr, daß der Klaſſenkampf das Grund⸗ element der ſozialiſtiſchen Bewegung iſt, — es iſt nicht wahr, daß die Entwicklung des Sozialismus mit der Sicherheit eines Naturgeſetzes notwendig zur Expro⸗ priation der Expropriateure führen wird . . .“ Eine überſchlanke Geſtalt ſtand auf der Rednertribüne, mit ſchmalem, gelblich blaſſem Geſicht, in das weiche blonde Haare wirr hineinfielen. „Es waren und ſind die 23 revoltierenden Söhne der Bourgeoiſie ſelbſt — Laſſalle, Marx, Liebknecht, Morris, Hyndman, Bax — alle, wie ich, Bourgeois mit Miſchung von Kavaliersblut, die die rote Fahne entfalteten. Der Hunger der Armen treibt zur Revolte, der Geiſt allein zur Revolution . . . Wie Hochverrat an den grundlegenden Dogmen des Sozialismus klang mir, was dieſer Mann hart und ſcharf in den Saal hinausſchleuderte. Aber ein Ton blieb mir hartnäckig im Ohr und weckte etwas in mir, das ſtark und ſtolz war. In ſelbſtentſagender Askeſe hatte ich mich, ein ſchlichter Soldat, als mein Lebens⸗ glück zuſammenbrach, in den Dienſt der Partei ſtellen wollen. Kraft und Jugend kehrten mir wieder: ſollte ich nicht fähig ſein und berufen, dem Sozialismus den Urwald erobern zu helfen, den alle Giftpflanzen des Vorurteils und des Stumpfſinns noch üppig durch⸗ wucherten? Ich ſuchte des Redners Bekanntſchaft. Es war Ber⸗ nard Shaw, der Theaterkritiker der Saturday Review, der Entdecker Ibſens und Richard Wagners nicht nur für England, ſondern für den Sozialismus, der biſſige Spötter, von deſſen Witzen die engliſche Geſellſchaft nie recht wußte, ob ſie über ſie lachen, oder ſich vor ihnen fürchten ſollte. Mich verlangte nach einer Erklärung deſſen, was er in lapidaren Sätzen eben vor mich hin⸗ geſtellt hatte. „Sie waren draußen in Letſhfield?“ frug er mich ſtatt aller Antwort. „Und haben die Bewohner in ihren Heimen geſehen? . . . Natürlich auch bewundert?! Ich nickte. „Und nicht bemerkt, wie draſtiſch ſolch eine Miniatur⸗Zufriedenheitsexiſtenz lehrt, daß der Arbeiter 24 in ſeiner Maſſe nichts mehr verlangt, als ein Bourgeois zu werden! „Iſt es nicht auch das wünſchenswerteſte Ziel, ihn zunächſt wenigſtens ſatt zu machen?“ warf ich ein. „Sicherlich, denn Armut iſt ein Laſter —, wenn nur die ſatt gewordenen nicht am raſcheſten derer vergeſſen würden, die noch immer hungern. Im Grunde ſind die Arbeiter das konſervativſte Element im Staat, und wir Freigelaſſenen der Bourgeoiſie ſind dazu da, ſie auf⸗ zurütteln.“ Der Kreis der Fabier war von nun an derjenige, der mich am meiſten anzog, aber die politiſchen Ereig⸗ niſſe auf der einen, und jenes Gefühl der Unfreiheit auf der anderen Seite, das mit der Annahme auch der weitherzigſten Gaſtfreundſchaft untrennbar verbunden iſt, riſſen mich wieder nach anderen Richtungen fort. Die Abſtimmung über eine an ſich unbedeutende Militär⸗ frage führte zu einer Riederlage der Regierung und damit zum Rücktritt des Miniſteriums. Eine Erregung, die ſich vom Parlament aus mit Windeseile auf alle Straßen fortpflanzte, die Geſichter der überall in Gruppen Zuſammenſtehenden höher färbte und alle Augen blitzen ließ, bemächtigte ſich der Londoner. Sie ſteigerte ſich zur Fieberhitze an jenem Abend in Albert⸗Hall, wo ſich die Menſchenmaſſen vom Parterre dieſes Rieſenzirkus bis hoch unter die Kuppel zuſammendrängten und die geſtürzten Miniſter Roſebery und Harcourt in die vom Atem Tauſender und der zitternden Glut des Julitages lebendigen Luft gegen die neue Regierung leidenſchaft⸗ liche Anklagen erhoben. Selbſt die Rachmittagstees des londoner Weſtens geſtalteten ſich zu Agitationsver⸗ 25 ſammlungen. Die Leidenſchaft des Haſardſpielers ſchien alle ergriffen zu haben, und geſpannt, als gelte es dem Einſatz der ganzen Exiſtenz, hingen die Blicke an der rollenden Roulettekugel des Wahlkampfes. Eines Morgens atmete ich wie erlöſt aus einem Banne auf, als ich nicht mehr in dem eleganten Zimmer von Princes Gardens erwachte, wo dichte gelbſeidene Vorhänge mir ſtets die Sonne vorgetäuſcht hatten und das blitzende Meſſinggeſtell meines Betts mich oft ſelbſt unter der Daunendecke fröſteln machte. Hinter weißen Mullgardinen ſah ich jetzt grüne Zweige ſchaukeln, und in einem Bett aus warm getönten hellem Holz hatte ich traumlos geſchlafen. Es waren Deutſche von Ge⸗ burt, Engländer aus freier Wahl, die mich fur die letzte Zeit meines londoner Aufenthaltes zu ſich in ihr Künſtlerheim geladen hatten. Jedes Möbelſtück, jeder Teppich und jede Vaſe ſtanden in den ſchönen lichten Räumen des Hauſes in feiner Harmonie zueinander, nur die Gemälde an den Wänden ſchienen ſie mißtönig zu zerſtören, und in dem großen Atelier ſchrieen ſie förm⸗ lich. Bilder des Elends waren es, des Hungers und der Verzweiflung, Bilder des Krieges, auf denen von Wunden grauenvoll Zerriſſene die Hände krampfhaft geſpreizt oder wütend geballt gen Himmel ſtreckten. Der Hausherr malte ſie und nichts als ſie, — ein milder, gütiger Mann mit grauem Patriarchenbart und den Augen eines Jünglings. Wo immer das Leid der Kreatur zum Ausdruck kam, war ſein Herz und ſein Intereſſe, von der Friedensbewegung an bis zur Tier⸗ ſchutzbewegung. Er gehörte zu den Menſchen, die über⸗ all im einzelnen helfen und wirken wollen, wie der un⸗ Hochschule für Außenhandel - Bibliothek - 26 gelernte Gärtner, der da und dort einem armen Pflänz⸗ lein durch künſtliche Nahrung oder durch den ſtützenden Stab aufhelfen will, aber bei all ſeinem aufreibenden Eifer nicht ſieht, daß der ganze Boden ſchlecht iſt. Sein weißblondes zartes Frauchen lächelte oft ganz heimlich, wie eine kleine Mutter zu den Spielen ihres Kindes, die ſie mit der Weisheit der Erwachſenen nicht ſtören will. Ihr Haus übte eine magnetiſche Anziehungskraft auf Alles aus, was abſeits der großen Heerſtraße ging. Shaw traf ich hier wieder als häufigen Gaſt; Peter Krapotkin gehörte zu den Intimen des Hauſes, — der große Revolutionär, der doch ein Kind war: gut und vertrauensſelig und voll phantaſtiſcher Träume wie ein ſolches. William Stead, deſſen rückſichtsloſer Kampf gegen die ſittliche Fäulnis der londoner Geſellſchaft ihm einen europäiſchen Ruf verſchafft hatte, begegnete mir hier zum erſtenmal und zog mich in den Bannkreis ſeiner ſtarken Perſönlichkeit. Seine Augen, deren opali⸗ ſierende Lichter wie durch geheimnisvoll darüber ge⸗ breitete Schleier ſchienen, übten eine faſzinierende Wir⸗ kung aus, und wenn er von ſeinem Verkehr mit den Geiſtern Abgeſchiedener erzählte, wenn er von den Kräften der Seele ſprach, die unerweckt auch in mir ſchlummern müßten, ſo bedurfte ich der ganzen Rüchternheit meines Verſtandes, der ganzen Stärke meiner fanatiſch mate⸗ rialiſtiſchen Weltanſchauung, um mich ſeinem Einfluß zu entziehen. „Ich will mich nicht mit Problemen beſchäftigen, die mich von dem Problem ablenken könnten, deſſen Löſung meine einzige Aufgabe iſt: dem des Elends in der Welt ... antwortete ich ihm eines Tages, als er mich mit Annie 27 Beſant bekannt machen wollte, die ſich eben vom Sozia⸗ lismus abgewandt hatte und zur begeiſterten Verkünderin theoſophiſcher Ideen geworden war. „Mögen andere heute, wo die Zeit drängt, es vor ſich ſelbſt verant⸗ worten, wenn ſie ihren Träumen nachhängen . . . „Sie werden nie mehr träumen?!“ Mit einem Blick und einem Lächeln begleitete Stead ſeine Frage, die mir das Blut in die Wangen trieben. Er nahm meine beiden Hände zwiſchen die ſeinen — Hände, die in ihrer Kraft und ihrer Weiche zum Schützen wie zum Streicheln gleich geſchaffen waren —, und ſeine Augen bohrten ſich in meine Züge. „Ich liebe Ihre Tapferkeit und Ihre Klugheit, aber was mich Ihre Freundſchaft ſuchen ließ, das iſt Ihr unbewußtes Ich, das ſind Ihre Träume, die Sie vergeſſen, wenn Sie wachen, von denen mir aber noch Ihre Augen erzählen, — das iſt die tiefe Sehnſucht, die Ihr Weſen über ſich ſelbſt hinauszieht.“ Ich fuhr an jenem Tage mit ihm hinaus nach Wim⸗ bledon, wo ſich zwiſchen hohen Hecken und alten Bäumen ſein kleines, ſtilles Haus verſteckte. Und im verwil⸗ derten Garten unter dem ſchattenden Laubdach duftender Linden lag ich in der Hängematte und ließ mir von ihm die Kiſſen unter den Kopf ſchieben. „Sie ſind müde? „Sehr!“ „Ihr Leben iſt Seelen⸗Selbſtmord.“ Seine Hand glitt ſanft über meine Stirn. Viele, bunte Schmetterlinge gaukelten über ein Meer gelber Blumen, und zwei Libellen tanzten über dem kleinen ſtillen Teich zärtlich miteinander. Vom Herzen aus 28 zuckte ein ſchneidendes Weh mir durch den Körper, die Augen füllten ſich mit Tränen. Was war es nur, das mich überwältigte?! „Wie Ihre Jugend um ihr Leben weint!“ ſagte leiſe der Mann neben mir. Meine Jugend?! Kaum wußte ich noch, ob ich alt war oder jung. Ich ſtand wohl ſchon lange jenſeits jeden Alters! Schweigſam fuhren wir beide nach London zurück. Ich fühlte die Hand meines Begleiters auf der meinen — ſtreichelnd, ſchützend. Rachts ſchluchzte ich verzweifelt in die Kiſſen, und morgens, als ich mich zur gewohnten Arbeit am Fenſter niederſetzte, ſchweiften meine Gedanken weit hinaus über die Baumwipfel — in den glühenden Sommertag — in das Leben. Ich ging umher, mir ſelbſt fremd geworden, mit anderen Augen. Ich ent⸗ deckte im Spiegel mein Geſicht wie das einer Fremden. Mechaniſch löſte ich die Witwenhaube aus den Haaren. „Georg — Georg —“ ſchrie es in mir, „nie bin ich deine Frau geweſen — wie kann ich deine Witwe ſein? Die Menſchen um mich kamen mir verändert or: ich fühlte Männerblicke, die das Weib in mir ſuchten und nicht die Geſinnungsgenoſſin, und Händedrücke, die andere Empfindungen verrieten als die bloßer Freund⸗ ſchaft. Und wenn ich auf den grünen Wieſen im Hyde⸗ park blonde roſige Kinder ſah, kam ich mir vor wie eine Ausgeſtoßene. Drangen aber gar durch die Nacht aus den Gärten rings umher ſehnſüchtig⸗ſüße Lieder an mein Ohr, ſo war mir, als hätte ich jetzt ſchon Georgs Vermächtnis die Treue gebrochen. 29 Eines Rachmittags — mein Aufenthalt neigte ſich ſeinem Ende zu — trat eine einfache, ſtark⸗ knochige Frau, die weißen Haare ſtraff aus der Stirn gezogen, an unſeren Teetiſch und ſtreckte mir eine harte, unbehandſchuhte Hand entgegen: „Sie kennen mich wohl nicht mehr?“ Ich ſprang auf, faſt hätte ich ſie in die Arme gezogen: „Amie Hicks?! Sie haben mir Londons Elend zeigen wollen! Wollen Sie es noch tun, — gleich jetzt?“ Sie lachte verwundert über meinen plötzlichen Eifer, aber ich ließ ſie nicht los und wir verabredeten zunächſt einen gemeinſamen Beſuch im Bureau des Zentralkomitees für Frauenarbeit. Was ich dort kennen lernte, erregte mein höchſtes In⸗ tereſſe: Man hatte ſich zur Aufgabe geſtellt, die Lage der erwerbstätigen Frauen zu unterſuchen und die Re⸗ ſultate zu veröffentlichen, gewerkſchaftliche Organiſationen zu ſchaffen und zu unterſtützen, die Arbeiterinnenſchutz⸗ Geſetzgebung zu ſtudieren und ihre Weiterentwicklung durch mündliche und ſchriftliche Propaganda zu fördern. „Wir ſind gewiſſermaßen ein Arſenal und liefern der Arbeiterbewegung die Waffen,“ ſagte mir eine der Lei⸗ terinnen; „und wir ſchaffen zugleich die Möglichkeit, daß die Frau der begüterten Kreiſe die Lage der Arbei⸗ terin kennen lernt, und die Arbeiterin andererſeits ſich der Kenntniſſe der bürgerlichen Frau bedienen kann, fügte eine andere hinzu. Der Plan, etwas Ähnliches in Berlin zu gründen, reifte in mir: der Arbeiterbe⸗ wegung Waffen liefern, war mindeſtens ſo nützlich, als ſelbſt die Waffen tragen. Es war praktiſch im Grunde dasſelbe, was die Fabier theoretiſch leiſteten, es würde 30 wertvolle Kräfte in den Dienſt des Sozialismus zwingen, — ihrer ſelbſt faſt unbewußt. Es ermöglichte mir, außer⸗ halb der Partei für die Partei zu wirken. Mit krampf⸗ hafter Anſtrengung zuerſt und dann mit wachſender An⸗ teilnahme vertiefte ich mich in das Studium meiner Aufgabe. Ich flüchtete aus den blühenden Gärten in die engen Straßen zwiſchen die geſchwärzten Mauern, wo kein Baum und kein Vogel den Sommer verrät und ſeine Glut, die draußen vor den Toren die Knoſpen wach küßt, nichts hervorruft, als ekle Dünſte und giftige Miasmen. Je mehr ich ihm entfloh, deſto grauer und ſtiller wurde es auch wieder in mir. Eilig, wie die andern, ohne rechts oder links zu ſehen, lief ich durch die Stadt, über klebrige Höfe, ſteile Treppen hinauf in die Bureaus der Fabrikinſpektionen und der Gewerk⸗ ſchaften, zu Beſuchen, Sitzungen und Verſammlungen. Zahlen, nichts als Zahlen hörte ich — neben den Lohn⸗ tabellen, die Arbeitsſtunden und die Wochen der Arbeits⸗ loſigkeit —, ſie verfolgten mich bis in meine Träume, verſchwammen ineinander und ſchoben ſich vor meinen Augen dichter und dichter zuſammen, bis ſie nichts waren als ein einziges ſchwarzes Trauergewand, das Himmel und Erde verhüllte. „Run bleibt mir nur noch übrig, die Illuſtration zu Ihren Tabellen zu ſehen,“ ſagte ich eines Abends zu Amie Hicks, die die Arbeiterinnen der Zündholzfabri⸗ kation — ihre Kolleginnen — organiſiert hatte. Sie wandte ſich an eine junge Soldatin der Heilsarmee, die beſcheiden im Hintergrund ſtand. „Wollen Sie unſere deutſche Freundin heute nacht nach Whitechapel mit⸗ nehmen? 31 Das Mädchen ſah mich zweifelnd an: „Wenn die Dame ſich nicht fürchtet — und ſich entſchließt, unſere Kleidung anzuziehen.“ Ich war natürlich zu allem be⸗ reit. Ehe wir uns am ſpäten Nachmittag auf den Weg machten, ſteckte ich mir die Taſchen voll kleiner Kupfer⸗ münzen. „Das hat keinen Zweck,“ lächelte meine Be⸗ gleiterin, „es ſind ihrer viel zu viele!“ Unterwegs er⸗ zählte ſie mir von ihrer Arbeit: einem unaufhörlichen Kampf mit Laſter und Not, einer ſtündlichen Aufopfe⸗ rung der eigenen Perſon, und ihr ſchmales Geſichtchen ſtrahlte dabei wie das ihrer Altersgenoſſinnen, wenn ſie von Karnevalstriumphen zu berichten haben. „Was führte Sie zu Ihrem Beruf?“ frug ich. „Jeſus rief mich!“ antwortete ſie einfach. Es ſing an zu dämmern. Die Straßen ſchrumpften zuſammen, während die Menſchenmaſſen unheimlich an⸗ ſchwollen. In ihrer Kleidung ſchienen die Farben mehr und mehr zu erlöſchen, und die Unterſchiede zwiſchen Alter und Jugend verwiſchte ein gleichmäßiger Ausdruck, zwiſchen Leid, Stumpfſinn und Gemeinheit ſchwankend. Kinder keuchten mit Säcken beladen über die Gaſſen — „Heimarbeiter“, bemerkte meine Begleiterin lakoniſch —, an den Rinnſteinen hockten andere in langen Reihen, und wühlten mit ſchmutzſtarrenden, mageren Fingerchen im Straßenkehricht. Ein kleiner Bub mit krummen Beinen wollte ſich eben heimlich mit dem gefundenen Reſt einer Banane aus dem Kreis der Gefährten davon ſchleichen. Ein triumphierendes Grinſen verzerrte ſein Geſichtchen. Aber ſchon fielen die anderen wutheulend über ihn her und riſſen ihm die fadenſcheinigen Lumpen von dem armen rhachitiſchen Körper. Er weinte nicht, 32 er duckte ſich nur ein wenig und verſuchte die zer⸗ tretene Banane vom Pflaſter abzukratzen, aus ſeinen verſchwollenen Augen traf mich dabei ein Blick voll grenzenloſer Verzweiflung. Wir bogen in eine langgeſtreckte ſchmale Sackgaſſe ein. „Rehmen Sie ſich in acht,“ warnte meine Be⸗ gleiterin, als wir in eines der offenen Häuſer traten, „die Treppen haben keine Geländer.“ Ich taſtete mich hinter ihr vorwärts, während ein peſtilenzialiſcher Ge⸗ ruch mir den Atem benahm. Wir ſtießen eine Türe auf, die weder Griff noch Schlüſſel hatte. Ein ſchwerer grauer Dunſt von Staub und Schweiß ſchlug uns ent⸗ gegen, geſpenſterhaft bewegten ſich die Geſtalten der Bewohner dahinter, während das Rattern und Quietſchen ſchlecht geölter Rähmaſchinen jeden anderen Ton ver⸗ ſchlang. Dicht aneinandergedrängt ſaßen Männer und Frauen um den Tiſch, auf dem ein kleines Lämpchen vergebens verſuchte, ſpärliches Licht zu verbreiten; an dem einzigen Fenſter ſtanden die Maſchinen, von zwei Kindern in Bewegung geſetzt. Keines der dunkeln Köpfe hob ſich bei unſerem Eintritt. Nur als mein Kleid eine der Frauen ſtreifte, ſahen ein paar ſchwarze Augen⸗ ſterne mich prüfend an. „Ruſſiſche Juden,“ ſagte meine Begleiterin und wandte ſich dem finſterſten Winkel des Zimmers zu. Eine durchſichtig weiße Hand ſtreckte ſich ihr entgegen. „Er iſt ſchwindſüchtig,“ flüſterte ſie. Zögernd trat ich näher. In einem armſeligen Bett, mit Haufen bunter Stoffreſte ſtatt mit Kiſſen gefüllt, lag ein Mann, das blaſſe durchgeiſtigte Antlitz von ſchwarzen, langen Haaren umrahmt; ſtrahlend richteten ſich ſeine fieberglänzenden Augen auf das junge Mädchen, 33 aber die Milch, die ſie aus ihrem Körbchen nahm, ent⸗ täuſchte ihn; erſt als ſie ein kleines Buch in ſeine ſchlanken Finger legte, lächelte er ſie dankbar an. „Ich habe auch wieder ein Gedicht geſchrieben —,“ ſagte er und zog einen Fetzen Zeitungspapier aus den Lumpen hervor, am Rande dicht bekritzelt. „Richt einmal Knöpfe kann er mehr annähen,“ tönte eine rohe Stimme neben uns. „Wenn es doch bald zu Ende wäre, — geſtern ſpuckte er Blut auf ein fertiges Hemd Ich mußte mich einen Augenblick ſchwindelnd an den Pfoſten des Torweges lehnen, als wir hinunterkamen. Es war inzwiſchen ganz dunkel geworden. Unter der nächſten Türe ſtand ein Mädchen mit entblößter Bruſt und ſprühenden Augen. „Marianne!“ — Vorwurfsvoll tönte die Stimme meiner Begleiterin. Ein rauhes Lachen antwortete ihr. „Ich will leben!“ ſtieß das Mädchen zwiſchen den Zähnen hervor. — „Leben!“ — wiederholte ſie noch einmal mit einem langgezogenen Rachtigallenton. Wir gingen an ihr vorbei in die nie⸗ drige Stube; eine verroſtete Eiſenbettſtelle, ein paar Kiſten bildeten die ganze Einrichtung. Am Herd in der Ecke ſtand ein altes Weib mit den gedunſenen Zügen der Trinkerin, auf dem feuchtglänzenden Lehmboden kroch eine Schar kleiner Kinder. Meine Begleiterin hatte gerade begonnen, einem der kleinſten die wunden Füßchen zu verbinden, da ſprang unter wüſtem Gekreiſch die Türe auf: — das Mädchen von draußen ſtolperte, von ein paar braunen Fäuſten geſtoßen, ins Zimmer, zwei Schwerbetrunkene hinter ihr. Sie warf ſich aufs Bett, ¹ ich floh, von Entſetzen gepackt, aus dem Hauſe. Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 3 34 In den Straßen brütete gewitterſchwangere Julinacht. Junge und alte Weiber, von Elend, Laſter und Krank⸗ heit gräßlich gezeichnet, Männer, deren Kleidung einen Fuſelgeruch ausſtrömte, Kinder, die eine Kindheit nie gekannt hatten, ſtrichen an uns vorbei. „Gibt es in der Welt noch einmal ſolche Hölle,“ ſtöhnte ich und wiſchte mir die Schweißtropfen von der Stirn. „O, — in Glasgow, in Liverpool, in Mancheſter iſt es eben⸗ ſo —,“ ſagte meine Begleiterin ruhig. An der nächſten Straßenecke ballten ſich die Menſchen zu einem ſchwarzen Knäuel. Qualvolle Schmerzensrufe drangen daraus hervor. Wir liefen vorwärts, — alles machte uns Platz, — die Uniform der Heilsarmee war wie ein Freibrief, den ſelbſt die Roheſten reſpektierten. Auf dem Pflaſter lag ein Weib und wand ſich in Mutter⸗ ſchmerzen. „Er hat ſie hinausgeprügelt,“ ſchrie ein Mädchen, das neben ihr kniete und ballte wütend die Fäuſte. Meine Begleiterin war im Augenblick bei ihr. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. In die Menſchen um uns her kam ein ſeltſames Leben, ſie liefen in die nächſten Häuſer, atemlos, — ſie kehrten zurück, — auch der Elendeſte mit vollen Händen. Tücher, Kiſſen, Decken breiteten ſich um die Kreißende aus; ein weißhaariges Mütterchen mit gekrümmtem Rücken ſchleppte ſtöhnend Eimer voll Waſſer herbei, ein alter Mann humpelte haſtig auf ſeiner Krücke näher und legte mit zitternden Händen ſeine zerſchliſſene Jacke über die Jammernde. Ein Sekunde lang war es ganz ſtill, — das Leben ſchien den Atem anzuhalten, da — ein gellender Schrei, der die Racht zerriß, — das Kind war geboren, das unſelige Kind der Straße. Zurück⸗ 35 gelehnt in dem Schoß der Rächſten lag das Weib. Laternenlicht fiel grell auf ihre eingeſunkenen Wangen, die weitaufgeriſſenen Augen drehten ſich in den Höhlen, ſuchend griffen die Finger in die leere Luft, dann noch ein Zucken, ein rauhes Röcheln, — es war vorüber. Und um die tote Mutter knieten ringsum im Schmutz der Straße die Genoſſen ihres Jammers . . . Der Sonnenzauber hatte keine Macht mehr über mich. Ich hatte nur noch ein Achſelzucken, wenn ich die Macht der Gewerkſchaften preiſen hörte — „die Sattgewordenen vergaßen zuerſt der Hungernden“ —, und ein verächtliches Lächeln für die Größe und Ein⸗ heitlichkeit ſozialer Hilfsarbeit, die ſich von Rechts wegen bankerott erklären müßte. Hier galt es nicht mehr, Einzelne vor dem Ertrinken zu retten, und Wunden zu verbinden, hier galt nur eins: die alte Welt, die ihre eigenen Kinder mordete, zu zerſtören, um der neuen Platz zu ſchaffen. 36 Zweites Kapitel Sie wollen wirklich alle Bücher verkaufen?!" Der junge Student, der vor mir ſtand, blickte mich vorwurfsvoll an. Er war ge⸗ kommen, mir beim Ordnen der philoſophiſchen Biblio⸗ thek meines verſtorbenen Mannes behilflich zu ſein. „Mit wenigen Ausnahmen, — ja!“ antwortete ich mit erzwungener Ruhe. „Sie ſehen ſelbſt: in der neuen Wohnung fehlt es an Platz für ſie, — und außer⸗ dem werde ich ſie kaum je benutzen. Ich werde mit Überlegung einſeitig!“ Dabei wies ich lächelnd auf die dickleibigen Fabrikinſpektorenberichte, die vor mir lagen. Er begab ſich ſtumm, geſenkten Kopfes an die Arbeit. Wie herzlos, daß ich Georgs geliebte Bücher verkaufte, dachte er jetzt gewiß. Durfte ich ihm ſagen, daß ich ſie verkaufen mußte? Daß ich geſtern mit dem letzten, was ich beſaß, Georgs Grabdenkmal bezahlt hatte, — einen ſchönen hohen Marmorblock, auf dem in großen goldenen Lettern ſein Wahlſpruch ſtand, der nun auch der meine war: „Wir leben durch die Menſchen, laßt uns für die Menſchen leben.“ Mama hatte mir eben aus Pirgallen entrüſtet über meine Verſchwendung geſchrieben: „Ein ſchlichter Stein mit Georgs Namen wäre ausreichend geweſen.“ Ich lächelte unwillkürlich. Arm ſind doch nur die Menſchen, 37 die niemals verſchwenden können! Ich war ja ſonſt ſo ſchrecklich vernünftig. Treppauf, treppab war ich ſeit meiner Rückkehr aus England gelaufen, um eine Woh⸗ nung zu finden, die meinen Mitteln entſprach. In einem Hof der Kleiſtſtraße, drei Treppen hoch, hatte ich ſie endlich gefunden: zwei Zimmer mit dem Blick auf eine Mauer, die eine rieſige gemalte Schweizer Land⸗ ſchaft ſchmückte. Zu allerhand öder journaliſtiſcher Tages⸗ arbeit hatte ich mich verpflichtet, um in der übrig⸗ bleibenden Zeit meiner Aufgabe leben zu können. In vier Wochen zog ich um, bis dahin mußte auch ſie feſtere Geſtalt gewinnen. Ich hatte mich zunächſt ſchriftlich an eine Anzahl her⸗ vorragender Politiker und Sozialpolitiker gewandt, bei denen ich ein Intereſſe für die Sache vorausſetzen konnte, und ihnen meinen Plan eines Zentralausſchuſſes für Frauenarbeit auseinandergeſetzt. Sehr höflich, ſehr zuvorkommend hatten ſie mir geantwortet. „Ihr Plan hat meine volle Sympathie,“ ſchrieb mir eben Theodor Barth. „Ich habe nur Bedenken, ob er ſich in ſeinem vollen Umfang in abſehbarer Zeit durchführen läßt. Rach meinen Erfahrungen ſcheitern ſehr viele an ſich vortreffliche Reformbeſtrebungen gerade daran, daß das Ziel von vorn herein zu weit geſteckt iſt. Meines Er⸗ achtens ſollte man zunächſt einmal an eine Sammlung und Sichtung von Material, die Bedingungen der Frauenarbeit betreffend, herangehen, wie das sub I Ihres Programms ja auch in Ausſicht genommen iſt. Unternehmer und Arbeiter müßten allerdings zuſammen⸗ wirken und Vorurteile — ſpeziell auch gegen die Sozial⸗ demokratie — dürften keine Rolle ſpielen . . . Leider 38 iſt meine Arbeitskraft ſchon anderweitig ſo ſtark in Anſpruch genommen, daß ich wohl mitraten, aber nicht mittaten kann . . . Dieſen Satz enthielt noch jeder Brief, den ich erhalten hatte. Warnungen vor der Gefahr ſozialpolitiſcher Dilettantenarbeit, Beſorgniſſe, Waſſer auf die Mühlen der Sozialdemokratie zu treiben, bedenkliche Fragen nach der finanziellen Fundierung des Unternehmens wieder⸗ holten ſich oft. „Auf alle Fälle iſt der Zeitpunkt ſchlecht gewählt,“ hieß es in einem Schreiben, das Dr. Jacob, mein alter Gegner aus der Ethiſchen Geſellſchaft, an mich richtete, „jetzt, im Jubiläumsjahr, wo das unver⸗ antwortliche, antipatriotiſche Verhalten der Sozialdemo⸗ kratie ſelbſt ſolche Kreiſe erbittern muß, die vielen ihrer Forderungen ſympathiſch gegenüberſtanden, iſt nicht der Augenblick, um zu gemeinſamer Arbeit aufzurufen. Ich bezweifle auch, daß Sie Kapitaliſten finden, die Ihnen zu ſolchem Zweck die immerhin recht erheblichen Mittel zur Verfügung ſtellen werden.“ Und Frau Schwabach, die einzige unter den Frauenrechtlerinnen, der ich ein ernſteres Verſtändnis der Sache zutraute, war gleich⸗ falls voller Bedenken geweſen. „Wir müſſen zuerſt die Perſönlichkeiten ausbilden, die zu ſolcher Arbeit fähig ſein ſollen,“ hatte ſie geſagt. Das alte Lied, das die Gewiſſen einlullt, das Selbſtvertrauen betäubt und die Schuld trägt, wenn vor lauter Vorbereitung zur Tat die Tat ſelbſt von einem Tage zum andern verſchoben wird. Heute nun erwartete ich Martha Bartels mit zwei ihrer Freundinnen — Arbeiterinnen wie ſie —, um ihr Urteil zu hören und ihren Rat, der mir der weit⸗ aus wichtigſte erſchien, zu erbitten. 39 „Sie müſſen für heute aufhören, mein lieber Schmidt, wandte ich mich an den Studenten, der vor den letzten Regalen des Bücherſchranks hoch oben auf der Leiter ſtand, „es iſt unverantwortlich von mir, daß ich Ihre Kraft und Zeit ſchon ſo lange in Anſpruch nehme.“ Er fuhr, wie aus einem Traum erwachend, zuſammen und ſtrich ſich die dichten ſchwarzen Haare aus der heißen Stirn. „Muß ich wirklich ſchon fort?“ Haſtig wandte er ſich um und rieb die roten, knochigen Hände wie fröſtelnd aneinander. Ich nickte, denn ſchon hörte ich draußen die Klingel. Langſam ſtieg er die Leiter hinab. „Ach, — wenn ich doch wirklich etwas für Sie tun könnte —,“ damit ſenkte er den Kopf tief auf meine Hand. In dem Augenblick öffnete ſich die Türe, und die drei Frauen traten ein. Sie ſahen uns, wechſelten ſekundenlang einen vielſagenden Blick, ein leiſes ſpöt⸗ tiſches Lächeln kräuſelte die Lippen der einen, der großen, hageren; — ein Gefühl, als hätte mich jemand mit Schmutz beworfen, beſchlich mich. Flüchtig erinnerte ich mich, daß meine Mutter die Anweſenheit eines jungen Herrn bei mir, der Witwe, für unpaſſend er⸗ klärt hatte, — aber waren nicht dieſe Frauen Vor⸗ kämpferinnen einer freien Weltanſchauung?! Ich rich⸗ tete mich gerade auf, zog meine Hand aus der ſie noch immer umklammernden; mit einer ungeſchickt eckigen Verbeugung drückte ſich der junge Student an den neuen Gäſten vorbei zur Türe hinaus. Bei Kaffee und Kuchen überwanden meine Beſuche⸗ rinnen die erſte Verlegenheit. Sie hatten ſich in den 40 beſten Sonntagsſtaat geworfen und ſaßen kerzengerade auf den weichen Lehnſtühlen; bei jeder Bewegung krachten die engen Taillen ihrer ſchwarzen Kleider, und die vielen bunten Blumen auf ihren Hüten ſchwankten hin und her. Nur Martha Bartels, die nicht zum erſten Male hier war, gab ſich ungezwungener. Irgend etwas in dem Geſicht der kleinen Räherin hatte ſich ſeit unſerem letzten Zuſammenſein verändert. „Run, Genoſſin Glyzcinski, was haben Sie uns Gutes mitzuteilen,“ ſagte ſie mit einem leiſen gönneriſchen Ton in der Stimme, den ſie damals noch nicht gehabt hatte, als ſie mich „Frau von Glyzcinski“ nannte. Freilich, ſie hatte ja im Grunde ein Recht dazu, ich war ja jetzt nur eine Rovize in ihren Reihen —, dachte ich und bezwang die gereizte Stimmung, die ſich meiner zu be⸗ mächtigen drohte. Mit ſteigendem Eifer, an der eigenen Sache mich er⸗ wärmend, ſetzte ich ihnen meine Pläne auseinander. „Ich brauche dabei Ihre Mitarbeit,“ ſchloß ich; „wir können für die Arbeiterinnen nichts tun, was nicht mit ihnen geſchieht — —“ Tiefe Stille. Die drei löffelten in ihren Kaffeetaſſen, ſtießen einander unter dem Tiſche an und wollten nicht mit der Sprache heraus. „Ja —,“ meinte Martha Bartels ſchließlich gedehnt, „das iſt ja alles ganz ſchön und gut, aber was uns das eigentlich angeht —. Wir wiſſen doch längſt, wie's bei uns ausſieht, und um die Reugierde der Bourgeoisdamen und ⸗herren zu be⸗ friedigen, oder ſie gar in unſeren Organiſationen herum⸗ ſtänkern zu laſſen, — dazu ſind wir doch nicht da. Frau Reſch, die Hagere, nickte eifrig und warf mir einen 41 giftigen Blick zu. Frau Wiemer, ein rundliches Frauchen mit gutmütigen braunen Augen, drehte ſich haſtig auf dem Stuhle um, ſo daß die Sprungfedern knackten. „Da bin ich nun ganz und gar anderer Meinung,“ rief ſie, „wir wären ſchön dumm, wenn wir ſo eine Unterſtützung von der Hand weiſen wollten. Wir haben, weiß Gott, keinen Überfluß an Kräften, und wenn wir ſie noch dazu nach unſerem Gutdünken benutzen können — —“ Martha Bartels trommelte mit den zerſtochenen Fingern auf dem Tiſch. „In meinem Kreis, Genoſſin Wiemer, kann ich dafür keine Stimmung machen,“ ſagte ſie ſcharf. „Ra, was das ſchon iſt: Ihr Kreis. Ein halb Dutzend Frauen haben Sie neulich in der Verſammlung zur Ver⸗ trauensperſon gewählt, — das macht den Kohl nicht fett!“ ſpöttelte die Angeredete. „Die Männer haben, gott⸗ lob, auch noch ein Wörtchen mitzureden! Frau Reſch kicherte: „Sie freilich meinen immer, Sie haben die Männer am Bändel — Stumm, in wachſender Verblüffung hörte ich der De⸗ batte zu, die ſich mehr und mehr ins Perſönliche verlor. „Im übrigen: was ereifern wir uns,“ ſagte Martha Bartels endlich, während ſie ſich mit hochrotem Ge⸗ ſicht in den Stuhl zurücklehnte. „Zu allererſt werden wir doch Genoſſin Orbins Urteil hören müſſen.“ Die Frauen verſtummten. Wanda Orbin: das war die anerkannte Führerin der Arbeiterinnen⸗Bewegung, eine Frau, die ich aus der Ferne ſchon längſt zu be⸗ wundern gelernt hatte. Mit der aufreizenden Leiden ſchaftlichkeit ihrer Rednergabe vermochte ſie alles mit ſich fortzureißen. Meine Gäſte verabſchiedeten ſich, kühl und verlegen. 42 Rur Frau Wiemer ſchüttelte mir kräftig die Hand und zögerte beim Hinausgehen. „Wir reden noch mal mit⸗ einander — unter vier Augen,“ flüſterte ſie. Enttäuſcht — mutlos blieb ich zurück. Tiefes Ver⸗ ſtändnis, freudige Zuſtimmung, warme Kameradſchaft⸗ lichkeit hatte ich erwartet — —. Am nächſten Morgen kam ein Brief von Martha Bartels: „Seit geſtern weiß ich nicht, ob Sie wirklich unſere Genoſſin ſind. Was Sie da vorſchlagen, das kann jede Frauenrechtlerin auch. Es zeigt, daß Sie mit der bürgerlichen Geſellſchaft noch nicht gebrochen haben, und deshalb können wir kein rechtes Vertrauen gewinnen. Ich ſehe nun, daß man immer unrecht tut, wenn man den ſchönen Gefühlen der Bourgeoisdamen Glauben ſchenkt.“ Hatte ſie zu ihrer Enttäuſchung nicht ein größeres Recht als ich zu der meinen? War mein ganzes Verhalten nicht wirklich ein Rückzug? Verſuchte ich nicht, nach links und rechts Konzeſſionen zu machen, damit ich nur ſelbſt fein ſäuberlich auf dem normalen Mittelweg mich erhalten konnte? In meinen Hoffnungen und Wünſchen ſehr herabge⸗ ſtimmt, machte ich mich in den nächſten Tagen auf den Weg, um die Führer der ſozialdemokratiſchen Partei aufzuſuchen, bei denen ich mich ſchon angekündigt hatte. Ich ging zuerſt zu Liebknecht. Er wohnte draußen in der Kantſtraße, wo inzwiſchen das neue Berlin aus der Erde ſchoß wie eine wildwuchernde Urwald⸗ pflanze. In der Tauentzienſtraße, die vor fünf Jahren nicht viel mehr als ein breiter Feldweg geweſen war, reihte ſich ein Reubau an den andern, — hohe vier⸗ und fünfſtöckige Häuſer, mit lauter Wohnungen 43 zu neun bis zwölf Zimmern. Wo kam der Reichtum nur her, der ſo üppig zu wohnen vermochte? dachte ich. Und weiter nach dem Weſten zogen ſich Straßen um Straßen hinaus, — lange Spinnenarme, die über die Felder griffen bis fernhin, wo der Grunewald, eine ſchwarze ſchmale Linie, am Horizont auftauchte. Ratternd und fauchend bewegte ſich die Dampfſtraßenbahn den Kurfürſtendamm hinauf ihm entgegen. Wie viel kleine gemütliche einſtöckige Häuschen zwiſchen Birkenwäldchen und Kartoffelfeldern waren der Spitzhacke hier zum Opfer gefallen! Und der Rieſenbaum, der an der Straßen⸗ kreuzung ein Wahrzeichen der Gegend geweſen war, hatte einer Kirche weichen müſſen. Gut, daß er fiel, dachte ich; wie hätten die Mauern den alten Recken be⸗ engt, wie hätte ſeine trotzige, rauhe Schönheit ihre Faſſadenpracht Lügen geſtraft. Die Kirche hatte ſich noch immer ihrer Umgebung angepaßt, auch hier hatte ſie ſich zu ihr nicht in Widerſpruch geſetzt. In die Kantſtraße bog ich ein. Dicht an der Stadt⸗ bahnbrücke, im dritten Stock, wohnte Liebknecht. Er empfing mich vor einem alten Schreibpult in ſeinem winzigen Arbeitszimmer, das vollgeſtopft mit Papieren und Zeitungen war, ſo daß dazwiſchen kaum ein freier Raum zum Treten übrig blieb. Sein hartgeſchnittenes Geſicht mit den tiefen Furchen, dem Blick, der unter buſchigen Brauen wie abweſend über einen hinwegſah, den wirren dunkeln Haaren über der hohen geraden Stirn, dem grauen ungepflegten Bart um das breite Kinn und den ſeltſam ſchiefſtehenden großen Mund, dazu der Rock, der an den Ellbogen und auf dem Rücken ſpeckig glänzte, das Hemd darunter mit dem weichen 44 halboffenen Umlegekragen, die ausgetretenen Pantoffeln an den graubeſtrumpften Füßen, — das alles wirkte zu⸗ nächſt wenig anziehend. Dann gab er mir flüchtig die Hand, die weich und zart war, — ich mußte ihn wirklich noch einmal betrachten, um zu glauben, daß ſie dieſem Manne gehörte. Sie gab mir Mut zu reden, ich wäre ohne ſie am liebſten wieder umgedreht. Ich erzählte ihm auch von meinen Erfahrungen mit den Frauen. Er lächelte mit einem gutmütigen Spott in den Augen. „Soll ich Ihnen einen wirklich freundſchaftlichen Rat geben?“ ſagte er. „Kümmern Sie ſich nicht um ſie, wenn Sie was erreichen wollen. Die ſind noch rückſtändiger als die Männer, können gar nicht anders ſein. Wo ſollen ſie auch die Erkenntnis hernehmen, die armen Weiber?! Schon alles mögliche, wenn ſie rein aus ihrem proletariſchen Inſtinkt heraus gute Parteigenoſſinnen ſind. Vergebens ſuchte ich ihn bei meinem Thema feſtzu⸗ halten, es intereſſierte ihn offenbar nicht; dagegen rief der Rame England eine Flut von Gedankenverbindungen in ihm wach. Er glaubte meinen rettungslos bourgeoiſen Standpunkt daran zu erkennen, daß ich zwar mit Burns und den Fabiern, nicht aber mit Hyndman und der ſo⸗ zialdemokratiſchen Föderation, die allein den Marxismus in England repräſentierten, verkehrt habe. Mit den ſprunghaften Übergängen eines glänzenden Geiſtes, der weder die Fähigkeit hat, auf die Intereſſen des anderen einzugehen, noch die Zähigkeit, ſich in eine Frage zu ver⸗ tiefen, kam er von da auf unſere auswärtige Politik zu ſprechen, auf das berechtigte Mißtrauen Englands den offenbaren Weltmachtgelüſten unſeres Kaiſers gegenüber, auf Rußland, an das wir um ſo näher uns anſchließen 45 würden, je weiter wir von England abrückten, auf den künſtlich aufgepeitſchten Hurrapatriotismus der Kriegs⸗ erinnerungsfeiern der Gegenwart, der letzten Endes nur dazu da ſei, gegen die Sozialdemokratie mobil zu machen und die geſcheiterte Umſturzvorlage in anderer Form wieder aufleben zu laſſen. Mir war dieſe Geſprächswendung unbehaglich. Gut, daß ich, ohne aufzufallen, ſchweigen konnte. Hafteten die Eierſchalen der Vergangenheit noch ſo feſt an mir, daß die Artikel des „Vorwärts“ über die Gedenkfeiern an den „brudermörderiſchen Krieg“ mir das Blut in Wallung brachten? Sie vertraten doch zweifellos Menſch⸗ lichkeit und Gerechtigkeit in weit höherem Maße, als all die mit Orden und Bändern behängten Kriegervereinler, die ſich wie die Wilden an der blutigen Unterdrückung eines Rachbarvolkes noch in der Erinnerung berauſchten. Liebknecht war in ſeiner Gegnerſchaft gegen jede Art von Chauvinismus ein Fanatiker. „Rational geſinnt iſt meines Erachtens nur, wer das Recht und das Wohl anderer Nationen ebenſo zu achten weiß, wie das der eigenen,“ ſagte er. Und mir wurde bewußt: er fühlte international, während ich nur die Idee der Inter⸗ nationalität kühl verſtandesmäßig anerkannte. Ich ſprach das aus, und er nickte eifrig: „Natürlich, — das iſt der Unterſchied, — und der kommt zum großen Teil daher, daß das Jahr 48 und das Sozialiſtengeſetz mir das Vaterland nahmen und die Welt zur Heimat machten. Auch der Proletarier, der nichts beſitzt, und der Arbeit über alle Grenzen hinweg nachrennen muß, iſt von Herzen international, und die Hammerſtein und Konſorten, — er lachte boshaft—, „die ſich vom Vaterland den Schmer⸗ 46 bauch mäſten laſſen, predigen uns Verruchten Patriotis⸗ mus!“ Er unterbrach ſich und ſtand auf. Ich wollte gehen. „Daraus wird nichts, — nun müſſen Sie noch bei meiner Frau Kaffee trinken.“ Ich wurde ins Wohnzimmer geführt. Bei Frau Major E. in Bromberg und bei Frau Hauptmann Z. in Brandenburg war es nicht viel anders geweſen —, nur daß hier ſtatt der Familienbilder die von Marx, Engels und Laſſalle an den Wänden prangten, ſtatt des Stichs der Sixtina Walter Cranes Maifeſtzug, und ich damals noch nicht in die rechte Sofaecke genötigt wurde. Frau Liebknecht war die typiſche Gouvernante aus vor⸗ nehmen Häuſern, der Bildung und Lebensform nicht die Haut war, ſondern das Kleid. Ihm war ich irgend⸗ wer geweſen, ihr: „Frau von Glyzcinski. Es dämmerte ſchon, als ich mit ihm das Haus ver⸗ ließ. Er ging in ſeine Redaktion, ich in die Ansbacher⸗ ſtraße, wo ich die Eltern aus Pirgallen zurückerwarten ſollte. „Und für meinen Blan kann ich auf Ihre Unterſtützung nicht rechnen?“ fragte ich nun doch noch einmal. Er blieb ſtehen: „Meine Unterſtützung?! Das würde keinem von uns nützen. Überlegen Sie ſich's ſelbſt noch mal, ob er Ihrer eigenen Unterſtützung wert iſt! Die Stimmung war keine roſige, in der ich Eltern und Schweſter empfing, und auch ſie ſchienen erregt und niedergeſchlagen: Mama hatte die Lippen feſt zuſammengekniffen, ſo daß ſie nur noch wie ein ſchmaler, blaſſer Strich erſchienen, der Vater war 47 feuerrot im Geſicht und räuſperte ſich ununterbrochen, Ilschen hatte verweinte Augen. „Alles ging ſo gut,“ flüſterte ſie mir haſtig zu, als die Eltern ins Zimmer getreten waren, und hielt mich im Flur zurück, „da kam es geſtern abend wegen der dummen Hammerſtein⸗ Geſchichte zu einer Auseinanderſetzung zwiſchen Onkel Walter und Papa. Das Vertuſchungsſyſtem ſei un⸗ anſtändig, ſagte er, während Onkel es für notwendig erklärte im Intereſſe der Partei Schließlich ſchimpfte Papa — du kannſt dir denken, wie —, und Onkel ſagte, Papa habe ſich wohl bei ſeiner Tochter, der „Genoſſin“, angeſteckt, — ein Wort gab das andere, Onkel zeigte Papa ſchließlich die Kreuz⸗Zeitung mit der Rotiz über dich — —“ „So, — nun haben wir miteinander zu reden —, unterbrach meines Vaters vor Erregung rauhe Stimme die Schweſter. Es war ein förmliches Verhör . . „Mitglied der ſozialdemokratiſchen Partei bin ich noch nicht —,“ ſagte ich. Er lehnte ſich tief aufatmend mit geſchloſſenen Augen in den Stuhl zurück. Ich wollte fortfahren. Er wehrte mit beiden Händen ab: „Genug ² genug! Mehr will ich nicht hören — mehr nicht! Dann erhob er ſich ſchwerfällig, ging zum Schreibtiſch und ſetzte ein Telegramm auf: „Baron Walter von Golzow, Pirgallen. Ich habe Alix' Wort. Verlange nunmehr von dir Ehrenerklärung. Hans.“ Ich wollte widerſprechen, — des Vaters rotunterlaufene Augen blitzten mich herriſch an, Ilſe faltete hinter ihm mit bittender Gebärde die Hände —, ich ſchwieg. War es Feigheit? War es Rückſicht? Oder nichts als ſchlaffe Ermüdung? 48 Beim Abendeſſen wurde mir mitgeteilt, daß die Gartenwohnung auf derſelben Etage frei geworden ſei. „Wir hätten andernfalls umziehen müſſen, nun erſparen wir das, und du ziehſt einfach hierher,“ ſagte der Vater; „dann haben wir Alten wieder unſere beiden Töchter,“ fügte er mit einem Anflug liebevoller Heiterkeit hinzu und ſtreckte mir über den Tiſch die Hand entgegen. Rur zögernd legte ich die meine hinein. „Sehr gütig, Papa, daß du an mich dachteſt, aber ich habe ſchon eine Wohnung.“ Er brauſte wütend auf. Schweigend ließ ich den Wortſchwall über mich ergehen. „Ich habe euch meine Überzeugung geopfert,“ ſagte ich dann feſt, „meine Freiheit opfere ich euch nicht ... Durch die ſternenloſe Auguſtnacht ging ich nach Hauſe. Über die menſchenleere Straße ſchwankten ein paar Be⸗ trunkene. Wie fürchtete ich mich ſonſt vor ihnen, — gleichgültig ſchritt ich heute vorbei, — meinetwegen hätten ſie mit mir tun können, was ſie wollten. Ich war ja gar nicht ich, nur ein Schatten deſſen, das einſt lebendig war. In meiner einſamen dunkeln Woh⸗ nung warf ich mich angekleidet aufs Bett und grübelte ſtumpfſinnig dem einen Gedanken nach: Warum ich eigentlich den Morgen erwarten müßte — und den Tag — und wieder einen Tag, und ſo in endloſer Reihe die ganze Leere des Lebens?! 49 In meinen ſtillen Zimmern laſtete die Luft auf mir. Die Sonne ſtrahlte durch die grün⸗ umſponnenen Fenſter, über die lachenden Gärten, — wäre ich nur erſt in meinem neuen Heim, wo ich nichts ſah, als eine gemalte Landſchaft! Von innerer Unruhe getrieben, lief ich in der Stadt umher, blieb vor den Schaufenſtern ſtehen und ertappte mich auf einem halb unbewußten Verlangen nach hellen Kleidern. Ich ſaß allein vor dem alten verräucherten Kaffee Joſty und ſah über den Potsdamer Platz hinweg den Menſchen nach, die ſchwatzten und lachten und kokettierten, und unter die ich mich nicht miſchen durfte. Ein Gefühl von wohliger Wärme überkam mich, wenn bewundernde Blicke mich trafen, — ach, und Sehnſucht packte mich, unbändige Sehnſucht nach Lebensfreude. Damals begegnete mir Graf Oer, einer meiner alten Tänzer; er hatte den ſchlechteſten Ruf und war doch einer der verwöhnteſten Männer der berliner Ge⸗ ſellſchaft. Eine aufreizende, ſchwüle Atmoſphäre ver⸗ feinerter Sinnenluſt umgab ihn; ſchon ſein forſchender Blick aus halbgeſchloſſenen Augen, ſein weicher, lang⸗ ſamer Händedruck ließ die Frauen erröten, denen er ſich näherte. Mir gegenüber war er ganz teilnehmender Freund. „Ihre Bläſſe erhöht zwar nur Ihren Reiz, ſchönſte Frau,“ ſagte er, „aber im Verein mit Ihrer ſylphidenhaften Geſtalt“ — ſeine Blicke wanderten förmlich über meinen Körper — „finde ich ſie beängſti⸗ gend. Sie brauchen Sonnenweide wie ein Raſſepferd. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen täglich ein paar Stunden lang meinen Wagen ſchicke und Sie in den Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 4* 50 Grunewald fahre oder nach Wannſee?“ Trotz meiner Ablehnung, die nicht ſehr energiſch geweſen ſein mochte, hielt ſein elegantes Juckergeſpann am nächſten Morgen vor meiner Türe. War das wonnig, ſo in den jungen Tag hineinzurollen; mit geſchloſſenen Augen vorbei an den öden Feldern des Kurfürſtendamms, in den Grune⸗ wald hinein, deſſen vereinzelte Villen ſich raſch verloren, bis zu dem kleinen Förſterhaus am ſtillen See, in dem die Sonne ſich, ihrer Schönheit froh, eitel beſpiegelte. „Wie Sie genießen können!“ ſagte Graf Oer, als wir beim Frühſtück im Gärtchen ſaßen. „Und Sie wollen lebendigen Leibes ins Kloſter gehen! Die Welt iſt ſo ſchön und wartet nur darauf, Sie zu empfangen, — laſſen Sie mich Ihr Führer ſein —“ Ich fühlte ſeine feuchten, kühlen Lippen auf meiner Hand, ſein Knie dicht an dem meinen, — ein unbezwinglicher Ekel ſchnürte mir die Kehle zuſammen. Ich ſprang auf, raffte mein Kleid und verließ ohne ein Wort, ohne einen Blick den Garten. Waren Genuß und Gemein⸗ heit Zwillingsgeſchwiſter ſo wollt' ich wahrlich ins Kloſter gehenl Zu Hauſe erinnerte mich ein Brief an den letzten und wichtigſten Beſuch, den ich im Intereſſe des Zentralausſchuſſes machen wollte: bei Bebel. Er lud mich zum Mittageſſen ein, „dabei läßt ſich am beſten beſprechen, was Ihnen am Herzen liegt und mich leb⸗ haft intereſſiert.“ In der Großgörſchenſtraße wohnte er, einer jener neuen Straßen, die jede Faſſadenpracht verſchmähte und 51 deren üppiger Blumenſchmuck verriet, daß die vielen kleinen Balkons die Sommerfriſche ihrer Bewohner waren. Ein lächelndes Dienſtmädchen in blendend weißer Schürze öffnete mir auf mein Läuten an der blank ge⸗ putzten Klingel. Ein leichter Geruch nach friſcher Seife drang mir entgegen, und in dem hellen Zimmer, das ich betrat, blinkte die Politur der Möbel, daß ſich die Bilder an den Wänden darin ſpiegelten. Die voll⸗ kommenſte Einfachheit herrſchte hier, jede Spur künſt⸗ leriſcher Kultur fehlte, aber es fehlte auch jeder Ver⸗ ſuch, Richtvorhandenes vortäuſchen zu wollen. Die kleine, runde Frau, die mich herzlich willkommen hieß, mit der ſchwarzen Schürze über dem ſchlichten Kleid, den von Güte ſtrahlenden Zügen unter den glatten Scheiteln, war wie ein Teil dieſes Raumes. Sie nötigte mich in den Lehnſtuhl neben dem Rähtiſchchen am Fenſter, meine Hand feſt in der ihren haltend. „So eine arme, junge Frau,“ ſagte ſie mitleidig; „ich mußte oft an Sie denken und an Ihre Einſam⸗ keit, — ich wäre längſt bei Ihnen geweſen, wenn ich nicht gefürchtet hätte, zudringlich zu erſcheinen.“ Mir wurden die Augen feucht, — meiner Einſamkeit hatten ſich auch die Rächſten nicht erinnert. Mit jener Kunſt verſtändnisvollen Zuhörens, die ſelbſt die beſte Erziehung nicht zu geben vermag, wenn die Teilnahme des Herzens fehlt, ließ ſie ſich von meinen kleinen Wohnungs⸗ und Wirtſchaftskümmerniſſen erzählen. „Was, im Wirtshaus eſſen Sie —?!“ Sie ſchlug die Hände erſtaunt zuſammen. — „Kein Wunder, daß Sie ſo blaß und ſchmal werden; ordentlich herausfuttern müßte man Sie —“ Bebel trat ein, mit einem raſchen, elaſtiſchen Schritt, 4* 52 die glänzenden Augen gerade auf mich gerichtet, wäh⸗ rend ein Büſchel Haare ihm keck, wie bei einem Knaben, in die Stirne fiel. Von einer breiten Hand — zu ſchwer faſt für den ſchmächtigen Körper — fühlte ich meine Finger umſchloſſen. „Ich freue mich Ihres Beſuchs —,“ ſeine Stimme klang im Zimmer viel weicher und voller als auf der Rednertribüne, „— nicht mehr allein, weil Sie Glyzcinskis Witwe ſind. Rach dem Schriftſtück hier —,“ er hielt das Programm des Zentralausſchuſſes in der Hand, „— haben wir von Ihnen viel Gutes zu erwarten.“ Er nötigte mich in ſein Arbeitszimmer, einen kleinen Raum mit wenigen geſtrichenen Holzmöbeln, blank ge⸗ ſcheuerter Diele und muſterhafter Ordnung. Wir er⸗ örterten alle Einzelheiten meines Hlans. „Sie können mit Ihrer Arbeit da einſpringen, wo die Regierung nicht eine, ſondern hundert Lücken ge⸗ laſſen hat. Unſere Beteiligung freilich wird ſich wohl nur auf Ratſchläge beſchränken.“ „Damit iſt mir nicht gedient!“ rief ich. „Wie können wir in die Arbeits⸗ und Lebensverhältniſſe der Arbeiter Einblick gewinnen, wenn Sie uns nicht die verſchloſſenen Türen öffnen.“ „Ja, glauben Sie, ich wäre der liebe Gott?!“ lachte er. „Ich könnte etwa den Gewerkſchaften befehlen, Ihren Beſtrebungen Vertrauen entgegenzubringen, oder gar unſeren Frauen!!“ Wir wurden zu Tiſch gerufen. Kein Diner hatte mir je ſo gut gemundet wie dieſes einfache Mittagsmahl. Die beſten Stücke wurden mir auf den Teller gehäuft. „Sehen Sie, wie's ſchmeckt, wenn man nicht trüb⸗ 53 ſelig allein an einer ſchmuddeligen Wirtstafel ſitzt! ſagte Frau Bebel, befriedigt über meinen Appetit. Sie ſchwieg ſonſt meiſt. Rur wenn der lebhafte Gatte gar zu heftig irgendeinen Gegner angriff, warf ſie ein paar beſänftigende oder entſchuldigende Worte ein, und als er gegen die Junker wetterte, ſah ſie zuerſt ihn, dann mich vielſagend an. „Ach ſoo —,“ er unterbrach ſich ein wenig verlegen, „— Sie gehören ja am Ende auch zu ihnen! — Aber mein Schimpfen iſt wahrſcheinlich ein ſanftes Flöten⸗ ſpiel gegen die Töne, die angeſichts der Kreuzzeitungs⸗ affäre in Ihren eigenen Kreiſen angeſchlagen werden. Der Fall Hammerſtein, dieſe Dekouvrierung eines der Edelſten und Beſten, kommt den privilegierten Be⸗ ſchützern von Religion und Sittlichkeit gerade jetzt ge⸗ waltig in die Quere. Und die Sache iſt noch lange nicht zu Ende, — die ganze Kreuzzeitungspartei, die den jungen Kaiſer vor ein paar Jahren als Zugpferd vor ihren eignen Wagen ſpannen wollte, wird daran glauben müſſen.“ Er verbreitete ſich, immer lebendiger werdend, über die politiſche Lage und die nächſten Zukunfts⸗ ausſichten. Er ſah überall Symptome für den Zu⸗ ſammenbruch der bürgerlichen Geſellſchaft, und auf der anderen Seite Etappen zum Siege des Sozialismus. „Die Weltmachtpolitik, die, einmal begonnen, nicht mehr aufzuhalten ſein wird, iſt der Anfang vom Ende. Sie appelliert zwar an die ſtärkſten, an die brutalen In⸗ ſtinkte, aber ſie führt ſchließlich mit Rotwendigkeit zur Auspowerung der Maſſen und treibt ſie uns damit in die Arme, — gewiſſer, als alle Agitation von unſerer Seite es vermöchte. Selbſt ein möglicher Weltkrieg 54 zwiſchen den Kolonialmächten wäre nur der Auftakt der Revolution.“ Ich dachte an Shaw und ſeine unbedingte Gegner⸗ ſchaft zu dieſer ans Fataliſtiſche ſtreifenden Auffaſſung von der Entwicklung zum Sozialismus und warf in dieſem Sinn eine beſcheidene Frage in die Unter⸗ haltung: „Stehen wir nicht in Gefahr, als bloße Zu⸗ ſchauer die Hände in den Schoß zu legen, wenn uns die Raturgeſetzlichkeit des Sozialismus ſo zweifellos feſt ſteht? „Ein Einwurf, der nach dem Katheder ſchmeckt! Müſſen wir nicht die Menſchen für dieſe Entwicklung vorbereiten?“ „Alſo iſt alle Gegenwartspolitik der Partei nie Selbſt⸗ zweck —2 „Sondern nur Mittel zum Ziel,“ rief er lebhaft, „und ihr Wert iſt nur von dieſem Geſichtspunkt aus zu bemeſſen!“ „Wie habe ich danach Ihr Intereſſe für meinen Plan einzuſchätzen?“ frug ich lächelnd. „Als bloße Höf⸗ lichkeit etwa?! „Treiben wir Sozialpolitik aus Höflichkeit?! Doch nur, weil eine geſunde, kräftige Arbeiterſchaft, die Zeit hat zum Denken und zum Wirken, die Armee iſt, die wir haben müſſen.“ Ich ſtreifte mechaniſch die Handſchuhe über die Finger. Mein Herz ſchlug in dem raſchen Takt der Melodie, die dieſer Mann angeſchlagen hatte. Der Glaube an die Sache —, das war das Unüberwindliche in ihr. An der Tür hielt mich Bebel noch einmal auf: „Ich rate Ihnen, wenn Sie irgend etwas im Kreiſe unſerer 55 Genoſſinnen erreichen wollen, — ſetzen Sie ſich mit Wanda Orbin in Verbindung. Am beſten, fahren Sie zu ihr. Iſt ſie gegen Ihren Plan, ſo haben Sie alle miteinander gegen ſich!“ Roch am ſelben Abend ſchrieb ich an Frau Orbin, um ihr meinen Beſuch anzukündigen; zugleich bat ich ſie, in ihrer Zeitſchrift, der „Freiheit“ meine Idee zur Diskuſſion ſtellen zu dürfen. Sie antwortete umgehend, aber was ſie ſchrieb, klang wenig ermutigend: Wenn mein Weg mich über Stuttgart führe, ſo würde ihr mein Beſuch willkommen ſein; zu einer Reiſe, eigens ihretwegen, könne ſie mir jedoch nicht raten, da ſie zwecklos ſein würde; von einer Veröffentlichung meines Plans in ihrer Zeitſchrift könne auch keine Rede ſein: „. . . die „Freiheit' iſt ein rein ſozialdemokratiſches Blatt, an dem ich grundſätzlich nur ſolche Mitarbeiter zulaſſe, die auf dem Boden des Klaſſenkampfes ſtehen.“ Trotz⸗ dem beſchloß ich, zu ihr zu fahren, und wäre es nur, um die Bekanntſchaft dieſer Frau zu machen, deren Leben und deren Perſönlichkeit ein wahrhaft vorbild⸗ liches zu ſein ſchien. Bebel, den ich in dieſer Zeit öfter ſah, erzählte mir viel von ihr: wie ſie ſich mit Deter Orbin, einem ruſſiſchen Sozialiſten, in freier Ehe verbunden habe, ihm nach Paris in Elend und Ver⸗ bannung gefolgt ſei und das ſchwere Siechtum, das über ihn hereinbrach, jahrelang vor ihren Freunden zu verſtecken verſtand, indem ſie in ſeinem Ramen kor⸗ reſpondierte, in ſeinem Namen Artikel ſchrieb und mit zwei kleinen Kindern und dem kranken, ſtändiger Pflege bedürftigen Mann nicht nur das tägliche Brot für alle ſchaffte, ſondern auch imſtande war, für die Partei un⸗ 56 ermüdlich zu agitieren. Mir ſchwindelte vor dieſer Leiſtungskraft; meine Schmerzen, meine Kämpfe ſchrumpften davor kläglich zuſammen. „Ihre Nerven freilich hat ſie dabei ruiniert,“ fügte Bebel ſchließlich hinzu. An einem Abend hatte ich Liebknechts und Bebels zu mir geladen. Längſt erloſchene Geſellſchaftsvor⸗ freuden empfand ich wieder in der Erwartung dieſer Gäſte. Zum erſtenmal vermißte ich ſchmerzlich all die vielen graziöſen Geräte, mit denen ich als Haustochter die Feſttafel zu ſchmücken verſtand, — ich hatte nicht einmal genug Meſſer und Gabeln! Schweren Herzens entſchloß ich mich, bei den Eltern zu borgen, was am notwendigſten fehlte. „Du gibſt Geſellſchaften?“ frug Mama erſtaunt. „Kaum ein halbes Jahr nach dem Tode deines Mannes?“ „Nur ein paar Intereſſenten meines Zentralaus⸗ ſchuſſes —,“ antwortete ich ausweichend, während die Scham über dieſe verlogene Geheimniskrämerei mich er⸗ röten machte. War es Zufall oder Abſicht, daß mein Vater, kurz ehe ich meine Gäſte erwartete, zu mir kam und Anſtalten machte zu bleiben? In quälender Angſt ſaß ich vor ihm, alle erdenklichen Gründe erſinnend, um ihn, ohne ihn zu verletzen, zum Gehen zu nötigen. End⸗ lich ſtand er auf. „Meine eigene Tochter wirft mich hinaus,“ ſagte er mit einem müden, wehen Ton in der Stimme. „Lieber — lieber Papa! —“ ich ſchlang die Arme um ſeinen Hals und küßte ihn. In dieſem Augen⸗ blick kam ich mir vor wie ein Verräter. Der Abend, auf den ich mich ſo gefreut hatte, war für mich eine Qual. 57 Am nächſten Morgen fuhr ich nach Stuttgart. Ein unbeſtimmtes Hoffen, das wie durch⸗ leuchtet war von froher Ahnung, erfüllte mich: irgend etwas ganz Ungewöhnliches würde geſchehen. Auf dem Bahnhof empfing mich Frau Orbin. Ihre Erſcheinung war nicht die imponierende, die ich mir vor⸗ geſtellt hatte. Ich ſah zunächſt nichts als eine breite unterſetzte Geſtalt und einen großen Hut mit zerzauſten Federn, der windſchief auf ihrem Kopfe ſaß und ihre Züge beſchattete. Faſt hätte ich ſie nicht wiedererkannt, als ſie ihn abgenommen hatte und ſich im Speiſezimmer des Hotels zu mir ſetzte. Rotblonde Haare bauſchten ſich wellig um Stirn und Schläfen, helle Augen, in allen Lichtern des Regenbogens ſpielend, ſahen mir gerade ins Geſicht, auf der Stirn, um Raſe und Mund gruben ſich kleine ſenkrechte Falten, die zu der noch jugendlich⸗weichen Rundung der Wangen in peinlichem Mißverhältnis ſtanden. Ohne alle Höflichkeitspräliminarien begann ſie ſofort meinen Plan rückſichtslos zu zerzauſen. Sie ſprach mit nervöſer Über⸗ ſtürzung, die Worte jagten einander, als wollte eins das andere verſchlucken. „An eine Zuſammenarbeit von uns und Ihnen iſt natürlich gar nicht zu denken. Sollte von anderer Seite etwas der Art für möglich erklärt worden ſein —,“ ein mißtrauiſch⸗fragender Blick traf mich, — „ſo würde ich jede ſolche Abſicht auf das Schärfſte be⸗ kämpfen. Der politiſche Kampf iſt für uns das A und O. Darum iſt jede Harmonieduſelei mit bürgerlichen Elementen vom Übel und kann nur verwirrend wirken, den Klaſſenkampfcharakter unſerer Bewegung verwiſchen. Richt die Gegenſätze überbrücken, wie bürgerliche Idea⸗ 58 liſten und Ethiker wünſchen, ſondern ſie auf das Schärfſte betonen, iſt für uns die Hauptſache. Reinliche Schei⸗ dung, — ohne Konzeſſionen.“ Ich ſeufzte tief auf. Sie verſtand mich falſch und ein feines ironiſches Lächeln kräuſelte flüchtig ihre Lippen. „Das iſt freilich nicht immer ganz bequem, aber für Menſchen wie Parteien die einzig mögliche Grund⸗ lage ihrer Exiſtenz. Sie lud mich für den folgenden Tag zu ſich ein. Hätte mich die Frau nicht gereizt, der Sache wegen ſchien der Beſuch keinen Zweck mehr zu haben. In einer Wohnung von puritaniſcher Schlichtheit empfing ſie mich, aber ein unbeſtimmtes Etwas, ſei es die Wahl der Bilder, der Fall der Vorhänge oder nur die ganze Farbenſtimmung des Raumes, verriet das künſtleriſche Empfinden der Bewohnerin. Und als ihre beiden friſchen Buben hereinſtürmten, rotwangig und glänzenden Auges, ſah ich hinter der Rüſtung der Kämpferin den Menſchen, die Mutter. Wie reich war ſie! — Wir gingen nachmittags hinaus vor die Stadt, die bewaldeten Hügel hinan, die ſie ſo zärtlich um⸗ ſchließen. Die Kinder und die Ratur ſchienen Wanda Orbin zu verwandeln. Sie war viel milder heute. Sie ſprach über Kunſt und Literatur mit dem Verſtändnis eines ſelbſtändigen Geiſtes und der Wehmut unglücklich Liebender. „Das alles iſt eingeſchlafen, hat einſchlafen müſſen gegenüber der großen, umfaſſenden Aufgabe, ſagte ſie ſchließlich, und ihre Augen bekamen wieder den ſiebrigen Glanz des Fanatismus. Kaum waren wir in ihrer Wohnung, als ein Mann zu ihr hereinſtürzte, atemlos eine Depeſche hin⸗ und 59 herſchwenkend, während ihm hinter den Augengläſern die dicken Tränen über die bärtigen Wangen liefen. „Engels — Engels iſt tot —,“ ſtieß er mühſam hervor. Mit einer abwehrenden Bewegung der Hände — breiter kurzfingeriger Hände, die ausſahen, als hätte der Bild⸗ hauer Natur ſie nur in rohen Umriſſen ſkizziert und vergeſſen, ſie auszuführen — ſtarrte Wanda Orbin dem Unglücksboten ſekundenlang ins Geſicht. Dann warf ſie die Arme empor und brach in ein konvulſiviſches Schluchzen aus, unter dem ihr Körper immer heftiger zu zittern begann. Ihre Füße würden die Schwankende nicht mehr tragen, dachte ich, und ſchob ihr vorſichtig einen Seſſel zu, in dem ſie haltlos verſank. Inzwiſchen hatte ſich das Zimmer gefüllt: die Eintretenden tauſchten miteinander warme Händedrücke. Alles ſammelte ſich um die weinende Frau, leiſe Flüſtergeſpräche, als läge der Tote mitten unter ihnen, flogen nach langer be⸗ ängſtigender Stille hin und her. Eine Familie war dies, die Stärkeres zuſammengeſchweißt hatte als das Blut: aus gemeinſamen Empfindungen, Gedanken und Idealen entſprang die Tiefe gemeinſamer Trauer um den, der ihr Führer geweſen war. Auf Zehenſpitzen ſchlich ich hinaus und fühlte doch mit überwältigender Gewißheit, daß ich dazu gehörte. Spät am Abend kam Wanda Orbin noch einmal zu mir, — ſehr weich, ſehr liebevoll. „Sie hätten bleiben dürfen, Sie ſind uns doch keine Fremde,“ ſagte ſie. Da gewann ich Vertrauen und erzählte ihr von den Zweifeln und Kämpfen der letzten Wochen. Ich ſah, wie ſie lächelte, — nachſichtig wie eine Mutter uber Kinderleiden, aber es verletzte mich nicht. „Im 60 Zwieſpalt der Empfindungen kann niemand dem anderen helfen,“ meinte ſie dann. „Ich weiß nur eins gewiß: iſt Ihre Überzeugung erſt vollkommen klar und uner⸗ ſchütterlich, ſo verſchwindet vor ihr das bloße Gefühl, wie Sommerſchwüle vor dem Gewitter. Zu dieſer Über⸗ zeugung zu gelangen, das iſt freilich das ſchwerſte. Die Logik der Tatſachen, die Lebensverhältniſſe pauken dem Proletariat eine Auffaſſungsweiſe ein, die ſich der bürgerliche Idealiſt mit großer Mühe aneignen muß, wenn es ihm überhaupt trotz aller Ehrlichkeit gelingt, den alten Adam der bürgerlichen Ideen abzulegen. Es iſt ſo furchtbar ſchwer, aus ſeiner Haut zu fahren, ſich von dem zu befreien, was Vererbung und Milieu aus uns gemacht haben.“ Ihre Augen ſchauten wie nach innen. Wir ſprachen noch lange miteinander. Ste riet mir jetzt zur Ausführung meines Planes; ich würde durch ihn vielleicht am beſten zur Klarheit kommen, und an Rat und — inoffizieller — Hilfe von ihr ſollte es nicht fehlen. „Setzen Sie ſich in Berlin mit den Gewerk⸗ ſchaften in Verbindung, und zwar ſpeziell mit den Kon⸗ fektionsarbeitern, die infolge der Bewegung, in der ſie augenblicklich ſtehen, Ihre Sache als eine Unterſtützung betrachten dürften. Und dann, vor allen Dingen, ſuchen Sie unſeren Genoſſen Dr. Heinrich Brandt für ſich zu intereſſieren. Gewinnen Sie ihn, ſo iſt Ihnen ge⸗ holfen: er ſetzt alles durch, was er will.“ Dr. Brandt! — Ich ſchloß unwillkürlich die Lider, verloren in Erinnerung. „Alle Ströme fließen in unſer Meer,“ hörte ich eine dunkle klingende Stimme ſagen, und flüchtig — ein Traumbild — tauchte ein Mann 6I vor mir auf, blond und ſchlank, und tiefe graue Augen verſanken ſekundenlang in den meinen. Nach meiner Rückkehr ſchrieb ich ſofort an Jo⸗ hannes Reinhard, den Führer der Konfek⸗ tionsarbeiter⸗Bewegung, und an Heinrick Brandt. Reinhard kündigte mir umgehend ſeinen Be⸗ ſuch an; kurz darnach beſtimmte Brandt dafür die⸗ ſelbe Stunde. Im erſten Gefühl ſtarker Freude, über deren Urſache ich mir nicht ſo recht klar war, wollte ich Reinhard abſchreiben, um den anderen bald und zuerſt zu ſehen. Über mich ſelbſt errötend, zerriß ich die Karte wieder, die ich zu ſchreiben begonnen hatte, und bat ſtatt deſſen Brandt, ſeinen Beſuch zu verſchieben. „Schade,“ antwortete er mir, „ich wäre gern gleich gekommen. Vorgeſtern las ich in der wiener Zeit“ einen Artikel von Ihnen, der mich ſo entzückte, daß der Wunſch, die Verfaſſerin kennen zu lernen, in mir rege wurde. Dieſem Wunſch begegnete noch am ſelben Morgen Ihr Brief.“ Und nun ſtand Reinhard vor mir, unter der linken Schulter die Krücke, das Geſicht noch gelber, als da ich ihn zum letztenmal in der Egidyverſammlung geſehen hatte, die ſchwarzen, dünnen Haarſträhnen wie feſtge⸗ klebt um den breiten Schädel und die tief eingefallenen Schläfen. „Hielte ich Ihren Plan nicht für gut, für notwendig ſogar in dieſem Augenblick, wo der Reichskanzler den Stillſtand der Sozialreform nicht nur zugab, ſondern verteidigte, ich würde nicht ſo raſch hier ſein,“ be⸗ 62 gann er die Unterhaltung, indem er ſich mühſam, das linke Bein gerade ausgeſtreckt, auf dem Stuhl niederließ. „Wir ſtehen in der Konfektion ſeit Beginn des Jahres in einer Bewegung, die mir Tag und Racht keine Ruhe läßt — —“ „Ich weiß: um die Durchſetzung von Betriebswerk⸗ ſtätten handelt es ſich,“ unterbrach ich ihn. „Der Zen⸗ tralausſchuß könnte nichts Beſſeres beginnen, als Sie darin unterſtützen.“ Er ſah erfreut auf. „Ich ſehe, Sie ſind orientiert, und ſo brauche ich nur hinzuzufügen, daß Ihr Zentral⸗ ausſchuß auch nirgends reicheres Material zur Frage der Frauenarbeit finden könnte als bei uns. Ihren londoner Eindrücken, von denen ich in den Zeitungen geleſen habe, würden die berliner nicht nachſtehen. Ich zweifelte an der Möglichkeit ähnlichen Elends bei uns. Richt einmal in der Racht, wenn ich aus Verſammlungen gekommen war, hatte ich ſo bittere Rot geſehen, wie ſie mir in London bei hellem Tage begegnet war. „Unſere Armſten ſchämen ſich, — das iſt vielleicht der letzte Reſt Menſchlichkeit in ihnen,“ meinte er; „ſeit Wochen mache ich faſt nichts anderes als Beſuche bei den Heimarbeitern. Eben erſt war ich bei einem alten gelähmten Weibe, das hier im Weſten, fünf Trepven hoch, ein einfenſtriges Zimmer und eine fenſterloſe, win⸗ zige Küche mit ihrer Tochter und deren vier kleinen Kindern bewohnt. Von früh fünf bis nachts um elf trampelt die Tochter die Rähmaſchine, um beſtenfalls neun Mark in der Woche zu verdienen. Vor wenigen Tagen war ich in einem engen Kellerloch, wo eine Witwe mit zwei Kindern wohnt; auf den ſchimmeligen 63 Möbeln, auf dem einzigen wackeligen Bett, liegen ele⸗ gante Damenbluſen, für die ſie ganze fünf Mark wöchent⸗ lich einnimmt.“ Reinhard erhob ſich, rote Flecken brannten auf ſeinen Backenknochen, und während er weiterſprach, humpelte er im Zimmer aufgeregt hin und her. „In einem anderen Keller, wo die Dielen faulen und die Fenſter tief unter der Erde liegen, ar⸗ beiten zwei Schweſtern, — junge, bleichſüchtige Dinger, — für die, die oben in Luft und Sonne lachend vor⸗ übergehen. Iſt die Ehre, die ihr bewahrt habt, das elende Leben wert, — hätte ich ihnen am liebſten zu⸗ gerufen. Dicht unter dem Dach, in zwei kleinen Löchern, ſah ich ein Ehepaar mit fünf Kindern und einem Schlaf⸗ mädchen; den Mann zerfrißt auf dem Lager voll Lumpen der Kehlkopfkrebs, die Frau näht Knopflöcher für ganze vier Mark in der Woche,“ — klipp—klapp—klipp— klapp, — raſcher und raſcher ſchlug Reinhards Krücke den Takt zu der grauſen Melodie —; „eine arme Mutter fand ich in einem ſonnenloſen Winkel im Norden, ſie nähte Hemden, halbfertig lagen ſie auf dem Bett, wo zwei diphtheritiskranke Kinder mit dem Tode rangen. Und, denken Sie nur“, — er blieb ſtehen und lachte grell auf, „— einen ſchneeweißen Mantel, beſtimmt für nackte Schultern ſchöner Frauen, ſah ich einmal in den Händen einer Syphilitiſchen —“ „Um Gottes willen — hören Sie auf!“ Auch ich erhob mich. „Warum ſchreien Sie dieſe Tatſachen nicht auf öffentlichem Markte aus? Warum kleben Sie Ihre Berichte nicht an alle Straßenecken? — Kein Reichs⸗ kanzler würde mehr wagen, den Stillſtand der Sozial⸗ reform zu verteidigen." 64 „Wir ſind dabei, es zu tun,“ antwortete er, und ſeine Sprechweiſe nahm wieder den Ton der alten ſachlichen Ruhe an. „Eine Broſchüre, an der ich arbeite, wird allen maßgebenden Perſönlichkeiten zugeſchickt und unſerem diesjährigen Parteitag vorgelegt werden; wir haben außer⸗ dem, wie Sie wiſſen, die Unternehmer vor die Alter⸗ native geſtellt, Betriebswerkſtätten einzurichten, oder einer allgemeinen Arbeitseinſtellung gewärtig zu ſein. Kommt es dazu, ſo wird die Offentlichkeit ſich mit uns beſchäf⸗ tigen müſſen. Übrigens: —,“ er dachte einen Augenblick nach, „wie wär's, wenn Sie die Tätigkeit Ihres Zentral⸗ ausſchuſſes auf eigene Fauſt beginnen und mich bei meinen Recherchen zuweilen begleiten würden? Dankbar nahm ich ſein Anerbieten an. In der nächſten Zeit brachte ich faſt täglich ein paar Stunden mit ihm zu. Wir kamen in Stadtteile, die ich noch nie geſehen hatte, lange, nüchterne Straßenzeilen, die Häuſer regelmäßig aufgereiht, gleichmäßig grau getüncht: die Ode des Anblickes nur noch erhöht durch die äußere Ordnung und Reinlichkeit. Wir ſchritten durch enge Höfe in dunkle Hinterhäuſer, die das Licht der Straße nicht mehr fürchteten und ohne Scham die Blößen ihrer Rot enthüllten. Rach Oſten, nach Süden führte uns der Weg, wo mitten im kahlen, der Stadt ſchon preis⸗ gegebenen Boden hohe Mietskaſernen an zerwühlten, werdenden Straßen ſtanden. Hier, zwiſchen den feuchten Wänden, hauſte das Elend und ſtarrte uns an mit den glanzloſen Blicken erloſchenen Lebens, die grauſamer in die Seele ſchneiden als die wildeſten Schreie der Ver⸗ zweiflung. Oft, wenn wir aus dem Dunkel ſparſam verteilter 65 Laternen kamen und das Licht der Friedrichſtadt uns blendend empfing, haftete mein Auge ſtaunend an den glänzenden Spiegelſcheiben der Läden und der Reſtau⸗ rants. Prahlend breiteten ſich hinter den einen all die Herrlichkeiten aus, die den Gaumen laben, den Körper ſchmücken, das Leben bereichern; lachend, ſcherzend, mit vollen Taſchen und glänzenden Augen ſaßen hinter den anderen die reizenden Frauen, deren einziger Daſeins⸗ zweck ihre Schönheit zu ſein ſchien, und die Männer, die ihnen huldigen. Wie war es nur möglich, daß die von draußen, aus den grauen Häuſerzeilen und den werdenden Straßen, nicht dicht gedrängt, auf leiſen Sohlen, wie Rachtgeſpenſter, hierher ſich ſchoben, um all die Pracht zu zertrümmern, das Lachen erſtarren zu machen?! Und in meinem Herzen niſtete der Haß ſich ein für alle die, die nicht mehr haſſen konnten. Am frühen Morgen des 18. Auguſt war es. Eine arme Frau hatte ich beſucht, die ich auf einem unſerer Wege gefunden hatte. Sie war ſterbens⸗ krank, — ach, und wie gern wollte ſie ſterben, wenn nur die Kinder nicht geweſen wären, die ſie feſter als alle Arzeneien der Welt ans Leben ketteten. Die durch⸗ ſichtigen Finger durften ſich nicht zum Schlafen friedlich ineinanderfalten, ſie hielten krampfhaft die weiße Lein⸗ wand feſt, um zierliche Ramenszüge, ſtolze Freiherrn⸗ und Grafenkronen hineinzuſticken. Ein wenig Hoffnung hatte ich ihr gebracht, — Hoffnung, daß ſie bald ruhig werde ſterben dürfen. Run ging ich nach Hauſe, den Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 5 66 Kopf geſenkt; die Sonne tat mir weh. An der Königs⸗ ſtraße geriet ich in einen Menſchenſchwarm, der mich mit ſich riß: geputzte Frauen mit jenem aus Reugierde, Aufregung und Rervenſpannung gemiſchten Ausdruck in den Zügen, der gewöhnliche Menſchen bei allen großen Ereigniſſen, — ſeien es Feuersbrünſte oder Hochzeits⸗ feiern, — charakteriſiert, Männer im Sonntagsſtaat, irgend eine Medaille oder ein Kreuz auf der Bruſt, das in dieſen Tagen der Freibrief für alles war: Be⸗ trunkenheit — man nannte ſie Begeiſterung —, Roheit gegen Richtdekorierte, — man nannte ſie Vaterlands⸗ liebe. Ich ſah um mich: Fahnen flatterten von den Häuſern, Straßenverkäufer boten mit krähender Stimme Kaiſermedaillen aus, von ferne klang Trommelwirbel, Hferdegetrappel. Richtig: die Grundſteinlegung des Nationaldenkmals war heute. Mit liebevoller Wehmut, wie die Greiſin vergilbte Liebesbriefe, hatte der Vater geſtern die Generals⸗ uniform aus ihren Seidenpapierhüllen herausgeholt, hatte die Stickerei, die Knöpfe und die vielen Orden ſelbſt mit einem Lederläppchen abgeſtaubt und war gewiß heute fruy, voll Erregung, zum Schloß ge⸗ fahren. Jetzt waren wir ſelbſt bis dicht hinter die Schutz⸗ mannsketten vorgedrungen. Ein Vorwärts gab's nicht mehr, ein Zurück noch weniger Es galt, auszuhalten. Die Galawagen der deutſchen Fürſten rollten vorüber in ihrer altertümlich ſchwerfälligen Pracht, dröhnenden Schrittes rückte die Garde auf den Schloßplatz, hinter ihr mit wehenden Fahnen Ulanen, Dragoner und im blitzenden Küraß die Gardedukorps. 67 Von hinten hauchte mir ein heißer Atem in den Racken, der nach klebrigem Biere roch; aus dem Halsausſchnitt der dicken, kleinen Frau neben mir ſtieg ein ſüßlicher Schweißgeruch. Mich ekelte vor der Erregung der Menge; eindruckslos rauſchte ſogar die mich ſonſt elektriſierende Muſik an meinem Ohre vorüber; wie ein ſchlechtes Ausſtattungsſtück empfand ich das bunte Schau⸗ ſpiel vor mir. Unwillkürlich fiel mir das Modell des Rationaldenkmals ein: wie gut paßte es hierher mit ſeinen unruhigen Tier⸗ und Menſchengeſtalten, ſeinen Fahnen, Kanonen, Gewehren und Säbeln und dem theatraliſch daherſchreitenden Engel, der des alten Kaiſers vierſchrötiges Schlachtroß führt. Von ſeinem künftigen Standort, dem Winkel vor dem Schloß, den man noch dazu dem Waſſer hatte abringen müſſen, tönten Hammer⸗ ſchläge, Kanonendonner fiel ein, die Luft erſchütternd, von tiefen Glockenklängen untermiſcht. Glocken und Kanonen, — die führenden Inſtrumente im Orcheſter der bürgerlichen Geſellſchaft, mit denen ſie das Weinen und Klagen der Millionen zu über⸗ tönen glaubt! Ich aber hörte es, und ich wußte: der Tag wird kommen, wo die Glocken vor ihm ſchweigen und die Kanone.. vor ihm verſtummen werden. Vor dem Spiegel ſtand ich in meinem Schlaf⸗ zimmer. Wie lange war es her, daß ich nichts als flüchtige Blicke hineingeworfen hatte, die nur der Ordnung meiner Haare, meiner Kleidung galten. Heute ſah ich mich wieder: ſchärfer 5* 68 waren meine Züge geworden und ſchmaler mein Ge⸗ ſicht, meine Geſtalt aber war noch immer die eines jungen Mädchens. Ich lächelte: „Frau“ von Glyzcinski — und ein Mädchen, ein altes Mädchen ſogar von dreißig Jahren! Aber ich wollte nicht alt ſein, — heute nicht. Ich fühlte wieder, wie ich rot wurde. Daß das Weib in mir ſich nicht töten ließ! Wo doch ſo vieles ſchon geſtorben war! Es klingelte. Kurz und ſcharf. Die Aufwärterin hatte ich früh ſchon nach Hauſe geſchickt, ſie war ſo alt und ſo häßlich. Dem Beſuch, den ich erwartete, wollte ich ſelber öffnen. „Gnädige Frau?!“ — Eine überraſchte, fragende Stimme. Ich unterſchied im Dämmerlicht der Treppe und des Flurs die Silhouette eines Mannes, mit dem weiten Mantel über den Schultern, dem breiten Schlapp⸗ hut auf dem Kopf. Ich ſelbſt in meinem ſchwarzen Kleid mußte ihm nur wie ein Schatten erſcheinen. Ich ging ihm voran ins Zimmer, das flutendes Sonnenlicht durchſtrahlte, wie einſt, da ich zum erſtenmal über die Schwelle trat. Ich wendete mich um, — meine Hand blieb vergeſſen in der Heinrich Brandts. „Wir ſind uns — keine Fremden —,“ ſtotterte ich verlegen. „Rein, — nein —,“ antwortete er und ſah mich noch immer an. Die Uhr auf dem Schreibtiſch holte zum Schlagen aus. Ich zuckte zuſammen, ſetzte mich haſtig, und ſteif und förmlich lud ich auch ihn zum Sitzen ein. „Rein,“ wiederholte er, und ſeine Augen ließen mich noch immer nicht los, während ſein Geſicht heller zu werden ſchien, „— Sie ſind mir keine Fremde. Kennen Sie das?“ Er zog das graue Heft 69 der Wiener „Zeit“ aus ſeiner Rocktaſche. „Im Grunde ein ganz dummer, kleiner Artikel, den Sie da geſchrieben haben, und doch ſo wundervoll! Ein ganzer Menſch ſteckt dahinter!“ Mir wurde warm ums Herz. Seine Worte ſtrei⸗ chelten mir die Wangen, ſeine Stimme erfüllte die Luft um mich mit einem einzigen Wohllaut. „Und Ihr Plan intereſſiert mich ſehr. Ich habe auch gar nicht abgewartet, bis Sie endlich die Gnade hatten, mich herzubefehlen“, — er lächelte ein wenig malitiös, „Sie haben, wie ich höre, Freund Reinhard den Vortritt gelaſſen, — ich habe indeſſen, ohne zu fragen, den Schritt getan, von deſſen Erfolg Ihre ganze Sache abhängt.“ Ich ſah faſt erſchrocken auf. „Oder ſollten Sie wirklich nicht daran gedacht haben, daß Geld, viel Geld dazu gehört?“ Ich nickte lächelnd. „Ich ſchrieb an einen unſerer ernſthafteſten und reichſten Sozialreformer und ſchickte ihm Ihr Programm. Ich zweifle nicht, daß er die Sache in angemeſſener Weiſe finanzieren wird.“ Ich verſuchte, ihm zu danken; es kam vor tiefer innerer Erregung ungeſchickt und hölzern heraus. „Laſſen Sie doch dieſe Formalitäten!“ ſagte er. „Wenn jemand Dank verdient, ſo ſind Sie es, die den Gedanken hatten. Ich bin beſtenfalls nichts als ſein untergeordnetes Werkzeug.“ Wir ſprachen noch lange miteinander. Ich erzählte von allem, was mir ſeit den letzten Wochen das Herz bewegte, und Leidenſchaft und Haß und Liebe brachen durch die Dämme, die Einſamkeit und Zurückhaltung um ſie aufgeſchichtet hatten 70 „Sie ſind wie eine Flamme, die lodernd gen Himmel ſtrebt,“ flüſterte er wie zu ſich ſelbſt. Als er gegangen war, blieb ich regungslos, die Hände feſt ineinandergekrampft, mitten im Zimmer ſtehen. War das ein Traum geweſen, oder hatte er wirklich hier vor mir geſtanden?! In dieſem ſelben Zimmer, wo ich Georg, meinen einzigen Freund, gefunden und verloren hatte?! Am nächſten Tag gegen Abend kam er wieder. „Ich bin zudringlich, nicht wahr?“ lachte er mir ent⸗ gegen. „Aber Sie kommen mir vor, wie ein verflogenes Vögelchen, das ſich an Scheiben und Wänden den Kopf ſtößt und einer Hand bedarf, die es fängt und ins Freie läßt.“ „Sie mögen recht haben. Ich bilde mir wohl nur ein, daß ich in Freiheit flöge, und die anderen Leute waren bisher kurzſichtig genug, mich darin zu beſtärken, wohl gar zu bewundern — —“ Es dämmerte. „Entſchuldigen Sie einen Augenblick, ſagte ich und ging hinaus, um die Lampe zu holen. Als ich wiederkam, fand ich ihn über das Manuſkript eines Artikels gebeugt, den ich eben vollendet hatte. Argerlich wollte ich ihn vom Schreibtiſch weg an mich reißen. „Verzeihen Sie —“, feſt drückte er die Hand darauf, — „das gehört zu meinem Vogelfang. Wie kommen Sie dazu, dergleichen zu ſchreiben?!“ Ich er⸗ ſchrak vor dem finſteren Geſicht, das er mir plötzlich zuwandte. „„Londoner Geſelligkeit“! Haben Sie nichts Beſſeres zu tun?!“ Sein Blick blieb an der Lampe haften, die ich zitternd auf den Tiſch ſtellte. Seine Stirn glättete ſich, forſchend ſahen die großen grauen Augen mir ins Geſicht. 71 „Sie müſſen ſich ſelbſt bedienen? — Sie öffnen mir immer ſelbſt?! —“ Ich ſenkte einen Augenblick lang den Kopf. „Wie Sie ſehen: ja!“ Meine Stimme, die zuerſt ein wenig verſchleiert klang, wurde klar und feſt. „Ich kann mir ein Dienſtmädchen nicht halten, und ich muß ſolche Artikel ſchreiben, weil ich von meiner Penſion nicht leben kann.“ „Verzeihen Sie, — aber wie konnte ich ahnen —“ Er ſah mir tief in die Augen. Wir waren von da an täglich zuſammen, ſei es, daß er mich zu einem Spaziergang abholte, ſei es, daß wir uns in der Stadt trafen. Mit tiefer Beglückung emp⸗ fand ich die zarte Sorgfalt, mit der er mich umgab. Wenn ich jetzt zu den Eltern kam und der Vater in heller Aufregung über die Sozialdemokraten ſchimpfte, ¹ „lauter Hochverräter, die man hängen ſollte“, ſo hörte ich nur mit halbem Ohre hin, es verletzte mich nicht; um mich lag es wie ein warmer, kugel⸗ feſter Mantel, den die Freundſchaft um mich geſchlungen hatte. Die Freundſchaft! — Ich glaubte an ſie, — ich wollte an ſie glauben, auch wenn die heißen Wellen meines Herzens mich zu überfluten drohten. „Sie müſſen bald einmal mit mir hinauskommen zu meiner Frau und meinen Buben. Sie iſt anders wie Sie, — ganz anders, aber klug und gut, — Sie werden ein⸗ ander verſtehen,“ hatte er mir einmal geſagt. Es kam aber noch immer nicht dazu, und ich drängte nicht danach. Eines Rachmittags ſaßen wir zuſammen auf dem 72 ſchmalen Balkon des Kaffee Kloſe. In weichem, ſilbernen Sonnenlicht fluteten unter uns auf der Leipziger Straße die Menſchen auf und nieder. Ein früher Herbſtnebel, zart und duftig wie Feenſchleier, ſpielte um die end⸗ loſen Häuſerreihen, und es ſchien, als dämpfte er ſelbſt das Raſſeln der Wagen. „Sehen Sie nur, was ich heute bekam,“ damit hielt ich ihm einen Brief entgegen. „Die Wiener Fabier fordern mich zu einem Vortrag auf“ — Er nickte erfreut, ich ſah ihn von der Seite an. „Ich habe keine Beziehungen in Wien,“ fuhr ich nachdenklich fort, „— ſollten Sie auch hier meine Vorſehung ge⸗ weſen ſein?!“ „Und wenn dem ſo wäre?! Ich reichte ihm ſtill die Hand. Ganz ſanft, als oh ſie ſehr zerbrechlich wäre, nahm er ſie in die ſeine, — eine zarte Hand mit dichtem Geäder und nervöſen Fingern. „Glauben Sie,“ fragteerlangſam, nach einem Schweigen, das die Rähe zweier Menſchen zueinander verrät, „glauben Sie, daß ein Tag kommen könnte, an dem unſere Freund⸗ ſchaft uns zwingt, einander „du“ zu ſagen? Ein Zittern durchlief meinen Körper. Ich ant⸗ wortete nicht. Stumm ſtanden wir auf, ſtumm fuhren wir zu mir nach Hauſe. Drinnen im Zimmer ſahen wir uns an, das Herz ſchlug mir zum Zerſpringen, die Finger erſtarrten mir zu Eis. „Alix —,“ wie ein Hauch kam mein Rame über ſeine Lippen. „Du —,“ mehr vermochte ich nicht zu ſagen. Es dunkelte mir vor den Augen. Einen Herzſchlag lang 73 fühlte ich ſeinen Mund auf dem meinen, — dann ſchlug die Türe, — ich war allein. Und die Wände ſchienen um mich zu kreiſen, und der Glanz der Abendſonne wurde zu glühenden Flammen. Wie Geſang lag es in der Luft von lauter Harfen, — meines Herzens Jubel hatte ſie zum Klingen gebracht. In allen Weiſen der Welt, im Ton ſüßer Wiegen⸗ lieder und ſtolzer Siegeshymnen ſang und jauchzte es: ich liebe. Wir verkehrten wie früher miteinander. Nur die Augen wagten es hier und da, eine andere Sprache zu ſprechen als der Mund. Ich war mitten im Packen; ſchon ſtarrten die lieben Räume mich fremd und öde an, als ſein Weib kam, mich zu beſuchen. Entgeiſtert ſah ich ſie an, als ſie vor mir ſtand: ſie war hochſchwanger. Raſch warf ich die Kleider vom Sofa und nötigte ſie hinein, ihr vorſichtig die Kiſſen in den Rücken legend. Seine Frau! Sein Kind!! — Der Gedanke bohrte ſich mir ins Gehirn, daß es mir den Kopf zu ſprengen drohte. Rie, — nie hatte er mir von Liebe geſprochen, dachte ich, während ich gleichgültig freund⸗ liche Phraſen mit ihr wechſelte, nur immer von Freund⸗ ſchaft. Und dieſer Frau vor mir mit den großen, breiten Händen und den ſtechenden dunklen Augen hatte ich nichts genommen — nichts, was ich nicht nehmen durfte. Denn daß ich ihn liebte, was ſchadete das ihr?! Und war nicht mein eigenes, großes, wunder⸗ volles Gefühl ind ſeine Freundſchaft Glückes genug 74 für mich, die ich gelernt hatte, auf alles Glück zu ver⸗ zichten? „Wir ziehen im Winter auch in die Stadt,“ ſagte ſie ruhig, „ſonſt bekomme ich meinen Mann nicht mehr zu ſehen —.“ War das eine Anſpielung? Ihr Geſicht blieb unbewegt. „Übrigens ſah ich eben im Hauſe, wo Sie mieteten, eine Wohnung, die gut für uns paſſen würde. Das wäre für alle Teile das beſte —, und ich hätte doch auch etwas von Ihnen. Könnte auch von Ihnen lernen, was mir leider noch an Verſtändnis für die Intereſſen meines Mannes fehlt.“ Ich begriff ſie nicht: war das echt, was ſie ſagte, oder lauerte Bosheit da⸗ hinter und Mißtrauen? Feuchtkalt lag ihre Hand beim Abſchied in der meinen. Die Schleppe ihres ſeidenen Kleides raſchelte hinter iht her wie eine Schlange. Ich mußte mich ans Fenſter in die Sonne ſtellen, um wieder warm zu werden. nachdem ſie mich verlaſſen hatte. Gute Botſchaft bringe ich.“ Am frühen Morgen, ich ſaß noch beim Frühſtück, trat Heinrich Brandt in mein Zimmer, freudeſtrahlend. „Die Sache iſt entſchieden.“ Ich griff haſtig nach dem Brief, den er brachte und las: „Nach reiflicher Über⸗ legung habe ich mich dahin entſchieden, das mir vor⸗ gelegte Projekt eines Zentralausſchuſſes für Frauen⸗ arbeit inſoweit zu unterſtützen, als ich zunächſt eine Summe von achttauſend Mark jährlich dafür ausſetze, die, wenn der Umfang der Arbeiten es ſpäter notwendig macht, entſprechend geſteigert werden kann. Ich hoffe, 75 Ihnen, ſehr geehrter Herr Doktor, der Sie ja ausdrück⸗ lich erklärten, nur die Rolle eines unbeteiligten Vermittlers zu ſpielen, nicht zu nahe zu treten, wenn ich Sie bitte, Frau von Glyzcinski mitzuteilen, daß die Vorausſetzung meiner Unterſtützung, von der ich unter keinen Umſtänden abweiche, die iſt, daß die Leitung der Sache nicht in den Händen von Sozialdemokraten ruht. Dieſe meine For⸗ derung entſpringt keinerlei perſönlicher Animoſität, ſon⸗ dern nur der Erkenntnis, der ſich gegenwärtig kaum jemand verſchließen kann, daß die Sozialdemokratie zu ruhiger Reformarbeit unfähig iſt und die maßgebenden Kreiſe einer von ihr ausgehenden Bewegung mit Recht ablehnend gegenüberſtehen würden. Ich hatte zuerſt laut und freudig, dann immer lang⸗ ſamer und leiſer geleſen. „Das nennen Sie eine gute Botſchaft?“ frug ich kopfſchüttelnd. „Gerade heute ſah ich in der Preſſe, wie alles von rechts und links nach einer neuen Auflage der Umſturzvorlage ſchreit. Und geſtern erzählte mein Vater, daß man im Kaſinv ſchon die Maßregeln erörtert, durch die die Sozialdemokraten mundtot gemacht werden ſollen — Brandt unterbrach mich: „Run — und? Wird Ihre Aufgabe dadurch etwa überflüſſig? „Gewiß nicht. Aber für mein Gewiſſen kann es eine größere Aufgabe geben: mich in dem Augenblick der Verfolgung an die Seite derer zu ſtellen, die verfolgt werden. Die eigene Überzeugung in die Taſche zu ſtecken, läßt ſich nur ſo lange entſchuldigen, als es keine Feigheit iſt.“ „Sie haben recht — wie immer, wenn Ihre erſte Empfindung ſpricht,“ er drückte mir die Hand, feſt und 76 kameradſchaftlich, „und doch möchte ich Sie bitten: über⸗ legen Sie ruhig, ehe Sie antworten. Die Ausnahme⸗ geſetze ſind bisher nichts als Wünſche und Drohungen, und das klägliche Ende der Umſturzvorlage dürfte kaum zu einer Wiederholung reizen.“ — — „. . Hängt am Tage von St. Sedan Trauerfahnen aus, erhebt feierlichen Proteſt gegen den Maſſenmord und ehrt diejenigen, die zum Kriege hetzen, wie es ihnen gebührt: ſteckt ſie als Verbrecher ins Zuchthaus.“ Mein Vater hatte mir einen Zeitungsausſchnitt geſchickt, der dieſen Satz aus der ſozialdemokratiſchen Breslauer Volks⸗ wacht' zitierte. Roh und häßlich, unwürdig vor allem war er. Die geiſtigen Waffen, die wir führen, ſollten blanker und damit auch ſchärfer ſein, dachte ich. Wenige Tage ſpäter veröffentlichten die bürgerlichen Zeitungen in Rieſenlettern den Trinkſpruch, den der Kaiſer am Sedantag ausgebracht hatte: „. . In die große hohe Feſtesfreude ſchlägt ein Ton hinein, der wahrlich nicht dazu gehört; eine Rotte von Menſchen, nicht wert, den Namen Deutſche zu tragen, wagt es, das deutſche Volk zu ſchmähen; wagt es, die uns geheiligte Perſon des allverehrten verewigten Kaiſers in den Staub zu ziehen. Möge das geſamte Volk in ſich die Kraft finden, dieſe unerhörten Angriffe zurück⸗ zuweiſen! Geſchieht es nicht, nun, dann rufe ich Sie, um der hochverräteriſchen Schar zu wehren, um einen Kampf zu führen, der uns von ſolchen Elementen befreit.“ Wortlos reichte ich Brandt das Blatt, als er kam. „Was haben Sie beſchloſſen? „Die Rotte von Menſchen ſind meine Brüder und Schweſtern. — Ich lehne ab. 77 Drittes Kapitel Ich ſtand in Wien auf der Rednertribüne des Ronacherſaals und verneigte mich noch einmal vor dem applaudierenden Publikum. Ich wußte: ich hatte nicht geſprochen wie ſonſt. Schon als der Vor⸗ ſitzende mich an den dichtgedrängten Reihen vorbeigeführt hatte, an den eleganten, graziöſen Frauen, deren Toi⸗ letten nicht wie die der Berlinerin dazu da zu ſein ſchienen, die Trägerin unter der Laſt des Glanzes ver⸗ geſſen zu machen, ſondern ihre Individualität betonten, ihre Reize unterſtrichen, an den jungen und alten Herren im Frack und Smoking mit den geſchmeidigen Geſtalten und dem ſüffiſanten Lächeln des Weltmanns, war mir der Kontraſt zwiſchen dem kühlen Ernſt meines Vortrags und dieſer Umgebung zum Bewußtſein ge⸗ kommen. Dann war ein Wogen von bunten Hüten, ein Kniſtern von ſeidenen Kleidern, ein Funkeln von Brillanten unter mir geweſen. Operngläſer aus Silber und Perlmutter hatten ſich auf mich gerichtet, und um das mattſchimmernde Rokokoornament au den Decken und Wänden des reizenden Konzertſaales hatte ein feiner, zarter Rebel geſchwebt, gewoben aus Zigaretten⸗ rauch und Parfüm. Ich ſtieg die Stufen hinab. Man klatſchte noch immer. Ich mußte wohl ſo etwas wie eine neue Sen⸗ 78 ſation geweſen ſein, wie ſie in Geſtalt von Sängern, Taſchenſpielern und Diſeuſen auf dieſer Tribüne ge⸗ wöhnlich zu erſcheinen pflegte. „Ich gratuliere Ihnen —,“ ſagte eine dunkle Stimme neben mir. Rur ein Mann in der Welt hatte ſolche Stimme! Es war Brandt. Und als meine Hand in der ſeinen lag, war mir, als ſtünde ich allein mit ihm hoch auf einer Felſeninſel und in der Ferne nur brandete das Meer der Welt. „Sie in Wien, — meinem geliebten Wien, und ich nicht neben Ihnen, — es kam mir abſurd vor,“ hörte ich ihn leiſe ſagen. Aber ſchon ſah ich den Kreis, der ſich um uns gebildet hatte: Menſchen, die warteten, mich begrüßen zu können, mir vorgeſtellt zu werden, der Vorſtand der Fabier, der mich zum Eſſen geladen hatte. Ich gewann meine Faſſung wieder, und während mein Herz hoch aufſchlug vor Freude, hatte ich das Be⸗ dürfnis, gegen alle, die ſich mir näherten, doppelt und dreifach freundlich zu ſein. In einem halbdunkeln verräucherten Kaffee ſpät am Abend trafen wir uns wieder. Brandt erwartete mich mit Dr. Geier, ſeinem Schwager, dem Führer der öſter⸗ reichiſchen Sozialdemokratie, und einem Kreis von Partei⸗ genoſſen, die mitten in einer Debatte jäh verſtummten, als ich eintrat. Sie hatten ſich offenbar gezankt, was ich mit der ganzen Empfindlichkeit der Frohgelaunten ſofort empfand. Man ſtand auf, man begrüßte mich, aber meine Anweſenheit wirkte ſichtlich ſtörend. Eine kleine brünette Frau mit glänzenden braunen Augen fühlte das Peinliche der Situation und zog mich auf einen Stuhl neben ſich. 79 „Ich bin Adelheid Popp,“ ſagte ſie einfach, „ich habe mich ſo an Ihrem Vortrag gefreut und wünſchte nur, unſere Arbeiterinnen hätten ihn hören können. „Das hätte ich auch gewünſcht, — er wäre dann beſſer geweſen,“ antwortete ich. Ihre Augen lachten mich an. „Wiſſen Sie was?!“ rief ſie lebhaft. „Wiederholen Sie ihn in einer Volksverſammlung! Mit freudiger Zuſtimmung ſchlug ich in die dargebotene kleine, warme Hand. „Aber garantieren kann ich nicht, daß es derſelbe Vortrag wird!“ Wir vertieften uns in ein Geſpräch, und ich erfuhr, daß dieſe zierliche Frau eine arme Arbeiterin geweſen war, von dem Augenblick an aber, wo ſie der Sozialismus gewonnen hatte, zu einer begeiſterten Vorkämpferin der Arbeiterbewegung ſich entwickelt habe. Ganz anders war ſie wie unſere deutſchen Frauen: heiter und gutmütig, ohne eine Spur jener ſteifen Zurückhaltung, die daheim all meinem Ent⸗ gegenkommen zu ſpotten ſchien. „Sie ſollen mal ſchauen, was in Wien eine Volksverſammlung heißt! Das Geſpräch der anderen hatte indeſſen da wieder angeknüpft, wo ich den Faden zerriſſen hatte. Ich hörte zu. „Iſt es nicht unerhört für einen praktiſchen Politiker, ſich auf Seite der breslauer Hundertachtundfünfzig zu ſtellen und einen blutleeren Theoretiker wie Kautsky zu verteidigen?!“ rief Brandt, während die dunkeln Brauen ſich ihm eng zuſammenzogen und die Augen dem Gegner zornig entgegenblitzten. „Biſt du vielleicht in deiner gegenteiligen Stellung zur Agrarfrage weniger Theoretiker als er?!“ ſpöttelte Geier. „Die Güter, auf denen du dir die Sporen des 80 Hraktikus verdient haſt, liegen doch auf dem Monde Mit einer entſchuldigenden Gebärde wandte er ſich mir zu. „Verzeihen Sie, wenn wir uns auch in Ihrer Gegenwart noch mit ſo unintereſſanten Dingen beſchäf⸗ tigen — „Sie brauchen ſich vor mir nicht zu entſchuldigen, antwortete ich, „mich haben die Verhandlungen des breslauer Parteitags lebhaft intereſſiert, und da ich leider bis heute noch nicht weiß, auf welcher Seite ich ſtehe, ſo höre ich Debatten wie den Ihren beſonders gerne zu.“ Und nun wogte der Streit wieder hin und her. Brandt verteidigte die von der Mehrheit des breslauer Parteitages abgelehnten Vorſchläge der Agrarkommiſſion, als „notwendige Forderungen der Gegenwartspolitik als ein erfreuliches Zeichen für die wachſende Erkennt⸗ nis, daß eine Partei von der Größe der deutſchen Sozial⸗ demokratie die Intereſſen weiterer Volkskreiſe vertreten müſſe, als nur die der Induſtriearbeiter. „Übrigens, was zanken wir uns, lieber Viktor?“ meinte er ſchließ⸗ lich und warf mit einer hochmütigen Geſte den Kopf zurück. „Du wärſt der Erſte, die Vorſchläge nicht nur zu akzeptieren, ſondern ſelbſt zu machen und gegen alle Welt zu verteidigen, oder — wie Schönlank treffend ſagte — eine Reviſion der Vorſtellungsweiſe in der Partei herbeizuführen, wenn du in die Lage verſetzt würdeſt, Landagitation treiben zu müſſen.. Geier hieb wütend auf den Tiſch, daß die Taſſen klirrten und der Kellner, der verſchlafen an einer Säule lehnte, erſchrocken die Augen aufriß und dienſtfertig die Serviette ſchwenkte. „Da liegt doch gerade der Haſe im Pfeffer: ich vin eben nicht in der Lage und 81 Ihr, trotz Eurer anderthalb Millionen Stimmen auch nicht! Konzentriert doch Eure Werbekraft auf die Mil⸗ lionen Lohnarbeiter, die Euch noch fehlen, und laßt Eure Enkel ſich über die höhere Bauernfängerei den Kopf zerbrechen! Was du praktiſch nennſt, iſt eben un⸗ praktiſch im höchſten Grade. Das Aufrollen dieſer ſchwierigen und gänzlich unaufgeklärten Fragen, — ob die Konzentration des Kapitals in der Landwirtſchaft ſich nach denſelben Geſetzen vollzieht wie in Induſtrie und Handel oder nicht, ob wir daher mit der Prole⸗ tariſierung der Bauern oder mit der Vermehrung der ländlichen Kleinbetriebe zu rechnen haben werden, — all das noch dazu auf einem ſeiner ganzen Zuſammen⸗ ſetzung nach inkompetenten Parteitag, iſt nur geeignet, die Parteigenoſſen zu verwirren. Über theoretiſchem Gezänk, das Ihr Reichsdeutſche ſo liebt, wird ein gut Teil praktiſcher Arbeit zum Teufel gehen — „Und glaubſt du etwa, die Annahme der lenden⸗ lahmen Reſolution Kautsky, die die Agrarfrage doch nicht aus der Welt ſchafft, ſondern ihre Löſung nur auf die lange Bank ſchiebt, wird dies Gezänk ver⸗ hindern? Im Gegenteil! Die Bebel und Schönlank und David werden ſich nicht mundtot machen laſſen, entgegnete Brandt. Geier ſchüttelte ärgerlich den großen Kopf mit den wirren blonden Haaren. „Bebel wird ſich dem Be⸗ ſchluß des Parteitages fugen; — die anderen freilich, geborene Krakehler, getrieben durch den eigentlichen ge⸗ heimen Generalſtabschef des ganzen Feldzuges, Voll⸗ mar, werden die Parteidiſziplin ihrer Rechthaberei opfern.“ Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 6 82 Die Diskuſſion der leidenſchaftlichen Männer fing an, mich zu beunruhigen, — nicht ihrem Inhalt, wohl aber ihrer Form nach. Ich hatte Brandt noch nie ſo erregt geſehen, und etwas wie Furcht befiel mich. Kurz entſchloſſen erhob ich mich. „Verzeihen Sie, wenn mein Weggehen Sie ſtört wie mein Kommen, aber ich bin ſehr müde.“ Alles brach auf, ſichtlich erleichtert. Kalter Regen, mit kleinen ſpitzen Schneeflocken gemiſcht, ſchlug uns ins Geſicht, als wir heraustraten. Menſchenleer war's in den engen Gaſſen. Iſt das wirklich Wien, die Kaiſerſtadt? dachte ich fröſtelnd. Geier und Brandt begleiteten mich; wir verabredeten allerhand für den nächſten Tag. Ich er⸗ zählte von den verſchiedenen Einladungen, die ich be⸗ kommen hatte. „Zu den Protzen werden Sie doch nicht gehen, die nur Staat mit Ihnen machen wollen?!“ Brandts Stimme klang grollend, wie ferner Donner, und ſein Blick ruhte beinahe drohend auf mir. Und doch erſchrak ich nicht; es lag im Ton etwas, das mir das Blut in Wallung brachte, etwas, das klang, wie ein Beſitzergreifen. „Biſt du Frau von Glyzinskis Vormund?“ brummte Geier. „Verzeihen Sie mir meine Heftigkeit —,“ flüſterte Brandt, und im raſchen Wechſel ſeines Mienenſpiels hatte ſeine Stirn ſich wieder geglättet, war ſein Auge wieder klar geworden. Ich ſenkte ſtumm den Kopf. Zögernd, als feſſelten ſie magnetiſche Kräfte, glitten unſere Hände auseinander. Er betrat mit mir das Hotel. „Du — wohnſt auch hier?!“ ſagte Geier über⸗ raſcht. Ich ſchlief nicht in dieſer Racht. Es lag ſchwer 83 und dumpf auf mir, und ich wollte — wollte nicht denken. Wir fuhren am nächſten Morgen zuſammen nach Schönbrunn. Alle Einladungen hatte ich abgelehnt. Graue Spätherbſtſtimmung beherrſchte die Ratur. Die letzten Blätter rieſelten von den Bäumen, ohne daß ein Windhauch ſich regte. Im freien Walde ſind ſelbſt die dunkeln Tage ſchön: des Laubes beraubt, reckt ſich nackt und kraftvoll das ſtarke ſchwarze Geäſt gen Himmel, ein wundervoller Teppich vom hellſten Gelb bis zum tiefſten Rot in halb verblichenen weichen Farben ſpielend, breitet ſich unter ihm aus. Aber die Gärten, die des Menſchen Kunſt geſtaltet, ſtarren uns an wie der Tod. Sie leben nur, wenn im Raſenteppich die bunten Beete blühen, wenn das Laub der geſchnittenen Hecken und der Kugelbäume die armen krummen, um ihr natürliches Wachstum be⸗ trogenen Aſtchen dicht umkleidet, wenn von den Ter⸗ raſſen herunter, aus den Tritonenbecken empor das Waſſer rauſcht und ſpringt, und die Sonne ſich lachend in den Scheiben der Schloßfenſter ſpiegelt. Dann ſpielen, wie große Schmetterlinge, Kinder in hellen Kleidern auf den breiten gelben Kieswegen, ſodaß der Garten voll Freude ſogar der ſchönen Damen in Reifrock und Puderperücke vergißt, die einſt mit dem graziöſen Ge⸗ ſchwätz ihrer roten Lippen und dem luſtigen Klappern ihrer Stöckelſchuhe ſeine Gänge belebten. Heute waren wir allein, zwei graue Geſtalten, zwiſchen blätterloſen Laubengängen und ſchlafenden Fontänen. „Sie ſind ſo blaß,“ ſagte Brandt, „der Heimweg 6* 84 geſtern im Schnee hat Ihnen geſchadet —.“ Ich ſchüttelte den Kopf. „Meine Roheit hat Sie verletzt?“ Ich ſah zu ihm auf, aber das Lächeln, das ich ihm zeigen wollte, erſtarb mir auf den Lippen. So müde, ſo traurig war ſein Blick. In dem meinen blieb er hangen. Es war wie ein Abſchiednehmen. „Ich habe es mir überlegt, ſtunden⸗, nächtelang, kam es tonloe über ſeine Lippen, „ich muß fort von Berlin — mit meiner Fr . . . —,“ er ſtockte, „mit Ro⸗ ſalie —,“ verbeſſerte er ſich haſtig, „bis — bis die Ent⸗ bindung vorüber iſt. Es iſt beſſer, — beſſer für uns alle.“ „Ja,“ ſagte ich, die Kehle ſchnürte ſich mir zuſammen. Dann gingen wir. Wo waren wir doch nur noch an dieſem Tage? Ich entſinne mich nicht. Meine Augen nahmen Bilder auf, von denen meine Seele nichts wußte. Später trafen wir wieder irgendwo in einem Kaffee mit Geier zuſammen. Es kamen noch allerlei Menſchen, die ich an meinem Vortragsabend geſehen hatte, ſie gingen mit kühlem Gruß und vieldeutigem Lächeln an uns vorüber. „Du ſiehſt,“ hörte ich Geier leiſe ſagen, während er mich in die Zeitung vertieft glaubte, „zum mindeſten hätteſt du nicht im ſelben Hotel mit ihr wohnen dürfen. Brandt fuhr auf. Flehend ſah ich zu ihm hinüber. Er ſchwieg. Die Kellner brachten die Abendblätter. „Na, da haben wir's ja,“ rief Geier, nachdem er ſie raſch überflogen hatte, und ſtürzte mit cinem kurzen Gruß davon in ſeine Redaktion. Ich las: „Aus Berlin wird uns ſoeben mitgeteilt: Rachdem ſeit einiger Zeit die politiſche Polizei eine 85 fieberhafte Tätigkeit entwickelte und Hausſuchungen um⸗ faſſender Art bei faſt allen bekannten Mitgliedern der ſozialdemokratiſchen Partei ſtattfanden, bringt der Reichs⸗ und Staatsanzeiger heute folgende Bekanntmachung: „Es wird hiermit zur öffentlichen Kenntnis gebracht, daß nachſtehende Vereine: die ſechs ſozialdemokratiſchen Wahlvereine, die Preßkommiſſion, die Agitationskom⸗ miſſion, die Lokalkommiſſion, der Verein öffentlicher Vertrauensmänner, der Parteivorſtand der ſozialdemo⸗ kratiſchen Partei Deutſchlands auf Grund des § 8 des Verſammlungs⸗ und Vereinsrechts vorläufig geſchloſſen ſind. Kurz vor der Volksverſammlung, in der ich ſprechen ſollte, beſuchte ich Geier in ſeiner Redaktion, engen, halbdunklen Räumen im Souterrain eines alten Hauſes. Von faſt undurchdringlichem Tabaks⸗ qualm war ſein Zimmer gefüllt, das den merkwürdigen Mann, der grundhäßlich war und hinreißend ſchön ſein konnte, der ſtotterte und doch der glänzendſte Redner war, phantaſtiſch umwogte. „Ich habe nur eine kurze Frage an Sie,“ ſagte ich, — nichts war ihm wider⸗ wärtiger, wie überflüſſiges Weibergeſchwätz, — „ich möchte in die Partei eintreten, — was halten Sie davon? Er ſah mich prüfend an, von oben bis unten, ſtrich ſich mit der feinen Hand den wirren rotblonden Schnurr⸗ bart und zuckte die Achſeln. „Bleiben Sie draußen, antwortete er ſchroff, „eine Krokodilshaut gehört dazu, — ich zweifle, daß Sie die haben — „Und wenn ich Sie hätte?)⸗ 86 „Dann, — ja dann tragen Sie wie wir Ihre Knochen auf den Markt der Partei —“ Er reichte mir mit kurzem Kopfnicken die Hand, — ich war entlaſſen. Und wieder ſtand ich auf der Rednertribüne, vor mir ein großer Saal, nüchtern wie eine Scheune, von flackernden Gasflammen er⸗ hellt. Von rechts und links ſtrömten die Menſchen herein: junge und alte Frauen in Kopftüchern und Schürzen, die verfrorenen roten Hände andächtig ge⸗ faltet, Männer in Arbeitsbluſen, tiefen Ernſt auf den durchfurchten Geſichtern. Sie richteten alle die Augen auf mich, ſtaunend, fragend, erwartungsvoll. Kopf an Kopf drängten ſie ſich um die ſchmale, niedrige Stufe, die mich über ſie emporhob. Sie kauerten zu meinen Füßen, eng aneinandergeſchmiegt: ein kleines Fabrikmädchen mit zerzauſtem Blondhaar, ein junger Mann mit den klaſſiſchen Römerzügen des Südtirolers, ein altes Mütterchen, die welke Hand horchend hinter das Ohr gelegt. Und mir war, als wölbe ſich der niedrige Saal zum Dom; als träten die Abgeſandten der Menſchheit durch ſeine hohen weitgeöffneten Pforten. Tiefe, demütige Andacht erfüllte mich. Die Welt, die draußen war, verſank. Denen, die mich umringten, ge⸗ hörte von dieſer Minute an meine Kraft und meine Hoffnung. Daß ich mich ihnen gab: meinen Arm den Schwachen, meine Beredſamkeit den Stummen, meinen an Gipfelwanderungen gewohnten Fuß den Lahmen, und den Blinden mein Auge, das die Befreiung ſah, — das war dieſer Stunde ſtilles Gelöbnis. 87 „Genoſſen und Genoſſinnen —“ Hell und ſcharf, wie ein Schlachtruf, klang meine eigene Stimme mir ins Ohr. Der Jubel der Menge umbrauſte mich, wäh⸗ rend ich weiter ſprach. Das blaſſe Geſicht des kleinen Fabrikmädchens vor mir fing an zu glühen, dem alten Mütterchen rollten die Tränen über die welke Wange und die klaſſiſchen Römerzüge des Tirolers ſtrafften ſich in eiſerner Energie. Als ich geendet hatte, war es ſekundenlang ſtill, — dann eine Beifallsſalve, zahlloſe Händedrücke von ſchwie⸗ ligen Fäuſten, und lauter und lauter anſchwellend der Kriegsgeſang der Arbeitermarſeillaiſe. In ihrem Takt ſchob ſich die Menge hinaus, auf der Straße klang ſie fort, zog mit den Wandernden rechts und links in die nachtſtillen Gaſſen, und auf dem ganzen Heimweg ver⸗ folgte mich ihre Melodie: aufreizend, ſiegesbewußt. Einen Tag ſpäter als Brandt kam ich nach Berlin zurück. Er empfing mich am Bahnhof, bleicher, übernächtiger als je. Wir fuhren zu⸗ ſammen nach der Kleiſtſtraße, wo wir nun ſchon zwei Monate wohnten, er mit ſeiner Familie im Vorder⸗ haus, ich im Gartenhaus, in den zwei kleinen Stübchen. Wir konnten einander an der Mauer mit der Schweizer Landſchaft vorbei in die Fenſter ſehen. Oft, wenn er bei mir geweſen war, tauchte hinter den weißen Vor⸗ hängen drüben ein Schatten auf, der mit geſpenſtiſcher Schnelle ſein Geſicht zu verdunkeln ſchien. Dann erhob er ſich, ſah mich kaum an und verließ das Zimmer. „Roſalie will nicht reiſen, mit mir nicht,“ erzählte 88 er während der Fahrt. „Sie behauptet, meine Rähe ſteigere nur ihr Übelbefinden, deshalb habe ſie ſich entſchloſſen, allein zu gehen und zwar — nach Eng⸗ land.“ „Rach England?“ fragte ich erſtaunt. „In dieſer Jahres⸗ zeit?! Hat ſie Freunde dort? „Riemanden! — Die fixe Idee einer Schwangeren, ſagt der Arzt.“ Ich ſchwieg, auf das tiefſte betroffen. Mir, dem Weibe, ſchien ſonnenklar, was ihre Beweggründe waren. Das Recht der Abweſenden wollte ſie zur Geltung bringen, und ein inſtinktives Gefühl trieb ſie nach Eng⸗ land —, woher ich gekommen war, wo ich, wie ſie meinte, mir an Kenntniſſen und Intereſſen erworben hatte, was ihren Mann an mich feſſelte. Der Wagen hielt. „Ich komme gegen Abend hin⸗ über,“ ſagte ich und verabſchiedete mich haſtig vor der Haustür. Ich mußte allein ſein. Meine Zimmer fand ich mit Blumen geſchmückt, wie zu einem Feſt. „Der Herr Doktor —,“ ſagte die Aufwärterin mit ſüßlichem Lächeln und einem vertraulichen Blick. „Schon gut —,“ unterbrach ich ſie haſtig und warf die Türe hinter mir ins Schloß. Was nun?! Sie durfte nicht fort. Wirklich nicht?! Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. War es Furcht? Oder nicht vielmehr Freude — Freude, die wie ein orkangepeitſchtes Meer alle Dämme überflutete, alles Denken begrub?! Allein — allein mit ihm — tage⸗, wochen⸗, monatelang! Ein ganzes Leben der Entſagung war kein zu teurer Preis dafür! Wenn ſie wiederkam, würde ich gehen, — aus ſeinem Geſichtskreis ſtill ver⸗ 89 ſchwinden, — und zu ihr würde er zurückkehren, — zu ihr — und dem Kinde . . . Es klopfte. „Frau Dr. Brandt läßt gnädige Frau zum Abendbrot bitten —“ „Ich komme — Wir ſaßen um den gedeckten Tiſch: Brandt ſchweig⸗ ſam, mit gerunzelten Brauen, die beiden kleinen Knaben — ſeine Söhne aus ſeiner erſten Ehe — verſchüchtert und ängſtlich von einem zum anderen blickend, ich, eine Unterhaltung mühſam aufrecht erhaltend; ſie allein ſchien luſtig, faſt übermütig, ihre Augen flimmerten, ihre großen weißen Hände, die mir immer vorkamen, als hätten ſie ein eigenes Leben, als wären ſie junge Raubtiere, — bewegten ſich ruhelos, ſtreichend, klopfend, ſich dehnend, um ſich gleich wieder zur Fauſt zu ballen, auf dem Tiſch. Das Mädchen kam und brachte einen Eiskübel mit einer Flaſche Champagner. Brandt ſah mißbilligend auf ſeine Frau. „Wie kannſt du, Roſalie, — in deinem Zuſtand! Sie lachte. „Nur heute, — wo wir ein Feſt miteinander feiern und ihr daſitzt wie Olgötzen und nicht luſtig ſeid, — luſtig wie ich! — Trinkt, Kinder, trinkt, ſo ein Abend kommt nicht ſo leicht wieder!“ Sie ſtürzte das erſte Glas in einem Zug hinunter. Und dann ſprach ſie un⸗ aufhörlich, ſieberhaft. Von der Reiſe, die ſie machen werde, von den Herrlichkeiten, die ſie dafür ſchon ein⸗ gekauft habe — „drei ſeidene Kleider und Hüte dazu, und einen Rohrplattenkoffer für zweihundert Mark, — mach' keine entſetzten Augen, Heinrich; ich weiß ja, du bezahlſt es gern, — ſo gern!“ —, von ihren Träumen. „Ich ſehe immer denſelben Mann, der mir winkt, zu 90 dem ich hin muß,“ — ihre Stimme ſank und ihre Augen weiteten ſich, daß das Weiße unheimlich groß um die dunklen Pupillen ſtand — „und der mir helfen wird.“ „Trinken Sie nicht mehr —,“ bat ich erſchüttert und legte meine Hand auf die ihre, die eiskalt war. Sie ſchüttelte ſie ab wie eine läſtige Fliege. „Sie glauben, ich ſpräche im Rauſch?!“ ſagte ſie. „Sie irren. Ich bin nüchtern, ganz nüchtern, — ich weiß nur mehr als Sie, viel mehr, und — und ich glaube an Träume! „Biſt du denn nicht eiferſüchtig auf deinen Rivalen, zu dem ich reiſe?“ Damit wandte ſie ſich mit einem lauernden Blick aus halb geſchloſſenen Augen an ihren Mann. „Roſalie!“ ſtöhnte er gequält. Raſch ſtand ich auf. Ich konnte die Blicke der Kinder nicht mehr ertragen. „Es iſt ſchon zu ſpät für euch,“ redete ich ſie an und griff nach ihren Händen, „kommt, — ich bring' euch zu Bett.“ Sie lachten dankbar. „Ach, Tante, bring uns doch immer zu Bett!“ flüſterte der Alteſte, als er in den Kiſſen lag, und ſeine melancho⸗ liſchen Zigeuneraugen ſahen mich flehend an. „Und morgen, bitte, bitte, erzähl uns eine Geſchichte,“ fügte der Jüngſte hinzu und richtete ſich im Bett noch ein⸗ mal auf. Indeſſen war es im Wohnzimmer zu einer heftigen Szene gekommen. Roſalie lag ſchluchzend auf dem Diwan. „Er will mich nicht reiſen laſſen, er will mich umbringen, — mich und das Kind,“ ſchrie ſie. „So mäßige dich doch, um Gottes willen!“ beſchwor ſie Brandt 91 mit einem Blick auf die Glastür, hinter der ſich der Schatten des Mädchens hin und her bewegte. Sie achtete nicht auf ihn, ihre Stimme wurde nur noch lauter und heftiger. „Ich halte es nicht mehr aus, — ich mag deine Bevormundung nicht, und deine ſchlechte Laune. Ich laufe davon —“ Und ihr Schluchzen wurde zum Weinkrampf. Der Arzt wurde geholt. „Sie müſſen ihrem Willen nachgeben, wenn Sie nicht das ſchlimmſte riskieren wollen,“ entſchied er ſchließlich. „Natürlich darf ſie nicht ohne Pflegerin reiſen, — ich kann Ihnen eine empfehlen, auch eine gute deutſche Penſion in London.“ Schon am nächſten Morgen kam Roſalie zu mir, um Abſchied zu nehmen. Sie war völlig verwandelt, weich, freundlich, ruhig. Es war faſt ein ſtrahlendes Lächeln, mit dem ſie mir im Weggehen ſagte: „Nun weiß ich gewiß: Alles — Alles wird gut werden.“ Wie unter dem Zwang einer ſtillſchweigenden Ver⸗ abredung ſahen Brandt und ich uns in der nächſten Zeit ſelten und nie allein. Ich aß drüben bei ihm mit den Kindern, nahm ſie mit bei meinen Ausgängen und ſorgte für ſie, ſoviel mir an Zeit dafür übrig blieb. Mit wehmütiger Freude ſah ich, wie ſie täglich mehr an mir hingen und mit all ihren kleinen Wünſchen und Kümmerniſſen zu mir kamen. Weihnachten ſtand vor der Tür. „Einen richtigen Weihnachtsbaum machſt du uns, Tante, nicht wahr?“ bettelte Wölfchen, der Jüngſte. „Im vorigen Jahr war er man ſoo klein.. „Ich möchte am liebſten zur Mutter fahren, — wie ganz früher,“ meinte Hans, der Alteſte, und ſeine Augen ſchimmerten feucht. „Zur Mutter —?!“ ſtaunte ich. 02 „Run ja, du weißt doch, unſere richtige Mutter wohnt weit, weit weg in Wien,“ plauderte Wolf; „ſie iſt immer krank. Aber im Sommer, da dürfen wir ſie beſuchen, wenn ſie in Schruns iſt oder in Kloben⸗ ſtein —“ „Die Roſalie iſt gar nicht mit uns ver⸗ wandt, aber auch gar nicht,“ unterbrach ihn Hans eifrig, und mit einem fragenden Blick auf mich fuhr er zögernd fort: „Unſere Marie ſagt, ſie kommt nicht wieder und — und du bleibſt bei uns?! Ich blieb ihm die Antwort ſchuldig. Jäher Schreck lähmte mir die Zunge. Ich hatte Brandt nach ſeiner erſten Frau nie gefragt, hatte geglaubt, ſie ſei früh geſtorben. Welche Schickſale laſteten auf dem Mann, den ich liebte — täglich verzehrender, ſehnſüchtiger —, und riſſen die jungen Seelen dieſer Kinder in ihren Wirbeltanz?! Zärtlich zog ich die Knaben in meine Arme: „Seid brav, recht brav, daß der Vater ſich an euch freut, dann ſollt ihr einen Weihnachtsbaum haben wie noch nie Mit glühendem Eifer, der mich alles andere vergeſſen ließ, bereitete ich das ſchönſte Feſt des Jahres vor. Freude wollte ich um mich verbreiten, lauter über⸗ ſchwengliche Freude. Mit dem Geld, das ich mir von Brandt für ſeine Kinder erbat, und das er mir ver⸗ wundert gab — er hatte an Weihnachten gar nicht gedacht —, und den Goldſtücken, die mir ein paar Artikel eben eingetragen hatten, kaufte ich einen ganzen Jahr⸗ markt voll Spielzeug; und Pfefferkuchen und Marzipan und Schokolade, dazu Schürzen, Bänder, und ein himmelblaues Kleid für das Dienſtmädchen, das mich mit ihren kleinen blanken Augen immer ſo luſtig an⸗ 93 lachte. Am Morgen des Weihnachtstages ſchloß ich mich im Eßzimmer ein und putzte die große duftende Edeltanne mit lauter blitzendem Kram, mit roten Roſen und bunten Lichtern. Leuchten ſollte ſie wie das leben⸗ dig gewordene Glück. Vielleicht wird ſie ihm ein ein⸗ ziges frohes Lächeln entlocken! dachte ich. Rachmittags mußte ich zuerſt zu den Eltern. Es wurde früh beſchert, weil alle Familienmitglieder bei Onkel Walters geladen waren. Im Salon ſtand wie immer der Baum: farblos, ſchneeweiß, ſehr kühl, ſehr vornehm. Und davor unſere Tiſche, beladen mit Ge⸗ ſchenken. Der Vater hatte ſich einmal wieder nicht ge⸗ nug tun können. Er war in letzter Zeit für mich von einer Güte, die mir wehe tat, weil ich wußte, daß ſie nur einer Täuſchung ihr Daſein verdankte. Meine wiener Volksverſammlungsrede hatte die deutſche Preſſe ignoriert, auch ſonſt mußte es ihm ſcheinen, als zöge ich mich mehr und mehr zurück. Was ich für die Tagespreſſe ſchrieb, — ich fing damals an, auch am „Vorwärts“ gelegentlich mitzuarbeiten —, erſchien ohne meine Unterſchrift; die weſentlich literariſch⸗kritiſchen Artikel in den Wochenblättern hatten meiſt ſeinen Bei⸗ fall. „Ich wollte dir handgreiflich zeigen, wie zufrieden ich mit dir bin“, — damit entſchuldigte er gleichſam die Fülle der Gaben. Daß ich das weiße Kleid und den Spitzenſchal und die ſeidenen Strümpfe und zierlichen Schuhe mit ſolcher Freude empfing, weil ich allein deſſen gedachte, für den ſie mich ſchmücken ſollten, — er ahnte es nicht! Rur die Mutter hatte ſchon hie und da mißtrauiſch nach Brandts Gattin gefragt, wenn ſie ihn allein bei mir traf, und zuweilen war uns die 94 Schweſter begegnet und hatte uns mit vielſagendem Lächeln begrüßt. Der Vater wollte mich durchaus nicht heimgehen laſſen, wollte bei Onkel Walters abſagen: „Wenn ſie meine Tochter nicht haben wollen, ſo mögen ſie auch auf mich verzichten.“ Es koſtete Mühe, ihn umzuſtimmen. „Ich bin ja nicht allein“, ſagte ich ſchließlich — ſehn⸗ ſüchtig dachte ich an die erwartungsvollen Knaben⸗ geſichter, an den ſtillen Abend mit ihm —, „ich muß noch zur Beſcherung im Kinderheim“, dabei wandte ich den Kopf dunkel erglühend zur Seite. Endlich konnt' ich gehen. Und mein bunter, luſtiger Weihnachtsbaum funkelte und ſprühte, ein Fanal der Freude, ein Sonnwendfeuer, ein Gruß an das ſteigende Licht. Der Jubel der Kinder klang durch die Räume. „Du — du Zauberin,“ flüſterte eine tiefe Stimme mir ins Ohr. Still und feierlich, in ihr weiches glitzerndes Schnee⸗ kleid gehüllt, erwachte die Erde am nächſten Morgen. Der Arbeitslärm des Alltags war verſtummt, und Räder⸗ rollen und Menſchenſchritte klangen gedämpft auf dem Winterteppich. Es war Feiertag. Und im Feſtgewand ſtand ich und wartete deſſen, der kommen mußte. Mein Herzblut, das ich bereit war, reſtlos für ihn zu vergießen, hatte es mit roten Rubinen beſtickt, Schnüre, an denen die Tränen meiner Sehnſucht ſchimmernd ge⸗ reiht waren, ſchmückten mir den Nacken, mit Smaragden der Hoffnung waren die ſeidenen Schuhe beſetzt an meinen Füßen, die ihm entgegengingen, und auf meinen Armen, die ihn umfaſſen wollten, funkelten, alle Farben 95 und allen Glanz der Welt in ſich vereinend, die Dia⸗ manten meiner Leidenſchaft. Und er kam, er ſah mich, — und die armen kleinen Liebesworte ſchämten ſich ihrer millionenfachen Entweihung und verſtummten. Richt wie die Tage, die wie Kugeln am Zählbrett gleichgültig rechnend weiter geſchoben werden, waren die jenes ſonnendurchleuchteten Winters. Die Racht gebar einen jeden als Weſen göttlicher Art, ewigen Lebens voll. Hoch über die Erde trugen ſie uns auf ſtarken Flügeln, und mochte drunten rieſenhaft die ſchwarze Geſtalt der Schuld die Arme drohend gegen uns recken, — wir ſahen ſie nicht. — Bis einer kam, der häßlich war und neidiſch, und mit Fauſtſchlägen an der Türe uns weckte aus unſerem erdenfernen Liebes⸗ traum. Wir kehrten vom Wannſee zurück, wo wir unter blauem Himmel auf ſpiegelglattem Eis gemeinſam unſere Kreiſe gezogen hatten. Mit ängſtlichem Geſicht hielt die gute Marie uns einen Brief entgegen. „Rohrpoſt — und Roſaliens Schrift —“ Heinrichs Geſicht entfärbte ſich. „Ich bin in Berlin und erſuche dich, mich vom Hotel aus abzuholen. Unſer Kind ſoll im Vaterhauſe geboren werden,“ ſchrieb ſie. Roch am Abend traf ſie ein. Ich ſah ihren dunklen Schatten hinter den Vorhängen. Ich wußte, was er mir bedeutete: kein Verzichten nach kurzem geſtohlenem Glück, wie ich es einſt geglaubt hatte, ſon⸗ dern Kampf um den Einſatz des ganzen Lebens. Mit dem Recht der Liebe gehörte Heinrich mir. Alles andere „Recht“ iſt nur verſchleiertes Unrecht. Sie verlangte meinen Beſuch. Ich fand ſie im Bett liegend, vollkommen ruhig, während die Pflegerin damit 96 beſchäftigt war, das Zimmer umzuräumen. „In vier⸗ zehn Tagen etwa erwarte ich,“ ſagte ſie nach gemeſſener Begrüßung, „Heinrich iſt natürlich ſehr unglücklich, daß ich ihn jetzt ſchon ausquartiere,“ mit ſpöttiſchem Lächeln ſah ſie zwiſchen uns hin und her. Ich verabſchiedete mich ſo raſch als möglich und nahm mir vor, dieſe Komödie freundſchaftlicher Beſuche nicht weiter zu ſpielen. Daß es jetzt für mich an der Zeit geweſen wäre, zu gehen, fern von Berlin in aller Stille die Entwicklung der Dinge abzuwarten, — das fühlte ich inſtinktiv. Aber die Leidenſchaft, die mich beherrſchte, machte mich taub für die leiſen Stimmen meines Inneren. Ich konnte ja gar nicht fort, beruhigte ich mein Gewiſſen, ich hatte kaum die Mittel, um zu leben, wie viel weniger, um zu reiſen, — ich war gerade jetzt unentbehrlich in Berlin, wo der Konfertionsarbeiterſtreik täglich aus⸗ brechen konnte. Es kamen auch viele einſame Stunden, wo meine Phantaſie böſe Träume ſpann: Ich ſah ein winziges Kinderhändchen von unheimlicher Kraft, das mir den Geliebten entreißen wollte. Rein: ich konnte nicht fort! Er beſuchte mich ſeit Roſaliens Rückkehr nur ſelten. Sie hatte ihr Bett und ihren Stuhl am Fenſter ſo ge⸗ ſtellt, daß ſie zu mir herüberſehen konnte. Auch einen kleinen Spiegel hatte ſie anbringen laſſen, durch den ihr niemand entging, der den Hof betrat. Oft, wenn ich das Haus verließ, um ihn zu treffen, war mir, als verfolge mich dies glänzende runde Ding mit dem bohrenden Auge darin durch alle Straßen. Zuweilen bemerkte ich auch, wie die Pflegerin, eine Johanniter⸗ 97 ſchweſter mit einem ausgemergelten fanatiſchen Asketen⸗ geſicht mir von ferne nachſchlich. Im Traum ſah ich ſie dann auf meinem Bette ſitzen und mit hungrigen Augen die Schrift glutheißer Liebe leſen, die mir im Herzen geſchrieben ſtand. Wir wählten immer andere Orte für unſere Zu⸗ ſammenkunft: kleine Weinſtuben, ſtille Konditoreien, wo es nach ſaurem Wein und altem Kuchen roch und die Kellner die Wiſſenden ſpielten. Es war ſo widerwärtig, daß wir es ſchließlich vorzogen, in Wind und Wetter draußen im Wald zu ſein, wo reine Luft unſere Stirnen kühlte. Einmal führte uns der Weg durch den Wald nach Paulsborn. Dicht lag der Rebel über dem See, ein feiner Regen ſtäubte vom Himmel. Er hatte mit ſeinem Arm ſeinen Mantel auch um mich geſchlungen. „Vergiß mich, Alix, wenn du kannſt,“ ſagte er, „laß den armen Kerl laufen, der allen Unglück bringt, die ihm zu nahe kommen.“ Angſtlich forſchte ich in ſeinen verſchloſſenen Zügen. „Willſt du, daß ich gehe?“ frug ich mit Betonung. Er zog mich feſter an ſich. „Ich müßte es wollen, um deinetwillen! Und doch, wenn ich mir vorſtelle, du täteſt es — lieber brächt' ich dich um! Zärtlich drückte ich meine Wange an ſeine Schulter. „Wenn das der Tod iſt, den ich allein zu fürchten habe, ſo werd' ich ewig leben.“ „Weißt du denn auch, was dir bevorſteht —?“ „Ja, lächelte ich, „dein Weib werde ich ſein, dein glückſeliges Weib!“ „Glaubſt du ſo ſicher, daß ſie in die Scheidung Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 7 98 willigt, daß ſie nicht vielmehr alles tun wird, um dich, um uns zu verderben? Ich dachte ſchaudernd ihrer lauernden Blicke und ihrer Raubtierhände. Aber ich verſcheuchte das Angſt⸗ gefühl, das mich zu unterjochen drohte. „Nur die Trennung von dir wäre mein Verderben, und die erzwingt ſie nicht. Dir werd' ich gehören, auch wenn ich's vor der Welt nicht darf! „Sie werden alle mit Steinen nach dir werfen —“ „Haſt du mich lieb, bin ich unverwundbar —“ Stärker ſtrömte der Regen, dicht über den ſchwarzen Kiefern ſchienen die Wolken zu lagern. Am warmen Ofen im Wirtshaus trockneten unſere Mäntel. An Heimkehr war zunächſt nicht zu denken. O, daß eine Sintflut uns umſchlöſſe wie eine Inſel und kein Schiff den Weg zurückfände in die Welt! „Kaum ein Jahr iſt es her, daß ich Roſalie heiratete,“ begann er nachdenklich, „wie heller Wahnſinn erſcheint mir heute, was ich tat. In zarter Rückſicht haſt du, Gute, nie gefragt und haſt doch ein Recht, mehr von mir zu wiſſen, als daß ich dich liebe. Rach ſechsjähriger Ehe, — Jahren ſteigender Qualen, in denen wir uns immer weiter voneinander entwickelten, — verließ mich meine erſte Frau. Ich hätte es ihr längſt verziehen — ſie litt ja wie ich! —, aber daß ſie die beiden kleinen Kinder im Stiche ließ, das begriff ich nicht, werde es nie begreifen. Im Scheidungsprozeß wurden ſie mir zugeſprochen. Und nun begann ein Leben dauernder Aufregung. Wohl zehnmal am Tage, wenn ich im Redaktionsbureau ſaß, packte mich die Angſt um die Kleinen. Ich ſah ſie von den unzuverläſſigen Wärte⸗ 99 rinnen unbeaufſichtigt gelaſſen, von der Mutter heimlich entführt, und fuhr gehetzt zwiſchen der Wohnung und dem Bureau hin und her. Ständig war ich auf der Suche nach jemandem, dem ich die Kinder anvertrauen konnte. Ich klagte meine Rot einem Freunde. „Ich wüßte eine Dame, mit der Sie das große Los ziehen würden,“ ſagte der, „aber ſie wird eine Stellung kaum annehmen wollen. Sie iſt reicher Leute einziges Kind, iſt aus Liebe zur leidenden Menſchheit Krankenpflegerin geworden, und dabei die ſchönſte Frau der Welt.“ EJä war wie elektriſiert. Er mußte mir Ramen und Adreſfe nennen, und in der nächſten Stunde ſchon war ich bei ihr. Wie ein Geſchenk des Himmels ſchien es mir, daß ſie ohne viel Überlegung ja ſagte. Sie war gut zu meinen Kindern. Ich konnte ruhig arbeiten. Ich fand ein behagliches Zuhauſe, wenn ich heimkam. Daß ſie weder die ſchönſte Frau der Welt, noch reicher Leute Kind war, ſondern irgendwo im Oſten in einer Tage⸗ löhnerkate das Licht der Welt erblickt hatte, war mir eher willkommen, als daß es mich enttäuſcht hätte. Ihre Vorliebe für ſeidene Kleider, auf die ſie all ihren Verdienſt verwandte, mochte das Märchen um ſie ge⸗ ſponnen haben. Ich ließ es geſchehen, daß — daß ſie mich liebte. Ich hatte Jahre und Jahre jede Liebe entbehrt und hielt nun meine Dankbarkeit für Liebe. Rur daran, mich zu feſſeln, dachte ich nicht. Zu ſchwer laſtete die Erinnernng an die Ehe auf mir. Da warf mich ein heftiges Rervenſieber aufs Krankenlager. Und während ich noch matt und elend zu Bette lag, erklärte mir Roſalie, mich noch am ſelben Tage verlaſſen zu wollen, wenn ich ihr nicht die Heirat verſpräche. Ich 7* 100 war empört, aber viel zu ſchwach zu energiſchem Wider⸗ ſtand. Ich dachte an meine Kinder. Sie ging ſchon am nächſten Tage mit unſeren Papieren aufs Standes⸗ amt, um das Aufgebot anzumelden. So wurden wir Mann und Frau —“. Er ſchwieg. „Und trotz alledem wirſt du mich lieb behalten?“ fragte er dann leiſe. „Wenn du mich lieb behältſt nach meiner Beichte,“ antwortete ich und erzählte ihm von meiner Jugendliebe. „Weißt du —“ ſagte ich zum Schluß träumeriſch, wäh⸗ rend ſeine Hand leiſe die meine ſtreichelte, „mein Herz iſt wie die Erde: ohne den Frühling wäre der Sommer mit ſeiner glühenden Sonne und ſeinen voll erblühten Roſen nicht gekommen. Und darum werde ich noch im Winter an ihn denken müſſen.“ Spät kamen wir nach Hauſe. Vor dem Tore ſtand die Johanniterſchweſter. Wie Fledermäuſe flatterten ihre ſchwarzen Haubentücher im Wind. An meiner Tür empfing mich die Aufwärterin mit grinſender Untertänigkeit. „Herr Reinhard iſt da,“ ſagte ſie, „ich wußte nicht, daß gnädige Frau ſo lange fort bleiben würden — bei dem Wetter.“ Ich hörte ſeine Krücke hart und heftig aufſchlagen. „Faſt wäre ich wieder gegangen,“ grollte er, „ich⸗ er legte ſtarken Rachdruck auf dies „ich“ — „ich habe keine Zeit, um Ausflüge zu machen.“ „Verzeihen Sie, daß Sie warten mußten. Hätten Sie mir Ihren Beſuch mit einem Worte angekün⸗ digt - Er lachte beſänftigt. „Schon gut — ſchon gut! Wir wollen uns bei Präliminarien nicht aufhalten. Die Entſcheidung ſteht vor der Tür —, an eine friedliche I0I denke ich, nach der allgemeinen Stimmung zu urteilen, nicht mehr. Werden wir auf Sie rechnen können? „Selbſtverſtändlich. Aber daß Sie gerade jetzt, wo die öffentliche Meinung ſich mehr und mehr auf Seite der Arbeiter ſtellt, wo einflußreiche Kreiſe der Bourgeoiſie öffentlich für ſie eintreten, an einer befriedigenden Lö⸗ ſung verzweifeln, begreife ich nicht.“ „Welch ein Reuling Sie doch ſind!“ Er ſchüttelte verwundert den breiten Kopf. „Weil einigen bürger⸗ lichen Idealiſten all das aufgedeckte Elend an die Tränendrüſen geht, darum, meinen Sie, werden die Unternehmer nachgeben?! Wo der eigene Geldbeutel in Frage kommt, hört die Sentimentalität auf. Immer⸗ hin: wir werden bis zum äußerſten warten, und⸗ ſeine Lippen kräuſelten ſich höhniſch — „hoffen. Bei der miſerablen Organiſation, trotz der Hundearbeit der ganzen letzten Monate, iſt es kein Kinderſpiel, die Ver⸗ antwortung für den Streik auf ſich zu nehmen.“ Er erzählte mir noch von den intimen Verhandlungen mit den Meiſtern der Damenmäntelkonfektion, von der mühſeligen Ausarbeitung eines detaillierten Lohntarifs, von den Plänen für die nächſte Zukunft, und empfahl ſich, nachdem ich ihm nochmals verſprochen hatte, als Rednerin überall zur Stelle zu ſein, wo er mich würde brauchen können. Mein Gewiſſen ſchlug. Über dem eigenen Schickſal war ich nahe daran geweſen, das Ge⸗ ſchick der Hunderttauſende zu vergeſſen. Schon waren Schriften aller Art erſchienen, die das Leben der Kon⸗ fektionsarbeiter malten, wie ich es oft genug geſehen hatte. Warum war keine von mir? Und in den Ver⸗ ſammlungen der bürgerlichen Frauenvereine wurde plötz⸗ 102 lich entdeckt, daß die Rot der Arbeiterin größer war als die höherer Töchter, in der Ethiſchen Geſellſchaft wurden die Mittel zu ihrer Abhilfe lebhaft debattiert. Und ich allein ſchwieg! Von nun an fehlte ich nirgends mehr. Und ich fühlte: je weiter ich mich von mir ſelbſt entfernte, deſto ſtärker wurde ich. In einer Reihe großer Verſamm⸗ lungen wurden die Forderungen der Konfektionsarbeiter noch einmal klargelegt, ihre Lage beleuchtet, der ſie Ab⸗ hilfe ſchaffen ſollten. Ich war in den Feenſaal gegangen, wo Martha Bartels ſprach. Kaum, daß ich noch Ein⸗ laß fand, denn auf der Straße ſchon ſtauten ſich die Menſchen. So viel Armut war wohl noch nie aus ihren dunklen Höhlen hervorgekrochen. Und noch nie hatten ſich ſo viel elegante Frauen in ihrer nächſten Rähe befunden. In dem tief eingewurzelten Gefühl, das noch immer hinter dem ſchönſten Kleid die größte Reſpektsperſon vermutet, drängten ſich die Armen ſchüchtern an den Wänden entlang. Alte Frauen mit müden, rot ge⸗ ränderten Augen ſtanden auf, um ſeidenrauſchenden Damen Platz zu machen. Keinen Blick des Reides ſah ich, keinen des Haſſes. Als Martha Bartels ſprach, ſchlicht, faſt nüchtern, und ihnen die Geſchichte ihres eigenen Leides erzählte, da weinten viele. Aber es waren nicht die fruchtbaren Tränen der Erkenntnis, unter deren heißer Flut die Kraft des Widerſtandes ge⸗ deiht, es waren die Tränen der Verzweiflung, die arm⸗ ſeligen Tropfen, die in den Kirchen fließen, wenn der Hfarrer von der Kanzel die Ergebenheit in Gottes Willen predigt. Zorn und Leid ſtritten in mir: Zorn, 103 — daß Armut und Religion die Menſchheit ſo um ihre Würde hatten betrügen können, Leid, — daß von dieſer Menſchen Kampfesluſt und Ausdauer Sieg oder Nieder⸗ lage abhängen würde. Beim Ausgang traf ich meine Mutter. Mit einer Anzahl bekannter Damen hatte ſie der Verſammlung beigewohnt. Sie waren alle erfüllt von dem Gehörten. Die Ruhe der Rednerin und der Zuhörer hatte den Eindruck nur verſtärkt. In weiteſten Kreiſen, von den Rationalſozialen bis in die Reihen der Konſervativen hinein, ſchien das Intereſſe für die Heimarbeiter rege zu ſein. Meine Mutter war voll Eifer; ich hatte ſie um einer ſolchen Sache willen nie ſo erregt, ſo lebhaft geſehen. Sie zwang mich förmlich, an einer Zuſammenkunft teilzu⸗ nehmen, die am nächſten Tage bei einem bekannten ber⸗ liner Geiſtlichen ſtattfinden ſollte. Ich holte ſie ab, um mit ihr hinzugehen, und fand ſelbſt meinen Vater voller Teilnahme. „Da iſt dein Platz, da kannſt du was leiſten,“ ſagte er, mir die Hand ſchüttelnd, „da findeſt du uns alle an deiner Seite, wenn es gilt, den jüdiſchen Konfektionären, dieſen Menſchenſchindern und Ausbeutern, das Handwerk zu legen.“ Eine ähnliche Stimmung beherrſchte die Sitzung, wenn auch der Wunſch nach einer friedlichen Löſung des Konflikts und die beſtimmte Hoffnung auf ſeine Erfüllung von dem Einberufer ſehr betont wurde. Er berichtete von dem Komitee, das ſich kürzlich auf Anregung der Ethiſchen Geſellſchaft gebildet hatte, um zwiſchen den Arbeitern und den Unternehmern eine Ver⸗ ſtändigung anzubahnen. Männer und Frauen der ver⸗ 104 ſchiedenſten Parteirichtungen, deren Ramen in der Öffent⸗ lichkeit einen guten Klang hatten, gehörten ihm an. Man beſchloß, ſich ihm gleichfalls anzuſchließen. „Kommt es trotz alledem zum Streik, ſo ſchaffen wir eine Hilfs⸗ kaſſe,“ rief eine lebhafte kleine Dame, deren Energie beim Durchſetzen ihrer Pläne ſie bekannt gemacht hatte. Man ſtimmte ihr ohne weiteres zu. „Wir müſſen alle Geſchäfte boykottieren, die die Forderungen der Arbeiter nicht bewilligen,“ erklärte eine andere, und man über⸗ bot ſich in ſteigender Erhitzung in Vorſchlägen zugunſten der Sache. Ich erinnerte mich im ſtillen des Streiks der weſtphäliſchen Bergarbeiter. Auch damals ſprach ſich die öffentliche Meinung, ſoweit ſie mir zu Ohren kam, zugunſten der Kämpfenden aus, aber ſie tatkräftig zu unterſtützen, daran wagte noch niemand zu denken. Alſo doch ein Fortſchritt?! Mein Optimismus regte ſich wieder. Ich berichtete Reinhard von dem Erlebten. „Halten Sie die Leute vor allen Dingen bei ihrem Unterſtützungs⸗ verſprechen feſt. Alles andere iſt Mumpitz,“ ſagte er. Und ich lief von einem zum anderen, und ließ mir, wo es irgend anging, ſchriftliche Zuſicherungen geben. In⸗ zwiſchen arbeiteten im ſtillen auch die Vermittler, und zu gleicher Zeit ſah ich Martha Bartels und ihre Ge⸗ fährtinnen, wie ſie unermüdlich nach ihrer eigenen Arbeit treppauf, treppab ſtiegen, um die Begeiſterung für den Kampf anzufachen, der ihnen nicht nur unaus⸗ bleiblich, ſondern erwünſcht war. Sie ſchimpften laut und leiſe über das Zögern und Warten der Fünfer⸗ kommiſſion: „Wir pfeifen auf alle Verſöhnungsduſelei, bei der wir doch nur den kürzeren ziehen. Wir wollen I05 eine ehrliche Entſcheidung auf dem Schlachtfeld.“ Die Ereigniſſe ſchienen ihnen recht zu geben. Am Abend des Kaiſergeburtstages kam ich durch die menſchenwimmelnde Friedrichsſtadt. Rüchtern wie immer glänzten die Tauſende elektriſcher Birnen an den Geſchäftshäuſern, verſchlangen ſich zur Kaiſerkrone, zum W. II, und nirgends zeigten ſich Spuren einer von Liebe befruchteten Phantaſie, die neue perſönlichere Hul⸗ digungen hätte ſchaffen können. Irrte ich mich, oder waren die Faſſaden der großen Konfektionshäuſer ſogar um einen Schein dunkler als ſonſt? Das Kaiſertelegramm an den Burenpräſidenten Krüger ſchien, ſo hieß es, den Abſatz deutſcher Waren nach England lahmzulegen. Und während Alldeutſche und Antiſemiten jubelten, ballten die Unternehmer die Fäuſte im Sack. Die Verſammlung, in die ich kam, bot ein anderes Bild als die letzte: es war vor allem eine der Männer. Und die Arbeiterinnen, die erſchienen waren, gehörten zu den beſſer Bezahlten, zu den Aufgeklärteren, den Selbſtbewußten. Etwas wie Siegeszuverſicht ſchien ſie zu beherrſchen. Sie wieſen mit Fingern auf die Herren im Gehrock und Zylinder, ſie tuſchelten einander die Ramen der Chefs und Zwiſchenmeiſter zu, die der Ein⸗ ladung der Arbeiterkommiſſion heute gefolgt waren, ſie warfen hochmütig den Kopf zurück, wenn einer von ihnen eine vertrauliche Begrüßung zu wagen verſuchte. Reinhard fprach. Er erläuterte die Forderungen der Arbeiter. Seinem Temperament tat er ſichtlich Gewalt an. Eiſige Ruhe begleitete während der erſten Viertel⸗ ſtunde ſeine Rede. Dann unterbrach ihn eine gröhlende Stimme: „Bezahlter Agitator —“, das war das Signal 106 für die anderen. Kein Satz blieb ohne Zwiſchenruf. Je dunkler die Flecken auf Reinhards Backenknochen ſich röteten, je mehr die ſtraffen Haarſträhnen ihm an den feuchten Schläfen klebten, und je heftiger die knochigen Hände ihm zitterten, deſto lauter, roher, unflätiger wurde das Gebrüll der Zuhörer. Er ſprach ruhig weiter — von den elenden Löhnen der Frauen, von ihrer ſittlichen Gefährdung. „Sei man ſtille, Quaſſel⸗ kopp,“ ſchrie dicht neben mir ein dicker Kerl, mit Brillant⸗ ringen auf den roten Wurſtfingern, „die Mächens wiſſen ſchon, wofür wir jut zahlen.“ Alles lachte. „Frag mal, von wo die Kleene da ihren ſüßen, roten Lockenkopp hat,“ rief ein anderer. „Von de ſittliche Jefährdung, brüllte aus dem Hintergrund eine ölige Stimme. Es war kein Halten mehr. Man überbot ſich in zyniſchen Witzen. Und die Frauen, die vorhin ſo kampfbereit, ſo unnahbar ſchienen? Sie kicherten in ihre Taſchentücher, einige lachten kokett die ärgſten Zotenreißer an. Rein⸗ hard ſchwieg erſchöpft. Die Diskuſſion war von der allgemeinen Ulkſtimmung beherrſcht. Rur zuletzt, als es zur Abſtimmung gehen ſollte, erhob ſich einer der Meiſter, um eine Programmrede zu halten. Er ſprach vom Mittelſtand, „dem ſittlich geſunden Kern des Volkes, der wahre Religion und echtes deutſches Familienleben pflegt und hochhält,“ und den „die Sozialdemokratie in ihrer Reſpektloſigkeit angeſichts der heiligſten Güter der Ration“ vernichten wolle. „Auch dieſer uns angedrohte Kampf iſt nichts anderes als ein Vorſtoß der Umſturz⸗ partei gegen die Staatsordnung, und zum Kanonen⸗ futter laſſen die Dummen unter den Arbeitern ſich ge⸗ brauchen. Wir aber ſtehen wie ein Fels im Meer;“ — 107 unter dem Bravogeſchrei der Zuhörer warf er ſich ſtolz in die Bruſt und bewegte pathetiſch die Arme. „Wir ſagen nein und abermals nein und wiſſen, daß wir trotz dem Geſchrei der Gegner, trotz Streikdrohung, immer noch ſo viel Arbeiter kriegen, als wir brauchen, — und wenn wir ſie von den Hottentotten nehmen ſollten.“ Am Ausgang erwartete ich Reinhard. Ich ſah, wie Martha Bartels, von einer Schar lebhaft geſtikulieren⸗ der Frauen umgeben, erregt auf ihn einſprach. „Es iſt kein Halten mehr,“ ſagte er im Rähertreten. „Run iſt's aber auch höchſte Zeit,“ rief ich, noch heiß vor Entrüſtung. „Wir müſſen das Eiſen ſchmieden, ſolange es warm iſt, — in allen Kreiſen findet der Streik Unterſtützung.“ „Sachte, ſachte, liebe Genoſſin,“ wehrte er ab. „Im Augenblick ſind uns ſtärkere Knüppel zwiſchen die Beine geworfen worden, als Ihre hilfs⸗ bereiten Damen aufheben können. Wenn England die deutſche Konfektion boykottiert, ſo können wir einpacken.“ Der Termin für die Antwort der Unternehmer wurde abermals herausgeſchoben. In den Arbeiterkreiſen be⸗ gann es bedenklich zu gären; es gab Leute, die ſchon von Intrigen, Schmiergeldern und offenem Verrat munkelten. In Hamburg, in Erfurt, in Stettin, in Breslau brach der Streik aus, — in Berlin zögerte man noch immer, ſcheinbar um dem Vermittelungskomitee Zeit für ſeine Verhandlungen zu gewähren, in Wirk⸗ lichkeit aber, um die Entwickelung der Dinge in Eng⸗ land abzuwarten. Man glaubte an einen Krieg, zum mindeſten an einen wirtſchaftlichen. Endlich liefen, ſo zahlreich wie ſonſt, bei den großen Konfektionären die 108 Beſtellungen ein; und in einer Verſammlung der Ethiſchen Geſellſchaft wurde, zugleich mit einer rückhaltloſen Sym⸗ pathieerklärung an die kämpfende Arbeiterſchaft, das völlige Scheitern der Einigungsverſuche mitgeteilt. Im Bureauder Schneider⸗Gewerkſchaft trat die Arbeiter⸗ kommiſſion zuſammen. Es war wie im Hauptquartier eines Krieges. Wir empfingen die Streikerklärung als unſere Parole und unſeren Marſchbefehl. In rieſigen Plakaten wurde die Bevölkerung am nächſten Morgen zu den Verſammlungen eingeladen, mein Rame ſtand unter denen der vierzehn Referenten. Ich ſaß mit meiner Rede beſchäftigt am Schreibtiſch, als es draußen zweimal heftig klingelte. Der Vater! — „Dein Rame ſteht auf den Litfaßſäulen unter lauter Sozialdemokraten,“ brauſte er mich an. „Du biſt auf der Seite der Streikenden, wie ich weiß, du ſelbſt haſt mich ermuntert.“ Er ließ mich nicht ausreden. „Richt um ein ungeſetzliches Vorgehen zu unterſtützen, — du mußt deinen Ramen augenblicklich zurückziehen —“. Er ſtierte mich an mit dem wilden Blick, den ich ſo fürchtete. Ich lehnte mich zitternd an den Schreibtiſch. „Fahnenflüchtig?! Rein! Wär' ich's, du würdeſt dich bei ruhiger Überlegung meiner ſchämen müſſen.“ Er umklammerte mein Handgelenk. „Soll ich mein Kind verlieren?“ ſtieß er hervor, ſein Atem keuchte, die Augen traten aus den Höhlen. „Ich kann mein Wort nicht brechen, — auch mir ſelbſt gegenüber nicht,“ flüſterte ich. Ein Ruck ging durch ſeinen Körper, meine Hand ſtieß er von ſich, faßte ſich ein paarmal mit den Fingern an den Kragen, als würde er ihm zu eng, und ſchritt feſten Schrittes, wort⸗ 109 los, der Türe zu. Ich hörte ſie zufallen, — eine zweite knarrend ſich öffnen, — heftig ins Schloß zurückſchlagen; ich lief ans Fenſter: ein alter Mann ging über den Hof, ſehr langſam, tief gebückt, ſchwer auf den Stock ſich ſtützend. O, daß er nur ein einziges Mal den Kopf noch wenden möchte, — aber der ſtarre Racken bewegte ſich nicht. Schluchzend brach ich zuſammen. „Alix!“ Heinrichs entſetzter Ruf brachte mich wieder zu mir. Er hatte den Vater fortgehen ſehen und war, alle Vorſicht vergeſſend, zu mir geeilt. „Wirſt du heut abend ſprechen können?!“ „Gewiß, — nun bin ich ja ganz — ganz frei!“ Die Tränen waren verſiegt, mir war, als läge mein Herz zu Eis erſtarrt in meiner Bruſt. Selbſt der Geliebte kam mir plötzlich fern und fremd vor. Für die Kriegserklärung, die ich heute abzugeben hatte, war es die rechte Vorbereitung: kein weiches Gefühl konnte mich überwältigen, eiſerne Entſchloſſenheit beherrſchte mich. Zu einer Rieſenkraft wollte ich die ſchwarze Menſchenmaſſe vor mir zuſammen⸗ ſchweißen, von einem unbeugſamen Willen beſeelt. Und ich richtete die Paläſte der Unternehmer vor ihren Augen auf, die ihre Arbeit gebaut hatte, und wies auf ihre üppigen Tafeln, die ihr Hunger deckte. Ich zeigte ihnen die ſeidenen Kleider ihrer Frauen und ihrer Mä⸗ treſſen, an denen der Schweiß der Arbeiterinnen klebte, und ihre Edelſteine, in denen das Augenlicht derer ge⸗ fangen war, die es in nächtlicher Arbeit verloren hatten. Ich fühlte: ſchon war die Luft erfüllt vor unſichtbarem 110 Sprengſtoff. Und nun ſprach ich von der kommenden Schlacht, die nichts ſei als ein Teil des großen Krieges zwiſchen unverſchuldeter Armut und ſchuldbeladenem Reichtum; ſprach von alledem, was der Preis ihres Mutes, ihrer Ausdauer ſein würde, und doch nur dar⸗ um von unſchätzbarem Werte ſei, weil es ſie geiſtig und körperlich fähig mache, den Menſchheitsfeldzug bis zu Ende zu führen. „Eure Sache iſt die Sache der ganzen Arbeiterſchaft. Jede Schwäche von euch iſt ein Verrat an ihr . . . „Eine demagogiſche Hetzrede,“ ſagte jemand, als ich die Tribüne verließ. „Prachtvoll“ — verſicherte mir ein ſozial⸗ demokratiſcher Reichstagsabgeordneter händeſchüttelnd. Ich ſah fragend um mich: erſtaunte, bewundernde, auch tränenfeuchte Blicke begegneten den meinen, aber vom Fieberfanatismus der Kriegsluſt bemerkte ich nichts. Verſtändnisloſe Verlegenheit lag zum Teil auf den ab⸗ gehärmten Zügen der Frauen. „Was hat ſie gemeint? hörte ich flüſtern. „Was ſollen wir tun?“ „Und wie gerade die Damenmäntel dann bezahlt werden, ſagte ſie nicht“ — „ob wir gleich in die Betriebswerkſtätten kommen?“ — Mir ſank der Mut. Heinrichs Lob — er hatte ſich's nicht nehmen laſſen, mich zu begleiten — ſchien mir von Mitleid diktiert. Zu Hauſe fiel ich ſofort in den Schlaf der Er⸗ ſchöpfung. Mitten in der Racht fuhr ich entſetzt aus dem Traum; irgendein langgezogener Ton weckte mich. Ich ſprang aus dem Bett. Aus den Fenſtern drüben drang helles Licht. Die Schatten vieler Menſchen be⸗ wegten ſich haſtig hin und her. Gellende Schreie klangen über den Hof. III Jetzt — jetzt wand ſich das unglückſelige Weib, das ich betrogen hatte, in gräßlichen Schmerzen, — und das Kind — meines Geliebten Kind! — kam zur Welt. Kalter Schweiß trat auf meine Stirne. Das flackernde Licht von drüben malte geſpenſtiſche Geſtalten in mein Zimmer. Ein großes Ungeheures beugte ſich über mich, die zuſammengekauert, froſtgeſchüttelt am Fenſter hockte. Es griff mir in den Racken mit ſpitzen Krallen, es wuchs — wuchs, erfüllte den ganzen Raum — die Wohnung — das Haus — die Welt. „Ich bin die Schuld — deine Schuld!“ gellte es in meinen Ohren mit dem letzten Schrei des Weibes drüben . . . Es ſteht gut — Mutter und Kind ſind wohl⸗ Heinrich ſtand vor mir, leichenblaß; „aber du —“ er ſah mich erſchrocken an, wie eine ſchwere Krankheit lag die Racht hinter mir, — „wenn du jetzt ſchon zuſammenbrichſt, wo das Schwerſte be⸗ vorſteht!“ „Rachdem ich das überſtanden, gibt es nichts Schwe⸗ reres Ich war in der nächſten Zeit faſt nie zu Hauſe. Wenn ich früh erwachte, müde, als hätte ich kein Auge zugetan, ſo ſchien mir's, als ſtünde jenes große Ungeheure hinter mir, vor dem ich unauf⸗ hörlich die Flucht ergreifen mußte. Nur wenn ich draußen war, fern dem Bannkreis dieſes Hauſes, wenn die Rot der anderen, die der Streik aufdeckte und gebar, ſich zwiſchen mich ſchob und meine Schuld, atmete ich freier. I12 Ich ſaß auf der Reichstagstribüne, als die na⸗ tionalliberale Interpellation, die Lage der Kon⸗ fektionsarbeiterinnen betreffend, zur Verhand⸗ lung kam und alle bürgerlichen Parteien ihr arbeiter⸗ freundliches Herz entdeckt zu haben ſchienen. Was noch kein preußiſcher Miniſter zu denken gewagt hatte — daß eine Arbeitseinſtellung berechtigt ſein kann —, das erklärte Herr von Berlepſch ⸗vor der deutſchen Volks⸗ vertretung angeſichts dieſes Streiks. Kein Zweifel: der Rieſenkampf, den die Armſten der Armen kämpften, wird kein vergeblicher ſein, eine neue Ara ſozialer Reformen bricht an. Und dem Verdikt des Reichstags werden die Unternehmer ſich beugen müſſen. Ich verſtand nicht, warum der Redner der ſozialdemokratiſchen Fraktion ſich angeſichts dieſer Kundgebungen ſo ſkeptiſch äußern konnte. Im ganzen Reich wurde für die Streikenden ge⸗ ſammelt. Reben den Bureaus der Streikkommiſſion, in denen Streikkarten ausgeſtellt und Unterſtützungs⸗ gelder gezahlt wurden, richteten bürgerliche Vereine Hilfsſtellen ein, wo Rahrungsmittel und Kleidungsſtücke zur Verteilung kamen. Stolz, oft übermütig in ihrer Hoffnungsfreudigkeit ſtellten ſich in den erſten Tagen die Streikenden ein. Von Unterſtützung wollten ſie nichts wiſſen, nur ihre Karten ließen ſie ſich geben. „Wir halten aus,“ ſagte ein junges, bleichſüchtiges Mädel, und ihre Augen blitzten dabei. „Die Unter⸗ nehmer haben uns für ſich hungern laſſen, nun hungern wir mal für uns ſelber —“ und, ein Liedchen träl⸗ lernd, war ſie wieder draußen. Selbſt auf den Ge⸗ I13 ſichtern alter müder Frauen lag ein ſtilles Leuchten. Ein halbwüchſiger Bengel, der in Begleitung ſeiner Mutter kam, verkündete triumphierend: „Wir arbeeten jetzt for drei, damit Muttern feiern kann,“ und lächelnd ſtreichelten ihre zerſtochenen Finger ſeine Wange: „Ru kommen ooch janz andere Zeiten!“ Oft ſtanden die engen Bureauräume gedrängt voll Wartender. Dann flogen Witze hin und her; vom „Meeſter“ erzählten ſie einander, der mit der „Ollen“ händeringend in der leeren Bude ſtand. „Roch janz anders ſoll die Geſellſchaft winſeln! Laßt man erſt acht Tage ins Land jehen, denn werden ſie zu uns bitten kommen,“ rief ein krummbeiniges Schneiderlein. „Wir werden ihr Mores lehren, der Raſſelbande!“ fügte zähneknirſchend ein anderer hinzu. Allmählich änderte ſich das Bild: Blaſſe Frauen, die unſicher und ängſtlich blickten, mit Kindern auf den Armen und an der Schürze, drängten ſich um die Zahl⸗ ſtellen; das morgens angehäufte Geld, das mir uner⸗ ſchöpflich ſchien, war jeden Abend wieder ausgegeben. Auch Männer kamen, Familienväter, mit zuſammenge⸗ preßten Lippen. Die Witze verſtummten. Finſtere Ent⸗ ſchloſſenheit lag in dem Schweigen der Wartenden. Aber immer noch traten welche an den Tiſch, die nichts verlangten, als die Ausfüllung ihrer Streikkarten. Auch Frauen waren unter ihnen. Eingeſunkene Wangen, trockene Lippen, fiebrige Augen ſprachen vom Heldenmut der Hungernden. Verlegen ſchob ſich wohl auch ein junges Mädel durch die Türe und ſtreckte die Hand nach dem Gelde aus. „Schämſt du dir nicht!“ ſchrie einer einmal eine hübſche Brünette an, mit Roſen Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 8 I14 auf dem kecken Filzhut, und riß ſie unſanft zurück, „hat noch ſo'n Deckel auf'n Kopp und Glacénene an die Finger und will den ollen Weibern das Brot nehmen?! Kam aber gar ein kräftiger Mann, ſo hagelte es em⸗ pörte Schimpfworte: ein Verräter, wer in ſeinem Opfer⸗ mut nicht bis zum Außerſten ging. Und dann kamen die Tage, wo ſie in dichtgedrängten Scharen bis auf die Straße hinunterſtanden, und keiner mehr war, den der Hunger nicht bezwungen hätte. Viele ſchämten ſich, daß ſie unterlegen waren; ſie wagten kaum den Kopf zu heben, wenn ſie vor den Zahltiſch traten. Zuſammengeſunken erſchienen andere vor Mutloſigkeit. „Erreichen wir's?“ flüſterte fragend der eine, „geben ſie endlich nach?!“ der andere. Tränenumflorte Augen richteten die Frauen auf uns, ſcheue Blicke voll Zweifel und Mißtrauen die Männer. Und nichts als Schweigen, als Achſelzucken konnte die Antwort ſein. Die Kaſſen füllten ſich langſamer; der aus rührſeliger Sentimen⸗ talität entſtandene Enthuſiasmus bürgerlicher Kreiſe ver⸗ puffte wie ein Feuerwerk. Die Unternehmer hielten aus; ſie hatten noch immer genug zu eſſen. Und die Opfer⸗ willigkeit der deutſchen Arbeiterſchaft für die kämpfenden Brüder hatte ihre äußerſte Grenze erreicht. Ich ſah Reinhard nur flüchtig. Die hektiſche Röte wich nicht mehr von ſeinen Backenknochen. Er hatte keine ruhige Minute. „Wir ſind am Ende,“ ſagte er mir mit rauher Stimme, als wir uns in einem der Streikbureaus wieder begegneten. Es traf mich wie ein Peitſchen⸗ ſchlag. Was hatte ich damals denen, die ich zum Streik aufrief, als ſicheren Lohn ihres Ausharrens in 115 Ausſicht geſtellt! Würden ſie mir jemals wieder ver⸗ trauen können?! „Die Forderung der Betriebswerk⸗ ſtätten werden wir fallen laſſen müſſen —.“ „Gerade das?! Die Hauptſache!“ rief ich. „Das einzige Mittel vielleicht, um dem Elend der Heimarbeit, um der Aus⸗ beutung der Zwiſchenmeiſter ein Ende zu machen!“ — „Gerade das. Wir wollen froh ſein, wenn ſich der Lohntarif durchſetzen läßt und der Reichstag ſein Ver⸗ ſprechen einer durchgreifenden Geſetzgebung einlöſt. Schweren Herzens kam ich an jenem Tag in das Bureau. Es war überfüllt, und lautes Stimmengewirr drang mir entgegen. „Die Führer verraten uns!“ rief einer. „Wir können hungern, und ſie ſtopfen ſich die Taſchen —,“ brüllte ein anderer. Ein paar keifende Weiber hieben mit Fäuſten auf den Zahltiſch: „Be⸗ trüger ſeid Ihr, — Ausbeuter, — ſchlimmer als die Meiſter,“ ſchrien ſie den Dahinterſtehenden ins Geſicht, die das Geld abzählten. „Wir haben nichts mehr — flüſterte einer der Gewerkſchaftsbeamten mir haſtig zu, „— es war ein Anſturm ohnegleichen.“ Ich lief die Treppe wieder hinab, ſprang in die nächſte vorüber⸗ fahrende Droſchke und fuhr zur Zentralſtelle der Ethiſchen Geſellſchaft. Heute, ſo hatte man mir mitgeteilt, ſei eine beträchtliche Summe eingelaufen. Ich ließ mir geben, was zur Verfügung ſtand, — es war auch nur ein Tautropfen, der im Augenblick in der durſtenden Erde verſchwinden würde, — und fuhr zurück, ſo raſch der arme Schimmel laufen konnte. Vor dem Bureau ſtauten ſich die Menſchen. Ein paar Poliziſten hielten mühſam die Straße frei. Ich ſprang aus dem Wagen und verſuchte mich vorzudrängen. „Wat, ſo eene biſte, 8* I16 daß de erſter Jüte fährſt?“ ſchrie mich eine rohe Stimme an, und eine Fauſt ſtieß mich in den Rücken. Ein paar Burſche, die nach Fuſel rochen und mit den Konfektions⸗ arbeitern ſichtlich nicht das Geringſte zu tun hatten, überſchütteten mich mit unflätigen Redensarten. Ich verſuchte, mir mit ein paar Ellbogenſtößen freie Bahn zu ſchaffen, während meine Hände die Geldtaſche angſt⸗ voll umklammerten. „So loof doch, loof — wir werden dir Beene machen,“ gröhlten ſie und ich fühlte ihre Fäuſte wieder auf meinem Rücken. Ich ſchrie laut auf. Im Augenblick war ich von bekannten Geſichtern um⸗ geben, ich hörte noch ein paar Ohrfeigen rechts und links und war halb getragen, halb geſchoben im Zimmer. Am Abend war auch das letzte Geld verteilt. In dieſem Augenblick der Rot kam es zu einer über⸗ raſchenden Wendung: ein Teil der Zwiſchenmeiſter, em⸗ pört darüber, daß die Unternehmer ihnen alle Schuld an den ſchlechten Löhnen zuzuſchieben ſuchten, machten gemeinſame Sache mit den Arbeitern, und die Fabri⸗ kanten, die nunmehr ernſtlich in Gefahr ſtanden, die Einnahmen der Saiſon zu verlieren, die aber anderer⸗ ſeits auch genug von der Lage der Dinge unterrichtet waren, um zu wiſſen, daß die Streikenden das Ende ihrer Widerſtandskraft erreicht hatten, riefen offiziell die Vermittlung des Gewerbegerichts an. Die Fünferkom⸗ miſſion der Arbeiter, davon in Kenntnis geſetzt, zögerte nicht, auch ihrerſeits mit dem Einigungsamt in Ver⸗ bindung zu treten. Im Bürgerſaal des berliner Rat⸗ hauſes, vor einem vielhundertköpfigen Publikum, kam es zur Verhandlung und zur endlichen Unterzeichnung eines Vertrags, deſſen wichtigſte Bedingungen die Er⸗ 117 höhung der Löhne und die Gegenſeitigkeitsverpflichtungen in bezug auf die Durchführung der Lohntarife waren. Von den Betriebswerkſtätten war gar keine Rede mehr. Die Streikleitung berief die Referenten zu einer neuen Sitzung. In öffentlichen Verſammlungen ſollten wir das Ende des Streiks verkünden. Ich verſuchte, mich frei zu machen. „Wir haben Ihr Wort, Genoſſin Gly⸗ zcinski,“ ſagte einer der Führer mit ſcharfer Betonung. „Wie kann ich dieſen Ausgang als einen Sieg vertei⸗ digen,“ wandte ich ein. „Darüber mögen Sie denken, was Sie wollen,“ entgegnete Martha Bartels heftig, „hier haben Sie einfach Ihre Pflicht zu tun, wie wir alle.“ Flüchtig fuhr mir durch den Kopf, daß ich aus meiner Welt dem Zwang der Pflicht entflohen war, um meiner Überzeugung zu folgen, aber ich fühlte mich viel zu müde, um jetzt darüber nachzudenken. Ich fügte mich ſtillſchweigend. Als eine Wohltat ſah ich es an, daß ich wenigſtens nicht in demſelben Saal, vor denſelben Menſchen ſprechen mußte. Weit in den Oſten, in die Andreasſtraße, ſchickte man mich. „Sie werden keinen leichten Stand haben,“ ſagte Reinhard beim Weggehen, „es iſt das Hauptquartier der Anarchiſten.“ Heinrich Brandt begleitete mich auf dem Wege zur Verſammlung. Wir hatten uns in der Zwiſchenzeit nur immer auf Minuten geſehen. Erſt jetzt, wo Roſalie ſchon ſeit einigen Tagen aufgeſtanden war, ſchwand unſere Angſt um ſie. Das Wochenbett war normal verlaufen; ſie nährte den Kleinen und ſchien ſeelenruhig. Trotzdem war Heinrich heute wortkarg, und ſein aus⸗ drucksvolles Geſicht, das jede Stimmung verriet, er⸗ ſchreckte mich. Aber ſoviel ich auch in ihn drang, er II8 meinte, es ſei nichts, gar nichts geſchehen, ich ſolle lieber an meinen Vortrag denken, als über die Urſache ſeiner ſchlechten Laune nachgrübeln. Der kleine Saal war ſchon voll, als ich kam. In allen Händen ſah ich weiße Zettel, mein Auge fiel auf lauter erregt gerötete Geſichter. Bei der Wahl des Bureaus ſiegte der Führer der Anarchiſten mit rieſiger Mehrheit über unſeren Kandidaten. Ich empfand es faſt wie eine Erleichterung —, „nun werden ſie mich gar nicht reden laſſen,“ flüſterte ich Heinrich zu. Aber ſchon ſtand der junge blonde Mann mit den zarten Mädchenzügen auf der Tribüne: „Ich erteile der Refe⸗ rentin Frau von Glyzcinski das Wort“, und mit einer höflichen Handbewegung machte er mir neben ſich Platz. Ich ſprach ſchlecht. Keinen Augenblick konnte ich meiner eigenen Empfindung, meinen innerſten Gedanken folgen. Ich war nur ein Sprachrohr. Trotz der muſter⸗ haften Leitung des jungen Anarchiſten, der die Ruhe immer wieder herzuſtellen ſuchte, unterbrachen mich Zu⸗ rufe aller Art: ſarkaſtiſche, gemeine, wütende. Dazu Heinrichs Geſicht, auf dem meine Blicke immer wieder haften blieben —, ich verlor den Faden, verwirrte mich wurde ängſtlich. Man rief höhniſch „Bravo“, als ich geendet hatte. Und dann ſprach der Vorſitzende. Seine ganze Rede war ein feuriger Appell an das Proletariat, eine glühende Anklage der Streikleitung. Im Moment, wo aus England Millionen an Unterſtützung zu erwarten ſeien, habe ſie ſich feige den Kapitaliſten unterworfen und die Sache des Volks verraten. An ihm ſei es nun, zu zeigen, daß es ſich von keiner Seite knebeln laſſe, daß es den Kampf nicht nur fortſetze, ſondern ausdehne, II9 bis ein Generalſtreik dem Volk die Macht verleihe, dem Unternehmertum ſeine Geſetze zu diktieren. In jedem Wort, das er ausſprach, brannte das Feuer ſeiner Überzeugung, und alles jauchzte ihm zu. Meine Reſo⸗ lution wurde abgelehnt, die ſeine, die die Fortſetzung des Streiks erklärte, angenommen. Durch einen Reben⸗ eingang ließ man mich hinaus. Man hätte mich ſonſt vor den Inſulten der fanatiſierten Menge nicht ſchützen können. Der Streik war trotzdem zu Ende. Die engliſchen Millionen waren nichts als ein Märchen. Ein paar Tollkühne hungerten noch eine Woche länger —, das war alles. Wir gingen durch den Tiergarten heimwärts, Heinrich und ich. Die Kälte tat mir wohl. „Am liebſten zöge ich ſelbſt ſolch Schneekleid an, um ganz, ganz kalt zu werden,“ mur⸗ melte ich. Eine große Hoffnungsloſigkeit hatte ſich meiner bemächtigt. „Run ſollſt du auch wiſſen, was mir fehlt,“ ſagte Heinrich, auf deſſen Arm ich mich müde ſtützte. „Ich hatte heute eine böſe Szene mit Roſalie. Sie will in den Süden — auf Monate — mit mir. Um unſere Ehe wieder herzuſtellen, wie ſie ſagt. Ich weigerte mich, brauchte lahme Ausreden, die ſie durchſchaute. Sie bekam einen Weinkrampf, dann warf ſie mir vor, daß ich das Kind töten wolle, indem ich ſie, die nährende Mutter, nicht ſchone.“ Er blieb aufatmend ſtehen. 120 „Und du?! „Ich verſprach ihr jede Rückſicht, — nur mit ihr reiſen könne ich nicht. Jetzt fordert ſie eine Auseinander⸗ ſetzung, auch mit dir. Zwei Tage hat ſie mir Zeit ge⸗ geben.“ „Sie hat recht,“ ſagte ich, „auch ſie zieht ein Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vor.“ Ich zwang mich zur Ruhe, — ſeinetwegen. Die beiden Tage ſchleppten ſich hin wie ebenſo viele Jahre, jede Stunde beladen mit Qualen, mit Selbſt⸗ vorwürfen, mit Zweifelfragen. Hatte ich nicht das Leben dieſer Menſchen zerſtört, hatte den, der mir auf der Welt der liebſte war, in einen Kampf geriſſen, der für ihn vielleicht des Einſatzes nicht wert ſein würde, hatte dem Kinde ſchon im Mutterleibe den Vater ge⸗ ſtohlen! Und dann kam der Tag und die Stunde. Ich war⸗ tete von mittags bis abends. Jeder Schritt auf dem Hof ließ mich auffahren, vor jedem Laut, der von drüben klang, zitterte ich. Minuten gab es, in denen ich die Hände faltete, wie ein kleines Kind, wenn ſinn⸗ loſe Angſt es den ſchützenden Vater im Himmel ſuchen ließ. Aber durfte ich beten — ich! —, ſelbſt wenn ich noch glauben könnte?! Die Bilder auf meinem Schreib⸗ tiſch ſtarrten mich an und ſahen mir nach, wohin ich auch im ruheloſen Auf⸗ und Abwandern mich wandte: der Vater, der einſt einen braven Offizier ſeines Regi⸗ ments für unwürdig erklärt hatte, weiter des Königs Rock zu tragen, weil er das Weib eines andern liebte; die Mutter, deren ganzes Leben unter dem einen Geſetz der Pflichterfüllung ſtand; — aber lugte nicht neben ihr 121 aus dem Rahmen ein ſtilles, edles Antlitz hervor mit gütigen dunkeln Augen? „Großmama,“ ſchluchzte ich leiſe. O, daß ich den Kopf in ihrem Schoß ver⸗ graben, ihr beichten und aus ihrem Munde mein Absolve te hören dürfte! War das nicht ſein Schritt? Ich riß das Fenſter auf. Klang nicht ein Ruf zärtlich aus dem Dunkel? Mit angehaltenem Atem horchte ich. Klopfte es nicht an der Pforte? Oder war es mein eigenes Herz, das ich hörte? Ich blieb auf dem engen, kleinen Flur, an die Mauer gelehnt, mit krampfhaft aufgeriſſenen Augen und pochenden Schläfen. Die Treppe draußen knarrte, ich griff an die Klinke, die Türe ſprang auf — „Alix!“ Welch ein Ton war in ſeiner Stimme! Halb bewußtlos ſank ich in ſeine weitgeöffneten Arme. „Sie willigt in die Scheidung. 122 Viertes Kapitel An einem jener norddeutſchen Apriltage, wo Frühling und Winter einander wie Feinde vor dem Ausbruch des Kampfes lauernd um⸗ ſchleichen, die Sonne auf hellen Plätzen Sommergrüße vom Himmel ſendet und daneben der feuchtkalte Wind triumphierend durch ſchattige Straßen fegt, ging ich zum Abſchiednehmen zu den Eltern. Seit jenem Tage, wo mein Vater mich im Zorn verlaſſen hatte, war ich nicht mehr bei ihnen geweſen. Selbſt dienotwendigen geſchäftlichen Auseinanderſetzungen, die ſich an den Tod einer Verwandten und der mir und meiner Schweſter zugefallenen kleinen Erbſchaft knüpften, hatte mein Vater ſchriftlich erledigt. Jetzt aber hatte er mich vor meiner Abreiſe noch einmal ſehen wollen. Er empfing mich ernſt und gemeſſen. „Du ſiehſt ſchlecht aus,“ ſagte er dann und ein liebevoll beſorgter Blick ſtrafte ſeine äußere Strenge Lügen. Ich wußte es: die letzten Monate hatten meine Rervenkraft er⸗ ſchöpft; ich bedurfte der Erholung, aber mehr noch des Fernſeins von Berlin während des bevorſtehenden Schei⸗ dungsprozeſſes. „Die Erbſchaft kommt dir wirklich zu⸗ ſtatten,“ fuhr er fort. Er ahnte nicht, in welchem Um⸗ fang er recht hatte! 123 Eine konventionelle Unterhaltung entſpann ſich. Und doch war mir das Herz ſo voll: ich allein wußte von uns allen, wie weit ich mich mit dieſem Abſchied von ihnen entfernte, — vielleicht auf Rimmerwiederſehen. Ein Wort der Dankbarkeit, der Liebe hätte ich gern geſagt; — in der Temperatur, die zwiſchen uns herrſchte, erfror es, noch ehe es über die Lippen kam. „Es iſt mir nicht recht, daß du allein in die Welt hineinreiſt,“ ſagte mein Vater, als ich ſchon an der Türe ſtand, „Ihr Jungen denkt anders darüber, — Einfluß habe ich keinen mehr, — ich kann nur hoffen, daß du dich ſtets erinnerſt, was du deinem Ramen ſchuldig biſt.“ Seine Augen ruhten forſchend auf mir. Ich reichte ihm ſtumm die Hand: „Lebewohl, Papa —“ Ich zwang meine Stimme, nicht zu zittern. „Lebwohl,“ antwortete er mit einem Seufzer. Einen Kuß gab er mir nicht mehr. Die Mutter begleitete mich auf den Flur. „Haſt du etwas beſonderes zu ſchreiben,“ ſagte ſie mit Betonung, „ſo lege ſtets einen beſonderen Zettel dem Brief an mich bei, damit ich ihn Hans ohne Schaden zeigen kann.“ Ich hatte die Empfindung, daß mein Weggehen ſie erleichtere. Ilſe kam noch bis auf die Straße mit mir. „Du, Schweſter, iſt es wahr, daß Dr. Brandt ſich deinetwegen ſcheiden läßt?!“ flüſterte ſie haſtig mit glän⸗ zenden Augen. Aufs peinlichſte überraſcht ſtarrte ich ſie an. Sie preßte mir ſtürmiſch die Hand: „Du, — das iſt furchtbar intereſſant! Freilich —“ und nachdenklich kaute ſie an der Unterlippe — „mit Papa werden wir wieder aushalten müſſen! 124 Ein Regenſchauer trieb ſie ins Haus zurück. Fröſtelnd zog ich den Mantel feſter, der Wind zerrte daran und warf mir eiskalte Tropfen ins Geſicht. Am Abend fuhr ich nach München, wo Heinrich den Zug beſtieg. Er hatte ſeine Söhne in Penſion, Roſalie und den Kleinen mit der Pflegerin aufs Land gebracht. „Es gab wieder eine Szene,“ erzählte er, „ihre innere Stimme, an die ſie nun einmal glaubt, hat ihr geſagt, daß du mich unglücklich machen würdeſt. Aus Mitleid wollte ſie darum alles verzeihen und mich in Gnaden wieder aufnehmen. Als ich darauf verzichtete, prophe⸗ zeite ſie mir mit dem Pathos einer Kaſſandra, ich würde noch einmal kniefällig um ihre Liebe betteln. Und als auch das ohne Eindruck blieb, machte ſie allerlei dunkle Andeutungen über Zeugenausſagen im Prozeß, und die Pflegerin lachte mich dabei ſo impertinent an, daß ich grob wurde.“ „Richt umſonſt habe ich mich immer vor ihr ge⸗ fürchtet,“ ſagte ich trübſinnig. „Mein armer, kleiner Angſthaſe!“ lächelte er, halb ungeduldig, halb beluſtigt. Im Lexikon ſeiner Gefühle hatte das Wort „Furcht“ keinen Platz gefunden. „Du biſt ſo tapfer und kannſt ſo feige ſein! Haben wir nicht bisher ſchon über alles Erwarten Glück gehabt, und du willſt verzagen — gerade jetzt, wo wir dem Frühling entgegenfahren? Voll tiefen Vertrauens lehnte ich mich in den Arm zurück, der mich umſchlang, und ſah ſtill den weißen Flocken zu, die vor den Fenſtern tanzten, und den in dunkeln Schleiern ſchwer herabhängenden Wolken, die der Zug durchſchnitt. Es tat ſo gut, ſich in der Obhut 125 des Geliebten zu wiſſen, ſeinen ſtarken Schultern auf⸗ zubürden, was ich allein nicht hätte tragen können. Auf dem Brenner glänzte die Sonne über friſch ge⸗ fallenem Schnee, aber von den Bergen ſtürzten ſchon frühlingsfroh die entfeſſelten Waſſer. In Goſſenſaß, wo die Bergwände ſich noch einmal finſter zuſammen⸗ ſchoben, braute wieder der Rebel um dunkle Fichten und winterſtarres Gebüſch, hinter Franzensfeſte jedoch ſtand das breite Tal in blühendem Lenzkleid und öffnete die Arme weit, um all die frierenden Wanderer an ſeine warme Bruſt zu ziehen. Frohlockend wieſen von allen Höhen weiße Kirchlein mit ſpitzen Fingern hinauf zur Sonne, die behaglich lachend am blauen Himmel ſtand. Auf den knorrigen Aſten alter Obſtbäume ſaßen junge luſtige rote und weiße Blüten. Ohne Ehrfurcht vor dem grauen Alter der Ruinen, der nüchternen Hei⸗ ligkeit der Klöſter, fluteten in blauen Kaskaden die ſüß⸗ſehnſüchtigen Blumendolden der Glyzinien über die Mauern, vom Liebesſpiel buntſchillernder Käfer umtanzt. Im brixener Gaſthof zum Elefanten machten wir Raſt. Rur das rieſige Bild des Rüſſeltiers, dem er ſeinen Ramen verdankt, erinnerte noch an die Zeit, wo Kaiſer und Könige auf der Romfahrt hier Einkehr hielten. Jetzt ſaßen nur wenige unſcheinbare Leute in dem niedrigen, dunkel getäfelten Gaſtzimmer. Sicher: hier kannte uns niemand. Aber kaum ſaßen wir vor der Schüſſel, die verheißungsvoll nach gut öſterreichiſcher Mahlzeit duftete, als ein Herr an unſeren Tiſch trat, Heinrich freudig begrüßend. Umſonſt, daß dieſer die ab⸗ weiſendſte Miene machte, den Fremden weder nötigte, Platz zu nehmen, noch ihn mir vorſtellte. In ſeiner 126 Freude, einen Bekannten zu treffen, beſorgte er das ohne weiteres ſelbſt; er hielt mich für Heinrichs Frau und kündigte uns mit vielem Geräuſch die Bekanntſchaft ſeiner Familie an. „Wir werden nicht bleiben können,“ ſagte Heinrich langſam, als er ſich endlich empfahl, „es ſind Berliner.“ Ich zuckte die Achſeln. „Diesmal bin ich die Mutigere von uns beiden. Mir iſt nichts ſo gleichgültig als der Klatſch.“ „Aber ich dulde nicht, daß man dich verdächtigt, brauſte er auf. In aller Frühe am nächſten Morgen fuhren wir weiter bis nach Trient. „Hierher kommt keiner unſ⸗ rer Landsleute,“ hatte Heinrich geſagt. Und in der Tat: in den großen Halaſträumen des Hotel Trento ſprachen ſelbſt die Kellner nur ein gebrochenes Deutſch. Ob wir uns hier ein paar Wochen würden ausruhen können? Wir hatten ſehr das Bedürfnis danach. Vor dem Balkon meines Zimmers lag der weite Platz mit dem ehernen Denkmale Dantes. Mächtig zeichnete ſich ſeine ſchwarze Silhouette gegen den blauen Himmel ab, zu beiden Seiten von den ſtarren Felskuliſſen der Berge eingerahmt. Aber der Platz zu ſeinen Füßen mit ein wenig Raſen und ein paar kleinen immergrünen Büſchen ſah im gelben Licht der Sonne öde aus. Wir gingen durch die Straßen: lauter graue Häuſer mit verwaſchenen Farben und trüben Fenſtern, Paläſte da⸗ zwiſchen mit verblichenen Fresken, Höfe mit alten aus⸗ getrockneten Brunnen und Säulengängen, unter denen zerlumpte Wäſche hing, ſtolze wappengekrönte Tore mit Firmenſchildern aus Blech und Anzeigen aus Papier benagelt und beklebt; ein Dom, geſchmückt mit den zier⸗ 127 lichſten romaniſchen Galerien, die hohen Portale von ſäulentragenden Löwen bewacht, und darin auf dem ausgetretenen Eſtrich, zwiſchen den Grabmälern edler Geſchlechter, ein paar alte Weiber, die kniend den Roſenkranz durch ſchmutzige Finger zogen und mit zahn⸗ loſem Munde Gebete plärrten. Und über der Stadt, ſie beherrſchend, der prächtige Renaiſſancebau des alten fürſtbiſchöflichen Schloſſes, ein unvergleichlicher Rahmen üppiger Hofhaltungen, — eine Kaſerne heute. In der dämmernden Loggia auf dem Brunnenhof, wo die Würdenträger des fürſtbiſchöflichen Stuhls in roten und violetten Gewändern beim Geſang des leiſe plät⸗ ſchernden Waſſerſtrahls die kunſtvollen Lettern pergament⸗ gebundener Bücher zu leſen pflegten, ſaßen Soldaten und putzten Gewehre; in den hohen Sälen, von deren gemalten Decken die Götter des Olymps auf die tafeln⸗ den Prieſter des Gekreuzigten einſt lächelnd hernieder⸗ ſahen, ſtanden Eiſenbetten mit rauher Leinwand gedeckt, an den Wänden, hinter deren kalkweißer Tünche präch⸗ tige Bilder ſchlummern, hingen in Reih und Glied Käppis und Torniſter. Wir gingen ſchweigſam zurück. In den Gaſſen lärmten ein paar Kinder: Mädchen mit ſeidenen Schleifen im Haar und zerſchliſſenen Röckchen über den bloßen Beinen, Knaben, die gierig um ein paar Kreuzer rauften. Vor den Wirtshäuſern auf dem ſchmalen Trottoir ſaßen in ſchäbiger Eleganz junge Leute, die lange Virginiazigarre zwiſchen den ſchwarzen Zähnen. Die Sonne ſchien, aber ihre Strahlen trafen auf keinen Lebensſamen, den ſie hätten wecken können; die kahlen Mauern, die baumloſen Straßen warfen nur ſengende 128 Glut zurück. Fürſten erbauten dieſe Stadt, und Bettler haben ſie daraus vertrieben. Wir aber ſuchten den Frühling. Ein Poſtwagen mit vier Pferden davor entführte uns aus Trient. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten, die wie ein ſteinerner Sarkophag in der Tiefe ſchlief, deſto lachender wurde die Ratur. Auf den Wieſen blühten Lilien und Glockenblumen, um die elendeſten Hütten leuchteten in roſiger Pracht die Mandelbäume. In Caldonazzo, einem ſtillen Reſt am Ende des Sees, der den klaren Himmel auf die Erde zu zaubern ſchien, blieben wir. Unter der Laube im Obſtgarten der Trattoria, die von gelben Roſen überwuchert war, wurde uns gedeckt. Vino ſanto funkelte goldfarbig in den Gläſern, ein kleines Mädchen mit großen runden Augen, wie ge⸗ ſchliffene Kohlen, ſetzte noch eine blaue Vaſe mit weißen Lilien mitten auf den Tiſch. Dann war es ganz, ganz ſtill um uns, ein heiliges Abendſchweigen, das wir mit keinem lauten Wort zu ſtören wagten. Unſere Hände ſchlangen ſich ineinander, feſter zog mich ſein Arm an ſeine Bruſt, und ſehnſüchtiger wurden unſere Küſſe. Schlüſſelklirrend ging der Wirt durch den Garten. Wir ſtanden auf. Vor der Tür meines Zimmers blieben wir ſtehen, ſtumm, mit herabhängenden Armen, unſere Augen verſanken ineinander, und die ganze verzehrende Qual unſerer Liebe lag in unſerem Blick. „Gute Racht!“ — er berührte mit den heißen Lippen nur meine Fingerſpitzen. Ich ſchlief nicht. Durch das offene Fenſter ſtrich die laue Luft und trug die ſüßen Gerüche der Wieſen auf ihren Flügeln. Ich preßte die Zähne zuſammen, um 129 nicht den zu rufen, nach dem mein Herz verbrannte, ich drückte die ſpitzen Rägel meiner Finger mir ins Fleiſch, um mit dem Schmerz die Qual zu betäuben, die mein Blut durch die Adern peitſchte. Draußen im Garten knirſchte der Kies, — das Wein⸗ laub am Fenſter bewegte ſich, — ſchlich nicht ein Schatten leiſe vorüber? — O, warum kommſt du nicht, — ſind meine Arme nicht weich, lockt nicht mein Buſen wie Perlmutter glänzend in der Stille der hellen Mondnacht? Was geht mich die Welt an?! Die ſanften Höhen dieſes blühen⸗ den Tales umſchließen die meine! Und die Menſchen? Da doch niemand iſt, als ich und du! Und die Ver⸗ gangenheit? Sie gehört uns nicht mehr! Und die Zu⸗ kunft? Richts iſt unſer als dieſer Frühlingsnacht zauberiſche Gegenwart! — — Aus kurzem, ſchwerem Morgenſchlaf erwachte ich müde und einſam. Wir trafen uns in der Roſenlaube, und die Spuren nächtlicher Kämpfe lagen auch auf ſeinen Zügen. Der Telegraphenbote riß uns aus der Verſunkenheit unſerer trüben Stimmung. Eine Depeſche von Heinrichs Rechtsanwalt: „Frau Brandt verlangt Schlüſſel Ihrer Wohnung, kehrt nach Berlin zurück. Stimmung nach Mitteilung ihres Anwalts weſentlich verändert.“ Das Telegramm war uns von Bozen nachgeſandt worden und trug das Datum von vorgeſtern. „Ich muß nach Berlin — ſofort —. Sie kann alles zerſtören,“ knirſchte Heinrich, „und du — du Arme?!“ „Zunächſt begleite ich dich, — alles weitere beſprechen wir unterwegs. In ſauſender Fahrt ging es bergab. Die Peitſche des Kutſchers pfiff über die ſchweißtriefenden Pferde. Wir mußten den Schnellzug erreichen. Unterwegs be⸗ Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 9 130 kam ich einen Herzkrampf. Als ich wieder zu mir kam, ratterte der Wagen über das Pflaſter Trients, und Heinrichs angſtentſtelltes Geſicht beugte ſich über mich. „Wirſt du weiter können?“ Ich nickte. Man hob mich in den Zug. Ich erholte mich ſoweit, um ruhig denken zu können. Dicht bei Brixen lag unter großen Ruß⸗ bäumen ein kleines Dorf, Vahrn genannt; dort wollte ich bleiben, bis —. „Bis alles gut iſt, mein armer Liebling,“ flüſterte er; „wenn ich nur ſicher wäre, daß du deiner Angſt, deiner Aufregung Herr wirſt, — für mich iſt der Kampf ein Kinderſpiel —“ Der Triumph des Sieges blitzte ſchon aus ſeinen Augen. In Brixen blieben uns noch ein paar Stunden bis zum Abſchied. Auf der Poſt fand ſich ein Brief an mich von der Mutter mit einer Beilage in verſtellter Schrift: „Dieſen anonymen Wiſch bekam ich ſoeben. Ich habe ihn, Gott Lob, vor Hans verſtecken können. Da aber Wieder⸗ holungen, womöglich direkt an ihn gerichtete, wahr⸗ ſcheinlich ſind, und ich von deinem Anſtandsgefühl doch noch ſo viel erwarte, daß der Inhalt dieſes Schrift⸗ ſtückes eine Verleumdung iſt und Dr. Brandt nicht mit dir reiſt, ſo erſuche ich dich, zu veranlaſſen, daß er uns ſeine Anweſenheit in Berlin auf irgendeine Weiſe dokumentiert . . . „Bereits morgen wird das geſchehen, ſagte Heinrich, „du ſiehſt, wie notwendig es iſt, daß wir das Opfer dieſer Trennung bringen. Es wird die letzte ſein! Mit einem leiſen Vorwurf ſah ich ihn an: „Faſt ſcheint's, als freuteſt du dich, daß du fort mußt! „Ich freue mich der Hinderniſſe, die ſich uns in den Weg legen. Mir wäre bange geworden vor der Größe 131 meines Glückes, wenn ſein Beſitz keine Opfer koſten würde.“ Ich ſchämte mich meiner Trauer, und wir nahmen Abſchied voneinander, faſt als wäre es ein Will⸗ kommen. Im Turmzimmer des Gaſthofes zu Vahrn zog ich am ſelben Abend noch ein. Von meinem Fenſter ſah ich ins Schalderer Tal mit ſeinen dunkeln Fichten am klaren Bach. Stundenlang ſaß ich hier in wachen Träumen. Zuweilen folgte ich dem ſtillen Waldweg bis hinauf nach Schalders. Aber es mußte ein heller Tag ſein, ſonſt fürchtete ich mich und ſah, wie einſt als Kind, hinter jedem Baum Geſpenſter lauern. Abends ſtieg ich nach Salern hinauf und ſaß zwiſchen dem alten Gemäuer der Ruine bis breite Berg⸗ ſchatten das Tal von Brixen verhüllten und die Spitzen der Dolomiten fern am Horizont aufglühten wie ver⸗ löſchende Fackeln. Des Rachts aber kamen die finſteren Gedanken. Dann las ich wieder und wieder ſeine Briefe und ſuchte zwiſchen den Zeilen, was er aus Schonung verſchweigen mochte: „Roſalie macht Beſuche bei allen Bekannten, und ich ſehe an den Mienen der Leute, was ſie er⸗ zählt —“, ſie ſuchte Zeugen gegen mich; der Preis der Scheidung würde die Verhinderung unſerer Heirat ſein! „Sie hat neuerdings Freunde im Egidyſchen Kreis“ — ſie ſuchte eine Verbindung mit den Eltern, ſie wird zum Vater gehen, ihm erzählen, — und er ertrüge es nicht, ſo nicht, — er würde Heinrich vor die Piſtole fordern! Roch geſchah nichts dergleichen. Meines Vaters 5 132 Briefe waren erregt, aber nur über die Ereigniſſe des Tages: die Verurteilung Hammerſteins wegen Urkunden⸗ fälſchung zum Zuchthaus, „ein Menetekel für den Adel, deſſen junger Rachwuchs das goldene Kalb umtanzt und dabei unabweisbar dem Schwindel verfällt,“ den Austritt Stöckers aus der konſervativen Partei, „dieſes tüchtigen Mannes, den die Sozialdemokraten mit ihrer verdammten Manier der Veröffentlichung von geſtohlenen Privatbriefen auf dem Gewiſſen haben,“ über die in ſeinen Jubiläumsreden ſtets deutlicher zutage treten⸗ den Weltmachtgelüſte des Kaiſers, „die uns vom er⸗ probten geraden Wege altpreußiſcher Sparſamkeit und dem bewußten Sichbeſcheiden auf den angeſtammten Boden und ſeine Bearbeitung in die Politik abenteuern⸗ der Seefahrer hineinreißt.“ Ich mußte mein Erinne⸗ rungsvermögen immer erſt mühſam auf die Welt außer mir einſtellen, wenn ſeine Briefe Antwort heiſchten. Eines Morgens kam ein Expreßbrief von Heinrich, den ich in Erwartung erfüllter böſer Träume zitternd öffnete. „Deine Liebe ſoll noch eine harte Probe be⸗ ſtehen,“ ſchrieb er „Roſalie will ſich nur unter der Bedingung ſcheiden laſſen, daß ich ihr mein ganzes Vermögen gebe. Es iſt an ſich nur klein, wie Du weißt, aber es iſt alles. Wirſt Du ſtark genug ſein, einen Mann zu heiraten, der nichts beſitzt? Der Dir nur ſeine Liebe in die Ehe mitbringt und ſeinen feſten Willen, Dir trotz alledem ein glückliches Leben zu er⸗ kämpfen? . . . Antworte mir nach reiflicher Überlegung. Aus Deiner Hand würde ich jedes Geſchick ohne Murren empfangen. Fürchte nichts von mir, wenn Du nein ſagen mußt. Das Glück, das Deine Liebe mir ſchenkte. 133 war ſchon ſo groß, daß ich Dir auch dann noch dank⸗ bar bleibe . ..“ Ich lächelte, von einem Alpdruck be⸗ freit; ſo viele Worte um ſolch eine Kleinigkeit! Richt einen Augenblick des Beſinnens gab es für mich. „Gib, was ſie fordert,“ telegraphierte ich. Aber noch immer ſchien ſie nicht genug zu haben. Ein paar Tage ſpäter verlangte ſie eine Summe, die Heinrichs Vermögen über⸗ traf. Und als der Anwalt ihr vorhielt, daß Heinrich Wucherſchulden machen müſſe, wenn er ihren Wunſch erfüllen ſolle, ſagte ſie ruhig: „Mag ſein, — aber ſonſt laſſe ich die Scheidung nicht zu.“ Sie war unerſätt⸗ lich. In meinen nächtlichen Träumen ſah ich ſie: groß, dunkel, mit der Schleppe, die wie eine Schlange hinter ihr her raſchelte, und den weißen Raubtierhänden. Der Tag der Entſcheidung nahte. Am Vor⸗ abend fuhr ich nach München. Die Stunden ſchlichen, die Zeiger an der Uhr wollten nicht von der Stelle rücken. Ich hörte, wie das Leben draußen verſtummte, die letzten Pferde müde zum Stalle trotteten, das letzte Läuten der Straßenbahn verklang. Und ich hörte wieder, wie es erwachte, wie die erſten Marktwagen im Dämmerlicht grauenden Morgens über das Pflaſter ratterten und die Tritte der Bäckerjungen ſtraßenweit zu verfolgen waren; wie das Räderrollen allmählich anſchwoll zu einem brauſenden Ton, und kein einzelner Schritt unter den vielen mehr zu unterſcheiden war. Dann kamen die Stunden, die über mein Schickſal entſchieden. Sie waren wie leben⸗ dige Weſen, die mit meinem Herzen Fangball ſpielten. 134 Frei!“ — Ich hatte das Telegramm dem Boten aus der Hand geriſſen, — ich ſtarrte das Wort an, bis mir die Augen übergingen. Im Zimmer ertrug ich's nicht mehr. Zu groß war mein Glück. Und ſelbſt als der Himmel ſich über mich ſpannte, war mir's, als müßte es ſein blaues Gewölbe zerſprengen. Zwei Tage mußte ich des Geliebten warten. „Rach⸗ dem Dein heimlicher Wunſch, Du emanzipationslüſterne Frau, eine freie Ehe zu ſchließen, an meinem reaktio⸗ nären Eigenſinn endgültig zu Schanden wurde,“ ſchrieb er neckend, „muß ich unſerer altmodiſch ordentlichen Verbindung auch eine bürgerliche Grundlage ſchaffen.“ Ich lief indeſſen in der Stadt umher und ſuchte, meinem übervollen Herzen Luft zu machen. Ein Bettler ſtand an der Ecke mit einem Plakat vor der Bruſt „Ein armer Taubſtummer bittet um eine milde Gabe, ich drückte ihm ein Goldſtück in die Hand, was ihn ſo verblüffte, daß er ſeiner Stummheit vergaß und ein Mal über das andere ein „Vergelt's Gott“ ſtammelte. Vor allen Schaufenſtern blieb ich ſtehen, in denen die Mai⸗ ſonne zärtlich über Spitzen und Schleier ſtrich. Und das Schönſte, was ich ſah, war nur gerade ſchön genug, um mich für ihn zu ſchmücken. Meines Lebens hohe Zeit ſtand vor der Türe; könig⸗ lich ſollte ſie empfangen werden. Niemand durfte ihr begegnen, der Trauergewänder trug. Keines Menſchen Träne durfte den Willkommtrunk verbittern, mit dem ich ſie begrüßen wollte. Und im geſchliffenen Kriſtall des Pokals ſollte ſich nur die Sonne ſpiegeln. Der Gedanke an die Eltern krampfte mir das Herz 135 zuſammen. Ich ſah ſie in der dunkeln Wohnung hinter den ſchweren Vorhängen, die immer an den Winter glauben ließen. Würde mein Glück hell genug ſein, um hindurchzudringen? Ich fühlte, wie dumpf die Luft bei ihnen war. Würde mein Glück ſtark genug ſein, ſie zu zerſtreuen? An einem hellen Morgen, über den der Himmel leuchtete wie ein geheimnisvoll gleißender Opal, trug ich ein weißes Kleid und Roſen im Gürtel, die lauter Sonnenlicht getrunken hatten und die Blütenköpfe ſenkten, ſchwer von Schönheit. Ich wartete des Ge⸗ liebten. Durch die vielen Scheiben der Bahnhofshalle funkelte und ſprühte das Morgenlicht und malte tan⸗ zend helle Flecke auf den Aſphalt. Wie blaſſe Mond⸗ ſcheiben, wenn der Tag noch herrſcht, ſtanden die großen, runden Bogenlampen über dem haſtenden Leben. Hin und her ſtrömten bunte Menſchenſchwärme. Reiſefieber, das in blaue Fernen treibt, ſorgender Ernſt, der der Tagesarbeit entgegenſtrebt, lachende Hoffnung, die in die Arme der Liebe verlangt, bange Angſt, die vor der Fremde zittert, malten ſich in den vielen Geſichtern. Die Züge brachten und empfingen ſie in unaufhörlichem Wechſel. Ich allein ſtand in der Flut ganz ſtill, die Augen auf das helle rieſige Bogenrund gerichtet, in das die großen ſchwarzen Schlangen fauchend untertauchten, und aus dem ſie, die welterobernden Ungeheuer, brauſend hervorquollen. Endlich! Ein ſchriller Pfiff aus einer Lokomotive, die ihre mächtigen, blanken Glieder maje⸗ ſtätiſch hereinwälzte, zwei ziſchende Garben weißer Waſſer⸗ dämpfe —, ſie ſtand. Lauter Schatten liefen und drängten an mir vorüber, ich ſah nur ihn, — und er zog mich 136 in die Arme, ganz feſt —, alle Roſen fielen mir aus dem Gürtel, und ſtreuten ihre Blätter um uns, glutrote .. . Und unſere Hochzeit, mein Lieb, wo ſoll ſie ſein? „Irgendwo zwiſchen hohen Bergen, im Walde, wo der Dompfaff uns traut —.“ „Und wann, — wann?“ heiß flüſterte ſeine Stimme an meinem Ohr. „Still muß es um uns ſein, ganz ſtill, dann wird die Stunde kommen, der wir gehorchen müſſen . . Wir fuhren nach Augsburg zu Tante Klotilde, meines Vaters Schweſter. Vielleicht, daß Sie ſich für uns gewinnen ließ, daß ihr Einfluß den Vater beruhigen könnte. Am Bahnhof trennten wir uns, er ging ins Hotel, mich führte ihr Wagen durch das alte ſchmiedeeiſerne Tor vor das ſchöne Haus mitten im blühenden Garten. Mit unge⸗ wohnter Zärtlichkeit empfing ſie mich: „Du haſt mir etwas zu ſagen, Kind? Fürchte dich nicht —, du weißt, ich habe viel an dir gut zu machen.“ Ich fürchtete mich doch, — aber nicht vor ihr. Wenn ſie mich ver⸗ dammte, ſo wußte ich: das Herz würde ihr darum nicht bluten. Um den Vater nur bangte mir, wenn ſie die Verſtändigung nicht würde herbeiführen wollen. Ich erzählte, daß ich verlobt ſei. Ich verſchwieg nicht, daß er ſich hatte ſcheiden laſſen, — um meinetwillen. Aber von der erſten Ehe erzählte ich nichts, und nichts von dem Kinde, das vor wenigen Monden erſt geboren 137 worden war. Ich bekannte ehrlich, daß er, wie ich, Sozialdemokrat von Geſinnung ſei, aber ich betonte, daß ſeine Tätigkeit allein auf neutralem wiſſenſchaft⸗ lichem Gebiete liege. Und als ſie die Frage ſtellte, die, wie ich wußte, für ſie von ausſchlaggebender Bedeutung war: „In welcher Lage iſt er?“ — da log ich: „In der beſten —“ Was ging das alles die anderen an?! Mein Leben war es, für das ich allein die Verant⸗ wortung trug. Rur dem Vater wollt' ich es leicht machen, und die Mutter ſollte ſich nicht grämen, und mein blondes Schweſterchen ſollte nicht weinen! Heinrich wurde zum Eſſen geladen. Seine ruhige, faſt hochmütige Zurückhaltung der „Frau Baronin“ gegenüber imponierte ihr. Sie ſchrieb noch am Abend einen langen Brief an den Vater. Und am nächſten Mittag kam ſeine telegraphiſche Antwort: „Tief gerührt über die Liebe, mit der du Alix in deinen Schutz nimmſt, verſage ich ihr nicht den Segen ihrer ſchmerzbewegten Eltern.“ Heinrich reiſte nach München zurück, — es wäre ja nicht paſſend geweſen, ein Brautpaar beieinander zu laſſen! — ich blieb noch, um in ein paar Tagen mit Freunden, — wie ich vorgab, — nach Tirol zu gehen. Inzwiſchen kamen die Briefe der Eltern. Von der Mutter zuerſt. Sehr liebevoll, aber doch voller Sorge. „Ich danke Gott und der lieben Klotilde,“ ſchrieb ſie, „daß Dein Vater die große unerwartete Sache ſo auf⸗ nahm und ruhig iſt, trotzdem ihm alles furchtbar ſchwer wird und er noch nicht imſtande iſt, an Dich zu ſchreiben. Wenn nur ſeine Geſundheit aushält, um die ich oft ſehr beſorgt bin, beſonders bei ſo großen Erſchütterungen... 138 Ilschen hat ſich reizend benommen; ihre kindliche, zärt⸗ liche Art, ihrem Papa alles recht gut und ſchön darzu⸗ ſtellen, ihre Bitten und Tränen haben ihn tief gerührt ... Um Deines Vaters willen bitte ich Dich, Deine Verlobung wenigſtens ſolange geheimzuhalten, bis er bei Klotilde in Grainau iſt, die ihn ſo freundlich einlud und ihn am leichteſten wird beruhigen können. Auf dieſe Weiſe entgeht er am beſten dem Zeitungsklatſch, an dem es wohl leider nicht fehlen wird . . . Mir iſt das Herz ſo übervoll, daß ich keine Worte finde. Gott führe alles zum Beſten.. Und dann kam der erſte Brief des Vaters, aus dem ich erfuhr, daß er wußte, was ich ihm ſchonend verſchwiegen hatte. „Wenn Du älter geworden ſein wirſt,“ hieß es darin, „ſo wirſt Du verſtehen, daß ich nicht Dein Glück ſtören will, ſondern nur mit der Erfahrung eines Mannes, der am Ende ſeines Lebens ſteht, da kein Glück ſehe, wo Du ſeinen Gipfel glaubſt erſtiegen zu haben . .. Dr. Brandt mußte bei mir und Mama zuerſt um die Erlaubnis zur Verbindung mit Dir nachſuchen, es mußten mir ganz klar die äußeren Verhältniſſe dargetan werden, die zur Scheidung führten, und die Lebenslage, die Dr. Brandt Dir bietet. Von alledem iſt nichts geſchehen, und ich bin und bleibe der vor Gott und den Menſchen für Dich verantwortliche Vater; auf mir, Mama, Ilſe bleibt jeder öffentliche Skandal ſitzen. Sage ſelber, wie ſoll ich Vertrauen zu einem Manne haben, der zweimal ge⸗ ſchieden iſt? Ich kenne die Gründe nicht, kann alſo nur bei meinem theoretiſchen Urteile bleiben, daß es ihm zweimal nicht gelungen iſt, ſeine ihm „bis der Tod uns trennt“ angetraute Frau an ſich zu feſſeln. Es kommt hinzu, daß ſelbſt roheſte Naturen Pietät dafür haben, 139 wenn dem Manne eben von ſeiner Frau ein Kind ge⸗ ſchenkt worden iſt. Dieſen Augenblick zur Scheidung zu wählen, iſt gewiß nicht feinfühlig. Meine Tochter iſt mir zu ſchade, als daß ich ruhig zuſehen könnte, wenn ſie in ſolche Verhältniſſe verwickelt wird . . . Es entſpann ſich eine erregte Korreſpondenz. Ich war viel zu empfindlich, beſonders gegenüber Angriffen auf den Geliebten, als daß ich mich wenigſtens äußer⸗ lich hätte beherrſchen können. Mein ſtrahlendes Glück hatte mich blind gemacht für die Welt, in der meine Eltern lebten und dachten. Ich empfand als bittere Kränkungen, was von ihrem Standpunkt aus ſorgende Liebe war. „Ich begreife nicht, daß Du ſcheinbar gar nicht ahnſt, wie ſchwer uns Deine Heirat werden muß, ſchrieb Mama in Beantwortung eines meiner Briefe, „willſt Du denn durchaus nicht die Wirklichkeit ſehen? Muß ich ganz deutlich werden und dir ſagen, wie ſelbſt Dir wohlwollende Menſchen über Dich den Kopf ſchütteln? Du ahnſt wohl gar nicht, was und wie man über Euch ſpricht! Und jetzt erwähnſt Du wie etwas Selbſtverſtänd⸗ liches, daß Ihr Euch hier in Berlin wollt trauen laſſen. Ich finde den Gedanken unglaublich. Denke doch nur an das Aufſehen, und was das für ein Licht auf uns alle werfen würde! Wir wollen der Welt gegenüber betonen, daß Du mit unſerem Segen heirateſt —, hier würde nicht einmal unſer Pfarrer, der ſo ſtreng über Scheidungen denkt, Euch trauen wollen . .. Heiratet in irgend einem ſtillen Ort Süddeutſchlands, wohin ich und Ilſe zur Trauung kommen werden, und überlegt vor allem, ob es nicht beſſer wäre, wenn Ihr Euch dann fern von Berlin niederlaßt? Für alle Teile würde es 140 beſſer ſein, ſolange der gemeine Klatſch über Euch nicht verſtummt iſt. Ich habe auch an Deinen armen Vater zu denken, den Du ganz zu vergeſſen ſcheinſt, und dem jede neue Aufregung erſpart werden muß . . . Ich erwähnte in meiner Antwort der Schwierigkeiten, die eine Heirat an anderem Orte bereiten würde. Wir hatten längſt beſchloſſen, uns ohne alles Aufſehen trauen zu laſſen und gehofft, daß die Eltern angeſichts der voll⸗ zogenen Tatſache ſich um ihr Was und Wie nicht küm⸗ mern würden. Im nächſten Brief meiner Mutter ſchrieb ſie: „Du erwähnſt nur der ſtandesamtlichen Schwierig⸗ keiten, alſo wollt Ihr wohl die Kirche umgehen, — wenn Du mir das noch antuſt, dann wäre es beſſer, wir ſehen uns nie wieder, denn das kann ich nicht über⸗ winden, das würde ich nie verzeihen, und Vater, Schweſter und Tante auch nicht! Bedenket wohl, was Ihr damit tut: Ihr gebt unſeren Beziehungen den Todesſtoß . .. Ich war ſchon wieder abgereiſt, als mir in Innsbruck berliner Zeitungen in die Hände ſielen. Sie brachten mit mehr oder weniger hämiſchen Randbemerkungen die Mitteilung von Heinrichs Scheidung und meiner Ver⸗ lobung. Und gleich darauf kam ein Brief des Vaters: „Was zu erwarten war, iſt geſchehen: alle Zeitungen beſchäftigen ſich mit Dir und ziehen meinen guten Ramen in die Skandalgeſchichte meiner Tochter. Sie ſagen, daß Du Dich nun ganz der Sozialdemokratie in die Arme geworfen haſt . . . Du nahmſt die Gewohnheit an, bei Deinen Handlungen nie an Deine Eltern, nie an Deine Schweſter zu denken. Trotzdem bleibſt Du unſer Kind, und wir tragen an Dir mit, gleichgültig welches die Bürde iſt, die Du uns auferlegſt. Wenn 14I eine Tochter frank und frei erklärt, ſie gehöre zur Sozial⸗ demokratie, ſo bleibt an den Eltern etwas hängen. Ich bin alt und gebrechlich, meine Tage ſind gezählt, aber ich bin notwendig für Deine Mutter und Deine Schweſter. Unehre jedoch ertrage ich nicht; wenn man mich ehren⸗ gerichtlich belangt, wegen Deiner Beziehungen zu einer ſtaatsvernichtenden Partei, ſo mag man mich begraben. Daß die Sozialdemokratie es jetzt freudig ausbeutet, wenn die adlige Tochter eines allgemein bekannten Generals ſich zu ihr bekennt, das begreife ich, es iſt ihr Vorteil. Wer ein einziges Mal dieſe gemein aus⸗ ſehenden Leute im Reichstage geſehen hat und ſich ver⸗ gegenwärtigt, daß dieſe Rotte unheimlicher Kreaturen von den Pfennigen der Arbeiter ſich mäſtet, die um ſo reichlicher fließen, je mehr alles in den Schmutz getreten wird, was uns heilig iſt, der muß am Rande der Ver⸗ zweiflung ſtehen, wenn er die eigene Tochter unter ihnen weiß . ..“ Ich antwortete nicht. Wie viel beſſer wäre der offene Bruch geweſen, als daß ich, vom Verſtande unkontrollierten Gefühlen hingegeben, eine Brücke über Unüberbrückbares zu ſchlagen verſucht hatte. Ich hatte nicht wehe tun wollen —, litten die Eltern jetzt nicht mehr, wo ſie mich von ſchleichender Vergiftung befallen glaubten, als wenn ich ihnen ganz geſtorben wäre? Am Morgen meines Geburtstages erwartete ich den Geliebten. Stille Wehmut dämpfte die Freude, mit der ich Heinrich empfing. Vor lauter Glück bemerkte er meine Stimmung nicht. „Ich bringe dir ein ſchönes Ge⸗ burtstagsgeſchenk,“ rief er, mich zärtlich umarmend. „Herr Charles Hall, der Deutſchamerikaner, von deſſen ſozialpolitiſchen Intereſſen ich dir oft erzählte, hat ſich 142 bereit erklärt, meine Zeitſchrift zu unterſtützen. Siehſt du, nun hab' ich auch das durchgeſetzt: die bürgerliche Grundlage unſerer gut bürgerlichen Ehe! — Dürfen wir nun nicht Hochzeit feiern?!“ fügte er leiſer hinzu. Ich ſchüttelte den Kopf und hing mich feſt an ſeinen Arm: „Laß mich erſt wieder froh werden, mein Heinz. An einem regenfeuchten Julitag kamen wir nach St. Jodok, einem kleinen Bergneſt, das die Brennerbahn fauchend umkreiſt. „Morgen fruh ſcheint d Sunn,“ verſicherte der Führer, mit dem wir über unſere Pläne verhandelten, und ſo beſchloſſen wir, noch am Rachmittag zur Geraerhütte zu gehen. Es war ein einförmig düſterer Weg durch die Wieſen des Valſer Tales mit ihren zahlloſen braunen Heu⸗ ſchobern, auf die der Rebel tief hinunterhing, und dann die Anhöhe hinan auf ſteinigem Pfad, von ſchwarz⸗ grauen Bergen umgeben, deren Gipfel ſich in den Wolken verloren. Und in der Racht tobte der Wind um die Holzhütte, und der Regen klatſchte an die kleinen Fenſter, daß ich mich fröſtelnd in die Decken hüllte und eine undurchdringliche Finſternis noch vor mir zu haben meinte, als der Führer morgens an die Türe pochte. „Schön wird's,“ ſagte er mit unerſchütterlicher Sicher⸗ heit. Wir traten hinaus, dicht vermummt, wie zu einer Winterreiſe. Faſt wäre ich ſchwindelnd zurückgewichen vor dem Bilde, das die flackernde Laterne unſicher be⸗ leuchtete: wie auf einer Inſel im Wolkenmeer ſtanden wir. Unten im Tal lagen die Rebel dicht geballt, nur hie und da ſtreckte es ſich aus ihnen hervor wie lange 143 ſchwarze Arme, die, kaum daß ſie unſere Höhe erreichten, verſchwanden wie Geſpenſter beim Glockenſchlag. Wir ſtiegen aufwärts, Schritt vor Schritt, lange Serpentinen bis zum Alpeiner Ferner. Friſchgefallener Schnee deckte ihn wie ein Leichentuch, nur hie und da glänzte das Eis hervor in tiefen, dunkelgrünen Spalten, — ge⸗ heimnisvoll lockende Gräber. Kein Leben ringsum; ſelbſt der Sturm war verſtummt, unhörbar verſanken unſere Füße im Schnee. Mich grauſte. War es nicht das Reich des Todes, das wir betreten hatten? Da begann der Himmel über uns ſich roſig zu färben; noch einmal ſah ich hinab in das Rebelmeer der Tiefe, dann ſtieg ich, ſo raſch meine Füße mich tragen konnten, um die Höhe zu erreichen, wenn die Sonne kam. Und ſie war da. Glühend in junger Liebe, als küſſe ſie die Erde zum erſtenmal. In der heißen Umarmung ihrer Strahlen ward die keuſche Braut zum Weibe, das ſich dem Geliebten ſchrankenlos hingibt. Sie warf die dunkeln Schleier von ſich, in die ſie ſich eben noch ſcheu gehüllt hatte, und auch die letzten weißen duftigen Hüllen zerriß ſie. In ihrer prangenden Schöne ſtand ſie vor ihm, die ſchimmernde weiße Stirn ſtolz gen Himmel gehoben, den ſchneeigen Buſen roſig überhaucht von dem Gruß deſſen, der ſie erlöſte. Wir ſtanden ganz ſtill und ſchauten uns an und laſen einander die Gedanken von den ſtummen Lippen. Auf dem Weg durch die Racht und empor bis hierher, hatten wir die Vergangenheit noch einmal durchlebt, zuſammen⸗ gedrängt in wenige Stunden. Nun aber war es vor⸗ über. Der Gipfel war unſer. Und über das Schnee⸗ feld hinab, der Sonne zu, lag eingebettet in grüne 144 Matten ein kleines, helles Haus. Mit dem Bergſtock, deſſen Spitze rote Alpenroſen ſchmückten und weiße Edelweißſterne, wies ich hinab: „Dort will ich Hochzeit halten,“ flüſterte ich. Da hob mich der Liebſte jubelnd hoch empor, und miteinander ſauſten wir über den Schnee in die Tiefe. „Arg verliabt ſan's,“ brummte der Führer gutmütig, als wir aufatmend unten ſtanden. Zitherſpiel und Geſang empfing uns in der Domi⸗ nikushütte. Ein paar junge Männer, Studenten mit blondem Kraushaar und blitzenden Augen, ſaßen um den Tiſch, und ihre Stimmen füllten den Raum mit lauter Frohſinn. Seil, Steigeiſen und Eispickel lagen neben ihnen; die verſtaubten Stiefel und die braunen Geſichter bewieſen: ſie waren echte Höheneroberer. Solche Söhne will ich haben —, zog es mir durch den Sinn, als ſpräche es aus unbekannter Tiefe meines Weſens. Feierlich, mit Millionen goldenen Sternen am Himmel, ſenkte ſich die Nacht in das Tal. Von Wieſen und Wäldern ein ſtarker Duft füllte unſre braune Kammer. Und leiſe Winde, die von den Gipfeln kamen und noch keinen Staub getragen hatten, flüſterten in den Fichten vor dem Fenſter. Da bin ich ſein Weib geworden ... 145 Fünftes Kapite! Warme Auguſtſonne flutete durch alle Zimmer und brütete unten in gewitterſchwangerer Hitze auf den jungen Anlagen des Lützow⸗ platzes. Unruhig wanderte ich von einem Raum in den anderen, rückte auf dem mächtigen Doppelſchreibtiſch, den wir uns zu gemeinſamer Arbeit hatten machen laſſen, die Bilder der beiden Buben, die nun meine Stiefſöhne waren, noch ein wenig in den Vordergrund, ging in ihr Zimmer mit dem blumengeſchmückten Balkon, von dem aus der Blick geradeaus weit über die dicht⸗ belaubten Bäume am Kanal ſchweifen konnte und rechts die Straße hinauf bis in die grüne Tiefe des Tiergartens, ſtrich mechaniſch die Bettdecken glatt und ſteckte den Kanarienvögeln, mit denen ich die Kinder überraſchen wollte, ein paar Kuchenkrümel zu, die ich nebenan vom reichbeſetzten Veſpertiſch geholt hatte. Immer wieder zog ich die Uhr: gleich mußten ſie kommen, ſchon eine Stunde faſt war Heinrich fort, um ſie am Anhalter Bahnhof in Empfang zu nehmen. Ich lief durch unſer Schlafzimmer mit ſeinen hellen Möbeln und meergrünen Vorhängen auf die breite Loggia hin⸗ aus: von hier würde ich ſie zuerſt entdecken, wenn ſie vom Lützowufer auf den Platz einbiegen würden. Ich Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 10 146 muſterte erwartungsvoll alle Menſchen. Von der luf⸗ tigen Höhe meines vierten Stockes glichen ſie aufge⸗ zogenen Puppen, wie ſie die Händler um Weihnachten auf dem Aſphalt laufen laſſen. Und der Herkules auf der Kanalbrücke ſah wie ein Knabe aus, der mit ſeinem Pudel ſpielt. Wehte dort nicht jemand grüßend mit einem weißen Tuch? Richtig: es war der kleine, ſchwarze Hans, der dem Vater und dem Bruder voranlief. Ich hatte doch rechtes Herzklopfen. „Du wirſt ſie lieb haben, meine Kinder,“ hatte Heinrich geſagt, ehe er ging. Und mein „Ja“ war aus vollem Herzen gekommen Run aber war mir bang. Sie waren bei ihrer Mutter geweſen —, würden ſie der jungen Frau ihres Vaters nun nicht wie einer Feindin begegnen? Würde all meine Liebe, die ich ihnen entgegenbrachte, weil ſie Heinrichs Söhne waren, ihr Mißtrauen beſiegen können? Sie ſtürmten die Treppe hinauf. „Fein, daß du jetzt die Mama biſt!“ rief Wölfchen. Hans ſah mich nur groß an und kramte in ſeinem Ruckſack nach einem halb⸗ verwelkten Alpenroſenſträußchen, das er mir mitgebracht hatte. „Ihr müßt recht brav ſein, damit Ihr ſo eine gute Mama verdient,“ ſagte Heinrich. Ich warf ihm einen flehenden Blick zu. Er ſollte mich nicht loben, — jetzt, da ſie von der eigenen Mutter kamen. Aber ich hatte ihnen wohl tiefere Empfindungen angedichtet, als ſie beſaßen. Sie waren vergnügt, ſelbſt Hans wurde geſprächig; und als ich ſie zu Bett brachte, waren ſie ganz von ſelbſt zärtlich zu mir geworden. „Ich danke dir, Alix,“ ſagte Heinrich mit warmer Betonung. „Roch haſt du zum Dank keine Ur⸗ 147 ſache,“ antwortete ich. Mir war ſeltſam beklommen zumute. Als wir ſchlafen gingen, öffnete ich gedankenlos die Tür zum Zimmer der Kinder, — es hatte mir in den acht Tagen ſeit unſerem Einzug als Ankleideraum ge⸗ dient —, erſchrocken fuhr ich zurück: „Biſt du's, Mutter? rief eine ſchlaftrunkene Stimme. Ganz leiſe zog ich die Türe wieder ins Schloß; auf Zehenſpitzen ſchlich ich ins Bett. „Liebſte — Einzigſte!“ flüſterte Heinrich und zog mich in ſeine Arme. Roch waren wir in den Flitter⸗ wochen unſerer jungen Ehe, und uns war, als ob jeder Tag und jede Racht uns einander aufs neue ſchenkte. Heute aber wehrte ich dem Geliebten mit einem ängſt⸗ lichen Blick auf die Tür, — kaum daß ich ſeinen Kuß zu erwidern wagte. Wir waren nicht mehr allein. Zehn⸗ jährige Knaben ſind hellhörig. Am nächſten Morgen ging ich mit ihnen in die Stadt. Ich hatte mich überzeugt, daß ſie ganz neu eingekleidet werden mußten, auch die Schulbücher galt es anzu⸗ ſchaffen. In recht gedrückter Stimmung kam ich nach Hauſe; die Einkäufe hatten ein großes Loch in mein Portemonnaie geriſſen. Siebenzig Mark, — das war der ganze Reſt meiner Erbſchaft; auf unſere Reiſen, auf die Wohnungseinrichtung war ſie draufgegangen; Heinrich hatte ſchließlich auch noch den ganzen Haus⸗ halt der geſchiedenen Frau mitgegeben, und es war nun nötig geworden, alles Fehlende zu erſetzen. Ge⸗ wiß: ich hätte weniger ausgeben können —; ich hatte an nichts anderes gedacht, als unſerer Liebe ein Heim zu ſchaffen, das ihrer würdig war. Glückſelig hatten wir in den Tag hineingelebt; nun erſt ſchien das All⸗ 1o* 148 tagsleben anzufangen, ganz nüchtern, ganz proſaiſch, mit ſeinen täglichen kleinen Forderungen und ſeinen perſönlichen Sorgen, in deren Schwüle der Altruismus ſo leicht verdorrt und der Egoismus üppig empor⸗ wuchert. Mir ſank der Mut: wie würde Heinrich, der, wie es ſchien, an die Unerſchöpflichkeit meiner Kaſſe ebenſo feſt geglaubt hatte wie ich, die unerwartete Rachricht aufnehmen? Ich war bei Tiſch, — dem erſten Mittag zu Hauſe, wir hatten bis dahin wie luſtige Studenten ſtets irgendwo draußen gegeſſen, — nicht ge⸗ rade redſelig. Gut, daß die Buben ſo viel zu erzählen wußten! Als wir uns am Schreibtiſch allein gegenüberſaßen, Korrekturen und Manuſkripte vor uns, bekannte ich Heinrich meine Entdeckung. Er ſah mich ganz ent⸗ geiſtert an. „Aber das iſt doch nicht möglich!“ ſagte er ſchließlich und ſtrich ſich mit der Hand über die heiße Stirn. „Du haſt dich beſtehlen und betrügen laſſen —“, fuhr er dann los mit einem Ausdruck und einer Stimme, die ihn mir vollkommen fremd erſcheinen ließen. Entſetzt ſtarrte ich ihn an: ſo hatte mein Vater ausgeſehen, wenn ich vor dem Ausbruch ſeines Zorns verängſtigt aus dem Zimmer entfloh. Mir ſtürzten die Tränen aus den Augen. „Und nun weinſt du auch noch, — als ob damit geholfen wäre —“ rief Heinrich aufgeregt. Ich drückte mein Taſchentuch vor die Augen, ſtand auf und riegelte geräuſchvoll die Schlafzimmertür hinter mir zu. Ich hörte, wie er die Entreetür krachend ins Schloß warf. Es war die erſte, ernſte Differenz in unſerer Ehe. Aber ſchon als ich ihn mit langen Schritten unten über den Lützowplatz gehen ſah, war 149 mein Kummer verflogen. Ich hätte ihn, ohne Rückſicht auf die Verwunderung der Menſchen, zurückgerufen, wenn meine Stimme ihn erreicht haben würde. Run ſtand ich weit hinausgelehnt auf der Loggia und winkte mit dem Tuch, das noch feucht von meinen Tränen war. Mitten auf dem Platz ſtand eine alte Frau mit einem Korb voll Roſen. Seine Schritte verlangſamten ſich, als er in ihre Rähe kam. Zögernd ging er an ihr vorüber. Dann aber drehte er um, ganz raſch, als habe er etwas ſehr Wichtiges vergeſſen; ich ſah, wie er der alten Frau alle Roſen aus dem Korbe nahm, und den Weg haſtig zurückging, den er gekommen war. In dieſem Augenblick hob er den Kopf und ſah mich. Er winkte mit der Hand voll Blumen. Ich lief die Treppe hinab, ihm entgegen. Wir ſanken einander in die Arme. „Verzeih mir, Geliebte, verzeih!“ flüſterte er. „Was ſollte ich dir zu verzeihen haben . Roch am Abend fuhr er nach Frankfurt, um Hall um einen Vorſchuß zu bitten; vierundzwanzig Stunden ſpäter depeſchierte er: „Anſtandslos bewilligt. Sei ohne Sorgen.“ Nun müſſen wir doch wohl ein paar Beſuche machen,“ meinte Heinrich ſeufzend, ein paar Tage ſpäter, „bei meinem Bruder, bei Auguſt. bei dem Alten —“ Wir gingen zuerſt zum „Vorwärts“ in die Beuth⸗ ſtraße, in deſſen Redaktion mein Schwager tätig war, Dunkle, ſchmierige Steintreppen führten hinauf. Rur ſpärlich drang das Tageslicht in die Redaktionsräume, 150 vor deren Fenſtern ein großes Fabrikgebäude mit dem Rattern ſeiner Maſchinen und den grauen Geſtalten, die ſich eilig hin⸗ und herbewegten, als ſtändiges Mene⸗ tekel für die Vertreter der Arbeiterſchaft drüben auf⸗ gerichtet ſchien. Zwiſchen Haufen von Büchern und Zeitungen ſaß mein Schwager, blaß und abgeſpannt. Er war immer überarbeitet, denn zu ſeiner redaktio⸗ nellen Tätigkeit laſtete er ſich ſtets noch tauſend andere Dinge auf. „Du intereſſierſt dich ja für die Konfektionsarbeiter, wandte er ſich an mich, „Reinhard und ich bereiten eine Enquete vor. Man muß die Offentlichkeit immer wieder mit der Raſe auf die Dinge ſtoßen. Berlepſch iſt abgeſägt, die Konfektionäre haben ihr Wort ge⸗ brochen, ohne daß ein Hahn darnach krähte, jetzt gilt's wieder Spektakel machen, ſonſt iſt's ganz und gar aus mit der Sozialreform.“ Ich ſicherte ihm freudig meine Hilfe zu. Und mit jener nervöſen Unruhe, die ſtets das Zeichen geiſtiger Überreiztheit iſt, ſchnitt er in der nächſten halben Stunde ein Dutzend anderer Ge⸗ ſprächsthemen an, um ſchließlich von ſeinem Bruder bei der Frage des Vorwärtskonflikts feſtgehalten zu werden, der gerade die Gemüter in der Partei erhitzte und die Gegner ſehr beſchäftigte, die überall hoffnungsvoll Un⸗ frieden witterten. „Ihr habt unrecht von Anfang bis zu Ende,“ er⸗ klärte Heinrich kategoriſch. „Zuerſt in der Ironiſierung der Quarckſchen Vorſchläge und dann in der unwür⸗ digen Behandlung des alten Liebknecht.“ „Was ver⸗ ſtehſt du davon?“ brummte Adolf. „Erlaube: von Sozialpolitik verſtehe ich ebenſo viel 151 wie du. Und Quarcks Vorſchläge liefen darauf hin⸗ aus, den Gewerkſchaften eine intenſivere Beſchäftigung mit ſozialpolitiſchen Fragen ans Herz zu legen. Darin hat er recht. Sie ſind wichtiger, als leichtſinnig begon⸗ nene Streiks.“ „Die Regierung würde auf unſere ſchönſten ſozial⸗ politiſchen Kongreſſe pfeifen, und die Folge wäre nur eine Verwiſchung des Klaſſencharakters der Bewegung“ — Adolf redete ſich in ſteigende Erregung hinein; jede Unterhaltung ſchien ſich in der Familie Brandt zum Streit auszuwachſen; — „ſelbſt einen verlorenen Streik, der ſie trotz alledem ſtärkt, weil er die Erbitterung ſteigert, ziehe ich einem Liebäugeln mit bürgerlicher So⸗ zialreformerei vor. Und was den Alten betrifft —, ich möchte ſehen, was du täteſt, wenn du mit ihm in der Redaktion ſäßeſt!“ — „Mich zanken — höchſt wahr⸗ ſcheinlich! Aber nicht vor der Offentlichkeit!“ Ich hielt den Augenblick für kritiſch und ſtand auf. „Übrigens habe ich noch was für dich, Schwägerin,“ ſagte Adolf und begann ſeine ſämtlichen mit Papieren vollgeſtopften Taſchen vor uns auszuleeren. Endlich fand ſich der Zeitungsausſchnitt, den er ſuchte. Ich las: „Zur Palaſtrevolution im Vorwärts — cherchez la femme! Wir erhalten von authentiſcher Seite folgende intereſſante Aufklärung über die tieferen Beweggründe der Empörung der Vorwärtsredaktion gegen ihren Chef, Wilhelm Liebknecht. Frau von Glyzcinski, alias Fräulein Alixvon Kleve, heiratete kürzlich Dr. Brandt, einen der Vorwärtsredakteure. Ihr brennender Ehrgeiz, der das Ziel verfolgt, das Zentralorgan der Partei in die Hand zu bekommen, iſt es, der die Intrige an⸗ 152 zettelte. Eine Dynaſtie Brandt dürfte die Dynaſtie Liebknecht nunmehr ablöſen.“ „Verlogenes Pack!“ knirſchte Heinrich. Adolf lachte. „Beruhige dich,“ ſagte er zu ihm, „wir bringen heute ſchon eine Berichtigung —“ „Und wir gehen ſofort zu Liebknechts, um der Ge⸗ ſchichte die Spitze abzubrechen.“ Adolf hielt uns noch einmal zurück: „Ich rate euch dringend, den Beſuch zu unterlaſſen. Der Alte kümmert ſich freilich um keinerlei Geklatſch, aber Frau Ratalie erzählt in allen Parteikaffeekränzchen Räubergeſchichten über euch, die ſie von deiner geſchiedenen Frau gehört haben will. Sie iſt euch noch feindſeliger geſinnt als Leo.“ „Leo?!“ wiederholte Heinrich überraſcht. So hieß jener Freund, auf deſſen enthuſiaſtiſche Schilde⸗ rung hin er die Bekanntſchaft Roſaliens geſucht hatte. „Das weißt du nicht?!“ ſtaunte Adolf. „Jedem, der es hören oder nicht hören will, zählt er haarklein deine Sünden auf: daß du Roſalie gezwungen habeſt, nach England zu gehen, um hier — na, ſagen wir: un⸗ geſtört zu ſein, daß du ſie ſelbſt im Wochenbett nicht geſchont, ſondern ihr die Einwilligung zur Scheidung durch unaufhörliche Quälerei erpreßt hätteſt und ſie, kaum daß ſie aufſtehen konnte, mit dem Säugling aus dem Hauſe getrieben haſt.“ Heinrich war außer ſich. Einer ſeiner beſten Freunde war Leo geweſen, und er verurteilte ihn, ohne ihn gehört zu haben! Wir gingen ſchweigſam nach Hauſe. Auf dem Lützow⸗ platz ſah ich Frau Vanſelow uns entgegenkommen. Sie bemerkte uns, ſtutzte und bog haſtig in einen Reben⸗ weg ein. Heinrich ſah mich forſchend an und zog, wie zum Schutz, meinen Arm durch den ſeinen. „Mach dir 153 nichts draus, Schatz. Es iſt alles Geſindel! Du ſtehſt zu hoch, als daß es dich verletzen könnte.“ — „Und dich?!“ fragte ich und zwang mich zum Lächeln. Er biß ſich die Lippen und ſchwieg. Faſt immer, wenn ich ausging, hatte ich ähnliche Begegnungen: Kein Zweifel, meine alten Gefährtinnen aus der bürgerlichen Frauenbewegung wollten mich nicht mehr kennen. Frau Schwabach ging mit hoch erhobenem Kopf vorüber, wenn ſie mich ſah, und ich erfuhr aus den Zeitungen von den Vorbereitungen zum internatio⸗ nalen Frauenkongreß, den einzuberufen ich im Frühjahr noch mit beſchloſſen hatte. Man lud mich zu keiner Sitzung mehr ein, es fehlte nur noch, daß man mir das Referat über die Arbeiterinnenfrage fort genommen hätte, das mir ſeit Monaten übertragen worden war. Ich ſchrieb an Frau Morgenſtern, um ſie daran zu er⸗ innern. Sie antwortete in ſichtlicher Verlegenheit. „Wir glaubten nicht, daß Sie noch Wert darauf legten, ge⸗ ſchieht es dennoch, ſo können wir Sie natürlich nicht hindern.“ Rach all dieſen Erfahrungen ſah ich dem Beſuch bei Bebels nicht ohne Herzklopfen entgegen, obwohl wir zu unſerer Hochzeit ein Glückwunſchſchreiben erhalten hatten. Vielleicht war das nichts als eine Höflichkeit geweſen; ich fing an, mißtrauiſch zu werden, und etwas wie Verbitterung bemächtigte ſich meiner. Um ſo freudiger war ich überraſcht, als die gute Frau Julie uns herz⸗ lich willkommen hieß. Vor Rührung und Dankbarkeit wäre ich ihr faſt um den Hals gefallen. Und wenn ich in Bebel bisher den Vorkämpfer des Sozialismus be⸗ wundert hatte, — von dem Augenblick an, wo er mir 154 mit einem freundlichen: „Run ſind Sie ganz die unſere“ kräftig die Hand ſchüttelte, verehrte ich ihn um ſeiner Menſchlichkeit willen. Ich beklagte mich über die Behandlung durch die vielen anderen, — ſelbſt durch Parteigenoſſen. „Sie wundern ſich noch, daß Ihre Geſchichte ſo viel Staub aufgewirbelt hat?!“ ſagte Bebel. „Da kennen Sie unſere männlichen und weiblichen Philiſter ſchlecht! In der Theorie läßt man ſich allerlei bieten, aber in der Praxis — nein, das geht doch nicht! Wo bliebe da die Mo⸗ ral!! Meine Frau und ich haben ſchon ſchwer für Sie kämpfen müſſen — „So laß doch, Auguſt, — das erzählt man doch nicht! wehrte Frau Julie errötend ab, während ich ihr dank⸗ bar die mütterlich⸗weiche Hand drückte. „Warum denn nicht?“ meinte er. „Es iſt beſſer, Brandts ſind orientiert, als daß ſie täglich aufs neue unangenehm überraſcht werden. „Ich hörte, daß Leo ſich ſehr feindſelig benimmt? fragte Heinrich. „Und ob! Aber auch mit Singer habe ich mich ſchon herumgeſtritten, ſo daß er mich ſchließlich fragte, ob ich ihn für einen Philiſter hielte, was ich bejahte. Daß Frau Liebknecht gegen Sie beide Partei ergreift, war bei ihren Anſchauungen gar nicht anders zu erwarten. Bei den Frauen müſſen Sie ſowieſo darauf gefaßt ſein, daß ſie von einem wahren horror ergriffen ſind. Im Mittelalter hätten ſie Sie als Hexe verbrannt, heute werden Sie von hundert Mäulern begeifert und auf hundert Federn geſpießt.“ „Und da läßt ſich gar nichts machen?“ Meinem 155 Mann ſchwollen die Adern an den Schläfen. „Warten Sie's ab, daß iſt der einzige Rat, den ich geben kann. In vier Wochen ſtürzen ſich die Raubtiere auf irgend⸗ einen anderen armen Piepmatz, der ſo vermeſſen iſt, fliegen zu wollen.“ Frau Julie fragte nach meinen Eltern. Ich erzählte freimütig, was wir durchgemacht hatten. „Arme, junge Frau — arme junge Frau,“ wiederholte ſie immer wie⸗ der und ſtreichelte mir die Wange. „Mach unſere Genoſſin nicht noch weicher, als ſie iſt,“ ſagte er — „Sie müßten ſtatt deſſen in Drachen⸗ blut baden! Aber eins wird Sie tröſten: die Arbeit in der Partei. Damit werden Sie ſchließlich auch die böſeſten Zungen zum Schweigen bringen.“ Wir ſchieden wie Freunde. Ich fühlte mich neu ge⸗ kräftigt und voll Hoffnung. Als wir ein paar Tage ſpäter zu Bebels geladen wurden, ſah ich dieſem Ereig⸗ nis mit erwartungsvoller Freude entgegen. Eine Ge⸗ ſellſchaft freier Geiſter, die die höchſten Ideale der Menſchheit vertreten — meine Sehnſucht, ſeit ich denken konnte —, würde ſich bei ihnen zuſammenfinden: unſere Gefährten auf dem Weg in die Zukunft. Lautes Stimmengewirr ſchlug uns entgegen, als wir an jenem Abend über die gaſtliche Schwelle traten. Es verſtummte jählings, ſobald die Türe vor uns aufging. Sie haben eben von uns geſprochen, dachte ich unwill⸗ kürlich. Ich wurde vorgeſtellt und aufs Sofa gezogen. Auf dem Tiſch davor ſtand eine blendende Petroleum⸗ lampe. Reben mir ſaß eine große, dicke Dame, die ſich nicht anlehnen konnte, weil ſie zu eng geſchnürt war. Sie war ſelbſtbewußt wie anerkannte Schönheiten, 156 warf ihre braunen Augen ſiegesſicher umher und be⸗ handelte mich ſehr gnädig. Ein Herr mit einem ſchwarzen Vollbart, der wie gat gewichſte Stiefel glänzte, rückte ihr mit ſeinem Stuhl immer näher und ſchlug ſich bei jedem Witz, den er erzählte, ſchallend auf die Schenkel. Er verſuchte, auch mich ins Geſpräch zu ziehen. „Sie ſind ja, Gott Lob, auch eine vor⸗ urteilsloſe Frau,“ ſagte er und zwinkerte vertraulich mit den Augen. Ich wandte mich oſtentativ zur anderen Seite den Damen zu, die Frau Bebel an den Tiſch führte. Aber die Unterhaltung blieb an den oberfläch⸗ lichſten Phraſen kleben. Dazwiſchen hörte ich mit halbem Ohr das Geſpräch der beiden neben mir. Seine Witze wurden immer eindeutiger, in irgend einer Friedrichs⸗ ſtraßen⸗Bar mochte er ſie nicht anders erzählen. End⸗ lich ging's zu Tiſch; ich hatte den Ehrenplatz neben Bebel. Man ſprach über die lieben Mitmenſchen genau wie bei den „ſauren Möpſen“ ſchrecklichen Angedenkens, die ich in den verſchiedenen Garniſonen meines Vaters hatte mitmachen müſſen, und an Stelle von Regi⸗ ments⸗ und Manövergeſchichten über interne Partei⸗ affären. Da ich nichts von ihnen verſtand, konnte ich die Geſellſchaft um ſo mehr beobachten; die Damen waren ſehr erhitzt, und wenn der Nachbar eine Be⸗ merkung machte, kicherten ſie unaufhörlich. Die Hausfrau ging von einem zum anderen, um zum Eſſen zu nötigen. Ich fing an, mich zu amüſieren, — nicht mit den Gäſten, ſondern über ſie, — und ſchämte mich doch wieder, daß meine Beobachtung ſo kleinlich an lauter Außerlichkeiten kleben blieb. Ich wußte doch von vorn herein: hier waren keine Montmorencys. Aber ſo etwas 157 wie eine Geſellſchaft bei Madame Roland vor 89 hatte ich, mir doch wohl vorgeſtellt. Zwiſchen Fiſch und Braten benutzte ich die Gelegen⸗ heit, um meines Nachbarn Anſicht über den bevor⸗ ſtehenden Frauenkongreß einzuholen. Eine Rotiz in Wanda Orbins Zeitſchrift hatte mir zu denken gegeben. „Die Genoſſinnen haben beſchloſſen, die Einladung zum Kongreß abzulehnen,“ hieß es darin. „Ich kann Ihnen nur raten, ſie ruhig anzunehmen, ohne Rückſicht darauf, wie Frau Wanda ſich ſtellt,“ ſagte Bebel und warf mit einer lebhaften Bewegung die widerſpenſtigen Haare aus der Stirn. „Ich befinde mich mit ihr ſtets in kleinen Konflikten wegen der unge⸗ ſchickten Taktik und der oft recht gehäſſigen Art, mit der ſie die bürgerliche Frauenbewegung bekämpft. Sie käme mit einer ſachlichen, ruhigen Darſtellung viel weiter. Haben Sie zum Beiſpiel geleſen, was ſie über die Reſolutionen ſchrieb, die hier in vier großen Ver⸗ ſammlungen zwiſchen der zweiten und dritten Leſung des Bürgerlichen Geſetzbuchs zur Annahme gelangten? Ich nickte: „Mich hat überhaupt gewundert, daß von ſeiten der ſozialdemokratiſchen Frauen ſo wenig geſchah. Das Bürgerliche Geſetzbuch hätte zu einer großen Proteſt⸗ bewegung Anlaß genug gegeben! „Sicherlich!“ bekräftigte er, „und ſtatt den gegebenen Anlaß zu benutzen, lehnte Frau Wanda den Anſchluß an den Proteſt der bürgerlichen Damen ab —, nicht etwa wegen dem, was darin ſteht, ſondern wegen dem, was nicht darin ſteht! Mich amüſiert der Vorgang beſonders deshalb, weil ich ſelbſt den Reſolutionen, die Frau Vanſelow mir ſchickte, ihre letzte Form gegeben habe. 158 „Sie ſcheinen mir mehr von der bürgerlichen Frauen⸗ bewegung zu halten, als ich, die ich aus ihr hervor⸗ ging,“ meinte ich lächelnd. „Die Diſtanz verändert immer das Urteil,“ ant⸗ wortete er. „Ich mache mir aber keinerlei Illuſionen, finde nur, daß es taktiſch richtiger geweſen wäre, die Empörung der bürgerlichen Damen über die Haltung des Reichstags für uns auszunutzen, als ſie ſo plump, wie Frau Wanda es tat, vor den Kopf zu ſtoßen. Die Frauen haben tatſächliche Fortſchritte gemacht und ſind mit ihren männlichen Parteigenoſſen, den Liberalen, nicht in einen Topf zu werfen.“ Ich erinnerte ihn an das erwachende Intereſſe, das ſie ſeit dem Konfektionsarbeiterſtreik für die Arbeite⸗ rinnenfrage an den Tag legten. „Auch auf dem Kon⸗ greß wird ſie im Verhältnis zu früheren Zeiten einen breiten Raum einnehmen.“ „Ein Verdienſt Glyzcinskis und Ihrer Zeitſchrift —, das werden Sie ſich hoffentlich nicht verhehlen,“ warf er ein. „Im übrigen iſt das natürlich die ſchwächſte Seite der Damen und wird es bleiben. Sie können ihnen ja darüber tüchtig die Leviten leſen. Mit Ausnahme der chriſtlich⸗ſozialen Frauen jüngerer Richtung verſtehen ſie nicht einen Deut von ihr.“ Chriſtlich⸗ſozial, — das war das Stichwort zur Verallgemeinerung des Geſprächs. Göhre hatte eben ſein Pfarramt niedergelegt, Raumann plante eine Tageszeitung; die offene Trennung der Gruppe, die ſich um ihn gebildet hatte, von der Stöckerpartei, war eine ſchon faſt vollendete Tatſache. Man ſtritt mit ſteigender Lebhaftigkeit über ihre Ausſichten, über die 159 Bedeutung, die ſie für die Sozialdemokratie haben könne. „Richts als ein Unterſchlupf für die Möchtegern⸗ und Kanndochnicht⸗Politiker; Offiziere ohne Armee, die mit den Jahren nach rechts abſchwenken,“ ſagte der mit dem ſchwarzen Bart und zog ihn ſchmeichelnd durch kranke, blutleere Finger. „Es wird unſere Sache ſein, ihnen die Entwicklung zu uns zu ermöglichen,“ hörte ich Hein⸗ richs Stimme. „Sie ſind immer ein Ideologe geweſen, lieber Brandt,“ antwortete ihm eine andere, „ſollten wir uns um eine Handvoll Intellektueller die Beine ablaufen, wo Millionen Arbeiter noch nicht die un⸗ ſeren ſind?!“ „Gerade um die Millionen zu ge⸗ winnen, brauchen wir eine ſolche Handvoll —,“ entgeg⸗ nete Heinrich.. „Dafür laſſen Ste nur ruhig die Verhältniſſe ſorgen,“ ſagte Bebel lebhaft, „ſie werden uns ſchneller, als ihr alle glaubt, die Maſſen zutreiben. Roch ein paar Jahre Flottenrummel, einige Reden von S. M.¹ „Und wir werden glücklich ein Dutzend Mandate mehr haben —, oder meinſt du wirklich, wir ſprängen dann ſchon mit beiden Beinen in den Zukunftsſtaat?! Der mit gutmütigem Spott geſprochen und bisher faſt immer geſchwiegen hatte, war Ignaz Auer. Auf meine raſch entzündliche Begeiſterung, die Bebels Worte ganz anders ergänzte, wirkten die ſeinen wie ein kalter Waſſerſtrahl. Anderen ſchien es ähnlich zu gehen, das Geſpräch verlor ſeinen allgemeinen Charakter; man ſtand auf. Rach ein paar Höflichkeitsphraſen wurde der weib⸗ liche Teil der Geſellſchaft in das Wohnzimmer genötigt; die Herren rückten mit ihren Zigarren um den Eßtiſch I60 zuſammen, und durch die Tür klang ihre laute Unter⸗ haltung. Bei uns drinnen ſprach man von Fleiſch⸗ preiſen und Kochrezepten; keine der anweſenden Frauen ſchien in der Parteibewegung irgend eine aktive Rolle zu ſpielen. Fragen von allgemeinerem Intereſſe wurden nicht berührt. Rur die große, dicke Frau, deren Schön⸗ heit und Geiſt mir inzwiſchen irgendwer geprieſen hatte, ſtellte ſich wie ein Inquiſitor kerzengerade vor mich hin und fragte: „Wie denken Sie über Ibſen?“ Die anderen richteten ſelten ein Wort an mich; im Hintergrund ſchienen ſie über mich zu tuſcheln, und ich fühlte ihre Blicke, die muſternd auf mir ruhten. Auf dem Heimweg konnte ich mir endlich Luft machen. „Das ſind ja alles Philiſter —,“ brach ich los, „vom Herrn Amtsrichter in Reu⸗Ruppin hätte ich nichts anderes erwartet.“ Heinrich lachte. „Glaubſt du, die politiſchen Ideale könnten aus ihren Vertretern gewandte Salonhelden machen? „Das nicht. Aber freiere Menſchen. „Darüber dürften Generationen vergehen. Die Ge⸗ wohnheit iſt wie eine Haut und läßt ſich nicht auf ein⸗ mal abziehen. Du mußt unſere Genoſſen bei der Arbeit kennen lernen, nicht beim Souper. Die erſte Gelegenheit dazu bot ſich bald. Adolf lud uns ein, der Sitzung der Gewerkſchafts⸗ kommiſſion beizuwohnen, in der die Vorſchläge Dr. Quarcks erörtert werden ſollten. In einem Lokal der Kommandantenſtraße fand ſie ſtatt. Durch die enge Kneipe, wo es nach ſchlechtem Fett und ſüßlichem Schnaps 16I röch, und den regenfeuchten dunkeln Garten, wo ein paar verkümmerte Kaſtanien zwiſchen haushohen Mauern einen endloſen Todeskampf führten, ging es in die große, hölzerne Veranda, deren ſpärliche Gasflammen die dichtgedrängte Menge unruhig beleuchteten. Gegen hun⸗ dert verſchiedene Berufe waren durch ihre Delegierten vertreten, faſt lauter ernſte, ältere Männer im Sonn⸗ tagsrock, die Zigarre zwiſchen den Lippen, den Bierkrug vor ſich; nur zwei Frauen unter ihnen: Martha Bartels und Ida Wiemer. Sie ſahen uns kommen. Aber wäh⸗ rend Martha Bartels den leeren Stuhl neben ſich haſtig aus der Reihe ſchob und meinen Gruß froſtig und fremd erwiderte, kam uns Ida Wiemer freundlich entgegen und zog uns an ihren Tiſch. „Haben Sie die Bartels geſehen?“ flüſterte ſie mir zu. „Sie hat den Moralkoller, wie alle alten Jungfern.“ Mühſam drängte ſich Reinhard mit ſeinem ſteifen Bein durch die Reihen, um uns die Hand zu ſchütteln. „So kann ich Ihnen noch perſönlich gratulieren,“ ſagte er herzlich, „und uns dazu, weil Sie nun ganz Genoſſin ſind.“ Er war der Referent des Abends. Mit einer Schärfe, die mir die Wichtigkeit der Sache zu überſchätzen ſchien, wandte er ſich gegen die Vorſchläge Quarcks. Erſt allmäh⸗ lich hörte ich das Leitmotiv aus ſeiner Rede heraus: den Gewerkſchaften die Beratung und Beſchlußfaſſung ſozial⸗ politiſcher Fragen überlaſſen, hieße den Frieden zwiſchen Gewerkſchaft und Partei gefährden, hieße den Partei⸗ tagen, die ſich bisher allein damit beſchäftigt haben — „den Bedürfniſſen und Intereſſen der deutſchen Arbeiter⸗ klaſſe vollſtändig entſprechend“ —, Sonderorganiſationen gegenüberſtellen, in die der Einfluß bürgerlicher Sozial⸗ Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II II 162 reformer einzudringen imſtande ſein würde. Die fol⸗ gende Diskuſſion verſchärfte noch den Eindruck, den ich gewonnen hatte. Es fielen harte Worte, vor denen ich erſchrak, weil ſie mir eine Vorahnung deſſen gaben, was mir bevor⸗ ſtehen mochte. „Ein Menſch, der in ſeiner bürgerlichen Exiſtenz Fiasko gemacht hat, will uns, — lauter alte erprobte Gewerkſchafter, — auf neue Wege führen,“ ſagte der eine unter dem Applaus der Anweſenden. „Erſt ſoll er, wie jeder Arbeiter auch, in die Schule gehen, ehe er das Maul aufreißt.“ — „Eine Sozialpolitik, wie Quarck ſie empfiehlt, ohne Parteipolitik, iſt nichts als jene Politik bürgerlicher Reformer, zu denen er im Grunde noch gehört,“ rief ein anderer. „Wenn er mit ſeiner beſcheidenen Parteiſtellung nicht zufrieden iſt, dann hätte er lieber gleich ſagen ſollen: für einen ſo großen Mann wie mich muß eine Extrawurſt gebraten werden, ſtatt ſeine Wünſche hinter die Forderung eines Zentral⸗ Gewerkſchaftsbureaus zu verſtecken,“ meinte ein dritter Redner, dem die verbiſſene Wut aus dem roten Geſicht leuchtete. Erhob ſich die Debatte über perſönliche Ge⸗ häſſigkeiten hinaus, ſo ſtand auf der einen Seite die geſchloſſene Phalanx derer, die mit leidenſchaftlichem Eifer den Rachdruck auf die Gewinnung der politiſchen Macht durch die Geſamtheit der Partei gelegt wiſſen wollten und den Gewerkſchaften den internen Kampf um beſſere Lohn⸗ und Arbeitsverhältniſſe als alleinige Aufgabe zuwieſen, auf der anderen Seite die ſehr Wenigen, aus deren Worten die Unzufriedenheit mit der praktiſchen Gegenwartspolitik der Partei leiſe her⸗ ausklang, und die vom Einfluß der Gewerkſchaften auf 163 die ſoziale Geſetzgebung ein Wiederaufleben der Sozial⸗ reform erhofften. Ganz nebenbei erwähnte auch je⸗ mand, daß unſere Vereinsgeſetzgebung den Gewerkſchaften aus der Beſchäftigung mit Sozialpolitik einen Strick drehen und die Organiſierung der Frauen unmöglich machen könnte. Keiner ging weiter auf dieſe Be⸗ merkung ein, auch die Frauen ſchwiegen, ich war zu ſchüchtern, um in dieſem Kreis für mein Geſchlecht eine Lanze zu brechen. Mir ſchien dieſer Grund ausſchlag⸗ gebend, um die Vorſchläge unausführbar zu finden. Ich fühlte mehr, als daß ich verſtand: unter dieſen Männern, die ſo eifrig debattierten, die alle ſo ſelbſt⸗ verſtändlich nur ein Ziel im Auge hatten, das Wohl ihrer Klaſſe, ſchlummerten Gegenſätze, die irgendwann und ⸗wo an die Oberfläche würden treten müſſen. Wir gingen noch zuſammen ins Kaffee: Reinhard, der Schwager, die beiden Frauen und wir. Martha Bartels hatte ſich erſt durch Reinhards langes Zureden dazu bewegen laſſen. „Wir müſſen doch unſere Enquete be⸗ ſprechen,“ hörte ich ihn noch ſagen, als ſie ſich uns näherte. Ida Wiemer ſtieß mich mit dem Ellbogen an und ſchob dann vertraulich ihren Arm in den meinen: „Sie wiſſen doch: Genoſſin Bartels verbreitet, daß Sie nur, um einen Mann zu finden, in die Partei kamen.“ Das gab meinem Herzen einen Stich: Martha Bartels war faſt die einzige, die die Motive meines Schritts hätte richtig beurteilen müſſen. Sie blieb ſteif und zurückhaltend und taute erſt auf, als Adolf vorſchlug, ein paar Frauenrechtlerinnen, die ſich während des Streiks bewährt hatten, zur Arbeit heranzuziehen. „Rie⸗ mals!“ rief ſie leidenſchaftlich. „Wir werden ihnen doch 11* 164 nicht die Beziehungen zur Arbeiterſchaft vermitteln, die ſie nur für ihre Zwecke ausnutzen würden. Die Chriſtlich⸗ Sozialen vor allem gehen nur auf den Gimpelfang aus!“ Es war, als ob ich Wanda Orbin ſprechen hörte. Aber ich konnte nicht anders, als ihr recht geben. Halb mißbilligend, halb verwundert ſah Frau Wiemer, die andrer Anſicht war, mich an, und beim Weggehen ſagte ſie mit einem gereizten Ton in der Stimme: „Sie ſtellen ſich auf ihre Seite — nach allem, was ich Ihnen von ihr erzählt habe?!“ Die Reihe, zu ſtaunen, war jetzt an mir: „Hier handelt es ſich um die Sache, — nicht um die Perſon! Auf der Heimfahrt fühlte ich mich plötzlich ſehr un⸗ wohl. War es der Tabaksqualm, den ich nicht ver⸗ tragen konnte, war es die feuchte Rachtluft, — ich kam nur ſchwer die ſteilen vier Treppen hinauf und warf mich angekleidet aufs Bett. Heinrich zündete das Racht⸗ lämpchen an. Es glühte auf dem Tiſch wie ein ver⸗ irrter Stern;, — und die meergrünen Wände waren wie ein milder Sommerabendhimmel, auf den das rote Glas der Lampe roſige Wölkchen malte. Heinrich nahm mir die Schildpattkämme aus den Haaren —, mein Kopf wurde freier; er zog mir Schuhe und Strümpfe aus und rieb meine eiskalten Füße zwiſchen ſeinen Händen, von denen wohlige Wärme mir durch den ganzen Körper ſtrömte. „Iſt dir jetzt beſſer, mein Schatz?“ fragte er beſorgt mit dem weichſten Ton ſeiner Stimme. Ich ſah ihn dankbar an —, dabei blieb mein Blick über ſeine Schulter hinweg an einem Bilde haften; ich hatte es ſelbſt dorthin gehängt, ich wollte es immer vor Augen haben, ich hatte verlegen gelächelt, 165 als Heinrich wiſſen wollte, warum. Und jetzt — in glückſeligem Erſchrecken preßte ich beide Hände aufs Herz —: glänzte nicht in den tiefen Dichteraugen des lockigen Ganymed von Watts ein Funken lebendigen Lebens? Ich ſank in die Kiſſen zurück, Tränen ſtrömten mir aus den Augen, — war's möglich, daß ich vor der Erfüllung meiner tiefſten Sehnſucht ſtand?! Am nächſten Morgen kam die Arztin. Sie lachte über die Erregung, mit der ich ſofort und ganz ſichere Auskunft von ihr haben wollte, und ſagte nichts anderes als: „Vielleicht!“ Ich klammerte mich an dies Viel⸗ leicht, ich drehte es jeden Tag hundertmal hin und her, ob es ſich nicht doch in ein Gewiß verwandeln könnte. Allerhand geſpenſtiſche Vorſtellungen quälten mich: als hätte die Frau, die mir hatte Platz machen müſſen, eine geheimnisvolle Macht über meinen Schoß, als könnten ihre Raubtierhände das Fünkchen Leben zer⸗ drücken. Mein Mann wurde heftig und ſchalt meine Torheit, wenn ich von meinen Angſten ſprach. So war ich denn ganz allein mit ihnen. Hätte ich nur eine Freundin, — oder eine Mutter —, dachte ich oft. Um die Zeit kamen Mutter und Schweſter aus Pir⸗ gallen zurück. „Ich muß Euch, ehe Hans wieder in Berlin iſt, allein ſprechen,“ ſchrieb ſie und kündigte ihren Beſuch für denſelben Tag an. Ich war nicht ganz ohne Furcht: ſie hatte es doch wohl übel ge⸗ nommen, daß wir ihr Anerbieten, bei unſerer Hochzeit zugegen zu ſein, immer wieder abgelehnt hatten. Zuerſt würde ſie darum ein bißchen ſteif ſein, aber dann —, ſie würde doch fühlen müſſen, wie es um mich ſtand! Mit ausgeſtreckten Händen ging ich ihr entgegen, — ich 166 ſehnte mich nach einer Mutter! Aber ſie überſah ſie, — vielleicht weil der Flur dunkel war. Und ſie atmete raſch und war ſehr rot, — vielleicht weil die Treppe ſie überanſtrengt hatte. Sie ſah ſich gar nicht um in unſerem Zimmer, — und ich hatte es ihr zum Empfang mit lauter leuchtenden Herbſtblumen geſchmückt. „Willſt du nicht ablegen?“ fragte ich zaghaft. „Rein,“ antwortete ſie ſchroff und ſetzte ſich auf den äußerſten Rand des großen Lehnſtuhls, der ſonſt ſelbſt den Fremdeſten zwang, ſich behaglich in ſeine Polſter zu lehnen. „Ich komme nur, um eins zu erfahren, das über unſere künftigen Beziehungen entſcheidet —“ die ruhige kühle Frau ſprach ſo raſch, wie ich ſie nie hatte ſprechen hören. „Meinen brieflichen Fragen ſeid Ihr ausgewichen, mir ins Geſicht hinein könnt Ihr nicht lügen: ſeid Ihr kirchlich getraut?“ Roch härter als das ihre klang jetzt mein „Rein“. Aus der Tiefe meines verletzten Gefühles kam es. Die Mutter hatte ich erwartet!! Sie ſprang vom Stuhl, blaurot im Geſicht, mit zitternden Händen ihren Schirm umklam⸗ mernd. „So iſt eure Ehe ein Konkubinat, und du biſt ſeine Mätreſſe,“ ſchrie ſie mit gellender Stimme. Ich fuhlte, wie das Zimmer ſich um mich zu drehen begann und ein krampfhafter Schmerz meinen Leib zuſammenzog. „So nehmen Sie doch Rückſicht auf Alix' Zuſtand —. ſchonen Sie ihr Kind!“ rief Heinrich, mich feſt um⸗ ſchlingend, da er ſah, wie ich ſchwankte. Sie ſchien einen Augenblick Atem zu ſchöpfen, dann lachte ſie ſchneidend: „Schonen?! Hat ſie etwa ihre Eltern je geſchont?! Ich verlor die Beſinnung. Als ich wieder zu mir 167 kam, lag ich zu Bett. „Iſt ſie fort?!“ flüſterte ich und ſah angſtvoll fragend auf den Geliebten. Er nickte. „Für diesmal iſt es nichts!“ ſagte die Arztin ein paar Stunden ſpäter. In meinem Blick muß meine ganze Verzweiflung gelegen haben, denn ſie ſtreichelte mir die Wange wie einem kleinen Kinde und ſagte tröſtend: „Um ſo ſicherer wird es das nächſte Mal ſein!“ Ich erholte mich raſch. Mit der Arbeit verſuchte ich gegen den Schmerz zu kämpfen. Es ſchien faſt, als ſollte die Waffe, die ſo oft unüber⸗ windlich zu machen vermag, an ſeiner Rieſenkraft zu⸗ ſchanden werden. Richt einen Augenblick durfte ich ſie aus den Händen laſſen, er hätte mich ſonſt wieder in ſeine Gewalt bekommen. Ich bereitete meine Kongreß⸗ rede vor und ſtudierte alles, was über die Lage der Arbeiterinnen irgend erreichbar war; ich arbeitete mit den Kindern und friſchte heimlich längſt vergeſſene Schulkenntniſſe auf, um ihnen helfen zu können, ich verſuchte, der Köchin die alten Kochkünſte beizubringen, die ich einſt zu Hauſe gelernt hatte. Wanda Orbin überraſchte mich eines Morgens dabei. „Was, Sie können kochen?!“ lachte ſie. „Ich kann, — ja,“ antwortete ich, „aber ich ſehe, daß die Ausführung meiner Kenniniſſe teuer iſt; ich werde meiner Köchin das Feld wieder räumen müſſen —.“ „Das wird für beide Teile das Beſte ſein. Ich hab's zwar auch jahre. lang tun müſſen, bin aber dafür nicht als Generals⸗ tochter aufgewachſen.“ Ein leiſer Spott lag in ihren 168 Worten. „Sie werden überhaupt noch viel iernen müſſen, Genoſſin Brandt! „Ich bin davon überzeugt und immer bereit dazu, antwortete ich kühl. „Dann wollen wir gleich damit anfangen. Ich fand ihren Namen auf dem Kongreßprogramm —, Sie müſſen ihn zurückziehen!“ Überraſcht ſah ich auf. Sie hatte mit dem Ton einer Vorgeſetzten geſprochen. „Warum?! Bebel hatte gegen meine Teilnahme nichts einzuwenden!“ „Bebel! Er ſieht die Dinge aus der Vogelperſpektive, vor allem die Frauenbewegung. Die Genoſſinnen haben beſchloſſen, die Aufforderung zu offizieller Beteiligung abzulehnen.“ „Ich weiß,“ entgegnete ich, „im Frühjahr aber, zur Zeit, als ich das Referat übernahm, beſtand dieſer Be⸗ ſchluß noch nicht. Ich würde meinen Rücktritt, ſo kurz vor dem Kongreß, für einen Wortbruch halten, der um ſo weniger zu entſchuldigen wäre, als ich ſelbſtverſtänd⸗ lich mein Thema auf Grund meiner politiſchen Über⸗ zeugung behandeln werde und es für dies Publikum ſehr nützlich iſt, auch dieſe ihm ganz fremde Seite kennen zu lernen. Zahlreiche Elemente, die der bürgerlichen Frauenbewegung in die Arme liefen — die Lehrerinnen, die Handelsangeſtellten, die Beamtinnen —, gehören ihrer ganzen Lage nach zu uns. Wir können ſie nur gewinnen, wenn wir ihnen bis ins feindliche Lager nachgehen — Frau Orbin unterbrach mich. „Sie irren. Dieſe Leute kommen für uns zunächſt gar nicht in Betracht. Und wenn Sie wirklich durch Ihre Überredungskünſte“ — ſie ſchürzte wieder ſpöttiſch die Lippen — „zwei oder 169 drei gewinnen würden, ſtünde der Rachteil, den Ihre Teilnahme an einer bürgerlichen Veranſtaltung zur Folge hätte, gar nicht im Verhältnis zu dieſem minimalen Gewinn.“ Ich ſah ſie fragend an. Sie ſtand auf, ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und blieb dann dicht vor mir ſtehen. „Sie ſind eben erſt die Unſere geworden,“ ſagte ſie mit einer Art mütterlicher Freundlichkeit, „Sie ſind Ariſtokratin, — Gründe genug, um Ihnen mißtrauiſch zu begegnen, um Ihnen die Tätigkeit in der Partei, von der ich ſo viel erwarte, ſehr zu erſchweren. Und nun wollen Sie noch als einzige, — gegen unſeren Beſchluß, — an dieſem einſeitig feminiſtiſchen Kon⸗ greß teilnehmen! Das verſtehen die Genoſſinnen nicht. Und wenn Sie dabei mit Engelszungen den Sozialismus verkündigen würden, ſie hören Sie nicht, — ſie ſehen darin doch nichts anderes, als daß Sie eben noch zu jenen gehören. Ich habe geſtern Ihretwegen einen ſchweren Kampf gehabt: die Ge⸗ noſſinnen weigern ſich unbedingt, Sie zur internen Ar⸗ beit zuzuziehen, wenn Sie nicht durch Unterwerfung unter unſeren Beſchluß Ihre Zugehörigkeit zu uns do⸗ kumentieren.“ Sie zögerte und ſoh mich erwartungs⸗ voll an. Als ich noch immer ſchwieg, legte ſie mir beide Hände auf die Schultern und fuhr mit eindring⸗ licher Stimme fort: „Sie ſind in die Partei eingetreten, um für ſie zu wirken; wollen Sie ſich aus Rückſicht auf die alten Kolleginnen Ihre künftige Stellung er⸗ ſchweren, wenn nicht gar unmöglich machen? Haben die Damen das um Sie verdient ..?“ Sie machte abermals eine Pauſe. Ich erinnerte mich, wie Frau 170 Vanſelow in einen Seitenweg eingebogen war, um mich nicht grüßen zu müſſen, wie Frau Schwabach mit hoch⸗ mütig erhobenem Kopf an mir vorüberging. Aber hatte ich durch meinen Brief an Frau Morgenſtern das Referat nicht erzwungen, — konnte ich unter dieſen Umſtänden daran denken, zurückzutreten? Vor allem aber: entſprach es meiner Überzeugung? „Sie mögen in allem recht haben, — nur in der Hauptſache nicht: in Ihrem Beſchluß. Würde ich Ihnen nicht ſelbſi als eine Heuchlerin, zum mindeſten als ein Schwächling erſcheinen, wenn ich mich ihm fügen wollte wider beſſeres Wiſſen und Gewiſſen?! ſagte ich. Auge in Auge ſtanden wir uns gegen⸗ über. Sie ballte die kleinen breiten Fäuſte, aus ihrem Geſicht brannten hektiſche Flecke, ihre roten Haare um⸗ gaben es wie mit einem Feuerkranz. Ich dagegen er⸗ ſchien ganz ruhig, ganz kühl; ich wußte, daß kein Blutstropfen meine Wangen färbte; und wie um meine ſie überragende Geſtalt zu betonen, reckte ich mich ge⸗ rade auf. „Roch nicht das Abc der Demokratie ſcheinen Sie gelernt zu haben!“ rief ſie aus. „Auers Worte kann ich Ihnen entgegenhalten, mit denen er in Frankfurt vor zwei Jahren ſeinen aufſäſſigen Landsleuten diente: „Das gehört zum Demokraten und zum Sozialdemokraten, daß er ſich ſagt: Eſel ſeid ihr zwar, aber ich muß mich fügen“. Mögen Sie uns meinetwegen für Eſel halten — der Reichtum Ihrer Erfahrung gibt Ihnen ja wohl ein Recht dazu! —, wenn Sie aber zu uns gehören wollen, ſo haben Sie Ihre Perſon der Allgemeinheit unterzuordnen.“ Jetzt war die unterſetzte, kleine Frau I71 doch die Überlegene. Ich wandte mich ab und lehnte die heiße Stirn an die kühle Fenſterſcheibe; — ſie ſollte nicht ſehen, wie ſchwer es mir wurde, mich zu unter⸗ werfen. Aber ſie folgte mir. „Genoſſin Brandt —,“ aus ihrer Stimme war der ſchrille Ton wieder verſchwunden, der an den Kaſernen⸗ hof erinnerte, — „wir haben uns alle opfern müſſen — Ich ſah ihr ins Geſicht. Die ſcharfen Züge waren weich geworden. „So will ich Ihnen nicht nachſtehen,“ ant⸗ wortete ich. In ihren Augen leuchtete es auf wie Triumph. Mir war, als ob ihr Händedruck mich in neue unſichtbare Feſſeln ſchlüge. „So, — und nun ſoll Ihnen eine goldene Brücke gebaut werden,“ damit zog ſie mich neben ſich aufs Sofa. „Wir erlaſſen Ihnen den offiziellen Rücktritt, aber Sie benutzen die kurze Zeit, die Ihnen ſowieſo nur zur Verfügung ſteht, zu einer Erklärung Ihres Stand⸗ punktes und überbringen dem Kongreß unſere Einladung zu den Volksverſammlungen, in denen die Arbeiterinnen⸗ frage in einem Umfang zur Erörterung kommen wird, der ihrer Bedeutung allein entſpricht. Sie müſſen es ja ſelbſt ſchon als eine ſkandalöſe Zumutung empfunden haben, daß man Ihnen dieſelben fünfzehn Minuten zu⸗ geſtand, die man ſo welterſchütternden Fragen wie den Volksküchen oder den Kleinkinderſchulen auch gewährt hat —“. Ich bejahte, ohne recht hinzuhören, ſie ſprach weiter, wie ein unaufhörlich knarrendes Waſſerrad, immer raſcher, ohne Abſatz. „Den erſten Vortrag in unſeren Verſammlungen übernehmen Sie,“ — damit war ihr Redeſtrom endlich verſiegt. Wir verabſchiedeten uns. An der Treppe blieb ſie noch einmal ſtehen: „Ich 172 hätte faſt die Hauptſache vergeſſen: Wir haben morgen eine Sitzung. Holen Sie mich um acht Uhr ab; es wird für ſie angenehmer ſein, wenn ich Sie einführe.“ So war ich alſo aufgenommen — endgültig, aber zu einer rechten Freude darüber kam ich nicht. So ſehr ſich mein Rachgeben begreifen und entſchuldigen ließ, ſo notwendig es vielleicht in der gegebenen Situation für mich war, ich wurde das peinliche Gefühl dabei nicht los, einen Wortbruch begangen zu haben. Was mir zuerſt wie eine Erleichterung ſchien: die „goldene Brücke“, — kam mir nun vollends wie eine Täuſchung vor. Aber ein Zurück gab es nicht mehr. Die ſozialdemokratiſche Frauenbewegung ſtand damals noch immer im Zeichen des Köller⸗ Kurſes. Ihre Bildungsvereine waren unter den nichtigſten Vorwänden aufgelöſt worden; ihre Vor⸗ kämpferinnen mußten ſich wiederholt polizeilichen Haus⸗ ſuchungen unterwerfen, jede Korreſpondenz mit Ge⸗ ſinnungsgenoſſinnen, die man auffand, genügte, um ſie als ſtaatsgefährliche Verbrecher hinter Schloß und Riegel zu ſetzen. An der Frauenbewegung blieb daher der Charakter revolutionären Geheimbündlertums, den die Partei als ſolche mehr und mehr abſtreifte, noch lange haften. Für die Zuſammenkünfte, die notwendig waren, bedurfte es der größten Vorſichtsmaßregeln, und nur ein kleiner Kreis vertrauenswürdiger Frauen wurde da⸗ zu eingeladen. Die Sitzung, zu der wir gingen, Frau Orbin und ich, fand bei einem kleinen Parteibudiker in der Linienſtraße ſtatt. Wir vermieden es, durch das 173 Lokal zu gehen — „hier gibt's überall Spitzel,“ meinte meine Gefährtin —, und bogen in den dunkeln Torweg ein, ſtiegen vorſichtig taſtend eine ſtockfinſtere Treppe hinauf und ſtanden einen Augenblick zögernd vor einer Tür, durch deren Schlüſſelloch ein ſchwacher Lichtſchein drang. Ich bemühte mich, hindurch zu ſehen. „Drinnen iſt niemand,“ ſagte ich, „eine Photographie hängt an der Wand, — ein Mann mit ſchwarzem Bart und weisen Locken.“ — „Marx!“ rief Wanda Orbin, „ſo ſind wir richtig.“ Wir durchquerten den fenſterloſen Raum, deſſen ſtickige Luft mir den Atem benahm, und traten in die niedrige Stube, die daneben lag. Eine Petroleumlampe hing von der geſchwärzten Decke; mit einem Geruch von ſchlechtem Tabak ſchienen alle Gegen⸗ ſtände im Zimmer, — die ſchmutzigen Vorhänge, die fettigen Zeitungen, die rotgewürfelte Tiſchdecke, das alte Klavier im Winkel —, förmlich imprägniert zu ſein. Und dazu hatte der friſche September draußen den Reſt ſtickiger Sommergroßſtadthitze hier hereingedrängt. Die Frauen, die um den langen Tiſch in der Mitte ſaßen, ſchwitzten. Ich wurde vorgeſtellt. Mein verbindliches Lächeln begegnete unfreundlich⸗neugierigen Blicken. Erſt als Wanda Orbin mit ungewöhnlicher Wärme von mir ſprach, meinen Entſchluß, dem Kongreß eine Erklärung abzugeben, ſtatt den angekündigten Vortrag zu halten, mit großem Rachdruck herausſtrich, klärten die Mienen ſich auf. Eine kleine runde Frau, die neben mir ſaß, ſtreckte mir die arbeitsharte Hand entgegen: „Na, ſehen Se mal, det is ſcheen von Ihnen!“ ſagte ſie laut mit feucht ſchimmernden Auglein. „Ruhe, Genoſſin Wengs! rief die Bartels vom Tiſchende hinunter und trommelte 174 mit den Fingerknöcheln auf den Tiſch. Man verſuchte parlamentariſch zu verhandeln, aber es entſpannen ſich immer wieder Privatunterhaltungen. Endlich ſchien ſich das Intereſſe auf einen Punkt zu konzentrieren: die Kaſſenverhältniſſe eines der aufgelöſten Vereine wurden erörtert. Da man Bücher und Protokolle aus Angſt vor Polizei und Staatsanwalt nicht zu führen pflegte und das kleine Rechnungsbuch aus demſelben Grunde eilig verbrannt worden war, ſo fehlte es an den nötigen Unterlagen, um zu einem tatſächlichen Ergebnis zu gelangen. Es kam zu einer heftigen Debatte. Die arme Frau, die Kaſſiererin geweſen war, wurde laut und leiſe der Unredlichkeit geziehen —, ſie hätte unbedingt noch vier Mark haben müſſen und behauptete ſchluchzend, nichts zu haben. „Zu all die Arbeet un Schreiberei, die ich vor niſcht gemacht hab,“ heulte ſie, „ſoll ich nu noch als Diebin daſtehn. In Zukunft macht Euren Dreck alleene!“ Und hinaus war ſie. Immer drückender wurde die Luft. Das Fenſter durfte nicht geöffnet werden, man hätte uns vom Hof aus hören können. Ich erſtickte faſt in dieſer Atmoſphäre. Die anderen ſchienen an ſie gewöhnt zu ſein, niemand beklagte ſich. „Wir müſſen unbedingt die beiden Hauptpunkte unſerer Tagesordnung heute noch erledigen,“ erklärte ſchließlich Wanda Orbin, nach⸗ dem man ſich ſchon zwei Stunden um lauter perſönliche Dinge hin⸗ und hergezankt hatte. „Ich bitte daher ums Wort zur Frage des bürgerlichen Frauenkongreſſes.. Man ſchwieg, und ſie fuhr fort, indem ſie nochmals den Standpunkt der Genoſſinnen begründete, — mit einer Stimme und einer Ausführlichkeit, als gelte es eine 175 Volksverſammlung zu überzeugen. Machte ſie eine Pauſe, ſo gab Martha Bartels das Signal zu allgemeinem Avplaus. „Wir ſind in der vorigen Sitzung mit unſerer Beſprechung zu keinem Abſchluß gekommen. Ich frage die Genoſſinnen, ob ſie ſich meinen Antrag, in die Dis⸗ kuſſionen des Kongreſſes einzugreifen, überlegt haben, und wie ſie ſich dazu ſtellen?“ Mit dieſer mich nicht wenig überraſchenden Frage, ſchloß ſie ihre Rede. Alles blieb ſtill. Martha Bartels ſah erwartungsvoll von einer zur anderen. „Wir ſind wohl alle einer Meinung, meinte ſie dann, „und können ohne weiteres zur Ab⸗ ſtimmung ſchreiten.“ Ich hatte bisher mit keinem Wort in die Debatte eingegriffen. Man ſah mich mißbilligend an, als ich mich jetzt meldete. Wanda Orbin runzelte die Stirne. „Ich habe der Sitzung nicht beigewohnt, in der Sie, ſcheint's, die Angelegenheit ſchon hinreichend beſprochen haben,“ ſagte ich, „mir fehlen daher, um zu einem ſicheren Urteil zu kommen, Ihre Gründe. Ich möchte mir deshalb nur die Frage erlauben, ob es nicht eine Inkonſequenz iſt, die Beteiligung am Kon⸗ greß abzulehnen und die Teilnahme an der Diskuſſion zu beſchließen?“ Allgemeines, ſtummes Erſtaunen. Rur Ida Wiemer, die neben mir ſaß, ſtieß mich unter dem Tiſch heimlich an und warf mir einen aufmunternden Blick zu. Mit endloſem Wortſchwall ſuchte Wanda Orbin, vom Beifallsgemurmel der Anweſenden begleitet, die grundſätzliche Verſchiedenheit beider Arten der Be⸗ teiligung auseinander zu ſetzen. „Es hieße das Prinzip des Klaſſenkampfes preisgeben,“ ſagte ſie, „wenn wir mit bürgerlichen Elementen irgend etwas gemeinſam unternehmen wollten, aber es gehört zum Klaſſenkampf, 176 daß wir in der Debatte ihnen geſchloſſen gegenüber treten.“ „Riemand hinderte uns, in ſelbſtändiger Rede dasſelbe zu tun —“, warf ich noch einmal ein. Meine Worte gingen im allgemeinen Geſchwätz, das wieder entfeſſelt war, verloren. Wanda Orbin hatte alle Stimmen auf ihrer Seite, — auch Ida Wiemer. „Wenn man nicht mittut, wird man gehenkt —,“ flüſterte ſie mir ſich entſchuldigend zu. Ich enthielt mich der Ab⸗ ſtimmung. „Wir kommen zum nächſten Punkt der Tages⸗ ordnung: Parteitag,“ ſagte Martha Bartels, die den Vorſitz führte. „Genoſſin Orbin hat das Wort.“ „Der Parteitag in Gotha iſt für uns ganz beſonders bedeu⸗ tungsvoll,“ begann ſie; „die Frauenagitation ſteht auf der Tagesordnung. Es iſt infolgedeſſen wünſchenswert, daß viele der tätigen Genoſſinnen als Delegiertinnen anweſend ſind, damit die praktiſche Erfahrung neben der theoretiſchen Schulung zu Worte kommt. Unſere Reſolution iſt Ihnen durch die „Freiheit“ bekannt; es hat niemand an ihr etwas auszuſetzen gehabt, ſie wird ohne Zweifel zur Annahme gelangen, da ſie nichts Reues bringt, ſondern nur das bewährte Alte zuſammenfaßt. Nach anderer Richtung jedoch drohen uns Kämpfe: es liegen Anträge vor, die die Schaffung einer beſonderen Arbeiterinnnenzeitung bezwecken. Ihre Verfaſſer ſind mit unſerer „Freiheit' unzufrieden. Es iſt notwendig, daß die Berliner Genoſſinnen klipp und klar dazu Stellung nehmen.“ Run entwickelte ſich etwas wie eine Diskuſſion. Ein paar Frauen, Martha Bartels voran, lobten die „Freiheit“ in allen Tönen, Frau Wiemer allein ſprach mit dem Wunſch nach etwas populäreren Artikeln zugleich einen leiſen Tadel aus, den Frau I77 Orbin dadurch entkräftete, daß ſie erklärte, die „Frei⸗ heit' ſei gar nicht für die Maſſen beſtimmt, ſondern nur für die Führerinnen. Man war darnach ausnahms⸗ los entſchloſſen, jede Anderung ihres Inhalts und jeden Plan eines Konkurrenzunternehmens abzulehnen. Als ich bemerkte, man möge wenigſtens dafür ſorgen, daß, als wichtiges Mittel unſerer Agitation, die allgemeine Parteipreſſe der Frauenfrage einen breiten Raum ge⸗ währe, lachte alles. „Da kennen Se unſere Männer ſchlecht,“ meinte die dicke Frau Wengs neben mir, „die wollen von uns rein jar niſcht wiſſen.“ „Die mehrſchten erlooben den Frauen nich, daß ſe in ne Verſammlung jehn oder in 'nen Verein. Daheem ſollen ſe ſitzen un Strümpe ſtoppen,“ rief eine andere und ein allgemeines Klagelied über die Männer hub an; erſt die energiſche Stimme der Orbin ſtellte die Ruhe wieder her: „Es iſt zwölf Uhr, — wir müſſen zu Ende kommen.“ „Jotte doch, ſchon zwölwe, un ick habe ſoo'n weiten Weg,“ jammerte Frau Wengs und erhob ſich. Ein paar andere, die ſchon lange auf ihren Stühlen hin und hergerückt waren, ſprangen auf. „So bleiben Sie doch fünf Mi⸗ nuten, Genoſſinnen,“ kommandierte Martha Bartels, „wir müſſen doch die Delegiertinnen zum Parteitag noch beſtimmen.“ Frau Wengs ging eilig zu ihrem Stuhl zurück, mit ihr die anderen; geſpannte Reugierde drückte ſich in den Mienen aller aus. Die Bartels fuhr mit erhobener Stimme fort: „Vorgeſchlagen ſind Genoſſinnen Stein, Wolf und meine Wenigkeit.“ Ein eifriges Geraune und Getuſchel ſetzte ein. „Hat jemand andere Vorſchläge?!“ Sie ſah drohend umher. Ein Dutzend Frauen meldeten ſich auf einmal. „Immer die⸗ 12 Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 178 elben!“ — „Laßt doch voch andere drankommen. „Die gewerkſchaftlich tätigen Genoſſinnen werden natürlich übergangen —!“ ſchrie und lärmte es durch⸗ einander. „Ick ſchlage die Jenoſſin Brandt vor —, rief Frau Wengs. Es wurde ſtill. Die Frauen ſahen mich an, — mißtrauiſch, feindſelig. Ich hatte die Si⸗ tuation raſch erfaßt. „Ich danke der Genoſſin Wengs für ihre Freundlichkeit,“ ſagte ich, „aber ich fühle mich noch viel zu jung in der Bewegung, als daß ich ſolch einen Ehrenpoſten annehmen könnte.“ Wanda Orbin nickte mir, ſichtlich erleichtert, zu: „Run aber ſchnell zur Abſtimmung, — wir verſäumen ja noch die Pferdebahn! — Ich denke, wir bleiben bei unſeren Vorſchlägen — Riemand widerſprach, aber kaum war die Sitzung ge⸗ ſchloſſen, als die allgemeine Unzufriedenheit ſich in lauter Unterhaltung wieder Luft machte. Man ging in kleinen Gruppen auseinander, — lauter feindliche Lager, wie mir ſchien. Wanda Orbin legte ihren Arm in den meinen, die Bartels begleitete uns; ihre Stimmung gegen mich war wieder umgeſchlagen. Sie drückte mir herzlich die Hand, als wir Abſchied nahmen. Mein Mann erwartete mich im nächſten Kaffee. „Das hat aber lange gedauert,“ meinte er. „Wenn die Be⸗ deutung Eurer Beſchlüſſe der Länge der Zeit entſpricht, die Ihr darauf verwandt habt —!“ Ich lachte, aber es war nicht das Lachen glücklichen Humors, der den Ereigniſſen die komiſche Seite abgewinnt und ſich da⸗ durch über ſie erhebt. Heute würde mich der Humor im Stich gelaſſen haben, auch wenn ich ihn je beſeſſen hätte. Es war alles ſo eng geweſen, ſo drückend, — wie die ſchmutzige Stube und die eingeſchloſſene Luft 179 in ihr; kein großer Geſichtspunkt war zutage getreten. „Wir Genoſſinnen ſind immer einig,“ hatte Wanda Orbin mir geſagt. Konnte ſie wirklich für Einigkeit halten, was nichts war als die Beherrſchung armer Frauen kraft ihres Willens und ihrer Intelligenz? „So wird es alſo deine Aufgabe ſein, dieſen Abſolutismus zu brechen,“ ſagte Heinrich. — „Rachdem ich mich ihm ſelbſt ſchon unterworfen habe?! Ich ſchritt die breite Treppe des Berliner Rat⸗ hauſes hinauf. Seit vier Tagen verhandelte der Frauenkongreß in dem feſtlichen Bürger⸗ ſaal vor einem Publikum, das immer weniger aus Reu⸗ gierde, immer mehr aus Intereſſe kam. Es war zwar im Grunde nichts als eine Truppenſchau, bei der jede Teilnehmerin ihr Schlachtroß in raſchem Galopp vor⸗ zuführen hatte. Aber Berlin ſah zum erſtenmal: Die Frauen konnten reiten. Heute war der Tag der großen Senſation: Die Arbeiterinnenfrage ſtand auf der Tages⸗ ordnung; man erwartete eine Schlacht zwiſchen den bürgerlichen Frauen und den Proletarierinnen, und auch mir perſönlich galt ein Teil der allgemeinen Spannung, — der Frau, deren Roman von Mund zu Mund ging, der Renegatin. An der Türe ſtand Egidy, mein alter Freund. Er drückte mir die Hand: „Ich bin erſt eben nach Berlin zurückgekehrt. Sonſt wäre ich ſchon bei Ihnen geweſen. Zwiſchen uns bleibt alles beim alten.“ Ich lächelte dankbar. Bei meinem Eintritt in den über⸗ füllten Saal entſtand eine bemerkbare Unruhe: Kleider raſchelten, Stühle wurden gerückt, Köpfe wandten ſich 12* I80 nach mir um, man flüſterte meinen Namen. Eine Gruppe ruſſiſcher Studentinnen, an denen ich vorüber mußte, klatſchte ſtürmiſch. Vom Vorſtandstiſch mahnte eine ſcharfe Stimme zur Ruhe. Die Genoſſinnen begrüßten mich; die erwartungsvolle Erregung, in der ſie ſich be⸗ fanden, ſteigerte ihre Freundlichkeit mir gegenüber. Wanda Orbin nötigte mich auf den Stuhl neben ſich. Ich blieb trotzdem befangen und ſuchte mit den Augen meinen Mann, als müßte ich mich wenigſtens mit den Blicken an ihn klammern. Eine Oſterreicherin ſprach zuerſt über die Ergebniſſe der Wiener Arbeiterinnen⸗Enquete. Ich kannte ſie. Sie war eine überzeugte Sozialdemokratin. Die fünfzehn Minuten reichten aus, um ein ergreifendes Bild ſchreck⸗ lichen Elends zu malen. So hatte ich zu ſprechen ge⸗ dacht! Eine Engländerin folgte ihr. Sie begründete die Rotwendigkeit der gewerkſchaftlichen Organiſation der Frauen in wenigen ſcharf⸗umriſſenen Sätzen; in langer Rede hätte ſie kaum mehr ſagen können. „Frau Alix Brandt hat das Wort“, — tönte jetzt die heiſere Stimme der Vorſitzenden durch den Saal. Ich ſtand auf und zwängte mich durch die Stuhlreihen, am dicht⸗ beſetzten Tiſch der Preſſe vorbei. „Sie wiſſen“ — „Scheidungsprozeß“ — „Verhältnis“ — „Unglaublich“, — flüſterte es. Mein Blut begann zu ſieden. Ich ſtand auf der Tribüne; — am Vorſtandstiſch ziſchte jemand, aus einer Ecke des Saales klang Beifallsgeklatſch und Getrampel. Das Ziſchen wurde ſtärker. Sekundenlang kämpften beide Laute miteinander, — die Vorſitzende rührte ſich nicht. Helle Empörung bemächtigte ſich meiner, — jetzt war ich bereit, ihnen meine Verachtung 181 ins Geſicht zu ſchleudern. Ich begann ſehr ruhig, in⸗ dem ich erklärte, warum die Vertreterinnen der deutſchen Arbeiterinnenbewegung es abgelehnt hätten, ſich an den Arbeiten des Kongreſſes durch Delegierte zu beteiligen. „Für ſie, die auf dem Boden der Sozialdemokratie ſtehen, iſt die Frauenfrage nur ein Teil der ſozialen Frage, und als ſolche durch die mehr oder weniger gut gemeinten Beſtrebungen bürgerlicher Sozialreformer nicht lösbar. Ich ſelbſt teile dieſe Auffaſſung vollkommen.“ Meine Stimme hob ſich und wurde ſchärfer; zu ſchneiden⸗ dem Schwert ſollte jedes meiner Worte ſie ſchleifen. „Wer vorurteilslos und logiſch denkt und ſich eingehend mit der Frauenfrage, — wohl gemerkt, der ganzen Frauenfrage, nicht mit der Damenfrage, — beſchäftigt, der muß notwendig zur Sozialdemokratie gelangen. Stürmiſche Ohorufe unterbrachen mich, die der Beifall der Genoſſinnen vergebens zu erſticken ſuchte. „Mit anderen Worten: wer es nicht tut, iſt ein Dummkopf oder ein Heuchler?!“ ſchrie eine der Damen vom Preſſe⸗ tiſch zitternd vor Aufregung. Ich neigte mit ſpöttiſcher Zuſtimmung den Kopf; ſie ſprach aus, was zwiſchen meinen Worten klingen ſollte. Die Unruhe wuchs, ich mußte lauter ſprechen, um durchzudringen. „Die Wert⸗ ſchätzung und das Verſtändnis der bürgerlichen Frauen⸗ bewegung für die Arbeiterinnenfrage wird durch nichts deutlicher charakteriſiert, als durch die Tatſache, daß man mir zu einem Vortrag über ſie, die die größte Maſſe des weiblichen Geſchlechts umſchließt, und die entrechtetſte und unglücklichſte, dieſelben fünfzehn Minuten gewährt hat, wie etwa der Damenfrage der Mädchen⸗ gymnaſien. Ich verzichte daher auf meinen Vortrag . ..“ 182 Die Zuhörer ſchrieen und tobten, ein paar Männer ſprangen auf die Stühle und drohten mir mit er⸗ hobenen Armen, in größter Erregung ſchwang die Vor⸗ ſitzende unaufhörlich die Glocke, deren wimmerndes Klagegeheul die Melodie zu der Begleitung brüllender Stimmen zu ſein ſchien. Endlich verſchaffte ich mir wieder Gehör: „In zwei Volksverſammlungen, die von uns ein⸗ berufen worden ſind, ſoll den Teilnehmerinnen des Kon⸗ greſſes Gelegenheit geboten werden, die Arbeiterinnen⸗ bewegung kennen zu lernen. Richt als ob wir des frommen Glaubens lebten, auch nur eine von Ihnen für uns gewinnen zu können. Zu tief eingewurzelt iſt der jahrhundertelang genährte Klaſſenegoismus, zu ein⸗ ſchneidend in das Leben und Denken gerade der ab⸗ hängigen Frau ſind die Intereſſen ihrer Klaſſe, als daß ſie ſich ſo leicht davon losreißen könnte. Aber vielleicht wird Ihnen eine Ahnung davon aufgehen, daß es ein größeres, ergreifenderes Elend gibt, als das der un⸗ befriedigten, berufsloſen Töchter Ihrer Stände; daß außerhalb Ihrer Kreiſe ein Kampf gekämpfe wird, der ernſter, heiliger iſt als der um den Doktorhut; daß der Schwung der Begeiſterung, der Heldenmut der Auf⸗ opferung nur dort zu finden iſt, wo Männer und Frauen ihre vereinten Kräfte für das eine große Ziel einſetzen: Befreiung der Geſamtheit aus wirtſchaftlicher und mora⸗ liſcher Knechtſchaft . . . Ich ſtieg vom Podium. Es war ein Spießruten⸗ laufen. Die eleganten Frauen Berlins, die in ihren ſchönen Herbſttoiletten die erſten Reihen beſetzt hielten, hatten ihre ganze geſellſchaftliche Haltung verloren. Sie 183 ziſchten, ſie riefen mir Schimpfworte zu, weißbehand⸗ ſchuhte Fäuſte erhoben ſich in bedrohlicher Rähe. Aber ſchon war Heinrich neben mir und reichte mir den Arm. Ein paar Schritte weiter umringten mich die Genoſſinnen, Wanda Orbin ſchloß mich ſtürmiſch in die Arme. Kurz vor dem Ausgang ſtand eine Gruppe von erhitzten Damen um den jüngſten Philoſophen Berlins geſchart; er war ein Freund meines Mannes. „Sie haben Gift geſpritzt,“ ſchrie er mir zu. Mit einem Blick voll Zorn und Verachtung maß ihn Heinrich. Den nächſten Augenblick trat mir Egidy entgegen. „Sie haben ſich ſchwer verſündigt,“ ſagte er, ſeine blauen Augen fun⸗ kelten zornig. An der Türe zögerte ich. Mir war, als müßte ich noch einmal rückwärts ſehen, über die Menge hinweg in den feſtlich glänzenden Saal: Von der Decke herab flutete das Licht in Strahlenbündeln; es ſchimmerte weich auf weißen Marmorfiguren, es zauberte lebendige blutdurchfloſſene Adern in die Säulen von rotem Granit, es funkelte prahlend auf goldenen Geſimſen, und dem grauen Herbſtabend draußen wehrten die hohen farbigen Bogenfenſter den Eintritt. Langſam gingen wir die breite Steintreppe hinab auf die ſchmutzige Straße. Am Südende der Friedrichſtraße, wo das Licht ſpärlicher wird, lag der alte Tanzſaal, in dem ich am Abend ſprechen ſollte. Durch ein paar Höfe, die nur die glühenden Augen breiter Fabrikfenſter erhellten, führte der Weg. Sie waren ſchwarz voll Menſchen. 184 Auf den ausgetretenen Stufen der Holztreppe bis zum Saal war ein Vorwärtskommen faſt unmöglich. Ein paar ſtämmige Ordner bahnten uns mit Ellbogenſtößen den Weg. „Die berliner Arbeiter wollen Sie alle ſehen, Genoſſin Brandt,“ ſagte der eine. Ich ſenkte den Kopf. Wie ich mich freute! Über den Maſſen, die den Raum erfüllten, in den wir endlich gelangten, lagerte Tabaksqualm und Menſchenſchweiß in ſchweren, dunkeln Rebeln. Das Licht von den verſtaubten Kron⸗ leuchtern drang nur trübe durch den grauen Dunſt. Rußgeſchwärzt war die niedrige Decke, von den Wän⸗ den bröckelte der Kalk, blinde Spiegelſcheiben warfen geſpenſterhaft verzerrt das Bild der Menſchen zurück, die ſich vor ihnen ſammelten. Ein paar ſteile Stufen zu einer kleinen Bühne ging es empor, auf der grell gemalte Kuliſſen einen Wald von Palmen darſtellen ſollten. Unter mir ſtand jetzt die Menge Kopf an Kopf. Siedende Hitze ſtieg von ihr auf, daß der Atem mir ſekundenlang ſtockte. „So warten ſie ſchon ſeit zwei Stunden wie eine Mauer,“ ſagte Ida Wiemer, die den Vorſitz führte. Der graubärtige Polizeileutnant ſchüttelte bedenklich den Kopf. „Ich kann nur einen kurzen Vortrag geſtatten, ſagte er, „wenn ich nicht die Verſammlung auflöſen ſoll.“ „Genoſſen,“ rief Ida Wiemer ſo laut ſie konnte in den Saal, „macht den fremden Kongreßdelegierten platz, die heute unſere Gäſte ſind —.“ Eine Anzahl Arbeiter verſuchten, ſich langſam hinauszuſchieben. Aber die Scharen, die die Türen belagerten, verſperrten den Weg. „Das iſt lebensgefährlich,“ wiederholte der Polizei⸗ leutnant und wiſchte ſich den Schweiß von der Stirne. 185 „Fangen Sie an und machen Sie's kurz, — ein anderes Mittel gibt's hier nicht.“ Ich trat vor. Kirchenſtille umfing mich. Ich ſprach gegen jene landläufigen Vorwürfe, durch die die Geg⸗ ner der Sozialdemokratie ſie tödlich zu treffen glauben: Die Zerſtörung der Familie, die Propagierung der freien Liebe, die Vernichtung der Religion, den blu⸗ tigen Umſturz. Und ich zeigte, wie die wirtſchaft⸗ liche Rot es iſt, die das Familienleben zerſtört, wie aus derſelben Rot die käufliche Liebe wächſt, die nichts gemein hat mit jener Freiheit der Liebe, die wir als die einzige Grundlage echten Familienglückes den Menſchen erobern wollen; wie es die Kirche iſt und der Staat, die die Religion Chriſti vernichtet haben, wie die blutige Revolution nicht von uns, ſondern von denen vorbereitet wird, die mit Flinten und Säbeln drohen, die der wehrhaften Jugend befehlen, auch auf Vater und Mutter zu ſchießen, die den Ruf hungern⸗ der Arbeiter um ein paar Pfennige mehr Lohn, um ein paar Stunden weniger Arbeitszeit mit Gewehrſalven beantworten. Ich ſah nichts mehr; zwiſchen mir und den Menſchen da unten hingen dichte Schleier. Aber ich fühlte ihren heißen Atem, ich hörte mit geſteigerten Sinnen ihr Stöhnen, wenn ich ihr Elend malte, ihren Beifall, wenn ich von ihren Kämpfen ſprach, ihren hoffnungsſtarken Jubel, wenn ich der Zukunft gedachte, die unſer ſein wird. Ich ſchwieg erſchöpft, — jetzt erſt fühlte ich, wie der Kopf mir brannte und der Atem nach Luft rang. Hundert Hände ſtreckten ſich mir entgegen, als ich zitternd die Stufen hinabſtieg. Die Maſſe umdrängte 186 mich. Dank, — Vertrauen, — Liebe las ich in ihren Mienen. Ein paar Frauenrechtlerinnen gingen mit ſteif erhobenen Köpfen an mir vorbei. Ich lächelte. Wie hatte ich mich nur je über ihre Feindſeligkeit grämen können?! Ich kam nur langſam vorwärts. Mit lauter Fragen und Bitten wurde ich aufgehalten: „Richt wahr, Sie ſprechen auch bei uns einmal?“ — „In unſerem Kreis?“ — „In meiner Gewerkſchaft?“ Und immer wieder ſagte ich freudig ja. Die hier glaubten an mich und erwarteten von mir, daß ich ihnen etwas ſein könnte. Im dunkeln Saal war mein Herz wieder warm und hell geworden. Wir gingen den weiten Weg durch die Racht nach Haus. Am Kanalufer raſchelten die gelben Blätter uns zu Füßen und tanzten wie goldige Schmetterlinge in der feuchten Herbſtluft. „Warum die Menſchen trauern, wenn die Blätter fallen?“ ſagte ich. „Sie machen doch nur den jungen Trieben Platz!“ Mein Liebſter küßte mich. „Du, was denken die Leute?!“ rief ich lachend und lief ihm da⸗ von. „Die Wahrheit!“ ſagte er, mich einholend, und preßte mir die Hände mit einem ſtarken Griff zuſammen. „Daß wir ein Liebespaar ſind! Im Schlafzimmer droben riß ich die Kleider vom Leibe, in denen der Dunſt des Saales noch hing. Das roſige Licht der Lampe umflutete mich; meine Augen ſuchten den kleinen Ganymed. Unwillkürlich faltete ich die Hände. Auch an dieſen Frühling glaubte ich wieder. 187 Sechſtes Kapitel Goldener Herbſt! Ein königlicher Verſchwender biſt du. Deiner Geliebten, der Sonne, gibſt du in brennenden Farben zurück, was ſie an Sommerglut der Erde geſchenkt hat. Richts iſt dir zu gering, um es mit dem Glanz deiner Liebe zu über⸗ ſchütten. Auf die ödeſten Mauern zaubert dein Blick jauchzende Melodien von Gelb und Rot. Aus dem armen Sand märkiſchen Bodens lockſt du der Sonnen⸗ blumen tropiſche Pracht hervor und lehrſt ſie, ihr Strahlenangeſicht deiner Geliebten anbetend zuzukehren. Unter deinem Hauch reifen die Früchte, und ſchwer von Segen neigen ſich die Aſte vor dir. Von entblätterten Blüten trägt dein Atem zarte Samenfäden über die Wieſen und ſchüttelt von den alten Eichen die Hoffnung kommender Jahre. Tage, über die der Himmel leuchtet wie flüſſiges Silber, läßt du in Rächten untergehen, die tief und dunkel ſind, ein zukunftſchwangeres Geheimnis. Richt wie die jungen Mädchen den Lenz begrüßen — ſchämig errötend und demutsvoll — empfing ich dich. Ich forderte von dir, erhobenen Hauptes, meinen An⸗ teil an deinem Reichtum, Fürſt des Jahres. Und, ſiehe, aus meinem Herzen wuchſen glutrote Blumen, meine 188 Seele wurde zu deinem Saitenſpiel, mein Schoß zum Tempel des Lebens — — — Es kam über mich wie ein einziger großer Feiertag. Er duldete nichts Dunkles. Aus den Kammern vertrieb ich allen Staub der Vergangenheit, aus Kiſten und Kaſten alles, was moderte. Ich badete meine Augen, daß ſie klar und hell wurden und die Welt ihnen in einem Glanz erſchien, wie ſie ihn nie vorher geſehen hatten. Wie der Herbſtwind am Morgen die Rebel zer⸗ ſtreut, ſo flohen die Sorgen vor dem Sturm meiner Seligkeit. Ich ging der Sonne nach. Auch den ver⸗ lorenſten ihrec Strahlen fing ich auf und barg ihn in der Schatzkammer meiner Seele. Sonnengeſegnet ſollte es ſein, mein Kind! Ich war nicht mehr Ich. Das geheimnisvoll neue Leben unter meinem Herzen hatte von mir Beſitz er⸗ griffen. Ich träumte nicht mehr meine engen Träume, die ſich in Kreiſe um mich ſelbſt bewegten, und lebte nicht mehr meiner kleinen Hoffnung, die ihren Bogen nur bis zum Friedhofstor des eigenen Daſeins ſpannte. Wie Wandervögel flogen meine Träume weit über mein Geſichtsfeld hinaus, und die Brücke, die die Hoffnung baute, verband die Zeit mit der Ewigkeit. Ich ward mir ſelbſt zum Heiligtum. Ich pflegte meinen Körper wie der Gläubige den Schrein, der das Allerheiligſte birgt. Und meiner Seele Eingang hüteten goldgepanzerte Wächter; die Schärfe ihres Schwertes traf jeden böſen Gedanken, ihren Speeren entging kein niedriges Gefühl. Denn mein Körper und meine Seele nährten das neue Leben. Kein Tropfen Giftes durfte in ihnen ſein. 189 Ich wünſchte mir einen Sohn. Einen, der ein Führer und Vorkämpfer werden könnte. Aber die Erfüllung dieſes Wunſches ſchien mir faſt zu viel des Glücks. Und ſo dachte ich auch der Tochter — einer, die ein Vollmenſch und darum ein echtes Weib ſein ſollte. Von nun an ſtand Watts Ganymed vor meinem Platz auf unſerem großen Schreibtiſch und neben ihm ein ſüßes, blondes Mädelchen nach einem Porträt von Gainsborough. Ich ſah von einem zum anderen, und tief in mein Herz prägten ſich die holden Kinder⸗ geſichter. Mein Mann brachte mir täglich friſche Blumen für ſie. Einmal aber kam er nach Haus und ſtellte ſtatt ihrer ein neues Bild mitten auf den Schreibtiſch. Es war Meiſter Dürers furchtloſer Ritter, der ſeelenruhig, im Schritt, den Kopf erhoben, das Auge gradaus ge⸗ richtet, an allen Schrecken des Daſeins vorüberreitet. „Laß kommen die Höll, mit mir zu ſtreiten, ich will durch Tod und Teufel reiten —,“ iſt ſein Wahlſpruch. „Wenn's ein Bub wird,“ ſagte der Liebſte, „ſo ſoll's ſo einer ſein.“ „Du haſt recht,“ antwortete ich und drückte ihm zärtlich die Hand, „ich habe ſchon zu viel an das Kind und zu wenig an den Mann gedacht,“ dabei wies ich lächelnd auf die Wolken weißen Linnens, die mich umgaben, und zeigte ſtolz die erſten winzigen Hemdchen, die daraus entſtanden waren. Mein Mann hatte zuerſt von dieſer Arbeit nichts wiſſen wollen. „Du nimmſt einer armen Räherin das Brot und haſt ſelbſt weit Beſſeres zu tun,“ war ſeine Anſicht geweſen. Aber I90 zum erſtenmal hatte ich ihm widerſprochen und meinen Willen durchgeſetzt. Auf die Stoffe, die meines Kindes Körper berühren ſollten, durften keine Kummertränen fallen; Mutterliebe mußte die Radel führen, Mutter⸗ träume ſich mit jedem Stich hinein verweben. Run kam es freilich vor, daß ich im Übereifer ſtundenlang über der Arbeit ſaß und vernachläſſigte, was ich ſonſt zu tun hatte. „Das muß anders werden, Heinz,“ ſagte ich laut und faltete die Leinwand zuſammen. „Auch um des Kindes willen darf ich die Welt außerhalb un⸗ ſerer vier Wände nicht vergeſſen, die doch auch ſeine Welt ſein wird. Schau, hier iſt ein Brief von Wanda Orbin —,“ ich reichte ihn meinem Mann hinüber, der ſich an den Schreibtiſch geſetzt hatte; „ſie beklagt ſich, weil ich zu wenig für die „Freiheit' ſchreibe; hier ſind eine Reihe Aufforderungen zu Vorträgen, — ich war nahe daran, ſie ablehnend zu beantworten —“ „Und hier,“ unterbrach er mich, „habe ich Bücher, die deiner Beſprechung harren. An den Artikel, den du mir für mein Archiv verſprochen haſt, will ich ſchon gar nicht erinnern —“ Ich ſtand auf und reckte mich mit einem Gefühl tiefen Wohlbefindens. „Du wirſt ihn bekommen! Ich verſtehe nicht recht, warum ſo viele Frauen jammern, wenn ſie guter Hoffnung ſind. Ich fühle Kraft für zwei!“ Und mit Feuereifer ſtürzte ich mich in die Arbeit, die ich nur ſtundenweiſe unterbrach, um friſche Luft zu ſchöpfen I9I Ich ſollte mir täglich Bewegung machen und vermied den nahen Tiergarten, weil ich den Eltern zu begegnen fürchtete. Ich wußte: mein Herz würde ſich ſchmerzhaft zuſammenkrampfen, und ich wollte mich jetzt nicht grämen. So fuhren wir denn faſt immer in den Grunewald und wanderten um die ſtillen Seen, die zwiſchen entlaubten Bäumen und ſchwarzen Kiefern dem Winter entgegenträumten, oder gingen auf den gepflegten Wegen der jungen Kolonie, all die vielen Villen betrachtend, die raſcher als die Mietskaſernen auf dem Kurfürſtendamm aus der Erde wuchſen. Sie waren anders als die, die noch vor wenigen Jahren entſtanden waren, — heller, freund⸗ licher. Die verlogenen Butzenſcheibenerker und die alt⸗ deutſchen Sprüche über den Türen verſchwanden mehr und mehr. Die Zeit wurde ſelbſtbewußter und ſchämte ſich der erborgten Formen vergangener Jahrhunderte. Oft freilich ſahen wir halb ſtaunend, halb lachend Häuſer, die aus lauter Originalitätsſucht abſurd ge⸗ worden waren. Aber auch das war im Grunde nichts anderes, als der tolle Ausbruch überſchäumender Jugend⸗ kraft, und wenn mein Mann ſpotten wollte, erinnerte ich an Goethes Wort: Es iſt beſſer, daß ein junger Menſch auf eigenem Wege irre geht, als daß er auf fremdem recht wandelt. Heute blieben wir in Schauen verſunken vor einem Häuschen ſtehen, das aus dem Qärchenbuch ins Leben verſetzt zu ſein ſchien: ein tiefes Dach hing ſchützend über den von rotem Weinlaub dicht um⸗ 192 ſponnenen Wänden, hinter kleinen blitzenden Fenſtern hingen weiße Vorhänge, auf den braunen Holzaltanen blühten noch rote Geranien, und davor auf dem glatten Raſenteppich warf ein kleiner Knabe jauchzend den bunten Ball in die helle Herbſtluft. „Wenn doch mein Kind wie dieſes in Wald und Garten wachſen könnte,“ dachte ich. „Solch ein Haus möcht' ich euch bauen, dir und dem Kinde,“ ſagte Heinrich im gleichen Augen⸗ blick. Ich lachte ein wenig gezwungen. „Wie ſollte das möglich ſein, wo unſere Mietwohnung für uns ſchon zu teuer iſt!“ „Wenn wir Zinſen ſtatt Miete zu zahlen hätten —,“ meinte er nachdenklich; „Hall hat in dieſer Weiſe ſchon mancher Familie die Möglichkeit ver⸗ ſchafft, im eigenen Häuschen und im Freien zu wohnen! Wir gingen ſchweigſam weiter, nur hier und da fiel eine Bemerkung, die mir zeigte, das er denſelben Ge⸗ danken weiter ſpann. Am Wildgatter nach Hundekehle holte uns eine große Geſellſchaft junger Radler ein; ihre blanken Räder blitzten, knapp und elegant ſchmiegten ſich die Sport⸗ anzüge neuſter Mode um die ſchlanken Geſtalten. „Iſt das nicht —,“ rief ich unwillkürlich, und mein Herz klopfte raſcher, aber ſchon wandte das reizende Mädchen, das dicht an mir vorbei geflogen kam, dunkelerrötend den Kopf zur Seite. „Ilſe, — kein Zweifel,“ ant⸗ wortete Heinrich. „Und ſie grüßt mich nicht einmal! Tränen verdunkelten mir den Blick. „Wollen wir um⸗ kehren?“ frug mein Begleiter ſanft und zog meinen Arm feſt durch den ſeinen. „Rein,“ entgegnete ich und verſuchte zu lächeln; „ſie kann ja nichts dafür, die Kleine! Sie darf mich nicht kennen. 193 Unten vor dem Wirtshaus ſtanden die Räder. Wir wollten gerade links einbiegen, den Weg nach Pauls⸗ born, der für uns ſo reich war an Erinnerungen, als Ilſe, nach einem Augenblick des Zögerns, quer über die Straße zu uns herüberlief. Sie umarmte mich ſtürmiſch. „Sei nicht böſe, Schweſter,“ rief ſie atemlos und zog mich tiefer in den Wald hinein. „Sie würden mich zu Hauſe verraten, wenn ich dich gegrüßt hätte.“ Zärt⸗ lich ſtreichelte ich ihr das erhitzte Geſicht und drückte ihr kleines Händchen, das immer noch ſo weich und zart war, ſo unfähig zuzupacken und feſtzuhalten. „Die Eltern wollen nichts von mir wiſſen?“ fragte ich zaghaft. „Wir reden viel von dir, Mama und ich,“ antwortete ſie, „aber vor Papa dürfen wir deinen Ramen nicht nennen. Trotzdem weiß ich, daß er ſich bangt nach dir,“ fügte ſie raſch hinzu, als ſie ſah, wie ich erſchüt⸗ tert war. „Wir holen ihn manchmal vom Kaſino ab; wenn wir über den Lützowplatz fahren, läßt er deine Fenſter nicht aus den Augen.“ „Und Mama, ſagſt du, ſpricht von mir?!“ „Ja. Sie hatte zuerſt des Morgens rote Augen, aber jetzt iſt ſie ruhig. Es quält ſie nur, glaube ich, daß ſie nicht weiß, ob — ob —,“ ſie errötete, ein forſchen⸗ der Blick glitt über meine Geſtalt. Heiß ſtrömte es mir zum Herzen, mein ganzes, reiches Glück überkam mich, und alles Erinnerungsweh ver⸗ ſchwand vor ihm. „Grüße Mama,“ ſagte ich weich, „und ſage ihr, daß ich guter Hoffnung bin.“ Ihre Hand löſte ſich aus der meinen, ein Schatten ſchien über ihre Züge zu huſchen, etwas Fremdes ſtand auf 13 Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 194 einmal unſichtbar zwiſchen uns. „Ich muß fort, — ſie ſuchen mich ſonſt, — lebwohl — —!“ und ſchon war ſie wieder jenſeits der Straße. „Verſtehſt du das?“ fragte ich meinen Mann, der die ganze Zeit mit gerunzelter Stirn neben uns geſtanden hatte, und ſah ihr kopfſchüttelnd nach. „Rein,“ ſagte er, „ſie ſcheint mir aus Widerſprüchen zuſammengeſetzt, deine Schweſter.“ Auf dem Rückweg ertappten wir uns gegenſeitig bei einem verſtohlenen, ſehnſüchtigen Blick nach dem wein⸗ umſponnenen Häuschen mit dem tiefen Dach darüber. Der Raſenplatz war leer. Ob der Kleine da oben hinter den zugezogenen weißen Vorhängen ſchlummern mochte? Und ich träumte, während wir heimwärts fuhren, offenen Auges einen gar ſüßen Traum. Mein Herz war heut übervoll. Als ich abends bei den Knaben ſaß, um ihre Arbeiten zu beaufſichtigen, fühlte ich ſtärker als ſonſt, wie wenig ich ſie eigentlich kannte. Sie waren nachmittags wie gewöhnlich im Zoologiſchen Garten geweſen. Es kam mir wie ein Un⸗ recht vor, daß ich ſie dort allein ließ; ich wußte nicht, was ſie hörten und ſahen, welchen Einflüſſen ſie in⸗ mitten der verdorbenen Großſtadtjugend unterliegen mochten. Und doch, nicht möglich wäre es geweſen, ſo große Jungen auf Schritt und Tritt unter Aufſicht zu halten. Ihr Verhältnis zueinander war kein brüderliches, ſie klagten ſich häufig gegenſeitig bei mir an, — das einzige Mittel, wodurch ich etwas von ihnen zu erfahren be⸗ kam. Hätte ich doch ihr volles Vertrauen beſeſſen! Aber freilich: ich hatte kein Recht darauf; für ſie ſtand 195 ich nicht einmal an Stelle der Mutter, denn ſie lebte noch. Je erfolgloſer mein Bemühen geweſen war, ihnen näher zu kommen, deſto unbegreiflicher war es mir, daß die Mutter ſich hatte von ihnen trennen können. Ein Kind bedarf der Mutter, die es beſſer verſteht, als es ſich ſelbſt verſtehen kann. Tiefes Mitleid ergriff mich mit den beiden Buben, aber ein noch tieferes faſt mit ihrer Mutter. Welch Schickſal mnußte ſie getroffen haben, daß ſich ihr Herz ſo hatte verhärten können? Heinrich ſprach nicht gern von ihr; und meinen Gedanken, ihr zu ſchreiben, um wenigſtens in bezug auf die Erziehung der Kinder im Einvernehmen mit ihr zu handeln, hatte er ſchroff und ärgerlich als einen ganz törichten und zweckloſen zurückgewieſen. Ich hatte ihn trotzdem ausgeführt — heimlich, um ihn nicht zu ärgern. Da wir aber im Überſchwang unſeres jungen Eheglücks einander geſtattet hatten, unſere Briefe gegen⸗ ſeitig zu öffnen, ſo las er ihre Antwort: ein paar kühle hochmütige Zeilen, im Tone der Herrin gegenüber der Gouvernante. Heinrich war damals ernſtlich böſe ge⸗ worden, und — was mir am tiefſten in die Seele ſchnitt — traurig dazu. „Ich kann alles vertragen,“ hatte er geſagt, „nur eins nicht: daß du unehrlich biſt mir gegenüber. Ich muß dir unbedingt vertrauen können, ſonſt iſt unſere Ehe keine mehr.“ Seitdem hatte ich die kaum begonnene Korreſpondenz wieder abgebrochen, und die Brücke zum Herzen der Kinder, auf die ich gehofft hatte, blieb ungebaut. Und nun kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über mich: ich wußte, womit ich ſie würde gewinnen können. „Erzähl uns was,“ bettelte Wolfgang wie immer, 13* 196 wenn er aufatmend die Schulbücher zuſchlug. „Gleich! antwortete ich lächelnd, und ging hinaus, um mit dem Korb voll weißer Leinwand wiederzukommen. „Was meintihrwohl, was das iſt?“ fragte ich undhielt ein kleines Hemdchen hoch, ſodaß das Licht der Lampe roſig hindurchſchimmerte. Sie riſſen erſtaunt die Augen auf. „Eurem Brüderchen oder eurem Schweſterchen gehört es, das ihr bekommen werdet. Habt ihr die Eicheln geſehen, die von den Bäumen fallen? Wenn die Erde ſie aufnimmt, und weich und warm einhüllt, damit der Winter ihnen nichts Böſes tun kann, ſo wachſen im Frühling junge Bäumchen daraus . . . Und ein Vogelei kennt ihr doch auch? Da iſt zuerſt gar nichts drin, wie eine weißliche Flüſſigkeit. Wenn's aber eingebettet im Reſtchen liegt, und die Henne es mit ihrem Leib be⸗ deckt, dann entwickelt ſich zuerſt die gelbe Dotter und aus ihr ein winziger lebendiger Vogel. Sobald er groß genug iſt, zerbricht er das Ei und iſt da! Wir ſind ſo ſehr daran gewöhnt, daß wir uns des großen Wunders gar nicht mehr bewußt werden, — eines Wunders, das viel unfaßlicher iſt, als wenn der Storch die kleinen Kinder brächte, wie man es früher zu er⸗ zählen pflegte.“ Ich machte eine Pauſe; meine Zuhörer rührten ſich nicht, und ich hatte nicht den Mut aufzu⸗ ſehen. Wußte ich doch nicht, was für Blicken ich be⸗ gegnen würde. „Euch iſt vielleicht auch einmal das Märchen vom Storch zu Ohren gekommen,“ fuhr ich leiſer fort, „es iſt dumm und albern! Die Wahrheit iſt tauſendmal ſchöner: wie die Eichel im Schoß der Erde, ruht der Menſchenſamen im Mutterleib, und wie das Vögelchen ſich entwickelt, ſo entwickelt ſich das Kind, 197 nur daß die Menſchenmutter das Ei unter dem Herzen trägt, bis es zerſpringt und das junge Leben geboren wird.“ Ich ſchwieg wieder; es war ſo ſtill, daß ich hätte meinen können, ich wäre allein im Zimmer. „Weil ich euch lieb habe, euch beide —,“ flüſterte ich und ſenkte den Kopf tief auf die Arbeit, die meine zitternden Hände hielten, — „darum mag ich euch nicht belügen, darum will ich euch anvertrauen, was mein glückſeliges Ge⸗ heimnis iſt: ich werde auch ein Kind bekommen!“ Eine beklemmende Stille; ich konnte die Radel hören, wenn ſie den Stoff durchſtach. Endlich ſah ich empor. Die Köpfe geſenkt, mit dunkelroten Wangen ſaßen die Knaben vor mir. Ein raſcher ſcheuer Blick traf mich aus Wolf⸗ gangs hellen Augen, um ſeine Lippen zuckte es. Waren es verhaltene Tränen, oder war es am Ende gar — Spott? Hans rutſchte vom Stuhl auf die Erde und nachte ſich abgewandt von mir, an ſeiner Dampf⸗ maſchine zu ſchaffen. Ich wußte nur zu gut, wie ver⸗ dorbene Kinder das Geheimnis des Lebens ihren Schul⸗ kameraden zu erklären pflegen: mit lüſternen Augen⸗ zwinkern, mit der Freude am Schmutz. Hatten ſie es ſo erfahren?! Mir ſtieg die Schamröte bis unter die Haarwurzeln. Oder hatten ſie, während ich ſprach, ihrer Mutter gedacht, hatten plötzlich empfunden, daß ich ſie nicht ſo würde lieben können wie mein eigenes Kind? Ich ſeufzte tief auf. So war auch das ver⸗ gebens geweſen; ſtatt eine Schranke einzureißen, hatte ich eine neue errichtet. Ich begegnete ihnen von nun an mit doppelter Zärtlichkeit; ich ſuchte ihre Wünſche zu erfüllen, noch ehe ſie laut wurden. Aber ihre Scheu überwand ich nicht. 198 Vor Heinrich ließ ich mir nicht merken, was in mir vorging. Er hätte mich mißverſtehen, hätte glauben können, daß ich ſeine Bitte, die Kinder lieb zu haben, nicht zu erfüllen vermöchte, — dachte ich. Auch war er den Kindern gegenüber oft ſo reizbar, daß ich Mühe hatte, ihn zu beſänftigen. Das Verlangen, mit mir allein zu ſein, äußerte er zuweilen in einer, wie mir ſchien, für die unſchuldigen Buben empfindlichen Weiſe. Ich lenkte ein, — ich deckte zu, — ich verſteckte mein eigenes Empfinden, das in derſelben Sehnſucht gipfelte wie das ſeine. Wie viele warme Worte und heiße Blicke und zarte kleine Aufmerkſamkeiten, die wie ein holder Frühlingsflor den Garten junger Ehe ſchmücken, wagten ſich vor den fremden Augen der Kinder nicht ans Tageslicht. Auch über das Glück meiner Mutter⸗ hoffnung mußt' ich vor ihnen einen Schleier ziehen. Wir lebten damals ganz ſtill. Von geſel⸗ ligem Verkehr war ſelten die Rede. Wir ſcheuten noch immer unliebſame Begeg⸗ nungen, und unſere Zurückhaltung, die mir als Hochmut ausgelegt wurde, ſteigerte nur unſere Iſoliertheit. Es kam vor, daß wir im Theater zwiſchen lauter alten Be⸗ kannten ſaßen und uns doch wie auf einſamer Inſel mitten im Meer befanden. Man muſterte uns neu⸗ gierig, man tuſchelte über uns, man grüßte beſtenfalls, und ich ſetzte dazu meine abweiſendſte Miene auf, um den Menſchenhunger, der mich manchmal überfiel, nicht merken zu laſſen. Zuweilen beſuchten uns die Mitarbeiter an meines 199 Mannes Zeitſchrift: Nationalökonomen, Juriſten und Politiker aus aller Herren Länder, die er mit dem ihm eigenen redaktionellen Geſchick unter einen Hut zu bringen gewußt hatte, und die, — mochten ſie ſonſt in ihren Anſichten noch ſo weit auseinander gehen, — unter ſeiner Führung gemeinſam am ſelben Strange zogen. „Ihr Mann iſt ein wahres Redaktionsgenie!“ ſagte mir einmal einer von ihnen, nachdem er ſich nach langer Debatte doch wieder unterworfen hatte, halb ärgerlich, halb bewundernd. „Meiſt erdrücken die Autoren den Redakteur, er nimmt dankbar, was „bewährte Mit⸗ arbeiter' ihm bringen und iſt eigentlich nur ihr Ge⸗ ſchäftsführer. Ihr Mann aber zwingt uns in ſeinen Dienſt wie ein Feldherr ſeine Soldaten. Wenn er will, ſo müſſen wir alles andere ſtehen und liegen laſſen, uns hinſetzen, die Feder ergreifen und den gewünſchten Aufſatz ſchreiben.“ Ich freute mich jedesmal dieſer Gäſte; denn mochten ſie von Rußland oder Frankreich, von England oder Italien kommen, — eins war ihnen gemeinſam: Tat⸗ kraft und Hoffnungsfreudigkeit. Ganz richtig äußerte ſich einer über dieſe innere Einheit, wenn er ſagte: „Wir ſind Leute mit der Deviſe „Ja, alſo!“, im Gegenſatz zu der älteren Generation der katheder⸗ ſozialiſtiſchen Rationalökonomen, die die Männer des „Ja, aber!“ geweſen ſind.“ Sie zogen die Konſequenzen ihrer wiſſenſchaftlichen Erkenntnis und traten rückhaltlos auf Seite der Arbeiter in Fragen des Arbeiterſchutzes. In ihnen ſah ich ſtarke Verbündete der Sozialdemokratie, und es ſchien mir kein Zweifel, daß die Logik der inneren 200 Entwicklung und der äußeren Geſchehniſſe ſie ſchließlich zu ihren offenen Parteigängern würde machen müſſen. Aber noch eine andere Tatſache unterſtützte meinen Glauben an den Fortſchritt ſozialer Erkenntnis: die Gründung der nationalſozialen Partei. Sie war eben in Frankfurt zur Welt gekommen und getauft worden; ſie hatte im Rauſch der Feſtesfreude freilich den Mund ſehr vollgenommen, wie das nun einmal in ſolcher Situation deutſche Art zu ſein pflegt: „Wir ſtehen als Erben vor der Türe der Sozialdemo⸗ kratie,“ hatte Göhre erklärt. „Wir ſtellen uns an die Spitze der Arbeiterbewegung, denn die Zeit der Sozial⸗ demokratie iſt um,“ hatte Sohm ihm ſekundiert. Aber ſolche redneriſchen Entgleiſungen, die unſere Parteipreſſe mit einem übersriebenen Pathos rügte, ſtatt über ſie zu lächeln, wogen leicht gegenüber dem Handeln dieſer Männer und Frauen: ſie anerkannten die Gegenwarts⸗ forderungen der Sozialdemokratie, ſie ſtellten ſich, bei aller Betonung nationaler Geſinnung, in bewußtem Gegenſatz zur Regierung, die die ſozialen Paſtoren maß⸗ regeln ließ, — zum Kaiſer, der ihre Beſtrebungen für ſträflichen Unſinn erklärte Ein Ereignis trat ein, daß vollends zwiſchen rechts und links wie Scheidewaſſer wirken ſollte: der Hafen⸗ arbeiterſtreik in Hamburg. Hatte wenige Jahre vorher die Cholera die Augen der ganzen Welt auf die gräß⸗ lichen Elendsquartiere der reichen Kaufmannsſtadt ge⸗ richtet, ſo zeigte ſich jetzt, daß ſelbſt ihr Schrecken nicht imſtande geweſen war, die Brutſtätten des Todes aus der Welt zu ſchaffen. Roch hauſten zwanzig Prozent ihrer Bewohner dicht zuſammengedrängt in winzigen 201 Räumen und engen Gaſſen, — zu fünft in einem Zimmer, zu neun in zweien! Und zu dieſen gehörten vor allem die Hafenarbeiter, die bei ſchwerer Arbeit, die ſie oft Tag und Racht nicht los ließ, nicht genug verdienten, um ſich auch nur in Frieden ausruhen und friſche Ar⸗ beitskräfte ſammeln zu können. Der Eindruck der Tat⸗ ſachen, die der Streik enthüllte, war ein ungeheurer, und die Haltung der Hamburger Rheder, die ſich allen Einigungsverſuchen der Arbeiterorganiſationen wider⸗ ſetzten und einen Kampf um ein paar Groſchen mehr Lohn zu einem Kampf um ihre Macht erweiterten, em⸗ pörte jeden, der vorurteilslos zu denken vermochte. In höherem Maße als zur Zeit des Konfektionsarbeiter⸗ ſtreiks nahm die Offentlichkeit Partei für die Arbeiter, geführt von den jungen ſozialpolitiſchen Profeſſoren und der nationalſozialen Partei. Das waren, ſo ſchien mir, Symptome für das Erwachen eines Geiſtes, der nicht mehr zu bannen ſein würde. Und die Haltung der Gegner bekräftigte meine Auffaſſung. Kleine Radel⸗ ſtiche, wie die Ausweiſungen engliſcher Arbeiterführer, die, um Frieden zu ſtiften, nach Hamburg gekommen waren, — ſchroffe Erklärungen der Reichsregierung gegen die Streikenden, — von ihr unwiderſprochene Ausſprüche, wie die des alten Reaktionärs Kardorff im Reichstag. „Ich freue mich, daß man von den bedenk⸗ lichen Wegen des Erlaſſes von 1890 jetzt abgekommen iſt,“ — Wünſche eines Stumm und ſeiner Geſinnungs⸗ genoſſen, die zur Bekämpfung ſtaatsgefährlicher Umtriebe eine Anderung der Vereinsgeſetze forderten, — waren das alles nicht Zeichen der Angſt und der Schwäche? Und war nicht die Wandlung, die der Kaiſer ſeit ſeinen 202 ſozialpolitiſchen Erlaſſen durchgemacht hatte, ein unbe⸗ wußtes Eingeſtändnis ſchwindenden Einfluſſes? Erfüllt von ſeinem Gottesgnadentum, durchtränkt von der Vor⸗ ſtellung, die Tradition und Erziehung den Fürſten un⸗ auslöſchlich einprägt daß das Volk ihnen gegenüber im Verhältnis des Kindes zum Vater ſteht, hatte er ein ſozialer Kaiſer ſein wollen, indem er der Arbeiterſchaft als Geſchenk brachte, was ihm gut ſchien für ſie. Als ſie es ihm nicht dankte, als ſie Rechte forderte, ſtatt Gnaden zu erbitten, ſie ſogar mit Gewalt ertrotzen wollte, — da wurde der in ſeiner Autorität verletzte Fürſt zum zürnenden, ſtrafenden Vater. Und derſelbe Kaiſer, der 1800 für die Schaffung von Schiedsgerichten eintrat, ſtellte ſich 1806 auf die Seite der Hamburger Rheder und for⸗ derte die Vereinigung aller Arbeitgeber gegen die Arbeiter. Um dieſe Zeit beſuchte uns mein alter Freund Pro⸗ feſſor Tondern, der ein ſtiller Gelehrter irgendwo an einer Provinzuniverſität geworden war, und den ich für unſere Sache faſt ſchon aufgegeben hatte. Er war zur Zeit des Streiks in Hamburg geweſen, und mein Mann hatte ihn für das Archiv zu einer Arbeit darüber auf⸗ gefordert. Statt aller Antwort kam er ſelbſt, ganz er⸗ füllt von dem Erlebten. „Da bilden wir uns nun wer weiß wie viel auf unſere Bildung, unſere alte Kultur ein,“ ſagte er, „und müſſen angeſichts ſolcher Kämpfe beſchämt eingeſtehen, daß wir mit all dem lumpigen Rüſtzeug ihren Forde⸗ rungen gegenüber jämmerlich Schiffbruch leiden würden, während die in Elend und Unwiſſenheit Aufgewachſenen ſich wie Helden bewähren. Sie hätten nur ſehen ſollen, wie tapfer die Frauen, vom kleinen Mädchen bis zum 203 ſteinalten Mütterchen, ihren Vätern und Söhnen zur Seite ſtanden. Da ſteckt ungebrochene Jugendkraft —“ Er brach ſeufzend ab. „Zeugt die arbeiterfreundliche Haltung gewiſſer bürger⸗ licher Kreiſe nicht auch dafür?“ fragte ich. Er ſchüttelte heftig den Kopf, daß die dünn gewor⸗ denen roten Haarſträhnen flogen. „Immer noch die alte Optimiſtin!“ murmelte er. „Zu einem guten Teil haben Sie freilich recht —“ fügte er dann laut hinzu. „Der Streik hat die Verſchlafenen aufgerüttelt, hat die ſozialpolitiſchen Probleme wieder in den Fluß der Dis⸗ kuſſion gebracht, hat die brennende Feindſchaft, die der Generalſtab des Kapitals, das heißt das Kapital in ſeiner bedrohten politiſchen Machtſphäre gegen die freie Wiſſenſchaft empfindet, zu hellen Flammen werden laſſen, — und das kann dem echten, dem kritiſchen wiſſenſchaft⸗ lichen Geiſt nur heilſam ſein.“ „Dieſe Feindſchaft muß aber auch mehr und mehr zu uns herübertreiben,“ entgegnete ich. „Zur Sozialdemokratie? Rein! Erinnern Sie ſich unſerer Haltung nach der frankfurter Tagung der Ethiſchen Geſellſchaft? — Seitdem hat ſich für uns nichts verändert. Wir ſind ſogar nur noch feſter an die Staatskrippe, und damit an den Dienſt der kapita⸗ liſtiſchen Geſellſchaft geſchmiedet, weil unſere Kinder in⸗ zwiſchen größer und anſpruchsvoller wurden. Eine Aus⸗ nahme, wie Sie, beſtätigt nur die Regel. Marx hat keine größere Wahrheit ausgeſprochen als die, daß die geſellſchaftliche Umwandlung nur das Werk der Arbeiter⸗ klaſſe ſein kann. Er ſtand auf. „Ich muß eilen, — meine Frau wartet 204 auf mich,“ ſagte er haſtig, und ſtrich ſich „gleich darauf mit einer verlegen ungeſchickten Bewegung den roten Bart. Ich verſtand. Es war gewiſſermaßen nur ein Geſchäftsbeſuch geweſen. Mit Damenbeſuchen wurde ich nicht verwöhnt! Er ſchüttelte meinem Mann die Hand: „Sie bekommen den Aufſatz in ſpäteſtens vier⸗ zehn Tagen.“ Dann wandte er ſich abſchiednehmend zu mir: „Sie dürfen mir auch die Hand geben. Meine Stellung zu Alix Brandt iſt genau dieſelbe geblieben wie zu Alix von Glyzcinski.“ Kurze Zeit darauf meldete ſich einer der geiſtvollſten Archiv⸗Mitarbeiter, Profeſſor Romberg, bei uns an. Ich ſah ihm mit geſpannter Erwartung entgegen, denn ihm war ein Buch vorausgegangen, das ihn wie ein Herold mit Fanfarenſtößen angekündigt hatte. Ein ſchmaler roter Band war es nur, aber das Wort „Sozialismus prangte in goldenen Lettern darauf, und ſein Inhalt war nichts anderes als eine Verteidigung der Lehren von Karl Marx, als eine Anerkennung der ſozialdemo⸗ kratiſchen Arbeiterbewegung. Das Katheder eines wohl⸗ beſtallten ordentlichen preußiſchen Univerſitätsprofeſſors hatte ſich der Verfaſſer wohl auf immer verſcherzt, aber eine Zuhörerſchaft hatte er ſich erobert, aus der fürdie Sache des Sozialismus eine große Gefolgſchaft werden wußte. Mein Mann lächelte über meinen Enthuſiasmus, er ſpielte ſogar ein wenig den Eiferſüchtigen, als ich zum Empfang dieſes Gaſtes ganz beſondere Vorkehrungen traf, den Tiſch mit buntem Herbſtlaub ſchmückte und eine Flaſche Wein beſorgen ließ, — zum erſtenmal ſeit unſerer Hochzeitsfeier. Als er eintrat, hatte ich jene ſeltſame Empfindung, 205 die ich als Kind beſonders häufig gehabt hatte: das mir derſelbe Mann in derſelben Situation ſchon einmal begegnet war; ſelbſt die gleichgültige Begrüßungsphraſe und der Ton ſeiner Stimme dabei war mir bekannt, ehe er ſie ausſprach. Im erſten Augenblick war ich verwirrt und überließ Heinrich die Unterhaltung. dann muſterte ich den Gaſt, und dabei verwiſchte ſich das Gefühl langen Bekanntſeins wieder, ähnlich wie ein Traum uns um ſo gewiſſer entgleitet, je mehr wir über ihn nachdenken. Dieſen großen, tiefbrünetten Mann mit den lebhaften braunen Augen und der hochgewölbten Stirn hatte ich gewiß noch nie geſehen. War es Sym⸗ vathie, die ich für ihn empfand? Der dunkle Bart be⸗ ſchattete dicke Lippen, die von ſtark entwickelter Sinn⸗ lichkeit zeugten, die großen Hände mit den breiten Finger⸗ kuppen und den abgebrochenen Nägeln widerſprachen der vornehmen Eleganz ſeiner ſchlanken Geſtalt. Aber dieſe Miſchung von Roheit und alter Kultur prädeſtinierte ihn vielleicht gerade für die Rolle eines Führers der öffentlichen Meinung, die er, unſerer Anſicht nach, zu ſpielen beſtimmt war. In einer Rede, die von Geiſt und Wiſſen ſprühte, ſetzte er meinem Mann die Ideen auseinander, die er in einer Abhandlung für das Archiv zuſammenfaſſen wollte. „Wir müſſen der Sozialpolitik die Krücken nehmen, die Ethiker, Chriſtlichſoziale und neuerdings Raſſenhygieniker ihr glaubten geben zu müſſen, um ſie dem von ihnen willkürlich geſteckten Ziele entgegen⸗ humpeln zu laſſen. Sie kann und muß auf eigenen Füßen gehen, eigene Ziele verfolgen. Ich verlange die Autonomie des ſozialpolitiſchen Ideals, das nicht nur 206 nicht ethiſch, nicht religiös, nicht raſſenhygieniſch, ſondern dieſen Idealen direkt entgegengeſetzt ſein kann.“ „Das ſei Ihnen in bezug auf das religiöſe Ideal zu⸗ gegeben,“ warf mein Mann ein, „aber das ethiſche, das raſſenhygieniſche?! Die Befreiung desgeſamten Menſchen⸗ geſchlechts, das unter den heutigen Zuſtänden leidet“, iſt doch wohl ein ethiſches Poſtulat! Romberg bewegte lebhaft abwehrend die Hände: „Bleiben Sie mir mit der Zukunftsmuſik des Erfurter Programms vom Leibe! Sie könnten ebenſo gut die Verſöhnung der Klaſſengegenſätze“, die die Ethiker unter den Rationalökonomen der Sozialpolitik als Aufgabe zuſchieben, predigen. Rein: wir ſtehen im Klaſſen⸗ kampf, wir müſſen in dieſem Kampf Partei ergreifen, und zwar nicht für die Schwachen nach chriſtlicher Auffaſſung, ſondern für das höchſt entwickelte Wirt⸗ ſchaftsſyſtem, für die den wirtſchaftlichen Fortſchritt repräſentierende Klaſſe, das heißt auf Koſten der anderen.“ „Mit anderen Worten für das Proletariat?“ fragte ich. Er wandte ſich mir zu. „Gewiß: für das Proletariat, ſowett ſeine Ideale ſich mit dem Ideal der Sozialpolitik decken: der wirtſchaft⸗ lichen Vollkommenheit, und,“ — er betonte ſcharf den letzten Satz, — „ſoweit ſie ſich dauernd mit ihm decken werden. Denn es iſt einerſeits in dauerndem Fluß be⸗ griffen und iſt andererſeits kein abſoluter Endzweck, ſondern nur ein Mittel zur Verwirklichung höherer Zwecke. Das wirtſchaftliche Leben iſt die Schranke, in der unſer ganzes Daſein, auch in ſeinen höchſten Außerungen, ein⸗ geſchloſſen iſt. Wir müſſen ſie erweitern, ſo raſch als 207 möglich, ohne Rückſicht auf die Bedenken empfindſamer Seelen, um zu Licht und Luft zu gelangen. „Und mit dieſen Anſichten können Sie es verant⸗ worten, außerhalb unſerer Partei zu ſtehen!“ rief ich aus. Er ſchien erſtaunt. „Alles, was ich ſagte. was ich ſchrieb, beweiſt doch, daß ich es verantworten kann!“ meinte er langſam. „Oder glauben Sie, ich würde mehr erreichen, wenn ich mich in Ihr Heer einreihen, Ihre Uniform anziehen würde, wenn ich jede meiner Ideen, ehe ich ſie auszu⸗ ſprechen mich getraute dem Votum Ihres Parteitages unterwerfe?! „Ich verſtehe Sie nicht!“ antwortete ich. „Wie reimt ſich Ihre Abneigung gegen die Partei mit dieſem Buch zuſammen,“ — ich hielt ihm den roten Band entgegen, — „mit Ihrer Verteidigung des Klaſſenkampfes, mit Ihrer Drophezeiung der dauernden. der notwendigen Einheit der Bewegung? „Ich muß Ihre Frage mit einer Frage beantworten. Iſt die Zugehörigkeit zur Bewegung abhängig von der namentlichen Einſchreibung in einen Wahlverein? Iſt es für meine Stellung wichtiger, wie ich mich nenne, als was ich leiſte?! Die Frage des Eintritts in die Partei kann für unſereinen nur individuell gelöſt werden. Ich zum Beiſpiel würde in dem Augenblick flügellahm werden, wo ich in der Geſellſchaft aushalten müßte. „Für einen Augenblick vielleicht, aber in dem Mo⸗ ment, wo Sie ſich durchſetzen, wo Sie Einfluß ge⸗ winnen würden, hätten Sie die Kraft Ihrer Flügel in doppeltem Maße wieder —“ miſchte ſich mein Mann ins Geſpräch. 208 „Sie überſchätzen mich, lieber Freund. Über gewiſſe Dinge komme ich nicht hinweg. Sie wiſſen, mein „Sozialismus' hat einen ungeahnten Erfolg; ich brauche mich in meiner Schriftſtellereitelkeit wahrhaftig nicht ge⸗ kränkt zu fühlen. Aber die Behandlung, die mir — mir, der ich den Sozialismus verteidige! — von einem Teil Ihrer Preſſe zuteil geworden iſt, hat mir die ganze Geſellſchaft auf lange verekelt! Der Gegenſatz zwiſchen dem Enthuſiasmus, der ihn wenige Minuten vorher erfüllt hatte, und der moroſen Stimmung, die jetzt aus Wort und Ton und Haltung ſprach, war ſo verblüffend, daß wir verſtummten. Aber Romberg forderte uns zur Antwort heraus: „Sie mißbilligen meinen Standpunkt?“ Fragend ſah er von einem zum anderen. „Ganz und gar!“ antwortete ich heftig. „Glauben Sie, daß wir um der ſchönen Augen der Parteigenoſſen willen Sozialdemokraten geworden ſind, — oder der Hartei entrüſtet den Rücken kehren würden, weil ein paar Raſen uns nicht gefallen?! Wir dienen der Sache, nicht den Perſonen.“ „Eine ſo reinliche Scheidung zwiſchen der Sache und den Perſonen läßt ſich in Wirklichkeit nicht durchführen, ſagte er, ſichtlich verletzt. „Es kann ſehr wohl der Fall eintreten, daß eine Sache durch eine beſtimmte Perſonen⸗ gruppierung rettungslos verloren geht, und ich bin der Meinung, daß in Ihrer Partei Leute den Ton angeben, die Ihre Sache diskreditieren.“ „Wenn Sie dieſer Anſicht ſind, müßten Sie erſt recht in die Partei eintreten, um die Sache, die doch auch die Ihre iſt, vor ſolchen Einflüſſen zu retten! 209 Ex biß ſich auf die Lippen und ſchwieg ſekundenlang. Dann ließ er ſich, wie ermüdet, in den Lehnſtuhl fallen und ſagte langſam: „Sie mögen recht haben, — auf Grund Ihrer Individualität. Ich würde einfach zu⸗ grunde gehen, wenn ich mit dem Geſindel, das Ihre Partei groß gefuttert hat, auf gleich und gleich ver⸗ kehren müßte. Übrigens,“ er lächelte ein wenig, „Sie ſind ja erſt ſeit vorgeſtern „Genoſſin“, — wir wollen unſer Geſpräch in zehn Jahren zu Ende führen! Und Sie, mein lieber Brandt, ſind doch auch nur im Reben⸗ beruf „Genoſſe“. Wenn Sie Ihrer Frau beiſtimmen, warum treten Sie nicht in die politiſche Arena? Mein Mann ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder, ehe er antwortete. „Ich habe nicht Ihre Begabung, die Sie zum Agitator ſtempelt. Und ich bin nicht unabhängig wie Sie, was, meiner Anſicht nach, eine wichtige Vorausſetzung iſt, wenn man in der Partei Wertvolles leiſten will. Das Archiv iſt mein Brotgeber. Es könnte ſeine wertvollſten Mitarbeiter ver⸗ lieren, wenn ſein Redakteur politiſch hervorträte. Sonſt, ² lieber heute als morgen würde ich ein tätiger Partei⸗ genoſſe ſein!“ Ich hatte Heinrich noch nie ſo ſprechen hörer; eine tiefe Unbefriedigung enthüllte ſich mir, eine Seite ſeines Weſens, die ſich ſelbſt dem durchdringenden Blick meiner Liebe bisher verſteckt hatte. Ich konnte den Gedanken daran nicht los werden und vergaß faſt unſeres Be⸗ ſuchers darüber. Beim Abſchied reichte ich ihm die Hand. Ein unbe⸗ hagliches Gefühl überkam mich: die ſeine lag, ſo groß ſie war, ſchwach und leblos in der meinen. Menſchen Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 14 210 ohne Händedruck waren mir immer unſympathiſch ge⸗ weſen. Und doch zog dieſer Mann mich an. „Wollen wir nach all dem Ernſt nun nicht Berlin ein wenig genießen?“ fragte er. „Wir armen Provinzler müſſen uns mit Großſtadtluft auf Monate verſorgen, wenn wir einmal von unſerer Kette loskommen.“ Wir verabredeten allerlei, und er ging. „Run?!“ fragte Heinrich, als die Tür ſich hinter ihm geſchloſſen hatte. „Ein intereſſanter Menſch, ob ein Kämpfer?!“ ant⸗ wortete ich nachdenklich. „Aber was intereſſiert mich dies Problem, wo mein eigner Mann mir eins auf⸗ gegeben hat!“ Er zuckte lachend die Achſeln: „Kümmere dich nicht darum, Schatz, es iſt doch zunächſt unlösbar.“ „Du würdeſt wirklich gern politiſch tätig ſein?“ drängte ich unbeirrt. „Wäre es dir willkommen?“ fragte er ſtatt der Antwort. Mir ſtieg das Blut in die Wangen. Ich ſah den Geliebten an der Stelle, die ich Romberg zugedacht hatte; ich ſah uns beide Schulter an Schulter im Kampfe ſtehen. „O wie ſchön wäre das!“ flüſterte ich. Die nächſten Tage nahm uns Romberg ſehr in An⸗ ſpruch. Er war von einer faſt kindlichen Genußfähigkeit, dabei voller Intereſſe für Kunſt und Literatur, in allem das Gegenſpiel des typiſchen deutſchen Profeſſors. 211 Berlin war damals reich an neuem Leben für den, der es zu finden verſtand. Denn die Oberfläche trug noch immer das Stigma ge⸗ ſchmackloſer Alltäglichkeit. Mein Inſtinkt war doppelt wach; meine Sinne ſchienen geſchärft für alles Werden, und meine Hoffnung umſchlang mit üppigen Ranken jede neue Erſcheinung. Wir ſahen Gerhart Hauptmanns „Verſunkene Glocke“, die zum erſtenmal zur Aufführung kam. Alles ſtritt um des ſchönen Märchens eigentlichen Inhalt und riß ihm im Streit grauſam die Schmetterlingsflügel aus. Den einen erſchien es als das tragiſche Bekenntnis eigener Schwäche: denn die im Tal gegoſſene, für die Höhe be⸗ ſtimmte Glocke Meiſter Heinrichs ſtürzte vom Berge hinab in die Tiefe, und als er ſelbſt emporſtieg, um droben ein neues Wunderwerk zu ſchaffen, zog ſie ihn nach ſich ins Grab. Den anderen war es nichts als ein Zeichen geiſtiger Reaktion: der Dichter der „Weber floh vor dem wirklichen Leben. Ich aber hörte darin das immer wiederkehrende Leitmotiv der Sehnſucht, das den Glockengießer emporzog, auch als er an ſeiner Schwäche ſterben mußte, ich ſah die Sonnenpilger, die den Marmortempel ſuchten, deſſen Baumeiſter zugrunde ging, dem aber Kräftigere als er Hammer und Kelle aus den toten Händen nahmen. Und dieſelbe Sehnſucht, die der Hoffnung Schweſter iſt, die aus unſerer nüchternen, auf praktiſch⸗greifbare Ziele gerichteten Zeit hinwegverlangt in reichere, blühen⸗ dere Gefilde, wo die arme gehetzte Seele nicht mehr zu durſten und zu frieren braucht, ſchien einer jungen noch 14* 212 unbekannten Künſtlerſchaft die Hand zu führen. Wir ſahen Gläſer, deren zart ſchimmernde Blumenkelche in Märchenfarben ſtrahlten, und Teppiche, auf denen die ganze Fülle des Frühlings ausgeſtreut erſchien. Wir kamen in eine Ausſtellung, die eine Welt fremder Wunder enthielt, deren Schöpfer ein noch Unbekannter war. Staunend ſtand ich vor dem ſchönſten, das ſie bot: einem Fenſter voll leuchtender Glut, mit den Geſtalten Triſtans und Iſoldens. In ihren Augen, in ihrer Ge⸗ bärde ſteigerte ſich die Sehnſucht zum Verlangen; die Farben waren eine Hymne des Lebens: das Rot jauchzte, das Blau verging in zärtlichen Melodien, wie ein myſtiſcher Orgelton ſtand das Violett dazwiſchen. Achſelzuckend ging die Maſſe an alledem vorüber. Auch die beiden Männer, die mich begleiteten, waren mehr erſtaunt als betroffen. Ob wohl nur eine, die ſchwanger war, die verborgenen Lebenskeime dieſer Zeit zu ſchauen vermochte? Ich ſog mit allen Sinnen ein, was der Menſchenknoſpe in meinem Schoß zur Nahrung dienen konnte. „Seit ich Sie kenne, begreife ich nicht, wie Sie Ge⸗ noſſin werden konnten,“ ſagte Romberg beim Abſchied, „mit Ihrem ſtarken Kulturbedürfnis, ihrem Schönheits⸗ durſt!“ „Für mich war das nur ein Motiv mehr, um es zu werden,“ antwortete ich. „Auch den Seelenhunger der Maſſen nach höheren Lebenswerten möchte ich ſtillen helfen. „Sie haben kaum einen —,“ meinte er wegwerfend. „Dann iſt meine Aufgabe doppelt groß: ich muß ſie hungrig machen — —“ 213 Mein Zuſtand hinderte mich zunächſt nicht an der Parteitätigkeit. Ich hielt Verſammlungen ab, ſolang es ging, obwohl die ſchlechte Luft ſidk mir immer ſchwerer auf den Kopf legte; ich beſuchte die Sitzungen der Frauenorganiſation regelmäßig trotz der ekelerregenden Düfte der Lokale, in denen ſie ſtatt⸗ fanden. Wenn die Polizei, die uns ſtändig auf den Ferſen war, gewußt hätte, wie wenig welterſchütternd die Fragen waren, über die wir debattierten, ſie würde uns ruhig unſerem Schickſal überlaſſen haben. Seitdem Wanda Orbin nicht mehr in Berlin war, ſchien zwar auch den Rur⸗Ja⸗Sagerinnen der Mund geöffnet zu ſein, aber was ſie vorbrachten, das drehte ſich meiſt um die kleinlichſten Dinge. Derſelbe Zank, derſelbe Reid, der mir die bürgerliche Frauenbewegung vergällt hatte, fand ſich auch hier, nur daß er ſich in gröberen Formen äußerte. Ich wäre bitter enttäuſcht geweſen, wenn ich nicht allmählich Einblicke gewonnen hätte, die mir die Dinge in anderem Licht erſcheinen ließen. Ich lernte das Leben dieſer Frauen kennen. Da war eine, die tagaus, tagein in dieſelbe elende Zwiſchenmeiſter⸗ werkſtatt ging, um, wenn ſie todmüde heimkam, von dem betrunkenen Mann mit Schlägen oder zudringlichen Zärtlichkeiten empfangen zu werden; — ſollte ſie nicht verbittert ſein? Da war eine andere, die, obwohl ſie einen braven Gatten hatte, auf ihre alten Tage in die Fabrik zurückgekehrt war, weil ſie nur auf dieſe Weiſe ihrem kranken Sohn den Beſuch eines Sanatoriums ermöglichen konnte; — ſollte ſie die glücklicheren Mütter nicht beneiden, die die Geſundheit ihrer Kinder nicht ſo 214 ſchwer erkaufen mußten? Und ein verblühtes Mädchen war zwiſchen uns, die ihrer gelähmten Mutter ihre ganze Jugend hatte opfern müſſen, — war's nicht begreiflich, daß etwas wie Haß in ihren Augen aufblitzte, wenn ich ſprach? Einmal beſuchte ich die kleine dicke Frau Wengs; ſie war vor drei Tagen ihres ſiebenten Kindes geneſen, und ich fand ſie ſchon wieder hinter dem Waſchfaß. War es erſtaunlich, daß ſie reizbar war? All dieſe Frauen ſtanden in harter Arbeitsfron; war es nicht viel merk⸗ würdiger, daß ſie ſich dabei die Kraft, den Opfermut, die Begeiſterungsfähigkeit erhalten hatten, die es ihnen möglich machte, ihre ſpärliche Freizeit, ihre ihnen ſo bitter nötige Rachtruhe dem Dienſt der Partei zu widmen? Sie leiſteten das äußerſte, was ſie leiſten konnten; es war nicht ihre Schuld, daß es trotzdem ſo wenig war. Ich grübelte lange nach, wie hier zu helfen wäre. Mein alter Plan eines Zentralausſchuſſes für Frauen⸗ arbeit tauchte wieder auf. Wenn man mit Hilfe der Partei ſolch einen Mittelpunkt ſchaffen, die begabteſten der Frauen dabei beſchäftigen, von ihrer Erwerbsarbeit dadurch befreien könnte? Frau Wengs war nach dem Parteitag zur „Vertrauensperſon für ganz Deutſchland gewählt worden. War es nicht wie ein Hohn auf die Frauenbewegung, daß ſie, die kaum Zeit hatte, eine Zeitung zu leſen, für die das Schreiben eines Briefes eine faſt unüberwindliche Aufgabe war, an ihrer Spitze ſtehen ſollte? Man hatte mir freilich erzählt, Wanda Orbin habe ihre Wahl unterſtützt, um die Leitung um ſo ſicherer in der eigenen Hand zu behalten, Wanda Orbin, die uns ſo fern war, deren unzureichende Kennt⸗ 215 nis der Verhältniſſe ſchon daraus hervorging, daß ſie ihre Zeitſchrift in einem Tone ſchrieb, der einen hohen Grad von Wiſſen bei dem Leſer vorausſetzte. Ja, wenn ſie in Berlin wäre, wenn ſie offiziell die Führung in die Hände bekäme, wenn die Geſtaltung der „Freiheit“ dem Einfluß der Genoſſinnen zugänglich gemacht werden könnte! Schon damit, ſo ſchien mir, wäre viel geholfen. Ich ſchrieb ihr in dieſem Sinne, ich fragte ſie, ob ſie kommen würde, wenn man die Anſtellung einer weib⸗ lichen Parteiſekretärin durchgeſetzt hätte. Sie antwortete ausweichend: es feſſele ſie vieles, vor allem die Erziehung ihrer Söhne in Stuttgart. Ich gab die Sache noch nicht verloren. Ich legte meinen Plan der Schaffung eines Sekretariats für die Frauenbewegung den Ge⸗ noſſinnen vor, ich entwickelte ihn in einem längeren Artikel in der „Freiheit“ und hütete mich zunächſt, Wanda Orbins Ramen zu nennen, da ich wußte, daß auch ſie Gegnerinnen hatte. Die Wirkung war ver⸗ blüffend: die Frauen gerieten in eine Aufregung, die in keinem Verhältnis zur Sache zu ſtehen ſchien. Man fand es ungeheuerlich, daß ich, die ich noch nichts, aber auch rein gar nichts geleiſtet hätte, mir herausgenommen habe, an der Arbeiterinnenbewegung Kritik zu üben; man bekämpfte meinen Plan durch Wort und Schrift, als bedeute er eine Gefahr für die Partei. Bei der Abſtimmung erhob ſich keine Hand für ihn. Ich erfuhr erſt allmählich die wahre Urſache dieſer wütenden Gegner⸗ ſchaft: die Frauen hatten angenommen, daß ich für mich ſelbſt eine einträgliche Stellung ſchaffen wolle. Und Wanda Orbin hatte ſie offenbar in dieſem Glauben ge⸗ laſſen. Es gab Momente, in denen dieſe Erfahrung 216 mir wehe tat, — trotz aller Mühe, überall nur das Gute zu ſehen. Und die Entrüſtung meines Mannes, der jeden Radelſtich, der mich traf, wie einen Dolchſtoß empfand, trug nicht dazu bei, mich zu beruhigen. Aber die öffentlichen Ereigniſſe ſorgten dafür, Gedanken und Intereſſen auf wichtigere Dinge zu lenken, und die Verſtimmung zwiſchen mir und den Genoſſinnen in ein⸗ mütige Kampfluſt gegen die Feinde, die unſere Sache von außen bedrohten, zu verwandeln. Hatten die Parlamentsreden der Herren der Rechten, vom Geiſte Stumms beherrſcht, ſchon kriegeriſch genug geklungen, ſo kündigten die kaiſerlichen Worte auf dem brandenburger Provinzial⸗Landtag Kampf bis aufs Meſſer an: „Die Aufgabe, die uns allen aufgebürdet iſt, die wir verpflichtet ſind zu übernehmen, iſt der Kampf gegen den Umſturz mit allen Mitteln . . Ich werde mich freuen, in dieſem Gefecht jedes Mannes Hand in der meinen zu ſehen, er ſei edel oder unfrei,“ hieß es darin, und zum Schluß: „Wir werden nicht nachlaſſen, um unſer Land von dieſer Peſt zu befreien, die nicht nur unſer Volk durchſeucht, ſondern auch das Heiligſte, was wir Deutſche kennen, die Stellung der Frau, zu erſchüttern trachtet.“ Kein Zweifel: ein Gewitter ſtand bevor, das unſere Saaten bedrohte; dem Blitz, der die Situation grell beleuchtet hatte, folgte der Donner und der praſſelnde Regen in Geſtalt einer Vereinsgeſetznovelle, die dem reaktionären preußiſchen Landtag zur Entſchei⸗ dung vorlag und nichts anderes bedeutete, als eine Knebelung des Koalitionsrechts, eine Auslieferung unſerer Organiſationen an die Willkür der Polizei. Da war 217 niemand unter uns, dem nicht das Herz ſtürmiſch ge⸗ ſchlagen hätte, — vor Empörung über das drohende Un⸗ recht, vor Freude über den aufgezwungenen Kampf. Es gab keinen kleinlichen Zank mehr; man drängte ſich zur Arbeit und übernahm auch die geringfügigſte mit dem Pflichtbewußtſein des Soldaten, der ſeinen Poſten be⸗ zieht. Ich konnte der vorgeſchrittenen Schwangerſchaft wegen nur mit der Feder tätig ſein, und Zorn und Begeiſterung führte ſie. Ich ſah eine Zeit nahe bevor⸗ ſtehen, wo die beſten Elemente des Bürgertums, wo vor allem die Vertreter der freien Wiſſenſchaft, vor die Wahl geſtellt zwiſchen der Reaktion und dem Proletariat, ſich auf die Seite der Arbeiter ſtellen müßten. „Du prophezeiſt trotz einem Bebel,“ lachte mein Mann, wenn ich mich fortreißen ließ, alles zu ſagen, was ich erträumte, und dann erinnerte er mich an jene anderen Kaiſerreden, die den Dreizack des Meergottes für die deutſche Fauſt verlangten, und den Beifall derſelben Männer fanden, auf die ich rechnete. Aber ich hörte nicht darauf, ich wollte nicht hören. Die Fähigkeit, Dunkles zu ſehen, war meinem inneren Auge mehr und mehr abhanden gekommen. Wo immer ich den Blick hin⸗ wandte: überall war es hell, überall ſtrahlte die Welt voll Frühlingsahnen. Und als es draußen in den Gärten und auf den Plätzen wirklich zu blühen begann, da ſchien mir's, als wäre dies der erſte Lenz, den ich erlebte. Ich ſaß in der Sonne auf dem Balkon und ſah ſtaunend, wie aus den braunen ſaftig glänzen⸗ 218 den Knoſpen auf den Kaſtanienbäumen kleine zartgrüne Blätter leiſe ans Licht ſtrebten. Ich ging am Arm des Geliebten durch den Tiergarten, den ein ſtarker würziger Erdgeruch erfüllte, und ſtand vor dem Wunder ſtill, das in Hunderten bunter Frühlingsblumen aus dem Raſen⸗ teppich emporwuchs. Und die Sonne ſchien ſo mild und warm, — wenn ſie meine Wange traf, war mir, als ſtreichle ſie mich. In der Racht lag ich oft ſtunden⸗ lang wach; ich war nicht müde. Regte ſich dann in meinem Schoß das junge Leben, ſo ſtrömte es mir durch die Glieder wie Feuer. Frühzeitig war alles zu ſeinem Empfang bereit. Oft, wenn niemand es merkte, ſchloß ich mich ein in dem hellen Zimmer, wo alles ſeiner wartete, und kniete vor dem kleinen Bettchen, und vergrub meine heißen Wangen in ſeinen kühlen Kiſſen. Einmal, als ich mit Heinrich am Ufer entlang heim⸗ wärts ging, an der Bucht vorbei, wo die Weiden ihre grünen Schleier tief bis zum Waſſer hinuntergleiten laſſen, kam uns ein alter grauhaariger Mann entgegen. Ich hörte zuerſt nur ſeinen ſchleppenden Schritt, denn die Abendſonne, die im Weſten verglühte, blendete mich. Aber ich wußte: das war mein Vater. Meine Kniee zitterten. Und ſchon war er vorbei. Er ſchien in Ge⸗ danken verloren und hatte uns wohl nicht erkannt. Ich wandte den Kopf nach ihm, — da ſtand er wie ange⸗ wurzelt und ſtarrte mich an, ſo voll Zärtlichkeit —! Ich wäre ihm faſt zu Füßen geſtürzt, aber er machte eine raſche, abwehrende Bewegung und ging weiter. An dem Abend weinte ich. Und ich hatte doch mein Kind vor allem Kummer ſchützen wollen! 219 Wenige Tage ſpäter waren wir wieder zur gewöhn⸗ lichen Zeit fort geweſen. Mit geheimnisvollem Lächeln öffnete mir das Mädchen die Tür, als ich heimkam. Ins Kinderzimmer ſollt' ich kommen, ſagte ſie. Da brannte die Lampe unter dem Roſenſchleier und auf dem weißen Tiſch lagen lauter ſpitzenbeſetzte Hemdchen und Jäckchen, und kleine Schuhe und Steckkiſſen, und lange Tragekleidchen; durch die blauen Bänder, die ſie zuſammenhielten, waren Sträuße duftender Maiblumen gezogen. „Das gnädige Fräulein brachte alles ſelbſt, berichtete lächelnd das Mädchen und übergab mir einen Brief von Mama: „Mein liebes Kind! Das alles ſchickt Dir Dein Vater. Er hat mir und Deiner Schweſter erlaubt, zu Dir zu gehen, und Dir ſeine Grüße zu bringen. Schreibe mir, wann wir Dich beſuchen können,“ ſchrieb ſie. Bald darauf kam ſie ſelbſt. Ich hatte vor Erregung eine böſe Racht gehabt und empfing ſie auf dem Diwan liegend. Sie aber war ſo ruhig, ſo teilnahmsvoll, als läge höchſtens eine Reiſe zwiſchen ihrem erſten Beſuch und heute. Drohte eine verlegene Pauſe, ſo half das Geplauder Ilschens darüber hinweg, die mir von ihren erſten Ballfreuden und ihren Triumphen nicht genug erzählen konnte. „Wie geht es dem Vater?“ fragte ich ſchließlich zaghaft, da ſie zu vermeiden ſchienen, ſeiner Erwäh⸗ nung zu tun. „Er iſt recht alt geworden,“ ant⸗ wortete Mama langſam. „Aber noch ſo rüſtig,“ fiel die Schweſter ein, und berichtete zum Beweis dafür von den Diners und den Bällen, zu denen er ſie be⸗ gleitet hatte. Sie nannte Namen, die ich nicht kannte, 220 und erwähnte Geſellſchaftskreiſe, die er früher auf das peinlichſte gemieden hatte: Tiergartenſalons, in denen, wie er zu ſagen pflegte, der jüngere Offizier nur als Mitgiftjäger, der alte nur als Tafeldekoration auftritt. Ich fühlte jetzt: er mußte ſehr alt geworden ſein. Ehe ſie gingen, bat ich Ilschen, nun aber recht oft zu mir zu kommen. Sie ſah, ſtatt zu antworten, ängſt⸗ lich fragend auf Mama. „Allein darf ſie euch nicht beſuchen,“ ſagte dieſe mit dem alten harten Ton in der Stimme, während ſich tiefe Falten um ihre Mundwinkel gruben. Als ſie fort waren, trat ich auf den Balkon. Ich hatte das Bedürfnis, friſche Luft zu ſchöpfen. Da ſiel mein Blick auf die Straße: mit kleinen, haſtigen Schritten ging der Vater vor unſerer Haustür auf und ab, und als Ilſe ihm entgegentrat, wandte er ſich ihr mit einer raſchen Bewegung zu, und ich ſah, wie ſie ſprach und ſprach, und wie er horchte, den Kopf ihr zu⸗ geneigt, als fürchte er, auch nur ein einzig Wort zu verlieren. An dieſem Abend mußt' ich wieder weinen. Der Sommer kam. Ich ſchleppte mich nur noch mühſam die hohen Treppen herauf und hinunter. Ich zählte nicht mehr nach Wochen, ſondern nach Tagen. Meine Zimmer ſtanden voll Juni⸗ roſen. Ich war noch einmal mit den Kindern in die Stadt gegangen, um zu beſorgen, was ihnen für die Ferien⸗ reiſe zu ihrer Mutter noch fehlte. Als ich daheim die Sachen in den Koffer legte, dunkelte es mir plötzlich vor den Augen. Ein jäher Schmerz zog mir den Leib 221 zuſammen. Ich ſchlich ins Wohnzimmer und fiel meinem Mann, der erſchrocken vom Schreibtiſch auf⸗ geſprungen war, in die Arme. „Run iſt's ſo weit,“ flüſterte ich und ſah ihn glückſelig an. Er ſchickte zu meiner Arztin. Ich aber ſaß ſtill im Lehnſtuhl und ſpottete ſeiner Angſtlichkeit. Wie hätte ich mich auch nur einen Augenblick lang furchten können! Wenn ich die Augen ſchloß, ſah ich Großmamas gütiges Antlitz vor mir und hörte ſie tröſtend wiederholen, was ſie mir früher ſo oft verſichert hatte: Ein Kind gebären iſt das leichteſte von der Welt. Aber der Abend kam und die Racht, — ich wartete noch immer. Und am folgen⸗ den Tag war ich zu ſchwach, um vom Bett aufzuſtehen, und in der Racht ſtanden zwei Arztinnen um mein Bett, und Heinrich wich nicht von mir. Ich allein ſpürte nichts von Angſt; wenn ich vor Schmerzen ſtöhnte, ſo war mir's, als wäre ich's nicht. Am Morgen des dritten Tages ſtrahlte der Himmel in wolkenloſer Pracht; von der Gedächtniskirche herüber klang tiefer Glockenton, und von allen Seiten antwor⸗ teten ihm hellere Stimmen. „Es will ein Sonntags⸗ kind ſein,“ flüſterte ich lächelnd dem Liebſten zu, der neben mir ſaß, und an den ich mich klammerte, wenn es gar zu wehe tat. „Und in der Johannisnacht geboren werden,“ hörte ich wie von ferne ſagen. Müde ſank ich in die Kiſſen. Mir träumte von den Bergen, die zum Himmelszelt ſtolz ihre weißen Häupter heben, und von grünen Matten, die ſich zart und weich zu Füßen grauer Felſen ſchmiegen. Und ich ſah, wie alle Spitzen zu glühen begannen, als hätten ſich die Sterne auf ſie her⸗ 222 niedergeſenkt, und von allen Hügeln die Flammen loderten. Plötzlich aber war mir, als ſtünde ich ſelbſt auf dem Scheiterhaufen, — ſchon züngelte das Feuer an meinem nackten Körper empor, — ich ſchrie laut auf — — War ich geſtorben, — und darum ſo ſeliger Ruhe voll?! Ich ſchlug die Augen auf. „Heinz!“ kam es ganz, ganz leiſe von meinen Lippen. Ich taſtete mit den Händen auf dem Bett, — ich fühlte ſeinen Kopf, — ſeine Schultern, — warum bebten ſie nur ſo?! Heiße Augen, die durch Tränen leuchteten, richteten ſich auf mich. Von der anderen Seite öffnete ſich die Türe, ein breiter Strom von Licht ergoß ſich in das dunkel verhangene Zimmer, auf der Schwelle ſtand eine Frau, ein weißes Bündelchen auf den Armen. „Mein Kind —! rief ich. „Unſer Sohn!“ antwortete Heinrich und legte ihn mir an die Bruſt. Ehrfürchtig berührten meine Lippen die von wirren Löckchen dunkel umrahmte Stirn. Und zwei große blaue Augen, in denen des Werdens tiefes Geheimnis noch zu ſchlafen ſchien, blickten mich an. 223 Siebentes Kapitel Drei Monate ſpäter ſaß ich an unſerem Schreib⸗ tiſch, in einen Artikel vertieft, den ich Wanda Orbin verſprochen hatte. „Faſt ſchien es, als ſollte der Züricher Arbeiter⸗ ſchutz⸗Kongreß den Beweis erbringen, daß die An⸗ hänger der verſchiedenſten politiſchen und religiöſen Weltanſchauungen auf dem Gebiete praktiſcher So⸗ zialreform zu gemeinſamen Reſultaten gelangen könnten. Die Fragen der Kinder⸗ und der Sonntagsarbeit riefen keinerlei tiefere Differenzen hervor. Nur hie und da fiel ein Wort, das wie Wetterleuchten die Abgründe erhellte, die tatſächlich zwiſchen den Rednern auseinanderklafften. Aber erſt die Frage der Frauen⸗ arbeit vollzog ſchließlich die Trennung der Geiſter. Schon in der vorbereitenden Sektion kam es zu hitzigen De⸗ batten: auf der einen Seite ſtanden die katholiſchen Sozialreformer Belgiens und Öſterreichs, unter ihnen Männer in langem Prieſterrock und brauner Mönchs⸗ kutte, auf der anderen die Führer der internationalen Sozialdemokratie, die Bebel und Liebknecht, die Vander⸗ velde und Geier an ihrer Spitze. Und als wir uns am nächſten Morgen in dem hohen Saal der Tonhalle wieder verſammelten — einem Saal, der nur für Feſtes⸗ 224 freude geſchaffen ſchien, — und der blaue See und die weißen Berge durch die breiten Fenſter zu uns herein⸗ ſtrahlten, ein Bild glücklichen Friedens, da wußten wir: heute kommt es zur Schlacht. Die Tribünen waren überfüllt: die ganze ſtudierende Jugend Zürichs drängte ſich dort oben zuſammen. Erwartungsvolle Er⸗ regung brannte auf ihren Wangen. Und unten ſam⸗ melten ſich die Delegierten um ihre Tiſche: die Luft ſchien zu vibrieren unter dem Einfluß all der klopfen⸗ den Pulſe, all der kampfheißen Blicke. Der katholiſche Demokrat Carton de Wiart trat hinter das Rednerpult zur Verteidigung ſeines Antrags: Verbot der groß⸗ induſtriellen Frauenarbeit. Mit tiefem Glockenklang er⸗ füllte ſeine ſchöne Stimme den Rieſenraum und ſteigerte ſich zum tragiſchen Hathos, wenn ſie die zerſtörenden Folgen der Frauenarbeit ſchilderte: „Der Säugling ver⸗ kommt in Hunger und Schmutz, die heranwachſenden Kinder werden ein Opfer der Straße; vom erloſchenen Herdfeuer flieht der Mann und ſucht Troſt und Wärme im Trunk . . . Er malte nicht zu ſchwarz, und auch aus den Reihen der Gegner hätte ihm niemand wider⸗ ſprechen können. Aber während die tatſächlichen Zu⸗ ſtände ihm und ſeinen Geſinnungsgenoſſen als eine be⸗ klagenswerte Verirrung der Menſchheit erſchienen, die durch ein gebieteriſches „Zurück!“ von dem alten klein⸗ bürgerlichen Familienleben wieder abgelöſt werden könnten, ſahen die Sozialdemokraten in ihnen eine not⸗ wendige Begleiterſcheinung der kapitaliſtiſchen Wirt⸗ ſchaftsordnung, die nur durch ein „Vorwärts!“ zum So⸗ zialismus zu überwinden iſt. „Auch wir ſind für die Verkürzung der Arbeitszeit, für geſetzlichen Mutterſchutz, 225 für Verbot der Frauenarbeit in geſundheitsſchädlichen Betrieben,“ erwiderte Frau Alix Brandt dem Redner; „aber für ein Verbot der Frauenarbeit überhaupt ſind wir nicht. Denn nicht jenes idylliſche Bild glücklichen Familienlebens, das Herr de Wiart in ſo leuchtenden Farben malte, würde ſeine Folge ſein, ſondern eine noch größere Zerſtörung der Familie, eine noch gefähr⸗ lichere Untergrabung weiblicher Kraft. Weder Laune noch Reigung treibt die Frauen in Scharen in die Fabriken, ſondern Rot. Schließt ihnen deren Tore, und dieſelbe Rot wird ſie in das Elend der Heimarbeit treiben, wo ſchrankenlos die Ausbeutung herrſcht, wird ſie demjenigen Frauenberuf zuführen, vor dem weder die chriſtliche Sittlichkeit des Staates, noch die Ritter⸗ lichkeit der Männer das weibliche Geſchlecht jemals ge⸗ hütet haben: der Proſtitution.“ Und in einer Rede voll hinreißender Leidenſchaft verteidigte Frau Wanda Or⸗ bin die Berufsarbeit der Frau als die Grundlage ihrer ſozialen Befreiung: „Die Arbeit iſt ihre Menſchwerdung. Was ſie auf der einen Seite zerſtört, baut ſie auf der anderen wieder auf für die ſittliche und geiſtige Einheit von Mann und Frau. Aus den Konflikten zwiſchen Beruf und Haus erwachſen dem Weibe zwar die größten Schmerzen, aber auch die größte Kraft. Richt nur, weil ein Verbot der Frauenarbeit heute die Rot ſteigern würde, wie meine Vorrednerin Ihnen auseinanderſetzte, ſtimmen wir geſchloſſen gegen den Antrag Wiart, ſon⸗ dern weil wir Frauen die Arbeit wollen um unſerer Selbſtbefreiung willen, um einer künftigen Reugeſtal⸗ tung der Ehe und der Familie willen, die die ökono⸗ miſche Unabhängigkeit des Weibes zur Vorausſetzung Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 15 226 hat.“ Minutenlang umbrauſte der Jubel aus dem Saal hinauf, von den Tribünen herab die Rednerin. Und als die Baronin Vogelſang, eine zarte, ſchlichte Frauen⸗ geſtalt, ſie ablöſte, — mit niedergeſchlagenen Augen und leiſe zitternden Händen, ungewohnt des öffentlichen Auftretens, — erſchien ſie wie die Perſonifizierung jener fernen verſunkenen Welt, die ſie mit leiſen, weichen Worten, mit einem Appell an das Gefühl wieder glaubte heraufbeſchwören zu können: „Um der Kinder willen, denen die Induſtrie die Mütter raubt, nehmen Sie den Antrag an —;¹ ihre erhobenen Blicke flehten und rührten manch einem ans Herz, ſo daß die rauhe Wahrheit, die der Verſtand erkennt, hinter den weichen Schleiern, die die Empfindung webt, zu verſchwinden drohte . . . Ich legte die Feder aus der Hand und ſeufzte tief auf. Seit meines Kindes Geburt waren die Probleme der Frauenbefreiung für mich keine bloßen Theorien mehr. Sie ſchnitten in mein eigenes Fleiſch, — und ich war keine Induſtriearbeiterin, — ich brauchte nicht von früh bis ſpät in der Fabrik zu ſchuften, fern meinem Liebling. Mir grauſte, wenn ich daran dachte, daß ſo etwas möglich, ja notwendig ſein konnte. Es gab Augenblicke, in denen meine Überzeugungen auf tönernen Füßen zu ſtehen ſchienen. Schon die Reiſe nach Zürich war mir ſchwer genug geworden, obwohl ich mein Kind in beſter Obhut zurück⸗ gelaſſen hatte. Meine Phantaſie malte ſich täglich neue Schrecken aus, die ihm zuſtoßen konnten. Und wie viele Stunden des Tages mußte ich jetzt fern von ihm ſein! Wie oft ſprang ich vom Schreibtiſch auf und ſah ſehnſüchtig auf den ſonnigen Platz hinunter, wo es, in 227 ſeinen weißen Wagen gebettet, auf⸗ und niedergefahren wurde. Wie viele Blicke aus ſeinen blauen Augen, wieviel krähendes Babylachen von ſeinem roten Münd⸗ chen gingen mir verloren! Und abends, und nachts: wie oft mußte ich, ſtatt an ſeinem Bettchen zu ſitzen, in Verſammlungen ſprechen, an Partei⸗Zuſammenkünften teilnehmen. Manche meiner Genoſſinnen kamen aus der Werkſtatt und der Fabrik, auch ſie hatten kleine Kinder zu Hauſe und kein Dienſtmädchen, um ſie zu hüten; — meine Be⸗ wunderung für ſie ſtieg und zugleich mein Verſtändnis für all die Bitterkeit, den Haß und das Mißtrauen, das ſich in ihnen angeſammelt hatte. Kann ein Weib der Welt, die den Kindern die Mutter entreißt, mit anderen Empfindungen gegenübertreten? Und doch hatte ich mich in Zürich mit aller Leidenſchaft dafür eingeſetzt, die weibliche Berufsarbeit — auch die der Mütter — zu erhalten? Ich zerriß den halbfertigen Artikel wieder und ſchrieb an Wanda Orbin ein paar entſchuldigende Worte. Ich konnte nicht mehr über eine Frage ſprechen, ich war außer ſtande, den Leſern fix und fertige Anſichten aufzutiſchen, ſeitdem ſie mir zur perſönlichen Angelegen⸗ heit geworden war, und ich ihr für mich ſelbſt die Ant⸗ wort noch ſchuldig bleiben mußte. Mein Mann kam nach Hauſe. „Biſt du ſchon fer⸗ tig?“ fragte er mit einem verwunderten Blick auf den Schreibtiſch, deſſen Ausſehen keine Arbeit mehr verriet. Ich erklärte ihm die Situation, obwohl ich von vorn herein wußte, daß ihm das volle Verſtändnis dafür fehlen würde. Er hatte ſchon oft nachſichtig, wie über eine kindliche Torheit gelächelt, wenn ich den Konflikt 15* 228 berührte, in dem ich mich befand; er war ſogar hie und da heftig geworden, hatte mich für ſentimental, für überängſtlich erklärt, wenn ich die Trennung von meinem Kinde, die meine Berufs⸗ und Parteipflichten mir auferlegte, ſo ſchwer nahm. Auch heute ſchüttelte er den Kopf und unterdrückte ſichtlich eine Antwort, weil er mich nicht verletzen wollte. „Ich glaube, wir haben Grenzpfähle berührt, die das Reich des Weibes von dem des Mannes trennen,“ ſagte ich nachdenklich. „Wir ſind nicht imſtande, wie Ihr, alle Probleme in kühler Objektivität zu löſen, — wie eine mathematiſche Aufgabe.“ Gegen Abend beſuchte uns Romberg. Wir waren raſch mitten in lebhafteſter Debatte. Das Fernbleiben aller jungen ſozialpolitiſchen Profeſſoren vom Züricher Arbeiterſchutz⸗Kongreß hatte wie eine gemeinſame Demon⸗ ſtration gewirkt und war mir um ſo peinlicher auf⸗ gefallen, als es im Gegenſatz nicht nur zu meinen großen Hoffnungen, ſondern auch im Gegenſatz zu ihren eigenen Wünſchen und Außerungen geſtanden hatte. „Waren Sie nicht derjenige, der es ſtets bedauerte, daß Gelehrte und Arbeiter nicht einmal auf dem Ge⸗ biet der Sozialpolitik ſich begegnen und miteinander be⸗ raten könnten?“ fragte mein Mann. „Und nun bot ſich Ihnen endlich die Gelegenheit, und Sie ergriffen ſie nicht!“ Romberg biß ſich in die Lippen, wie immer, wenn er um eine Antwort verlegen war. „Die Zeit war unglücklich gewählt,“ meinte er ſchließ⸗ lich zögernd. „Warum ſagen Sie nicht lieber gleich, was die links⸗ liberale Preſſe zu ihrer Rechtfertigung feierlich erklärte, 229 rief ich empört, „daß die ſtarke Beteiligung unſerer Partei den Kongreß von vorn herein zu einem ſozial⸗ demokratiſchen geſtempelt habe und preußiſche Profeſ⸗ ſoren daher nicht hingehörten! Er unterbrach mich: „Sie wiſſen genau, daß der Vorwurf eines Mangels an Mut mich nicht treffen kann!“ Ich dachte an das rote Buch und lenkte ein. Aber die gegenſeitige Verſtimmung wich erſt allmählich dem Intereſſe am Gegenſtand unſeres Geſprächs. „Die blutige Wanda hat, wie ich geleſen habe, in Zürich auch die Frauenfrage gelöſt,“ ſagte Romberg mit einem ſarkaſtiſchen Lächeln. „Ich fürchte, jede „Löſung“ iſt nur der Ausgangs⸗ punkt neuer Probleme,“ erwiderte ich. Romberg warf mir einen überraſchten Blick zu: „Wie, — auch Sie beginnen, an der Unfehlbarkeit Ihrer Päpſte zu zweifeln?! Das wird ja immer beſſer: Schönlank putzt den alten Liebknecht herunter wie einen Schulbuben und weiſt ihm nach, daß die Verelendungstheorie angeſichts der geſtiegenen Lebens⸗ haltung der Arbeiter zum alten Eiſen geworfen werden muß wie das eherne Lohngeſetz ſeligen Angedenkens: Bebel tritt für die Beteiligung an den Landtags⸗ wahlen ein, was ein Preisgeben eines mit aller Lungen⸗ kraft verteidigten Prinzipes iſt, und Alix Brandt wird zur Antifeminiſtin — —“ „Wenn Ihre Zuſammenſtellung eine Berechtigung hat, ſo iſt es die, daß meine Zweifel ebenſowenig zum Anti⸗ feminismus führen, wie Schönlanks oder Bebels Rega⸗ tionen veralteter Anſchauungen zum Antiſozialismus. „Alſo auch hier nur eine Reviſion des Programmes? 230 „Auf Grund der Reviſion der Erfahrungen, die wir durchgemacht haben, — gewiß! Übrigens fehlt es ja der Frauenbewegung noch an jedem Programm, weil es ihren Problemen an der wiſſenſchaftlichen Formu⸗ lierung fehlt.“ „Das wäre eine Aufgabe, die Sie löſen müßten, meinte Romberg lebhaft. „Damit würdeſt du dir und anderen zur Klarheit verhelfen —,“ fügte Heinrich raſch hinzu, „ein Buch über die Frauenfrage, das von einer Darſtellung der tatſächlichen Verhältniſſe ausgehen müßte, das die wirt⸗ ſchaftliche, die ſoziale und die rechtliche Lage der Frauen zu behandeln hätte, . . . „In Ihnen regt ſich doch ſofort der Redakteur,“ unter⸗ brach ihn Romberg. „Die vage angedeutete Idee iſt unter Ihren Händen zur Dispoſition eines ganzen Werkes geworden.“ Das Herz klopfte mir vor Erregung. Der Gedanke an dieſe Arbeit packte mich gerade durch ſeine Selbſt⸗ verſtändlichkeit. Ein zuſammenfaſſendes, grundlegendes Werk der Art gab es noch nicht. Es fehlte nicht nur mir, es fehlte der ganzen Bewegung, die auch darum ſo unſicher hin⸗ und hertaſtete. „Ich habe, fürchte ich, die nötigen Vorkenntniſſe nicht,“ meinte ich ſchließlich zaghaft. „Dafür haben Sie ja einen Rationalökonomen zum Mann,“ antwortete Romberg. Während des Abends, den wir im Theater verbrachten, dachte ich nur an den Plan der Arbeit, die ich ent⸗ ſchloſſen war auszuführen. Erſt auf Rombergs wieder⸗ holtes: „Sehen Sie nur!“ ſah ich mich um. In der 231 Reihe vor uns erſchienen zwei ſeidenrauſchende Damen mit goldroten Haaren, feuchtſchimmernden Augen und unnatürlich glühenden Lippen. „Wird für dieſe in Ihrem Zukunftsſtaat kein Platz ſein?“ flüſterte Romberg. „Ich hoffe nicht!“ ſagte ich. „Schade!“ antwortete er lächelnd. In der Bewunderung für derlei Erſcheinungen iſt er wie ein Onkel aus der Provinz, dachte ich ärger⸗ lich. Als wir aber nachher, ſeiner Gewohnheit gemäß, die die Nacht gern zum Tage machte, noch lange bei uns zuſammenſaßen, kam er auf die Begegnung zurück: „Können Sie ſich wirklich eine Welt als wünſchenswert vorſtellen, in der alle Frauen Berufsphiliſter werden, wie es heut ſchon alle Männer ſind; in der ſie keine Zeit mehr haben, ihre Schönheit zu pflegen, kurz, in der alle duftenden Luxusgärten in Kartoffelfelder ver⸗ wandelt werden?“ „Ich würde ſolch eine Welt zerſtören und nicht ſchaffen helfen! Aber Frauen, wie jene, auf die Sie anſpielen, gehören nicht zu den duftenden Blumen, zu den an ſich unnützen, aber unentbehrlichen Reizen des Lebens. Sie ſind verdorbene Speiſen für verdorbene Gaumen.“ „Sie mögen in dem Einzelfall recht haben; unum⸗ ſtößlich aber bleibt für mich das Eine: nicht die Berufs⸗ arbeiterin, nicht die, nach Ihren Begriffen freie, eman⸗ zipierte Frau wird der Kultur höchſte Blüte ſein, ſondern die femme amante.“ Er ſah mich kampfluſtig an, er liebte den Widerſpruch und erwartete ihn; der Typus einer Frauenrechtlerin ſtand für ihn ein für allemal feſt, und er glaubte immer wieder, ihn in mir vor ſich zu haben. „Sie hoffen umſonſt auf meine ſittliche Empörung, 232 ſpottete ich, „meine Meinung ſtimmt faſt überein mit der Ihren, nur daß ich die Exiſtenz der femme amante leugne, ſolange nicht die wahrhaft freie Frau ihre Vor⸗ ausſetzung iſt .. . Als Romberg uns verlaſſen hatte, zog mein Liebſter mich in ſeine Arme und flüſterte mir ins Ohr: „Hätte ich nicht meinem dummen Katzel widerſprechen müſſen, das die femme amante wegdiſputieren will und ſelbſt nichts anderes iſt?“ „Und nichts anderes ſein will, ſagte ich leiſe und gab ihm ſeinen Kuß zurück. Ich lag noch lange wach und grübelte. Ob ich ihm anvertrauen könnte, was mich bewegte? Schon in der kurzen Zeit meiner Ehe war mir klar geworden, was ich vorher nicht verſtanden und darum nur verur⸗ teilt hatte: warum Staat und Kirche nicht die Liebe, ſondern die Pflicht zur Grundlage der Ehe gemacht haben, warum nach ihnen die Zeugung, Erhaltung und Erziehung der Nachkommenſchaft ihre Hauptaufgabe iſt. Die Ehe kam mir vor wie eine moraliſche alte Jungfer, die der jungen unbändigen Liebesleidenſchaft durch ihre Predigten das Leben ſtändig vergällt. Die Liebe braucht Feſttagsſtimmung, die Ehe braucht den Alltag. Vor jedem rauhen Luftzug, den die Ehe erzeugt, läßt die zarte Blume der Liebe die Blätter hängen. Die Liebe iſt ein Rauſch, die Ehe iſt nüchtern. Lodern auf dem Altar der Liebe die Flammen, ſo ſchämen ſich die Opfernden wie arme Sünder, wenn die Ehe ſie plötzlich ertappt. Eins aber vor allem wurde mir täglich gewiſſer: die Liebe fordert Freiheit, die Ehe Abhängigkeit. Einer muß ſich dem anderen unter⸗ ordnen, wenn der Frieden des Hauſes gewahrt ſein 233 ſoll, wo aber in der Liebe Unterordnung anfängt, flieht ſie ſelbſt. So türmten ſich die Probleme der Frauenfrage, — meiner Frauenfrage. Wahrlich, es war eine große Aufgabe, ſie zu löſen. Ich ſtürzte mich mit Feuereifer in die Vorſtudien meiner Arbeit; daß ſie mich ans Haus, an den Schreibtiſch feſſelte, war eine willkommene Begleiterſcheinung. Als der Vortragsaufforderungen gar zu viele wurden, — und es blieb nicht bei bloßen Aufforderungen, deren Annahme oder Ablehnung der Entſcheidung des Einzelnen überlaſſen blieb, die Genoſſinnen ver⸗ fügten vielmehr ohne viel zu fragen über meine Arbeits⸗ kraft —, erzählte ich von dem Buch, das ich vorbereitete, und das mir eine gewiſſe Beſchränkung auferlege. Ich war nicht wenig erſtaunt, daß dieſelben Menſchen, die der Wiſſenſchaft eine faſt unbegrenzte Bedeutung zu⸗ meſſen, über meine Mitteilung die Raſe rümpften und ſie nur als einen Vorwand anſahen, um mich von der Agitation zurückzuziehen. Je mehr ich ſie zu überzeugen ſuchte, deſto weniger verſtanden ſie mich. „Wer ſo 'ne Erziehung jehabt hat, wie die Jenoſſin Brandt, für den is das Schreiben doch keen Kunſtſtück,“ ſagte eine von ihnen. „Un ieberhaupt: im Erfurter Programm ſteht haarkleen allens, wat wir wollen,“ fügte eine andere hinzu. „Genoſſe Bebels „Frau“ und Genoſſin Orbins Artikel in der „Freiheit“ ſind als Grundlage für unſere Bewegung mehr als ausreichend,“ ſagte Martha Bartels 234 mit einer Schärfe, die ſich ſteigerte, je älter ſie wurde. Ich ſah ein, daß nichts zu machen war; im Grunde hatten die Frauen recht, wenn ſie ſich um ungelegte Eier nicht kümmern mochten. Rur eine Idee erwähnte ich noch, die ich kürzlich als den geſunden Kern aus der ungenießbaren Schale einer franzöſiſchen Broſchüre herausgeſchält hatte: die einer ſtaatlichen Mutterſchafts⸗Verſicherung. Ich wollte ihr eine feſt umriſſene Geſtalt geben und ſie in den Mittelpunkt meines Buches ſtellen. Die Mutter ſchützen, ſolange ſie das Kind unter dem Herzen trägt, ſie dem Kinde er⸗ halten, ſolange es der Pflege und Ernährung durch ſie bedürftig iſt, — das ſchien mir aber auch ein Ziel, würdig einer ſtarken Bewegung, es zu erreichen. Ich ſchlug vor, in unſeren Verſammlungen die Frage zur Erörterung zu bringen. Aber ſeltſam: um unſeren Sitzungstiſch ſaßen die früh gealterten, abgehärmten Mütter, und kein Wort, keine Miene verriet, daß der Gedanke ſie zu erwärmen vermöchte. Alles Neue galt ihnen zunächſt als etwas Feindliches. Dieſe Revolu⸗ tionärinnen hatten ſchon eine Tradition und waren darum vielfach reaktionär. Von dem Plan meines Werkes ſprach ich mit ihnen nicht mehr. Aber ich beſchloß, alle Zeit, die mir blieb, ihm zu widmen. Doch auf die Möglichkeit ſtetiger Arbeit hoffte ich vergebens. An unſerem Schreibtiſch ſaßen wir, mein Mann und ich. Wie ſchön hatten wir es uns gedacht, das gemeinſame Arbeiten! Aber dieſes Einandergegen⸗ überſitzen von zwei Menſchen, die ſich lieben, die jeden 235 Ausdruck im Geſicht des anderen ſehen müſſen und un⸗ willkürlich zu deuten verſuchen, dieſe Sorge, einander ja nicht zu ſtören, ſchufen eine Atmoſpäre von Rervo⸗ ſität, die um ſo unerträglicher wurde, als keiner den Mut hatte, ſie dem anderen zu geſtehen. Es kam vor, daß ich aufatmete, wenn mein Mann das Zimmer ver⸗ ließ; und oft ging ich hinaus, weil ich fühlte, daß er allein ſein mußte. Tauſenderlei Dinge zerriſſen die Tage und die Stim⸗ mung: Da gab's bei den Kindern Vokabeln zu über⸗ hören und Anzüge zu flicken, da waren die Haushalts⸗ ſorgen, die mich um ſo ſtärker in Anſpruch nahmen, je weniger ich von ihnen verſtand, und die ſtändige angſt⸗ volle Frage: komme ich aus? Auf meinen Mann, der für mich die Güte und Rückſicht ſelber war, wirkte ſie wie ein rotes Tuch. Ohne irgendeine Erklärung und Entſchuldigung gelten zu laſſen, hielt er mich ſtets für ſchuldig, wenn ich ſie nicht bejahend beantworten konnte. „Du verſchwendeſt, — du läßt dich vom Mädchen be⸗ trügen —,“ rief er, während die Zornadern ihm auf der Stirne ſchwollen. Und doch lebten wir nach meinen anerzogenen Begriffen über die Maßen einfach. Mich kränkte ſein Zorn, den ich als Ungerechtigkeit empfand. Ich konnte keine gute Hausfrau ſein, wenn ich zu gleicher Zeit meinen ſchriftſtelleriſchen Beruf ausüben wollte. Das menſchliche Gehirn iſt auf das Rebeneinander von zwei Gedankenketten nicht eingerichtet. Und der Haus⸗ halt erfordert umſomehr die Gedankenwelt der Frau, je weniger ihr ſeine Pflichten zur mechaniſchen Gewohnheit geworden ſind. Mir blieb kein Ausweg: ich verſchwieg meine Sorgen, ich vermied es ſoviel als möglich, meinen 236 Mann um Geld zu bitten, was ich immer als eine Er⸗ niedrigung meiner ſelbſt empfand. Wanda Orbin hatte recht, tauſendmal recht: die ökonomiſche Selbſtändigkeit des Weibes iſt die Vorausſetzung einer glücklichen Ver⸗ bindung der Geſchlechter, ſie hilft ſo manche andere Klippen der Ehe umſchiffen. Ich ſchrieb, neben der Vorarbeit für mein Buch, wieder Artikel für Zeitſchriften und Tagesblätter, um Geld zu verdienen. Rur wenn ich bei meinem Kinde war, wenn ſeine Pflege meine Gedanken in Anſpruch nahm, dann empfand ich das nicht wie eine Störung oder wie ein Ablenken von meiner eigentlichen Tätigkeit. Fühlte ich ſein warmes rundes Körperchen in meinen Armen, ſo ſtrömte wunſchloſer Friede mir tief ins Herz. Lachten mich ſeine blauen Augen an, ſo vergaß ich alles darüber, was es an Glück in der Welt noch geben mochte, und weinte es, und ich wußte nicht warum, ſo gab es kein Menſchenleid, das mir hätte größer erſcheinen können; klammerten ſich ſeine roſigen, kleinen Finger feſt um die meinen, ſo fühlte ich, daß es für immer von mir Beſitz ergriffen hatte; daß mein Herz dazu da war, um es zu lieben, mein Geiſt, um es zu erziehen, meine Kraft, um ihm den Weg ins Leben bahnen zu helfen. Kam ich von ihm zu meinem Mann zurück, ſo war jeder Schatten von Kummer verſchwunden, ich liebte ihn doppelt, weil er meines Kindes Vater war. Und ſah ich meine Stiefſöhne dann, ſo tat mir das Herz weh: ich konnte ſie nicht lieben wie mein eigenes Kind; ſie mußten das fühlen, wenn ich mich auch noch ſo ſehr bemühte, meine Zärtlichkeit für den Kleinen nur zu äußern, ſobald ſie fern waren. 237 Zuweilen, wenn das Geld wieder einmal recht knapp war, dachte ich nicht ohne Bitterkeit an die reiche Mutter dieſer Kinder. Aber meinem Mann ſagte ich nichts da⸗ von. Die Erziehung, die ich zu Hauſe genoſſen hatte, und deren Folgen Georgs ſanfte Hand von mir abzu⸗ ſtreifen vermochte, bekam wieder Macht über mich: ich lernte ſchweigen, um nicht zu verletzen, und um Aus⸗ einanderſetzungen aus dem Wege zu gehen. Meine Mutter kam um jene Zeit häufig zu mir. Seitdem wir unſer Kind hatten taufen laſſen, war ſie viel milder und herzlicher geworden, obwohl ich ſie über unſere Beweggründe nicht im Irrtum gelaſſen hatte. „Wir haben kein Recht, dies Kind von vornherein in eine Ausnahmeſtellung zu zwingen,“ hatte ich ihr ge⸗ ſagt, als ſie in unſerer Handlungsweiſe einen Ausdruck unſeres eigenen Geſinnungswechſels zu ſehen glaubte; „ebenſowenig wie wir es ſpäter, wenn es ſelbſtändig denken kann, hindern wollen, zu tun oder zu laſſen, was ſeiner eigenen Überzeugung entſpricht.“ Aber nach anderen Richtungen hütete ich mich um ſo mehr, ſie ins Vertrauen zu ziehen. Sie hatte mir häufig geſagt: „Wenn du einmal verheiratet biſt, wirſt du einſehen, daß das Leben der Frau aus lauter Opfern und im Kampf mit lauter Kleinkram beſteht! Sie durfte nicht glauben, daß ihre Prophezeiung in Erfüllung gegangen wäre. Und ſie mußte in der Mei⸗ nung erhalten werden, die ſie ſchließlich allein über meine Heirat getröſtet hatte: daß meine äußere Lage die behaglichſte ſei. An der Art, wie dieſe ruhige, an⸗ ſcheinend kühle Frau ihre Freude darüber äußerte, ſah ich erſt, wie ſehr ſie ſelbſt unter den dauernden peku⸗ 238 niären Sorgen gelitten hatte. Wie oft hatte ich ſie um ihrer Härte willen im ſtillen angeklagt. Jetzt bat ich ihr manches ab. Ich erinnerte mich, wie umſichtig ſie den großen Haushalt geführt hatte, wie ſie ſtunden⸗ und tagelang Wäſche flickte und uns unſere Kleider nähen half, — wie ſchwer mochte es auch ihr geworden ſein, wie viel mochte ſie entbehrt haben! Weihnachten 1897 war es. Zum erſtenmal putzte ich für mein Kind den Weihnachts⸗ baum. Erſtaunt riß es die Augen auf und ſtreckte die Händchen verlangend aus, als es die vielen bunten Lichter ſah! Unter der Tanne lag aller⸗ lei Spielzeug für ihn, darunter ein großer bunter Ham⸗ pelmann, den mein Vater geſchickt hatte. Mit dem Söhnchen auf dem Arm trat ich zu meinem Weihnachts⸗ tiſch, auf dem ein geheimnisvoll verſiegelter Brief lag. Ich öffnete ihn, während mein Junge fröhlich lallend den Hampelmann hin⸗ und herſchwenkte: „Ein Häuschen im Grunewald“ ſtand darin. Vor Überraſchung war ich ſprachlos. Heinrich umarmte mich und das Kind, glück⸗ ſelig über die Freude, die er bereitet hatte. In aller Stille hatte er mit Hall verhandelt und ihn raſch bereit gefunden, unſeren Wunſch durch die Beſchaffung von Baugeld und Hypotheken erfüllen zu helfen. „Wie wird unſer Kind gedeihen, wie ruhig und friedlich wird meine Alix dort arbeiten können!“ ſagte er. „Werden wir auch die Zinſen aufbringen könnens meinte ich ſchließlich, nachdem der erſte Sturm der Freude ſich gelegt hatte. Ein Schatten flog über ſeine 239 Züge: „Mußt du dich immer gleich wieder fürchten, — auch angeſichts ſolch eines Glücksfalles?!“ Beſchämt ſenkte ich den Kopf. Die Lichter waren längſt erloſchen, und die Kinder ſchliefen, unſer Liebling mit dem Ham⸗ pelmann, feſt an ſich gedrückt; der ſüße Duft der Wachs⸗ kerzen, vereint mit dem ſtarken der Tanne, erfüllte das Zimmer; wir großen Kinder träumten darin unſeren Weihnachtstraum: von dem ſtillen Häuschen im Wald, fern dem Lärm der Großſtadt, von einer Heimat, die wir beide nie gekannt hatten, von unſerem Kind, das wachſen ſollte wie die Bäume: die Wurzeln im Boden der Mutter Erde, das Haupt erhoben, der Sonne zu und dem Sturme trotzend. Am nächſten Morgen, einem echten Weihnachtsfeier⸗ tag, über den der Himmel all ſeinen Glanz und ſeine Farben goß, zog ich meinem blonden Buben ein weißes Mäntelchen an, packte ihn ſorgfältig in die weichen Kiſſen ſeines weißen Wagens und ſchickte ihn zu den Eltern. Meine Gedanken begleiteten ihn: wie ein helles Licht ſah ich ihn auftauchen in dem dunklen Flur, ſah, wie der Großvater ihn feuchten Auges in die Arme nahm, fühlte, wie der letzte eiſerne Reifen um des alten Mannes Herz zerſprang. „Das war ein lieber Gedanke von Dir,“ ſchrieb die Mutter. „Ich habe Deinen Vater ſeit Jahren nicht ſo froh geſehen. Er ſtrahlt noch jetzt und behauptet, es gäbe in der ganzen Welt kein zweites Kind wie ſeinen Enkel. Mich hat die Rachricht von Heinrichs Weihnachtsgeſchenk noch beſonders beglückt: ſo hat Gott meine Gebete doch erhört und alle Strafe von Dir ab⸗ gewendet! 240 Unſeren wundergläubigen Vorfahren galten die zwölf Rächte, die dem Weihnachtsabend folgen, für heilig: in dieſer Zeit wurde die Arbeit auf das notwendigſte beſchränkt, nur in Feiertags⸗ gewändern begegneten die Menſchen einander, und die Träume, die geträumt wurden, gingen in Erfüllung. Unter der Schwelle unſeres Bewußtſeins lebt und wirkt auch heute noch dieſer Glaube. In den Straßen und in den Herzen iſt es ſtiller als ſonſt. Der ſieberhafte Pulsſchlag des öffentlichen Lebens ſtockt. Selbſt der heimatloſeſte Weltenbummler ſucht ſich einen Winkel Familienleben, wo er unterkriechen kann. Und wem es recht wohl und warm ums Herz wird, der wünſcht zu⸗ weilen, ſich auf immer einſpinnen zu können in dieſe Stille. Aber das junge Jahr wirft alle guten Gaben, die die Greiſenhand des alten zum Abſchied ſpendete, aus ſeinem Lebenspalaſt hinaus und ruft mit ſchmetternden Fanfaren zu neuen Kämpfen, richtet Ziele auf mit lockenden Preiſen, ſo daß auch die ſüß Schlummernden ſich dem Land ihrer Träume entreißen und im grellen Licht des Tages den alten Wettlauf wieder beginnen. So erging es auch uns. Sturmzeichen ſahen die Wetterkundigen am Himmel ſeit jenen erſten Gewitter⸗ wolken kaiſerlicher Reden im vergangenen Jahr. „Rück⸗ ſichtsloſe Riederwerfung jeden Umſturzes“ hatte die eine gefordert, als „Vaterlandsloſe“ hatte die andere die⸗ jenigen gebrandmarkt, die den Flottenforderungen ab⸗ lehnend gegenüberſtanden. Inzwiſchen war die Flotten⸗ vorlage dem Reichstag zugegangen, die ihren Schatten monatelang vorausgeworfen hatte, und auf ſieben Jahre 241 hinaus Millionen und Abermillionen für neue Schiffs⸗ bauten forderte. Doch die ſtürmiſche Entrüſtung, zu welcher der Philiſter ſonſt immer bereit iſt, wenn ſeinem Geldſack Gefahr droht, war ausgeblieben. Denn in feiner pſychologiſcher Kenntnis der Menſchennatur, die um ſo überraſchender war, als die Regierungen ihre Völker mit dergleichen nicht zu verwöhnen pflegen, waren Vorfälle, die früher ſpurlos vorübergingen, — wie der Streit eines deutſchen Kaufmanns mit den Polizei⸗ behörden der Republik Haiti und die Ermordung zweier deutſcher Miſſionare in China, — zu ſo ernſten Kon⸗ flikten mit fremden Mächten aufgebauſcht worden, daß der furor teutonicus ſich daran zu entzünden ver⸗ mochte. Einmal gereizt, griff der gute deutſche Michel wutſchnaubend nach dem Racheſchwert, und in ſeinen Träumeraugen brannte plötzlich wieder die alte Sehn⸗ ſucht nach fernen fremden Ländern und ihren Märchen⸗ ſchätzen. Was uns, die wir nüchtern geblieben waren, wie eine romantiſche Floskel klang, — die pathetiſche Rede des Kaiſers an ſeinen nach China ausziehenden Bruder von dem Dreinfahren der gepanzerten Fauſt und deſſen Antwort von dem „Evangelium der geheiligten Perſon Seiner Majeſtät“, das er im Auslande verkün⸗ den wolle, — das entſprach im Augenblick dem fanati⸗ ſierten Empfinden des deutſchen Bürgers. Er, deſſen Leben ſo lange ſang⸗ und klanglos dahingefloſſen war, der ſeit Bismarcks Abſchied für ſeine Begeiſterungs⸗ fähigkeit keinen Gegenſtand mehr gehabt hatte, berauſchte ſich an der Idee der Weltmacht, und die ungeheure Flottenforderung ſchreckte ihn nun nicht mehr. Aber die Regierung erreichte durch ihre Politik noch Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 16 242 mehr als das: hatte das Intereſſe eines großen Teiles der Bourgeoiſie ſich in einer für ſie bedenklichen Weiſe in den letzten Jahren der ſozialen Frage zugewandt, ſo war nunmehr ein Mittel gefunden, es von ihr abzu⸗ lenken. Mit ſchmerzlichem Erſtaunen ſah ich, wie Männer, auf die ich noch vor wenigen Monden für unſere Sache gerechnet hatte, den Nationalismus über den Sozialismus ſiegen ließen, wie ſelbſt ein Romberg und ſeine Freunde die Weltmachtpolitik verteidigten. Daß es zwiſchen ihr und der Arbeiterpolitik nichts an⸗ deres geben könne als unverſöhnlichen Gegenſatz, ſchien mir über allem Zweifel zu ſtehen. Für Rombergs Argu⸗ mente, der in der Erſchließung neuer Abſatzgebiete auch einen Vorteil für die deutſche Arbeiterſchaft ſah, war ich vollkommen unzugänglich. Die große Flutwelle patriotiſcher Begeiſterung trieb nicht nur alte Freunde von unſerer Sache ab, ſie trug uns auch neue Feinde zu. Vielen, die ſich um Politik bisher kaum gekümmert hatten, galten wir jetzt als Feinde des Vaterlandes. die mit allen Mitteln bekämpft werden müßten. Der Weizen Herrn von Stumms, unſeres grimmigen alten Gegners, blühte; er drohte mit der Revolution von oben, wenn die Flottenvorlage im Reichstag zu Falle käme. Und tatſächlich ſchien ein neues Ausnahmegeſetz in Vorbereitung. Der „Vorwärts veröffentlichte ein Geheimſchreiben des Staatsſekretärs des Innern an die verbündeten Regierungen, worin er ein Geſetz zum Schutz der Arbeitswilligen in Ausſicht ſtellte, das, nach den Abſichten unſerer Gegner, die Koalitionsfreiheit der Arbeiter notwendig beeinträchtigen, wenn nicht vernichten würde. 243 Was die Regierung gewollt hatte, wurde erreicht: eine Mehrheit für die Flottenvorlage, eine ſcharfe Tren⸗ nung zwiſchen den bürgerlichen Parteien und der Sozial⸗ demokratie für die Wahlen zum neuen Reichstag. Aber auch für uns ſchien die Lage günſtig: auf der einen Seite die Weltmachtpolitik mit ihrer möglichen Folge koſtſpieliger Kriegsabenteuer und drückender Steuer⸗ laſten, auf der anderen die Bedrohung des Koalitions⸗ rechtes, — war das nicht genug, um die proletariſchen Maſſen zu einem gewaltigen Proteſt aufzupeitſchen?! Warum war die Stimmung in unſeren Verſammlungen ſo flau, warum fehlte auch mir, wenn ich ſprach, jene anfeuernde Kraft der Rede, die früher an ihren Wir⸗ kungen zutage getreten war? Die ſtarke, hoffnungsvolle Freudigkeit war verloren gegangen, als ob ſich zwiſchen uns und das Ziel, dem wir ſo leidenſchaftlich zuſtrebten, ein dunkler Schleier geſenkt hätte. Durch die Einheit, die unſere Kraft geweſen war, ging ein blutender Riß. Das Inſtrument der Partei klang verſtimmt, als wäre eine Saite geriſſen. Langſam und allmählich, für die meiſten unmerklich, hatte es ſich vorbereitet: mit der Entwickelung der Sozial⸗ demokratie von der Sekte zur Partei hatte ſich zuerſt die Taktik ihres Vorgehens leiſe verändert. Von der Ablehnung jeder Beteiligung an einem Parlament des kapitaliſtiſchen Staates als eines unmöglichen Paktierens mit der Bourgeoiſie bis jetzt, wo ſogar von alten be⸗ währten Führern die Teilnahme an den Landtagswahlen unter dem Dreiklaſſenwahlſyſtem empfohlen wurde, war ein weiter Weg. Und er war gegangen worden. Was einer der wenigen Staatsmänner der Partei, Georg 16* 244 von Vollmar, nach dem Fall des Sozialiſtengeſetzes unter dem empörten Widerſpruch der radikalen Elemente in der Partei erklärt hatte: daß in dem Maße, in welchem wir einen unmittelbaren Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten gewinnen, wir unſere Kraft auf die nächſten und dringendſten Dinge konzentrieren müßten und „dem guten Willen die offene Hand, dem ſchlechten die Fauſt“ zu zeigen ſei, — das hatte ſich von Jahr zu Jahr als immer notwendiger erwieſen, und vor der Logik der Tatſachen wich die radikale Phraſe bloßer Verneinung Schritt vor Schritt zurück. Jetzt aber begann ſogar die alt⸗ehrwürdige Theorie vor dem Anſturm der jungen Praxis in ihren Grund⸗ veſten zu zittern. Im Lichte der fortſchreitenden Zeit erwieſen ſich manche Fundamentalſätze, wie ſie das Er⸗ furter Programm formuliert hatte, als überholt. Schon die Beſchäftigung mit der Agrarfrage hatte gezeigt, daß die wirtſchaftliche Entwickelung ſich nicht überall mit den von Marx aufgeſtellten Geſetzen in Einklang bringen ließ, daß die Konzentrierung des Kapitals ſich nicht ſo raſch und nicht ſo ſchematiſch vollzieht, wie er auf Grund damaliger Erfahrungen angenommen hatte. Und auch das vom kommuniſtiſchen Manifeſt mit apodiktiſcher Sicherheit in Ausſicht geſtellte allgemeine Herabſinken der Arbeiter in den Pauperismus war nicht eingetreten; die Lebenslage des Proletariats hatte ſich vielmehr im Laufe des letzten halben Jahrhunderts gehoben. Und nun trat einer der bewährteſten Vorkämpfer des Sozia⸗ lismus, einer ihrer Märtyrer, der noch im Exil in Eng⸗ land lebte — Eduard Bernſtein —, auf und erörterte in breiter Offentlichkeit die neuen Probleme des Sozia⸗ 245 lismus. Er rüttelte weder an ſeiner Vorausſetzung noch an ſeinem Ziel, aber er zeigte an der Hand der Tatſachen, daß der Weg zwiſchen beiden länger iſt und anders geartet, als Marx und ſeine Schüler ihn dar⸗ geſtellt hatten, daß wir ihn daher mehr berückſichtigen, unſere Handlungen mehr auf ſeine Etappen, als auf das ſchließliche Ende einſtellen müßten. Auf uns, die wir durch die Erkenntnis des Elends in der Welt zum Sozialismus geführt worden waren, die wir von ihm in einem in ſeiner Wurzel religiöſen Glaubensüberſchwang die Erlöſung von allem Übel er⸗ wartet hatten, wirkte die kühle Klarheit der Bernſtein⸗ ſchen Beweisführungen niederſchmetternd. Meinem Ver⸗ ſtande waren die Grundſätze des Sozialismus ſo ohne weiteres einleuchtend geweſen, weil mein Gefühl mit ſeinem Wollen von vornherein übereinſtimmte. Sie kritiſch und wiſſenſchaftlich zu prüfen, war mir, wie Tauſenden meiner Geſinnungsgenoſſen, nie eingefallen. Jetzt war es ein Gebot der höchſten Tugend, — der intellektuellen Redlichkeit, — es nachzuholen. Die Zeiten meiner religiöſen Kinderkämpfe ſchienen wiedergekehrt zu ſein. Rur daß ich jetzt mit allen Faſern meines Innern in dem Glauben wurzelte, dem ich meinen ganzen Lebensbeſitz geopfert hatte, aus dem ich alle meine Kräfte ſog. Was ſtand noch feſt, dachte ich verzweifelt, wenn ſo vieles ſchwankte? Ernüchtert, — bar jener ſtürmiſchen Begeiſterung, die mich ausziehen ließ, der Menſchheit eine neue Welt zu erkämpfen, ſah ich den langen, öden Weg vor mir mit all ſeinen kleinen Hinderniſſen, die im Schweiße unſeres Angeſichts überwunden werden ſollten, und mit dem Ziel, das im 246 Rebel der Ferne faſt verſchwand. Die Raivetät jungen Glaubens, die noch keine Probleme kennt, iſt für die Maſſe der Menſchen die Vorausſetzung ihres Enthuſias⸗ mus und damit ihrer Stärke. Ich hatte ſie verloren wie viele meiner Genoſſen; das lähmte uns. Oft kamen Augenblicke, wo ich die anderen beneidete, die, ſei es aus unbewußter Furcht vor einem inneren Zuſammen⸗ bruch, ſei es aus einer gewiſſen Beſchränktheit ihres Denkens, den alten Glauben gegenüber der neuen Er⸗ kenntnis aufrecht erhielten und leidenſchaftlich vertei⸗ digten. Mein Gefühl war auf ihrer Seite, und nur zu häufig riß es mich wieder mit ſich fort. Vielleicht wäre es ſogar auf lange Zeit hinaus das herrſchende ge⸗ blieben, wenn nicht mein Mann immer wieder meinen Verſtand gegen mein Herz zu Hilfe gerufen hätte. Und die Tatſachen und die Zahlen waren unerbittlich: Die Konzentration des Kapitals und die Eroberung der poli⸗ tiſchen Macht durch das Proletariat waren die beiden anerkannten Bedingungen der Verwirklichung des Sozia⸗ lismus. Aber der Schneckengang der Entwickelung zum Großbetrieb, der zuweilen ſogar ein Krebsgang zu ſein ſchien, und die Tatſache, daß von hundert Wahl⸗ berechtigten nur achtzehn ſozialdemokratiſche Stimm⸗ zettel abgaben und mehr als die Hälfte der er⸗ wachſenen männlichen Arbeiterſchaft der Sozialdemo⸗ kratie noch gleichgültig, wenn nicht feindlich gegen⸗ überſtand, bewieſen, wie weit wir noch vom Ziel entfernt waren. Eine Selbſttäuſchung hierüber wäre ein Verbrechen an unſerer Sache geweſen, — das ſah ich ein. Es galt, den Kinderglauben ruhig und mutig aufzugeben. 247 Mit jener rückſichtsloſen Leidenſchaft, die ſtets das Produkt der Angſt um die Gefährdung der Grundlagen des Lebens und Wirkens iſt, bekämpfte die Maſſe der Arbeiterſchaft, an ihrer Spitze all die Führer, deren heißblütiges Temperament über alle Zweifel ſiegte, und all die klugen Demagogen, die auf der Seite der Mehr⸗ heit blieben, weil ihre Macht von dieſer Mehrheit ab⸗ hing, die neuen Ideen und ihre Vertreter. Und dieſer ganze Kampf fiel in die Vorbereitung der Reichstags⸗ wahlen; er lähmte die Agitationskraft der einen, die wie ich noch mit ſich ſelbſt zerfallen waren, er lenkte die Intereſſen der anderen ab, die die Partei vor dem unheilvollen Einfluß der Ketzer glaubten ſchützen zu müſſen. Wenn ich in Verſammlungen ſprach, fühlte ich: meine Worte zündeten nicht. Einmal traf ich bei ſolcher Ge⸗ legenheit Reinhard wieder. Er ſchien mir ſehr gealtert. Wir ſprachen über unſere Ausſichten. „Wir hätten zwanzig bis dreißig Mandate erobern können,“ ſagte er, „wäre das ganze Getratſch von Endziel und Be⸗ wegung uns nicht in die Parade gefahren.“ „Hat Bernſtein etwa nicht recht?!“ fragte ich. „Recht! — Recht!“ antwortete er heftig. „Natürlich hat er recht in dem, was er ſagt, aber daß er es ſagte, in dieſem Augenblick ſagte, war ein Fehler, ein ſchwerer Fehler. Wir alten Gewerkſchafter, die wir mitten im Leben ſtehen, ſind ſchon lange ſeiner Meinung, aber wir machen die Genoſſen nicht kopf⸗ ſcheu mit theoretiſchem Kram, wir handeln einfach, wie die Verhältniſſe es fordern. „So hätte er ſchweigen ſollen?. 248 „Keineswegs! Er hätte nach den Wahlen fünf Jahre zum Reden Zeit genug gehabt. Aber daß er uns jetzt dieſen Knüppel zwiſchen die Beine ſchmeißt —“ Ich dachte an Reinhards Worte, als mir ein ander⸗ mal in der Diskuſſion ein rabiater Genoſſe vorwarf, auch ich hätte „das Endziel in die Taſche geſteckt“, und verteidigte mich nicht. Solange wir im Kampf gegen den gemeinſamen Gegner ſtanden, mußte die Streitaxt begraben werden. Aber die Radikalen dachten anders. Es kam vor, daß Reichstagskandidaten von den eigenen Genoſſen wie Parteiverräter behandelt wurden. Wanda Orbin vor allem, die immer wieder erklärte, daß die Reinheit der Partei ihr höher ſtünde als ihre nume⸗ riſche Stärke, wurde zur fanatiſchen Gegnerin aller derer, die ſich nicht unverbrüchlich auf die alten Dogmen einſchwuren. Und mehr als je hatte ſie die Frauen auf ihrer Seite, — die Frauen, die nicht auf dem Wege wiſſenſchaftlicher Erkenntnis, ſondern einzig und allein durch ihr Gefühl geleitet zu Sozialiſtinnen ge⸗ worden waren. Mit jener naiven Kraft der erſten Chriſten, die ihr ganzes Tun und Denken auf die unmittelbare Wiederkehr des Gekreuzigten eingerichtet hatten, hofften ſie auf die baldige Erfüllung ihres Zu⸗ kunftstraums. Als das Reſultat der Wahlen bekannt wurde, — es war in bezug auf die Zunahme der Mandate, aber noch mehr im Hinblick auf das Stimmen⸗ verhältnis weit hinter unſeren Erwartungen zurück⸗ geblieben, — ſtieg die Erbitterung gegen die „Bern⸗ ſteinianer“, denen man die Schuld an dieſem Ergebnis zuſchob, noch mehr. 249 Ein Symptom für die allgemeine Stimmung war der Beſchluß, der nach einer ſtürmiſchen Verſammlung im Feenpalaſt von den Berlinern gefaßt wurde. Seinem Wortlaut nach richtete er ſich zwar nur gegen eine Be⸗ teiligung an den Landtagswahlen in Berlin ſelbſt, ſein Tenor aber war eine Verurteilung der Beteiligung über⸗ haupt. Sie erſchien den Radikalen als ein bedenkliches Hinneigen zu reviſioniſtiſchen Ideen In dem Kreiſe der Genoſſinnen äußerte ſich das gegenſeitige Mißtrauen weniger im Streit um Meinungen, als in perſönlichen Reibereien. War ich ſchon während meiner Tätigkeit in der bürgerlichen Frauenbewegung zu der Überzeugung gelangt, daß dieſe ſpezifiſch weibliche Art nur durch eine Zuſammenarbeit mit dem Mann ſich beſeitigen laſſen würde, ſo war ich jetzt entſchloſſen, den Einfluß, den ich noch beſaß, nach dieſer Richtung geltend zu machen. „Wir haben die Gleichberechtigung der Geſchlechter auf das Programm geſchrieben, wir müſſen ſie alſo zu allererſt in der eigenen Partei durchführen,“ erklärte ich, und ſelbſt die Feindſeligſten waren in dieſem Gedanken mit mir einig. „Bei den Genoſſen aber werden Sie damit ſchön abblitzen!“ meinte Martha Bartels. „Bei denen heißt's noch immer, wenn unſereins den Mund auftut: Kuſch dich! zu Hauſe — wie in der Be⸗ wegung,“ ſagte eine andere langjährige Parteigenoſſin. „Sie wiſſen, wie wir voriges Jahr behandelt worden ſind, —“ fügte die dicke Frau Wengs hinzu, „als wir auch nur eine Einzigſte von uns in den allgemeinen 250 Verſammlungen als Delegiertin zum Parteitag wollten aufgeſtellt haben. „Waſcht man eure dreckige Wäſche alleene —,“ ſagten uns die Vertrauensleute.“ „So müſſen wir eben immer wiederkommen,“ entgegnete ich. „Na — für die ſchönen Augen von Genoſſin Brandt tun ſie's am Ende,“ höhnte Martha Bartels. Schließ⸗ lich beſchloß man, noch einen Verſuch zu machen, und es gelang auf einer der Parteiverſammlungen, zunächſt meine Delegation zum Parteitag der Provinz Branden⸗ burg durchzuſetzen. Die Freude der Genoſſinnen über dieſen Erfolg war die der Kinder, wenn ſie ein neues Spiel beginnen: auf eine Zeitlang war jeder Streit vergeſſen. Am Vorabend der Provinzialkonferenz veröffent⸗ lichte die Preſſe eine neue Rede des Kaiſers, die er im Kurhauſe von Oynhauſen gehalten hatte: „Das Geſetz naht ſich ſeiner Vollendung und wird den Volksvertretern noch in dieſem Jahre zugehen, worin jeder, der einen deutſchen Arbeiter, der willig iſt, ſeine Arbeit zu vollführen, daran zu verhindern ſucht, oder gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus beſtraft werden ſoll . . .“ Das bedeutete nichts weniger und nichts mehr, als eine Vernichtung des Koalitionsrechts, das war eine Kriegserklärung an das Proletariat, für die es nur eine Antwort gab: einmütiges Zuſammenhalten. In der Sitzung am nächſten Morgen brachte ich eine Proteſt⸗ reſolution ein, die zur einſtimmigen Annahme gelangte, und unter dem Eindruck der kaiſerlichen Drohung ver⸗ 251 lief die Tagung ohne einen Mißklang. Martha Bartels ſchüttelte mir herzlich die Hand, wie ſeit Monaten nicht, die gute Frau Wengs lachte über das ganze runde Geſicht, klopfte mir wohlwollend auf die Schulter und verſicherte: „Nun haben Sie uns aber alle mit⸗ einander auf Ihrer Seite.“ Zwei Tage ſpäter erfuhr ich, daß einer der berliner Wahlkreiſe bereit ſei, mich zum nächſten Parteitag zu delegieren. „Du biſt leicht zu befriedigen!“ ſagte mein Mann mit einem leiſe ſpöttiſchen Ton in der Stimme, als er meine Freude ſah. „Es iſt doch ein Anfang,“ antwortete ich. „Oder meinſt du, ich wäre in die Partei gekommen, um ewig Rekrut zu bleiben? „Gewiß nicht,“ lachte er „ich kenne doch meinen ehrgeizigen Schatz!“ Mir ſtieg das Blut in die Schläfen. War es Ehr⸗ geiz, der mich beherrſchte, oder nicht vielmehr der be⸗ rechtigte Wunſch nach einem Wirkungskreis für meine Leiſtungskraft? Zu tief empfand ich das Opfer, das ich brachte, wenn ich mein Haus und mein Kind ver⸗ ließ, als daß ich es dauernd für überflüſſige Richtig⸗ keiten hätte bringen können. Jetzt war ich im Auf⸗ ſtieg, und weil ich es war, hatte ich die Sympa⸗ thie der anderen für mich; es galt nunmehr, beides feſtzuhalten. 252 In der Verſammlung, die über die Parteitagsdele⸗ gationen endgültig zu entſcheiden hatte, herrſchte von Anfang an Gewitterſchwüle. Die ſchroffſten Gegner ſaßen einander gegenüber, und bei jedem Punkt der Tagesordnung kam es zu hitzigen Wortgefechten. Eines ſchien von vornherein klar: die Maſſe der radikalen Berliner erwartete vom nächſten Parteitag eine Abrech⸗ nung mit den reviſioniſtiſchen Elementen in der Partei, ja ſie ſcheuten ſich nicht, ſelbſt gegen Bebel Stellung zu nehmen, weil er in der Landtagswahlfrage nicht auf ihrer Seite ſtand. Man forderte ſchließlich, daß ſämt⸗ liche Delegierte ſich auf die Feenpalaſtreſolution ver⸗ pflichten ſollten. Während ringsumher alles durchein⸗ ander ſchrie und tobte, wurden die zur Delegation Vor⸗ geſchlagenen aufgerufen. „Genoſſin Brandt, ſtehen Sie auf dem Boden un⸗ ſeres Beſchluſſes?“ Überraſcht fuhr ich auf, — ich hatte nicht erwartet, als Erſte gefragt zu werden, — ich verſuchte mir im Moment die Situation zu vergegen⸗ wärtigen. „So antworten Sie doch!“ rief ungeduldig die Stimme des Vorſitzenden. Die Genoſſinnen umringten mich: „Sie werden uns doch nicht im Stiche laſſen,“ flüſterte Frau Wiemer von der einen Seite, — „wir haben ja nur für Berlin die Beteiligung abgelehnt,“ ziſchte mir Martha Bartels von der anderen ins Ohr. Und ein leiſes „Ja“ kam zögernd von meinen Lippen. Gleich darauf hörte ich Reinhards Ramen nennen, und im ſelben Augenblick ſeine Antwort: ein ſcharfes „Rein“. Ich wurde gewählt — er nicht. 253 Glückwünſchend umringten mich die Genoſſinnen. Aber jedes Wort, das ſie ſagten, ließ mich dunkler erröten. Am Ausgang traf ich Reinhard. „Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet,“ ſagte er. „Sie kannten doch den tieferen Sinn der Reſolution.“ Ich ſchlich nach Hauſe, müde, ſchuldbewußt. Roch in der Racht ſchrieb ich eine Erklärung für den „Vor⸗ wärts“, und legte mein Mandat in die Hände meiner Wähler zurück . Die Frauen hätten mich am liebſten geſteinigt, vte Männer lachten mich aus. Ich ſchwieg. Womit hätte ich mich verteidigen könnens? 254 Achtes Kapitel Ottoo — addaa,“ rief das helle Stimmchen meines Sohnes. Er ſaß auf meinen Knieen im Wagen und winkte unermüdlich nach rechts und links, als ob er in ſeiner Freude alles grüßen müßte, was er ſah. Wir fuhren hinaus in den Grune⸗ wald. Es war ein ſtrahlender Sommertag: Scharen von Radlern flogen an uns vorüber; ſelbſt die Dampf⸗ ſtraßenbahn fauchte heut wie ein vergnügter Alter, weil ſie ſo viel Jugend in hellen Kleidern ins Grüne fuhr. Vor einem umzäunten Waldwinkel hielten wir. Ich ſetzte den Kleinen ins Moos, und verwundert tippte er mit den runden roſigen Fingern jeden Grashalm an und kroch den ſchillernden Käfern nach und ſah mit einem jauchzenden „Da — da!“ den Vögeln zu, die von Zweig zu Zweig hüpften. Die alten dunkeln Kiefern wiegten ihre Häupter im Winde, die Sonne malte runde goldene Flecke auf ihre braunen Stämme, ein paar kleine blaue Blümchen reckten neugierig die Köpfe, und ein gelber Schmetterling tanzte über ihnen, — es war eine große Sommer⸗Feſtvorſtellung für mein Kind. Wir erwachſenen Leute gingen indeſſen ernſthaft umher und betrachteten das grüne Erdenfleckchen, auf dem unſer Haus ſtehen ſollte. Der Baumeiſter war mit uns ge⸗ 255 kommen. Er war noch jung und ein echter Künſtler; von allen, bei denen wir geweſen waren, hatte er uns am beſten verſtanden. Ich hielt das Bild des Häus⸗ chens in der Hand, das ſeinen Namen trug — Alfred Meſſel —, und ſah es ſchon lebendig vor mir, mit ſeinen blumenbeſetzten Fenſterbrettern und ſeinem lachenden roten Dach. „Ein rotes Dach?“ ſagte der Baumeiſter. „ein! Unter die ſchwarzen Kiefern paßt nur ein graues. Schwarz und grau? Wie trübe klang das! Ich ſah ihn erſchrocken an, — mir war auf einmal die Freude vergangen. „Schweſter Alix!“ rief es über den Zaun. Ilſe ſtand an der Türe, die Hand auf der blitzenden Lenkſtange ihres Rades, und neben ihr ein großer, überſchlanker Mann. Errötend ſtellte ſie ihn vor: „Profeſſor Erdmann!“ Sie hatte mir ſchon von ihm erzählt, dem aufgehenden Stern am Himmel des Kunſtgewerbes, der in den Salons des Tiergartenviertels eine Rolle zu ſpielen begann, und Meſſel begrüßte ihn wie einen lieben Kollegen. Rach ein paar raſchen Worten drängte Ilſe zum Aufbruch: „Wir dürfen die anderen nicht verlieren,“ ſagte ſie. „Ich find' es viel hübſcher zu zweien,“ meinte ihr Be⸗ gleiter und ſah ſie mit einem Lächeln an, das auf ein tieferes Einverſtändnis der beiden ſchließen ließ. Sie fuhren davon. Das helle Köpfchen meiner Schweſter hob ſich empor zu ihm, ſeine lange Geſtalt neigte ſich zu ihr, — ſo flogen ſie nebeneinander die ſonnige Straße hinauf, bis der dunkle Wald ſie verſchlang. 256 Ottoo — addaa,“ klang es wieder aus dem Wagen heraus, als wir heimwärts fuhren. Aber die Händchen grüßten nicht mehr nach rechts und links; krampfhaft umſpannten ſie einen Büſchel grünes Gras, und unverwandt hafteten die Augen meines Kindes auf dem bunten Käfer, der ſich gemächlich darin niedergelaſſen hatte. Auf einmal breitete er ſeine ſchillernden Flügel aus und flog mit ſurrendem Geräuſch davon; entſetzt ſtarrte mein Kind ihm nach, das Gras entſiel den Fäuſtchen — ein ſehnſüchtig⸗ſchluchzendes „adda — adda“ kam von dem zuckenden Mündchen, und verzweifelt weinte es vor ſich hin. Mein Mann lächelte über den wilden Schmerz um den entflogenen Käfer. Tut er dem kleinen Seel⸗ chen nicht ebenſo weh, wie wenn die großen Leute um den Verluſt ihrer Eroberungen trauern? dachte ich und zog meinen Liebling mitleidig in die Arme. Am nächſten Morgen in aller Frühe kam meine Schweſter. Sie wollte mich allein ſprechen. Ihr heißes Geſichtchen, ihr raſcher Atem, drei mühſam hervorgeſtoßene Worte: „ich liebe ihn,“ ſagten mir genug. „Und die Eltern?“ fragte ich. „Sie wiſſen von nichts,“ ſtotterte ſie und ſah ganz verängſtigt drein. Ich dachte an meinen Vater: mit welch verächtlichem Raſerümpfen hatte er früher über Künſtlerehen ge⸗ ſprochen. Sollten für ſeine Töchter keine ſeiner heißen Wünſche in Erfüllung gehen? 257 „Du wirſt dich auf harte Kämpfe gefaßt machen müſſen, —“ ſagte ich, und mein Blick haftete auf ihren kleinen, kraftloſen Händen. „Ich laufe davon, wenn Papa es nicht zugibt,“ rief ſie. Roch am ſelben Tage beſuchte ich Erdmann. Mein Schweſterchen war einmal mein Kind geweſen, ſie war es mir von dem Augenblick an wieder, wo ſie ſchutzbe⸗ dürftig vor mir ſtand. Als der Mann, den ſie liebte, mir in ſeinem Atelier entgegentrat, war mein erſtes Gefühl das des Schreckens: wie bleich war er, wie groß und ſchmal, wie ſeltſam durchſichtig waren ſeine ſchlanken, langfingrigen Hände. Aber die Art, wie er mit mir ſprach, ließ mich über den Menſchen ſeine Erſcheinung vergeſſen. „Ich liebe Ihre Schweſter und werde ſie heiraten,“ antwortete er auf meine Frage. „Freilich: Ilſe ſtellte mir eine Bedingung, —“ fügte er lächelnd hinzu, „du mußt Alix gefallen, ſagte ſie.“ „Das dürfte weniger ſchwer ſein, als daß Sie ihren Eltern, vor allem dem Vater, gefallen müſſen, meinte ich. „Gegen den härteſten Schädel hat ſich noch immer der meine als der härtere erwieſen,“ entgegnete er. „Aber Ilſe iſt weich; ob ſie ſchweren Kämpfen ge⸗ wachſen ſein würde?! „Gerade weil ſie ſo zart iſt, liebe ich ſie, und nehme alle Kämpfe auf mich, — nur ihrer Treue muß ich ſicher ſein.“ Dabei funkelten ſeine Augen. Ein ſtarkes Temperament ſchien ſich hinter den leichten Formen zu verſtecken; würde die kleine Ilſe es ertragen können? Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 17 258 „Sie iſt noch ſehr jung,“ warf ich noch einmal ein. „Um ſo beſſer,“ — ein warmer Glanz echter Freude verſchönte ſeine Züge, — „wir Künſtler brauchen leere Leinwand und unbehauenen Stein.“ Vor dem Abſchied verſprach er mir, ſich meiner Mutter zu erklären, damit ſie imſtande ſei, den Vater vorzube⸗ reiten. Ich ging nachdenklich heim. Ilſe war ein leicht zu leitendes Kind geweſen, — faſt zu leicht, denn mit dem Zuckerbrot der Liebe ließ ſie ſich willenlos hin⸗ und herführen; aber hörte ſie auch nur eine Peitſche knallen, ſo erwachte ein unbändiger Trotz in ihr, und in ihren Augen glühte der Haß gegen den, der ſie meiſtern wollte. Würde die Liebe dieſes Mannes, der nur aus von Energie geſpannten Rerven und Sehnen zu beſtehen ſchien, die richtige Grenze zu finden wiſſen? Meine Mutter war zuerſt außer ſich, als Erdmann ſich ihr eröffnet hatte. Sie kam zu mir und kämpfte mit den Tränen: „Run bin ich es wieder, die Eurem Vater ſtandhalten muß! Und ich habe es doch ſo ſatt: „Dafür wirſt du nachher um ſo mehr Ruhe haben, ſuchte ich ſie zu beruhigen. Ihre ſchmalen Lippen kräuſelten ſich, ſie hatte wohl ein bitteres Wort auf der Zunge, aber ſie ſprach es nicht aus. Erdmann verkehrte von nun an bei den Eltern. „Denk' nur, er gefällt Papal“ erzählte mir Ilſe ganz glücklich, und die Mutter lebte wieder auf. Daß der Bewerber ihrer Tochter in guten Verhältniſſen war, beruhigte ſie vor allem. Und auch ich freute mich deſſen; meine Schweſter war ein verwöhntes Prinzeßchen; wie oft hatte nicht die Mutter vor ihr gekniet, um ihr die Stiefel zuzuſchnüren, damit ihr nur ja der Rücken 259 nicht ſchmerzte! Zu keinerlei Arbeit war ſie jemals genötigt worden, — ich ſelbſt hatte ihr nur zu häu⸗ fig die Schularbeiten gemacht, damit das Köpfchen unter den ſchweren goldenen Flechten nicht gar zu müde wurde! Eines Morgens kam die Rachricht: „Papa hat ein⸗ gewilligt!“ und daneben von der Mutter Hand: „Hans war ganz ruhig. Nur als Erdmann fort war, hat er ſich ſtundenlang in ſein Zimmer eingeſchloſſen.“ Er mußte doppelt gelitten haben, da er ſich durch keinen Ausbruch ſeiner Leidenſchaft mehr zu erleichtern ver⸗ mochte. Ich konnte mich noch nicht freuen, weil ich nur ſeiner gedachte. Ob ich ihm ſchreiben dürfte, — ob ein verſtändnisvolles Wort von mir ihm zu helfen vermöchte? Im Zoologiſchen Garten erwartete er täglich mein Kind. Er hatte immer die Taſchen voll für den Kleinen; war das Wetter ſchlecht, ſo ließ er ihn zu ſich kommen, ſetzte ſich zu ihm auf den Teppich und baute dem Enkel Bleiſoldaten in Schlachtordnung auf. Und ſtets ließ er mich grüßen, ſagte das Mädchen. Er würde einen Brief von mir nicht zurückweiſen! An einem blauen Bändchen knüpfte ich ihn meinem Jungen um den Hals, als er das nächſte Mal zu „Apapa“ fuhr. Auf dieſelbe Weiſe brachte er die Antwort mit zurück: „. . . Haſt es richtig getroffen, mein Kind: ein Auge weint, und das andere lacht nicht. Ich muß mich ſelbſt überwinden. Wenn man das Fahrwaſſer kennt, dann hat die Hoffnung ihr Recht; aber das unbekannte Fahrwaſſer, in das man ſein Letztes laſſen muß, das gibt an keiner Stelle Ruhe. Daß 17* 260 Du mich verſtanden haſt, erfreut mich und macht mich dankbar. Dein alter Vater.“ Meine Schweſter ſtrahlte vor Glück. Mit jener geiſtigen Beweglichkeit, die ihr von jeher eigen geweſen war, ging ſie vollkommen auf im Künſtlertum ihres Verlobten. Sie ſchien wirklich die leere Leinwand, der unbehauene Stein, aus dem erſt unter ſeinen Händen ein lebendiges Werk werden ſollte. Selbſt ihre Klei⸗ dung richtete ſie nach ſeinem Geſchmack; ſie war eine der erſten, die jene maleriſchen Gewänder trug, wie ſie aus den Köpfen der jungen Vorkämpfer des aufblühen⸗ den Kunſtgewerbes hervorgingen und von den Frauen⸗ rechtlerinnen aus hygieniſchen, von den Malern aus künſtleriſchen Gründen geſchaffen wurden. Jedes Stück ihrer künftigen Einrichtung wurde nach den Zeichnungen Erdmanns angefertigt. „Oskars Stil entſpricht ſo voll⸗ kommen meinem äſthetiſchen Empfinden,“ ſagte ſie, und ihr Blick flog ein wenig hochmütig über unſere Möbel hinweg, „daß ich in einer anderen Umgebung nicht leben könnte.“ Sie hatten nahe dem Kurfürſtendamm eine Wohnung gemietet, die nach Erdmanns Angaben umgeſtaltet wurde. Kam das junge Paar mit der Mutter zu uns, ſo drehte ſich das Geſpräch um die Zu⸗ kunftspläne mit all ihren reizvollen Details. Meine eigenen, die mich ſo glücklich gemacht, ſo ganz gefangen hatten, traten dabei zurück. „Du willſt uns wohl mit eurem Haus überraſchen, daß du ſo wenig davon er⸗ zählſt,“ meinte die Mutter einmal und ich nickte dazu. Die Gründe, warum ich ſchwieg, waren freilich an⸗ derer Art. Das Haus, das inzwiſchen immer ſtattlicher 261 aus der Erde herauswuchs, war zur Quelle neuer drückender Sorgen geworden. Wir hatten in unſerer naiven Unkenntnis aller realen Forderungen des Lebens vorher nicht berechnet, daß doch auch während des Baues Zinſen zu zahlen waren, die unſer Budget auf das Schwerſte belaſten mußten. Ich wußte oft nicht ein noch aus; dabei ſah ich, wie mein Mann unter den Ver⸗ hältniſſen litt, und zwar um ſo mehr, je mehr er empfand, daß ich von ihnen betroffen wurde. Machte ich einmal irgend eine von der Angſt diktierte Bemerkung, ſo fuhr er ſich mit der Hand nervös durch das weiche, wellige Haar und ſagte mit einem gequälten Ausdruck in den Zügen: „Kümmere dich doch nicht darum! Überlaſſe mir all dieſe Lappalien. Ich werde dir alles aus dem Wege räumen. Um jene Zeit kamen die Kinder aus den Ferien zurück. Ich fürchtete mich ſchon davor, denn noch Wochen nachher pflegten ſie mir in naivem Egoismus zu erzählen, was alles bei ihrer Mutter beſſer und ſchöner geweſen war. Hörte es Heinrich, ſo ſchalt er ſie, weil er ſah, daß es mich kränkte, und eine blei⸗ ſchwere Stimmung herrſchte um unſeren Tiſch. Dies⸗ mal ſtürmten ſie beſonders eilig die Treppe hinauf; — ſo freuen ſie ſich doch, nach Hauſe zu kommen, dachte ich. Wolfgang, der Leichtfüßigere, kam zuerſt. Kaum ließ er ſich Zeit, mich zu begrüßen. „Die Mutter läßt dir ſagen,“ rief er atemlos, „ſowas dürfte nicht mehr vorkommen. Mützen hatten wir, wie ſie in Öſterreich nur portiers tragen, und Anzüge, über die die Bauern⸗ 262 jungens lachten.“ Ich fühlte, wie blaß ich wurde. Ich hatte ſie wie immer für die Reiſe neu eingekleidet, um ja keinerlei Vorwurf auf mich zu laden. Und diesmal war es mir noch ſchwerer geworden als ſonſt. Bei Tiſch fing auch Hans, der ſtets zurückhaltender war, zu erzählen an. „Warmes Abendeſſen iſt viel geſünder, meint die Mutter,“ ſagte er, „und es ſchmeckt auch beſſer als immer bloß Wurſt.“ Ich war ſo überreizt, daß ich mit den Tränen kämpfte, und als am nächſten Morgen auch noch ein Brief aus Wien kam, in dem mir die Mutter der Kinder über meine unzureichende Erziehung allerlei Vorhaltungen machte, war es zu Ende mit meiner Selbſtbeherrſchung. Konnte ich die Kinder denn überhaupt erziehen, wo ich ſtändig fürchtete, von ihnen als die böſe Stiefmutter angeſehen zu werden und damit jeden Einfluß zu ver⸗ lieren?! Konnte ich ſie ſtrafen, wo ich wußte, daß ſie ſich bei der eigenen Mutter darüber beklagen würden?! Ich zeigte Heinrich den Brief und ſchüttete ihm, nicht ohne mich ſelbſt all meiner verſäumten Pflichten anzu⸗ klagen, mein Herz aus. „Und das alles ſagſt du mir erſt jetzt?“ rief er. „All den Kummer ſchleppſt du mit dir herum und ſprichſt dich nicht aus?“ Er ſchlang den Arm um mich und küßte mir die Tränen aus den Augen. „Hier muß gründlich Wandel geſchaffen werden, um deinetwillen ... „Vor allem um der Kinder willen, Heinz,“ unterbrach ich ihn; „ſo gut geartet, wie ſie ſind, — ſchließlich müſſen ſie Schaden leiden.“ Wir berieten, was zu tun ſei. In früheren Jahren hatte die Mutter wiederholt ver⸗ ſucht, ihre Söhne bei ſich zu behalten, aber immer 263 wieder hatte Heinrich ſie zurückgefordert. „Wie konnteſt du?!“ ſagte ich mit leiſem Vorwurf. „Kinder gehören zur Mutter!“ „Ich war ſehr einſam, ſehr liebebedürftig; ich hatte im Scheidungsprozeß mit Rägeln und Zähnen um die Kinder gekämpft,“ antwortete er. „Jetzt aber iſt die arme Frau viel einſamer als du, —“ „— ſie zu bemitleiden, habe ich keinen Grund,“ entgegnete er hart, „ſie war es, die zuerſt ihre Kinder im Stiche ließ! Jetzt darf nur die Rückſicht auf dich und auf das Wohl der beiden Buben den Ausſchlag geben.“ In der Racht nach unſerem Geſpräch warf ſich Hein⸗ rich im Bett ſchlaflos hin und her; im erſten Morgen⸗ grauen ſtand er leiſe auf, und ich hörte, wie er im Zimmer nebenan auf und nieder ging. Ich hätte doch nichts ſagen ſollen, dachte ich angſtvoll. Er ſah müde und vergrämt aus, als er wieder zu mir hereinkam. „Ich habe mich entſchloſſen, ihr die Kinder anzu⸗ bieten,“ ſagte er. „Wollen wir nicht doch lieber alles beim alten laſſen, — ich ſehe vielleicht nur zu ſchwarz,“ warf ich ein. Ich dachte an die Stunde, da er mir mit der Bitte, ſie recht lieb zu haben, ſeine Söhne anvertraut hatte. Er ſah ſo finſter drein! Jähe Furcht beſchlich mich um meinen koſtbaren Beſitz: ſeine Liebe. Aber er blieb bei dem einmal gefaßten Beſchluß. Sein Anwalt ſchrieb in ſeinem Auftrag nach Wien. Die Antwort war keine rückhaltlos zuſtimmende: jede Verbindung, ſo wünſchte die Mutter, ſollte zwiſchen den Söhnen und dem Vater abgebrochen werden, ſobald ſie ihr Haus betreten würden. Wochenlang zogen ſich die 264 Verhandlungen hin, und die Korreſpondenz nahm eine immer erbittertere Form an. Ich konnte nicht mehr mit anſehen, wie Heinrich litt, und all die Selbſtvorwürfe, die mich quälten, nicht mehr ertragen. Eines Abends benutzte ich meines Mannes Abweſen⸗ heit und fuhr mit dem Nachtzug nach Wien. Vom Hotel aus meldete ich mich bei der Mutter der Kinder an. Herzklopfend ſtieg ich die ſteinernen Stufen hin⸗ auf. In einem Salon mit ſchweren Renaiſſancemöbeln empfing ſie mich, eine ſchlanke, dunkle Frau mit ſcharf geſchnittenen, faſt männlichen Zügen. Sie gab mir nicht die Hand, ſie zögerte offenbar, mir auch nur einen Stuhl anzubieten. „Ich komme, weil ich hoffe, daß eine mündliche Be⸗ ſprechung leichter zum Ziele führen wird,“ begann ich. „Er ſchickt Sie?“ Ihre Stimme hatte einen merk⸗ würdig lebloſen, kalten Ton, als käme ſie weit her aus dunkler Tiefe. „Rein! Ich reiſte ohne ſein Wiſſen. Wir Frauen, meine ich, werden uns verſtändigen, — mit einigem guten Willen natürlich, — denn zwiſchen uns ſteht nichts — „Meinen Sie wirklich, daß zwiſchen uns nichts ſteht?! Ein Blick voll Haß ſtreifte mich. „Meine Kinder ſtehlen Sie mir! „Ich?! —“ Aufs Außerſte erſtaunt ſah ich ſie an. „Ich, die ich ſie Ihnen wiederbringe?!“ Aber ſie hörte nicht auf mich. In leidenſchaftlicher Erregung kamen die Worte, ſich überſtürzend, von ihren Lippen: „Habe ich nicht in dieſem letzten Sommer tagtäglich hören müſſen: „Die Mama erlaubt das alles, — die Mama ſtraft uns nicht, — die Mama ſchenkt uns dies und 265 zenes'?! Und jetzt ſoll ich vielleicht erleben müſſen, daß meine eigenen Kinder ſich fort wünſchen von mir? Oder jedesmal unzufrieden heimkehren, wenn ſie, wie ihr Vater es wünſcht, zu den Ferien in Berlin geweſen ſind?! Ich verſtand ſie, — ſo hatte ich auch ihr unbewußt Böſes getan! „Sie wiſſen, mein Mann hat für das erſte Jahr ſchon auf ein Wiederſehen verzichtet,“ ant⸗ wortete ich. „Das iſt aber auch das Allermindeſte, was ich ver⸗ lange! Im übrigen —,“ ſie nahm wieder den alten eiſigen Ton an und zwang ſich zur Ruhe, „muß ich um⸗ ziehen, ehe die Kinder kommen. Sie ſehen hier meine Wohnung —,“ ſie wies nach dem Eßzimmer nebenan, „ich habe keinen Platz für ſie.“ Keinen Platz für die eigenen Kinder?! Sie ſchien zu fühlen, was ich empfand, denn raſch fuhr ſie fort: „Ich wünſche, daß die durch Unordnung ſowieſo ſchon genug geſchädigten Buben gleich in ein regelmäßiges Leben, eine zu ernſter Arbeit geſtimmte Häuslichkeit kommen.“ „Und wann, meinen Sie, dürfte das ſein?“ Drängte ich. „Die Situation iſt für alle Teile unerträglich! Sie lächelte: „Finden Sie? Ich habe Schlimmeres ausgehalten!“ Tiefe Falten gruben ſich auf ihre Stirn, um ihre Mundwinkel. Wieder ſtreifte mich ein Blick, — zum Fürchten. „Warten Sie nur, bis Sie fünf, ſechs Jahre mit ihm gelebt haben werden!“ Ich erhob mich, — faſt wäre der geſchnitzte Stuhl bei meiner raſchen Bewegung zu Boden geglitten. Hier hatte ich nichts mehr zu tun. Sie geleitete mich hin⸗ aus. Und als müßte ſie mir zuletzt noch ihren Haß 266 fühlen laſſen, ſagte ſie: „Ich werde ſchwere Mühe haben, — die Kinder ſind zu ſchlecht erzogen. Ich dachte an die Buben, — an ihre luſtigen Knaben⸗ ſtreiche, an die ungebundene Freiheit, die ſie genoſſen. Roch ein gutes Wort wollte ich bei der ſtrengen Frau für ſie einlegen und ſagte bittend: „Sie werden ihnen nicht zu plötzlich die Wandlung fühlen laſſen? „Wie können Sie ſich erlauben —?!“ rief ſie faſſungs⸗ los. „Wer iſt hier die Mutter: Sie oder ich? Krachend ſiel die Flurtüre hinter mir zu. In der nächſten Racht fuhr ich nach Berlin zurück. Richt das mindeſte glaubte ich erreicht zu haben. Ein Brief des wiener Anwalts folgte mir auf dem Fuße. Er ent⸗ hielt den unterſchriebenen Vertrag und übermittelte den Wunſch, den Kindern möchte die Reiſe nach Wien nur als ein Beſuch dargeſtellt werden, „damit ſie gerne kommen.“ Das war ein Jubel: Der Schule entrinnen, — und eine Reiſe nach Wien! Wir brachten ſie zur Bahn und ſahen den ſtrahlenden Geſichtern nach, die grüßend aus dem Kupeefenſter nickten, bis der Zug unſeren Blicken entſchwand. Kaum drei Wochen ſpäter kehrten ſie zurück, — ſtill und blaß. Wolfgangs rundes Kindergeſicht war ſchmal geworden, in Hans' dunkeln Augen hatte ſich der Ausdruck von Melancholie noch vertieft. Ihr Aufenthalt in Wien war wirklich nur ein Beſuch geweſen. Ob die einſame Frau das Glück nicht er⸗ tragen hatte? Ob die Forderungen eines Lebens für 267 andere ſie erdrückt haben mochten? In die größte, die letzte Einſamkeit hatte ſie plötzlich der Tod entführt. Aber noch darüber hinaus wirkte ihr Haß: das Teſta⸗ ment bedrohte die Kinder mit Enterbung, wenn ſie im Hauſe des Vaters bleiben würden. Und ſo mußten ſie wieder fort, da ſie der Wärme, der Liebe am meiſten bedurften. Von einer neuen Schule im Harz hatten wir er⸗ fahren, wo die Jugend in ſchöner Abwechſelung von Spiel und Arbeit, von der Übung körperlicher und geiſtiger Kräfte ſich frei und fröhlich zu entwickeln ver⸗ mag, einer Schule, deren Leiter den Mut hatte, dem Geiſt engherzigen Preußentums den Eintritt bei ſich zu verwehren. Dorthin brachten wir ſie. Es war das beſte, das wir hatten finden können, und doch ſo ſchreck⸗ lich wenig für die, denen die Mutter geſtorben war. Nun war es ſtill bei uns im Hauſe. Ottochen, der ſich inzwiſchen auf ſeinen eigenen Füßchen zu bewegen gelernt hatte, lief im Zimmer der Brüder von Stuhl zu Stuhl, guckte in die Schränke und unter die Betten und rief vergebens „Wof“ und „Ans“. Zuerſt weinte er, weil ſie nicht kamen, um mit ihm zu „pielen“, dann erinnerte er ſich ihrer nur noch, wenn er auf meinem Schoß am Schreibtiſch ſaß und ich ihm ihre Bilder zeigte. Er war ein unbändiger kleiner Kerl, der nie lange an einem Platz aushielt. Ein Sonnenſtrahl im Zimmer, eine Fliege am Fenſter, Hundegebell und Pferdegetrappel auf der Straße, — alles erregte ſeine brennende Reugierde; wenn aber 268 gar Soldaten vorübermarſchierten, ſo zappelte er mit Händen und Füßen vor Freuden, und rief, ſo laut er konnte: „Daten! daten!“ Seitdem der Großvater ſich dem Enkel zu Liebe ein⸗ mal in die alte Generalsuniform gezwängt hatte, ging er noch einmal ſo gern in die Ansbacherſtraße. „Apapa Dat, Apapa Dat,“ hatte er mir mit erſtaunten Augen und einem Ausdruck von Ehrfurcht in dem Geſichtchen damals erzählt. Und „Apapa dehn!“ ſchrie er mit Stentorſtimme, wenn wir nicht ruhig genug mit ihm ſpielten. Eines Abends im Herbſt kam meine Mutter und er⸗ zählte mir, der Vater habe heute, ohne ſie zu fragen, die Wohnnng gekündigt. „Er will im Grunewald mieten,“ fügte ſie hinzu, „um Ottochen nahe zu ſein. Mir wurden die Augen feucht: ſo erſetzte ihm der Enkel die Tochter, die er verloren hatte. Kurze Zeit darauf bekam ich einen Brief von ihm: „Liebes Kind! denke doch nicht, daß es mir ge⸗ nügt, Deinen Jungen bei mir zu ſehen. Alte Leute brauchen viel Wärme, darum ſagte ich Ottochen heute, daß er Papa und Mama das nächſte Mal mitbringen ſoll. Er ſah mich ſo ernſthaft an, daß ich glaube, er hat mich verſtanden. Dein treuer Vater.“ Und ſo trat ich mit meinem Kind auf dem Arm in die alte Wohnung. Die Schweſter kam mir entgegen: „Run wird meine Hochzeit erſt ein richtiges Feſt für mich ſein,“ ſagte ſie und küßte mich ſtürmiſch. Sie öffnete die Tür zum Zimmer des Vaters. „Er kommt gleich,“ flüſterte ſie und lief davon. Ich mußte mich 269 ſetzen; die Kniee zitterten mir. Alles hatte ein Geſicht, ein liebes, vertrautes: die verblichenen Seſſel, die ſo einladend die Armlehnen nach mir ausſtreckten, der alte, grüne Teppich, der ſich warm und weich unter meine Füße ſchmiegte, die dunkeln Bilder an der Wand, die zu lächeln ſchienen. Auf dem Schreibtiſch lagen wie einſt in Reih und Glied die ſorgfältig geſpitzten Blei⸗ ſtifte und die Gänſefedern, die der Vater ſich ſelbſt zu ſchneiden pflegte, und der „Soldatenhort“, für den er ſchrieb. Und in der Ecke — die alte Reiterpiſtole! Aus dem Zimmer war ich einmal geflohen vor ihr! — Der ſie auf mich gerichtet hatte, rief mich heut zurück! Rein, — mich nicht! Rur dieſes ſüßen blonden Kindes Mutter! Die Türe ging auf. „Apapa!“ rief der Kleine und ſtreckte ihm die Armchen entgegen. Im nächſten Augen⸗ blick fühlte ich uns beide umfaßt: Die Lippen zitterten, die meine Stirn berührten. „Wir wollen einander nicht weich machen, Alix,“ ſagte er leiſe. „Wir wollen ſo tun, als wärſt du gar nie weg geweſen.“ Von nun an ſahen wir uns oft. Mühſam, mit ſchwerem Atem, auf jedem Treppenabſatz minutenlang innehaltend, kam er immer häufiger zu uns herauf, und meiſt um die Stunde, die er früher im Kaſino zuzu⸗ bringen pflegte. Er hatte ſtillſchweigend auch dieſe alte Gewohnheit aufgegeben, und als die Mutter ihn dar⸗ nach fragte, ſagte er: „Was ſoll ich mich jetzt noch über Menſchen und Zeitungen ärgern?! Mein Mann, der ſich nie als „Schwiegerſohn“ fühlte, ſondern ſtets ſehr zurückhaltend, ſehr förmlich blieb, ge⸗ fiel ihm. „Du ahnſt ja kaum, wie der Frieden auf mich 270 wirkt,“ ſchrieb er mir einmal. „Ich bin Dir die Er⸗ klärung ſchuldig, daß dein Mann, deſſen vollendeter Takt mir ſo wohltuend iſt, ganz auf mich zählen kann. Zuweilen fuhr er mit uns in den Grunewald, wo er zum Frühjahr in unſerer Nähe eine Wohnung gemietet hatte. Er ſtrahlte vor Freude, wenn er unſer Häuschen wachſen und werden ſah. „Wie mich das glücklich macht, dich ſo ohne Sorgen zu wiſſen,“ ſagte er zu mir, während er unermüdlich über die Balken kletterte und jeden Raum in Augen⸗ ſchein nahm. Dann drückte er Heinrich die Hand: „Daß du meiner Alix ſolch eine Heimat ſchaffſt! Draußen im Garten freute ihn jeder Strauch, der gepflanzt wurde. „Hier muß Ottochen einen großen Sandhaufen haben,“ — meinte er, „und eine Schaukel und eine Kletterſtange, damit ſeine Muskeln ſtraff wer⸗ den. Daneben aber baut mir eine Laube, in der ich im Sommer, ohne euch zu ſtören, ſitzen und mit meinem Jungen ſpielen kann.“ An einem dunkeln Spätherbſttag, kurz vor der Hochzeit meiner Schweſter, kam ich nach Hauſe. „Exzellenz iſt beim Kleinen,“ ſagte das Mädchen. Ich nickte lächelnd. Ottochen war nicht ganz wohl und durfte des ſchlechten Wetters wegen nicht ausgehen. Run kam der Großvater zu ihm. Ich trat in ſein Zimmer. Auf dem Teppich ſaß mein Kind, vertieft in die neuen Soldaten, die ihm „Apapa“ mitgebracht haben mochte; im Lehn⸗ ſtuhl lag der Vater tief zurückgelehnt und ſchlief. Der ſonſt ſo lebhafte Junge bewegte ſich leiſe zwiſchen dem 271 Spielzeug und ſah erſchrocken auf, als ich näher trat. „Pſt, pſt!“ machte er und legte ein Fingerchen auf die Lippen. „Apapa baba! Der graue Schatten des frühen Abends kroch durch die Fenſter. Schwer lag er über den Zügen des Schlafen⸗ den, verwiſchte jede Lebensfarbe, ließ jede Falte tiefer erſcheinen. Ich faltete unwillkürlich die Hände: Wie alt, wie blaß, wie müde ſah er aus! Und war doch ein ſo ſtarker Mann geweſen und den Jahren nach kein Greis! Ich ſank in die Kniee und küßte die herabhängende Hand. Der Kummer um mich war es geweſen, der ihm ein Stück ſeines Lebens gekoſtet hatte. Ende Rovember wurde Ilſe im Elternhaus mit Oskar Erdmann getraut. Rur die nächſten Verwandten waren geladen worden, und auch von ihnen hatten manche abgeſagt, als ſie erfuhren, daß wir zugegen ſein würden. Meine Schweſter ſah aus wie eine Frühlingselfe. Alles Licht im Raum ging von ihren goldenen Haaren aus, deren Glanz ſelbſt der keuſche Brautſchleier nicht zu dämpfen vermochte. Erdmann ſchien mir noch ſchmaler als ſonſt. Ein unbeſtimmtes Angſtgefühl be⸗ ſchlich mich. Meiner Schweſter „Ja!“ klang ſo froh, ſo hell an mein Ohr, daß es die Sorge verſcheuchte. Als aber der Geiſtliche ſich fragend an ihn wandte, verſchlang ein rauher Huſten, unter dem ich ſeinen Rücken beben ſah, ſeine Antwort. Mir war, als wechſelten ſeine Geſchwiſter, die neben uns ſtanden, einen er⸗ ſchrockenen, vielſagenden Blick. Doch wie das junge 272 Paar ſich uns zuwandte, überſtrahlte ihr Glück auch dieſen Eindruck. Vor der Hochzeitstafel überkamen mich alte Träume. Sie ſtiegen aus den ſchlanken Kelchen, die einſt an⸗ einanderklangen, während Walzermelodien mich um⸗ rauſchten, ſie ſchimmerten in den ſilbernen Jardinieren, in denen ſo viel Roſen, — duftende Zeugen meiner Balltriumphe —, verblüht waren. Jemand ſchlug ans Glas. Run, wußte ich, wird meines Vaters klare Stimme die Luft in raſche Schwingung verſetzen, ſein Geiſt und ſein Witz wird alle bezaubern, und alle verdunkeln, die nach ihm reden werden. Er⸗ wartungsvoll ſah ich ihn an. Seine Finger zerdrückten unruhig die Serviette, ſeine Lippen öffneten ſich einmal — zweimal, bis daß ein Ton ſich ihnen entrang, der rauh und heiſer war. Und dann ſprach er, — langſam, ſchwerfällig, wie eingelernt. Meine Erwartung verwandelte ſich in Staunen, mein Staunen in Angſt. Seine Hand hob ſich wie zu einer jener alten Geſten, die ſo wirkſam zu unterſtreichen pflegten, was er ſagte — gleich darauf ſank ſie ſchlaff herab, die Lippen zuckten, — der begonnene Satz zerriß; — eine qualvolle Pauſe; — dann griff er haſtig nach dem Kelchglas, hob es empor, wobei die Tropfen zitternd über den Rand ſpritzten: „Die Familie Erdmann lebe hoch — hoch — hoch!“ — In den Stuhl ſank er zurück; ſeine Augen wanderten wie um Verzeihung bircend von einem zum anderen, und als ſein Blick den meinen traf, ſah ich die Träne, die ihm in den Wimpern hing. 273 Im Winter ging es meinem Vater Woche um Woche ſchlechter. Es duldete ihn nicht im Hauſe; ſchon früh trieb ihn eine unerklärliche Unruhe fort; verſuchte die Mutter, ihn zurückzuhalten, ſo ſetzte er ihren Bitten einen ſo heftigem Widerſtand entgegen, daß ſie ihn gehen laſſen mußte. Er beſuchte meine Schweſter und ſchleppte ſich bis zu uns herauf, obwohl es ihm täglich ſchwerer wurde. Es war, als ob er das Alleinſein mit der Mutter nicht ertrüge. Rur wenn ſein Enkel bei ihm war, wich ſeine innere Un⸗ ruhe einem Ausdruck ſtillen Friedens. Zuweilen verließ ihn das Gedächtnis, dann nannte er den Kleinen „Alix und war noch zärtlicher zu ihm als ſonſt. Einmal kaufte er eine Puppe, um ſie „Alix“ zu ſchenken; als ihn die Mutter auf den Irrtum aufmerkſam machte, geriet er in helle Wut. „Alle Freude willſt du mir verderben,“ ſchrie er und ſprach ſtundenlang nicht mit ihr. Irgend⸗ eine Pflege duldete er nicht; er ſchloß ſich im Schlaf⸗ zimmer ein, wenn der Arzt kommen ſollte. Ich ſah, wie meine Mutter ſich mühte, ihm alles recht zu machen. Aber die Sorgfalt, mit der ſie ihn umgab, hatté etwas Kühles, Fremdes, — als ob das Herz nicht dabei wäre. Sie litt unter ſeiner Heftigkeit; es kam vor, daß ihre ſtarre Selbſtbeherrſchung zuſammen⸗ brach; dann weinte ſie bitterlich, aber es waren Tränen des Zornes, nicht des Leides. „Er iſt ſo böſe zu mir, ſo böſe!“ kam es krampfhaft zwiſchen ihren feſt ge⸗ ſchloſſenen Zähnen hervor. Hilflos ſtand ich vor der Offenbarung der Ehetragödie meiner Eltern. Manches Erlebnis, das meine Jugend verbittert hatte, tauchte in Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 18 274 der Erinnerung wieder auf, und ich fand jetzt den Schlüſſel dazu. „Die Ehe hat ſie zerſtört,“ ſagte ich zu meiner Schweſter, als wir darüber berieten, wie ihnen vielleicht noch zu helfen ſei. „Ja, — das glaube ich gern,“ antwortete ſie mit einem grübleriſchen Ausdruck, der ihrem weichen Ge⸗ ſichtchen ſonſt fremd war. Ich horchte auf; — kaum zwei Monate war ſie verheiratet! Von da an führte mein Weg, wenn ich zu den Eltern ging, regelmäßig bei ihr vorüber. Ich hatte ſie in ihrem jungen Glück nicht ſtören wollen, jetzt trieb mich die Sorge, zu ſehen, ob es nicht ſchon geſtört war. Aber ich fand ſie ſtets heiter inmitten ihrer ſchönen Häuslichkeit, die in Formen und Farben ſo harmoniſch zuſammenſtimmte, daß eine Vaſe, ein Blumenſtrauß ſchon ſtörend zu wirken ver⸗ mochte, wenn ſie nicht in bewußtem Einklang damit gewählt worden waren. Und ich fand ihren Mann zärtlich um ſie beſorgt, — in einer Art freilich, die ich nicht vertragen hätte, die der Ratur Ilſens aber zu entſprechen ſchien. Er beſtimmte ihre Kleidung, er be⸗ aufſichtigte die Hauswirtſchaft, er ordnete den Tiſch, wenn Beſuch erwartet wurde. Und alles nahm unter ſeiner Hand den Charakter ſeines Künſtlertums an: der Vornehmheit, die jedes äußeren Schmuckes entbehren konnte, weil ſie das Weſen des Materials zu reinſtem Ausdruck brachte; der jedem lauten Ton abholden Ruhe, die wie Sonnenuntergang am Tage durch die orange⸗ ſeidenen Vorhänge klang und am Abend in den Falten der grünen, die ſich darüber breiteten, träumte; und 275 der Liebe zur Ratur, die ſich in allem, was ihn umgab, widerſpiegelte, — in den dunkelroten Kaſtanienblättern der Tapete, den zarten Pflanzen⸗ und Vögelſtudien japaniſcher Holzſchnitte, dem Wandteppich mit dem ſtillen Wald⸗ bach, auf dem die Schwäne ziehen. Es war gut ſein bei ihnen, und wer davon ging, dem kam die Welt draußen doppelt häßlich, unharmoniſch, laut und herz⸗ los vor. Aber es ging auch etwas wie eine Lähmung von dieſer Umgebung aus, etwas, das vom wirklichen Leben gewaltſam abzog. Die Gäſte des Hauſes entſprachen dieſer Stimmung; keine der Fragen, die uns bewegten, traten mit ihnen über ſeine Schwelle. Die Kunſt ſtand im Mittelpunkt all ihres Denkens und Fühlens; nicht jene nebenabſichts⸗ loſe, die wächſt wie ein Baum, gleichgültig, ob nur einſame Wanderer ihn finden, oder ob Scharen unter ſeinem Schatten ruhen, ſondern jene märchenhafte Treibhausblume, die nur für die Auserwählten gezogen wird. Sie vertraten alle den Individualismus, aber hinter ihrer Forderung der höchſten Kultur des Indi⸗ viduums verbarg ſich nur ſein Kultus. Man ſprach mit halber Stimme, man las Bücher, die in nume⸗ rierten Exemplaren nur für einen kleinen Kreis von Freunden gedruckt wurden; am Flügel ſaß häufig ein katholiſcher Prieſter, der in dem milden Wachskerzenlicht des zartgetönten Salons Paleſtrinas feierliche Weiſen ertönen ließ. Dieſelbe Atmoſphäre, die ſich weich um die Stirne legt, herrſchte hier, wie im Theater, wo Hofmanns⸗ thals Hochzeit der Sobéide jenen Haſchichrauſch her⸗ vorrief, der der Welt entrückt. Und am Ende des 18* 276 Jahrhunderts jauchzte die Jugend den neuen Göttern ebenſo ſtürmiſch zu, wie wir die Ibſen und Gerhart Hauptmann empfangen hatten. Flüchteten die Menſchen nur im Gefühl ihrer Schwäche aus der Wirklichkeit, oder waren nicht unter denen, die ſich abſeits des rauhen Lebens in einem weißen Tempel verſteckten, auch ſolche, die als geweihte Prieſter der Menſchheit wieder aus ihm hervorgehen werden? Ich hätte die Frage nicht entſcheiden können, aber mein Optimismus glaubte gern an Keime neuen Wer⸗ dens, wo andere Fäulniserſcheinungen ſahen. Auch Erd⸗ manns Perſönlichkeit berechtigte dazu. Er ſelbſt wurzelte zu bewußt im Boden der Erde, als daß er ſeine Kunſt ihr hätte entreißen können. Er behandelte die jungen Männer, die ſeine genial geknoteten Krawatten nach⸗ ahmten, von ſeinem tiefſten Weſen aber wenig wußten, mit leiſer Ironie. Die l'art pour l'art⸗Deviſe war für ihn nicht das Letzte. „Wir müſſen den Snob benutzen,“ ſagte er, als wir einmal unter uns waren, „um allmählich zum Volk zu kommen. Es iſt mit dem Kunſtgewerbe wie mit der Mode: Das Reueſte iſt zuerſt ein Vorrecht der Wenigen und nach einem Jahr die Gewohn⸗ heit der Maſſen.“ Lebhaft hin⸗ und hergehend ſetzte er uns dann ſeine Zukunftspläne auseinander: Hand⸗ werkerſchulen wollte er ſchaffen, in denen nicht alte Kliſchees immer wieder benutzt werden. ſondern die neueſten und ſchönſten Errungenſchaften der Kunſt zu Muſtern dienen. „Es iſt bewundernswert, wie verſtändnisvoll all die kleinen Handwerker, die ich jetzt ſchon zuſammen⸗ 277 geſucht habe, meinen Ideen entgegenkommen. Sie ſind in ihrem Geſchmack weniger verdorben, ſie haben vor allem weit mehr Gefühl für das Material, das ſie bearbeiten, als die meiſten unſerer Kunſtgewerbe⸗ treibenden, die vor lauter theoretiſchem Wiſſenskram jede perſönliche Stellung zu den Dingen verloren haben —. Ein heftiger Huſtenanfall unterbrach ihn, rote Flecken zirkelten ſich auf ſeinen eingefallenen Wangen ab. Meine Schweſter erblaßte, lief hinaus und brachte ihm eine Taſſe Tee, die er entgegennahm, wie etwas längſt Ge⸗ wohntes. „Der berliner Winter, — dies ekelhafte Regen⸗ wetter —,“ ſagte er dann und lehnte ſich müde in den Stuhl zurück, während ſeine Bruſt ſich noch krampfhaft hob und ſenkte. „Ich war um dieſe Zeit immer im Süden —,“ fügte er halblaut wie zu ſich ſelbſt hinzu. Wir gingen. Meine Schweſter begleitete uns bis zur Tür. Ich ſah ſie fragend an. Sie nickte, um ihren Mund zuckte es verräteriſch: „Ich weiß, — wir ſollten fort, aber er will nicht. Er kann ſeine Arbeiten nicht im Stiche laſſen, ſagte er. Aber ſpäter, in Jahr und Tag, wenn er ſehr viel verdient haben wird, —“ dabei lächelte ſie wieder hoffnungsvoll, — „dann wollen wir reiſen —“ „Ilſe!“ klang es ungeduldig von innen. Sie fuhr erſchrocken zuſammen: „Run wird er wieder böſe ſein!“ und lief, ſich haſtig verabſchiedend, hinein. Wochenlang war er an das Zimmer gefeſſelt. Run ging meine Mutter zwiſchen dem Mann und dem Schwiegerſohn unermüdlich hin und her. „Ilschen iſt viel zu zart für ſolch eine Pflege,“ meinte ſie, während ſie ſelbſt dabei immer magerer wurde. Bat ich ſie, ſich zu ſchonen, ſo hatte ſie nur die eine Antwort: „So⸗ 278 lange mir Gott Pflichten auferlegt, habe ich ſie zu er⸗ füllen.“ Dabei rückte der Umzugstermin näher; er mußte pünktlich inne gehalten werden, denn die Wohnung der Eltern war vermietet. In der Racht, wenn der Vater ſchlief, kramte und packte die Mutter, um ihn nur ja bei Tage damit nicht zu ſtören. Bei uns ſah es ähnlich aus, denn unſer Häuschen war inzwiſchen fertig geworden, und der Tag des Ein⸗ zugs war feſtgeſetzt. Aber die Freude fehlte, mit der ich ihm vor Monaten entgegengeſehen hatte. „Sind wir erſt draußen, ſo wird alles gut werden,“ verſicherte mir Heinrich immer wieder, wenn meine ſorgenvollen Mienen ihm meine Stimmung verrieten. „Glaubſt du, daß wir Taler von den Kiefern ſchütteln können, wie das Kind im Märchen?“ antwortete ich. „Wertvollere jedenfalls,“ meinte er gereizt. „Deines Kindes und deine Geſundheit, deine Arbeitskraft ſind doch wohl wichtiger, als die paar blauen Lappen, die du momentan vermißt.“ Ich zuckte die Achſeln. Die Sorgen waren ja meine Krankheit, und ſie gedeihen auch in der beſten Luft. Hans geht es ſchlecht, kommt bitte gleich —“ Meine Mutter ſchickte dieſe Zeilen. Wir fuhren in die Ansbacherſtraße. Auf ſeinem Lehnſtuhl ſaß der Vater, halb angezogen, mit blau⸗ rotem Geſicht und blutunterlaufenen Augen. Gepackte Kiſten ſtanden umher, öde ſtarrten uns die vorhang⸗ loſen Fenſter entgegen, grauer Staub lag auf den ab⸗ geräumten Tiſchen. 279 „Ich will nicht zu Bett, — ich will nicht,“ ſtöhnte der Kranke. Der Mutter liefen die Tränen über die abgehärmten Wangen. „Er ſtößt mich zurück, wenn ich ihm helfen will,“ flüſterte ſie. Der Arzt trat ein. Mit gewaltſamer An⸗ ſtrengung erhob ſich der Vater, ſtützte ſich mit beiden Händen auf den Tiſch vor ihm und ſchrie, während die Augen ihm aus den Höhlen zu treten ſchienen: „Hinaus — hinaus! Ich mag keinen Quackſalber!“ — Dann brach er zuſammen, krallte die Hand in die linke Seite, — langſam wich die Farbe aus ſeinen Zügen; willenlos ließ er ſich ins Schlafzimmer führen, den Kopf tief geſenkt, ſchwankend, mit kleinen, un⸗ ſicheren Schritten. Im Bett lag er ganz ſtill. Rur die Augen, die merkwürdig groß und klar geworden waren, ſprachen, was die Lippen nicht ſagen konnten. Während Heinrich und Erdmann von den neuen Mietern der Wohnung, die ſich zu einem Aufſchub des Einzugs nicht verſtehen wollten, zum nächſten Kranken⸗ haus fuhren, um die Überſiedlung dorthin vorzubereiten, und die Mutter mit Ilſens Hilfe draußen das Rotwendigſte zuſammenpackte, war ich allein bei dem Kranken. Wir redeten miteinander. Seine Augen bohrten ſich forſchend in meine Züge. „Du kannſt ruhig, — ganz ruhig ſein, lieber Papa. Ich bin vollkommen glück⸗ lich —,“ verſicherte ich. Sie leuchteten auf, um ſich gleich darauf in jäher Angſt, halb geſchloſſen, wieder auf mich zu richten. „Ich liebe dich, Papa, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben,“ antwortete ich mit tränenerſtickter Stimme. Um ſeine blaſſen Lippen zuckte ein leiſes Lächeln, ſeine ſchwache Hand verſuchte, die 280 meine zu umſchließen, die Lider deckten ſekundenlang die ſtahlblauen Pupillen, — dann zuckten ſie ſchreckhaft wieder empor. Eine einzige, ungeheure, verzweifelte Frage ſtarrte aus dieſen Augen, in die das ganze Leben ſich zu einer letzten Zuflucht zuſammendrängte. Ich verſtand. Vorſichtig löſte ich meine Hand aus der ſeinen und ging hinaus — „Mama!“ rief ich leiſe. Sie kam. Ich ſah noch zwei Hände, die ſich zitternd ihr entgegenſtreckten, — dann zog ich die Türe hinter mir ins Schloß . . . Als der Krankenwagen vorfuhr, trat ſie aus dem Zimmer, bleich, regungslos, wie verſteinert. „Er ſchläft, ſagte ſie. Ich beugte mich über ihn: wie ein Hauch ſchwebte der Atem nur noch von ſeinen Lippen. Die Augen waren geſchloſſen, das Geſicht weiß und ſtill, beherrſcht von einem Ausdruck feierlichen Ernſtes. Zu Hauſe lief mir mein Kind entgegen. „Apapa dehn!“ ſchrie es ungeduldig. Es war die Stunde ſeiner täglichen Ausfahrt. Ich ſchüttelte trauric den Kopf. Da fing es an herzbrechend zu ſchluchzen. Noch zwei Tage atmete der Sterbende. Mit einer Ruhe, von der ich nicht wußte, ob ich ſie bewundern oder mich vor ihr entſetzen ſollte, ordnete die Mutter alles an, als wäre er ſchon geſtorben. Angſtvoll ſah ich hinüber zu dem ſtarren Geſicht in den weißen Kiſſen. „Er iſt ohne Bewußtſein,“ hatte 281 der Arzt verſichert. Zuweilen aber ſchien mir, als hörte er noch, als ſähe er mit geſchloſſenen Augen, als ginge ein Beben durch ſeinen Körper. In der dritten Racht ſtarb er. Droben an der Haſenhaide, wo der Rieſenleib der Stadt ſich gigantiſch den Hügeln zu Füßen hinſtreckt und der Sturm ungehindert durch die alten Bäume pfeift, iſt die letzte Garniſon der Soldaten. Von den Schießſtänden grüßen die Flintenſchüſſe herüber, von den Kaſernenhöfen die Trom⸗ petenſignale, und vom Tempelhofer Feld klingen zu⸗ weilen die Kriegsmärſche in den Frieden des Kirchhofs. Dorthin trugen alte Regimentskameraden den Sarg, in dem der Tote ſchlief, gehüllt in den Mantel, der in allen Feldzügen ſein unzertrennlicher Begleiter geweſen war. Es war ein ſtilles Begräbnis. Für die alten Freunde war er geſtorben, als er ſich mit mir, der Ab⸗ trünnigen, verſöhnte. Auch der Kaiſer hatte des Mannes vergeſſen, der ſeinem Ahnherrn in Frankreichs blutgetränkter Erde die Krone des deutſchen Reiches erobern half. Acht Tage ſpäter verließen wir die Wohnung, in der die Sonne durch alle Fenſter hatte luten können, in der mein Sohn geboren worden war. „Ottoo — addaa —“ jauchzte er wieder, als wir davonfuhren; aber die Fenſter des Wagens waren geſchloſſen, und der Frühlingsregen peitſchte an 282 das Glas. Im Walde draußen empfing uns die neue Heimat: Unter dem tiefen grauen Dach unſeres Hauſes ſchauten die kleinen Fenſter wie Augen unter ſchatten⸗ den Wimpern hervor, geheimnisvoll lockend und feind⸗ ſelig abwehrend zugleich. Darüber wiegten die Kiefern ihre ſchwarzen Kronen. Es war wie ein Stück der ſtillen, ernſten Ratur, die es umgab. Und ſtill und ernſt trat ich über ſeine Schwelle. 283 Neuntes Kapitel Der Winter des Jahres 1899 wollte kein Ende nehmen. Die Stadt Berlin, die durch Rein⸗ lichkeit zu erſetzen pflegte, was ihr an Schön⸗ heit gebrach, war dem Schnee, der ſich auf den Straßen bis in den April hinein in ſchmutzig⸗grauen Schlamm verwandelte, nicht gewachſen. Heerſcharen, mit Spaten und Hacke bewaffnet, ſchickte ſie aus, um den hart⸗ näckigen Feind aus den Toren zu treiben, und um die Maſſen der Arbeitsloſen, die unter ſeinem Regiment immer ſtärker angeſchwollen waren, zu verringern. Ver⸗ gebens. Der Schnee ballte ſich zu Haufen; vor den Aſylen der Obdachloſen ſtaute ſich die Menge. Mehr als je waren kräftige Männer darunter. Selbſt um die am ſchlechteſten bezahlte Heimarbeit riſſen ſich die Frauen; wovon ſollten ſie die Kinder ernähren, da die Väter feiern mußten und das Fleiſch immer teurer wurde? „Der Winter iſt mit den Ausbeutern im Bunde,“ ſagte eine blaſſe, kleine Parteigenoſſin, die jedesmal mit entzündeteren Augen in die Sitzungen kam. „Die Agrarier, die Konfektionäre und die Kohlenfritzen wer⸗ den dick und fett, und wir kriegen die Schwindſucht.“ Sie ſtickte Hemden, — „ganz feine aus Battiſt, mit Iner Fürſtenkrone. Ich wünſchte man bloß, jeder Stich wäre 'ne Radelſpitze, wenn ſie den durchlauchtigſten 284 Körper berühren,“ fügte ſie hinzu. Die Bitterkeit, mit der ſie ſprach, erfüllte mehr denn je ihre Klaſſen⸗ genoſſen. Sie froren und hungerten. Im Reichstag aber be⸗ willigte die Mehrheit der bürgerlichen Parteien eine Militärvorlage, die Millionen und Abermillionen koſtete. Sie ſuchten vergeblich nach Arbeit, und im Abgeord⸗ netenhaus brachten die Junker den Plan des Mittel⸗ landkanals zu Fall, der zahlloſe neue Arbeitsmöglich⸗ keiten eröffnet hätte. Überall ſiegten die Intereſſen der Beſitzenden gegen die der Arbeiter, und nun drohte die Zuchthausvorlage, ihnen im Kampf um beſſere Arbeits⸗ bedingungen die letzte Waffe zu nehmen: Das Koali⸗ tionsrecht. Roch zögerte die Regierung mit der Veröffentlichung des Wortlautes der Vorlage, aber ſie warf ihre Schatten voraus, ſo daß an ihrem Inhalt niemand mehr zweifeln konnte. Um dieſe Zeit erſchien Eduard Bernſteins länaſt erwartete Broſchüre: „Die Vorausſetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der So⸗ zialdemokratie.“ Sie faßte zuſammen und führte aus, was er ein Jahr vorher in ſeiner Artikelſerie über die Probleme des Sozialismus geſagt hatte. Jetzt, wo die erſte Erregung hinter mir lag und ich mit ruhi⸗ gem Verſtand zu leſen vermochte, ſpürte ich den Ein⸗ fluß der engliſchen Fabier, der Webb, der Shaw, der Burns, in deren geiſtiger Atmoſphäre dies Buch ent⸗ ſtanden war. Ich ſpürte aber auch den deutſchen Ge⸗ 285 lehrten, der der rauhen Luft Preußens ſeit Jahrzehnten entwöhnt war und es in ſeiner ſtillen londoner Studier⸗ ſtube, fern der Heimat, verfaßt hatte. Er konnte drüben nicht wiſſen, wie der deutſchen Partei im Augenblick jede Aufnahmefähigkeit für theoretiſche Erörterungen gebrach, und wie der Maſſe der Parteigenoſſen, die ſich von allen Seiten in ihrer phyſiſchen und rechtlichen Exiſtenz bedroht ſahen, ſeine Mahnung, den Liberalismus nicht zurückzuſtoßen, zu handeln wie eine demokratiſch⸗ ſozialiſtiſche Reformpartei, als blutiger Hohn erſcheinen mußte. Wo waren denn die freigeſinnten Elemente der Bourgeoiſe, auf die es ſich verlohnte, Rückſicht zu nehmen, um mit ihnen gemeinſam demokratiſche Forderungen durchzuſetzen? Sie entflammten in ſchöner Begeiſterung für Völkerfreiheit, — wenn es ſich um den Kampf der Buren gegen die Engländer handelte. Sie empörten ſich wider Unrecht und Vergewaltigung, — wenn von Dreyfus und dem franzöſiſchen Generalſtab die Rede war. Es kam ſogar etwas wie ein Entrüſtungsſturm zuſtande, als das Zentrum die Kunſt in die Ketten kirchlicher Moral zu legen drohte, — aber dem Urteil von Löbtau, das neun Maurer, die ſich mit ihren über die ſchwer errungene zehnſtündige Arbeitszeit hinaus arbeitenden Kollegen in eine Schlägerei verwickelten, mit Zuchthaus beſtrafte, ſtanden ſie ſtumm und kalt gegenüber. So ſehr ich mich genötigt ſah, der theoretiſchen Kritik Bernſteins zuzuſtimmen, ſo wenig ſeiner Auffaſſung von der Rotwendigkeit eines Paktierens mit dem Liberalis⸗ mus. „Wer nicht mit uns iſt, der iſt wider uns —. Getäuſchte Liebe trägt die Maske brennenden Haſſes; 286 darum urteilt der Renegat über die Klaſſe, die er verließ, am ſchärfſten. Wo waren all die, auf die ich gerechnet hatte? Ein einziger hatte ſeitdem den Weg zu uns gefunden: Göhre. Alle anderen ſtarrten geblendet in die Fata Morgana deutſcher Zukunfts⸗ weltmacht. Ich habe den Genoſſinnen einen Vorſchlag zu unterbreiten,“ begann Martha Bartels in einer unſerer Frauenſitzungen. „Unter uns iſt kaum eine, die nicht wenigſtens die Bernſteindebatten im Vorwärts verfolgt hätte. In engeren Parteikreiſen haben wir wohl auch Gelegenheit gehabt, uns darüber aus⸗ zuſprechen und Belehrung durch andere zu empfangen. An einer großen öffentlichen Auseinanderſetzung fehlt es leider noch. Ich beantrage, Genoſſin Orbin zu bitten, in öffentlicher Volksverſammlung einen Vortrag über den Streit, der uns ſo nahe angeht, halten zu wollen. Mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit ſtimmte man ihr zu. Ich wußte, daß es Wanda Orbin ſelbſt geweſen war, die ihr dieſen Gedanken ſouffliert hatte. Sie wütete in der „Freiheit“ gegen Bernſtein. „Soweit es ſich um die Erörterung der praktiſchen Vorſchläge Bernſteins handelt, ſcheint auch mir der Antrag annehmbar,“ ſagte ich. „Seine Theorien aber ſind doch wohl kein Thema für eine öffentliche Volksverſammlung.“ „Genoſſin Brandt hält uns mal wieder für zu dumm, hörte ich die ſchrille Stimme der rotäugigen Stickerin ſagen. „Bernſtein meent ja ooch, daß wir noch nich reif ſind,“ meinte eine andere mit einem giftigen Blick auf 287 mich, „er is niſcht als ſo'n verkappter Bourgeois, der uns zum St. Rimmerleinstag vertröſten will, damit's ihm nich an den Schlafrock jeht.“ Ich hielt dieſem Ausbruch proletariſcher Eitelkeit, die die Partei groß gezogen hatte, ruhig ſtand. Die apo⸗ diktiſche Sicherheit, mit der die Partei in ihrer Preſſe ihre Anſichten vertrat; die verflachende Populariſierung der Lehren ihrer Vorkämpfer, durch die ſie ſie den Maſſen mundgerecht machte; der Hohn, mit dem ſie die Außerungen „bürgerlicher Wiſſenſchaft“ überſchüttete, konnten keine andere Wirkung haben. „Wie wär's, wenn Genoſſin Brandt das Korreferat übernähme?“ fragte Ida Wiemer, die vor allem gewerk⸗ ſchaftlich tätig war und infolgedeſſen zu einer weniger radikalen Auffaſſung neigte. „Selbſt wenn Sie das wünſchen, müßte ich nein ſagen,“ antwortete ich raſch; „ich bin außer ſtande, theoretiſche Fragen zu beurteilen, die einen Mann wie Bernſtein jahrelang beſchäftigt haben, ehe er eine Ant⸗ wort fand.“ Rings um mich ſah ich ſpöttiſches Lächeln in den Mienen, Ida Wiemer ſenkte errötend den Kopf, als ſchäme ſie ſich für mich. Tatſächlich hätte ich nicht törichter vorgehen können: Rur wer keck alles zu wiſſen und zu können behauptet, verſchafft ſich Anſehen in der Offentlichkeit. Ich hatte mir eine Blöße gegeben, die mir nicht vergeſſen werden würde. Luiſe Zehringer ſprach nach mir, eine Genoſſin aus Hamburg, eine Zigarrenarbeiterin mit harten vermänn⸗ lichten Zügen. Es fehlte ihr, auch in dem Klang der Sprache, jede Spur von Weiblichkeit. Ein ernſtes Ar⸗ 288 beitsleben von Kindheit an hatte der ganzen Erſcheinung jede Weichheit genommen. „Ich gehöre zu denen, die eine energiſche Zurück⸗ weiſung der Bernſteinſchen Angriffe auf unſere Grund⸗ anſchauungen nicht nur für notwendig, ſondern für jede von uns, die im Beſitze proletariſchen Klaſſen⸗ bewußtſeins iſt, für möglich hält,“ ſagte ſie. „Ich habe keine vornehme Erziehung genoſſen, wie die Genoſſin Brandt, aber meine fünf Sinne habe ich beieinander. Ich weiß darum, ohne jahrelanges Studium, daß Bern⸗ ſtein Marx und Engels Unterſtellungen macht, die ſie niemals vertreten haben, daß er gegen eine Verelendungs⸗ theorie kämpft, die niemals von uns propagiert worden iſt. Wir verſtehen unter Proletariat nicht diejenigen, die mit zerlumptem Rock und knurrendem Magen um⸗ herlaufen, ſondern jeden, der abhängig iſt vom Kapital. Und dieſe Abhängigkeit wächſt von Tag zu Tag und damit die Maſſe des Elends. Und iſt die Zunahme der Erwerbsarbeit proletariſcher Hausfrauen und Mütter nicht ein weiterer, ſchlagender Beweis für die Zunahme des Elends? Glauben Sie vielleicht, Genoſſinnen, ſie verließen aus Vergnügungsſucht, wie die Damen der Bourgeoiſie, ihr Zuhauſe und ihre Kinder?! Aller Augen hingen an der Sprecherin, die ihre leiden⸗ ſchaftlich vorgeſtoßenen Worte mit lebhaften eckigen Geſtikulationen begleitete. „Ich weiß aber noch mehr: ich weiß, daß die Empörung gegen das Elend mit ihm wächſt, daß die Gleichgültigſten, wenn ſie hungernd über den Jungfernſtieg gehen, während hinter den Spiegel⸗ ſcheiben der feinen Reſtaurants die Protzen ſchmatzen und ſaufen, die Fäuſte ballen lernen und weniger denn 289 je von einem Techtelmechtel mit den ſchlauen Verführern der. Bourgeoiſie, den Liberalen, wiſſen wollen. Zwiſchen uns und ihnen gibt es nur Kampf, — Kampf bis aufs Meſſer, — bis zur Diktatur des Proletariats, vor dem der behäbige, gut genährte Herr Bernſtein und ſeines⸗ gleichen ſolch ein Grauſen hat . . .“ Sie ſchwieg er⸗ ſchöpft; ihre Züge waren noch um einen Schein blaſſer geworden. Wanda Orbins Referat war geſichert. Wie ſtellen ſich die Parteigenoſſen Berlins zu Bernſteins Schrift?“ Auf leuchtend gelben Zetteln prangte dieſe Frage an den Lit⸗ faßſäulen. Im Weſten gingen die Spaziergänger acht⸗ los daran vorbei. In der Friedrichſtadt blieben Stu⸗ denten mit unverkennbar ruſſiſchem Typus nachdenklich davor ſtehen, während ihre deutſchen Kollegen der An⸗ zeige der Amorſäle ihre Aufmerkſamkeit zuwandten. Im Rorden und im Oſten dagegen ſammelten ſich Gruppen von Arbeitern vor ihr, und in die Kneipen, in die Arbeitsſäle und in die Wohnungen wurde die Frage weiter getragen. Als Wanda Orbin die Tribüne be⸗ trat, erwarteten nur wenige ihrer Zuhörer von ihr etwas anderes, als die Beſtätigung der Antwort, die für ſie ſelber ſchon feſtſtand. Sie verkündete mit prieſterlichem Fanatismus den be⸗ ſeligenden Glauben an die Herrlichkeit des nahe bevor⸗ ſtehenden Zukunftsſtaates gegenüber der kühlen Beweis⸗ führung ſeiner langſamen Entwicklung; ſie ſchürte den Haß wider die bürgerliche Geſellſchaft, ſie mahnte zum Vertrauen allein auf die eigene Kraft des Proletariats. Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 19 290 Zwiſchen ihr und der Zuhörerſchaft entſtand jene hyp⸗ notiſche Verbindung, durch die der Redner nur als Sprachrohr der Maſſen erſcheint und die Maſſen wieder unter der Suggeſtion des Redners ſtehen. Sie war die Stimme des Volkes, das die Ketzer verdammte, die ihm nehmen wollten, was ihres Lebens einziger Reichtum, ihres Willens einzige Triebkraft war: den religiöſen Glauben des Sozialismus. In ihr lebte die Urkraft der Be⸗ wegung, die nur Freunde und Feinde kannte, die kämpfen wollte, aber nicht paktieren, die im Eroberungskrieg das Leben jedes einzelnen zu opfern bereit war, nicht aber die Hoffnung auf raſchen Sieg. Ein alter Mann ſaß neben mir. Er war müde ge⸗ kommen; jetzt glänzten ſeine Augen, ſeine Wangen glühten, ſein gebeugter Rücken richtete ſich auf. An einem Tiſche nicht weit davon ſah ich eine Gruppe junger Arbeiter; ſie trommelten mit den breiten Fäuſten auf den Tiſch, und Haß und Luſt und barbariſche Kampf⸗ begier leuchtete aus ihren Zügen. Unter dem Spiegel an der Wand lehnten umſchlungen ein paar ſchwarz⸗ haarige Studentinnen; aus ihren Blicken ſprach jene Schwärmerei, die Hirtenmädchen zu Heldinnen macht. Auch ich war erſchüttert; was mein Verſtand, mir ſelbſt zum Trotz, Stein um Stein aufgerichtet hatte, das drohten die Pfeile von der Rednertribüne zu zerſtören. Aber dann vernahm ich ſchrille, falſche Töne, für die nur mein Gehör fein genug ſchien: die Rednerin ver⸗ höhnte die Kraft ethiſcher Motive als einen in Rech⸗ nung zu ſtellenden Motor in der revolutionären Be⸗ wegung. Sie überſchüttete mit Spott jene „bürgerlichen Intelligenzen“, die mit der „Gerechtigkeitsidee“ ins weite 201 Meer geſteuert und mit gebrochenen Maſten in den Hafen der Entſagung zurückgekehrt ſind. „Nur der aus ſeinen Klaſſenintereſſen entſtehende Klaſſenkampf des Proleta⸗ riats wird dem Sozialismus die Welt erobern.“ Welche Motive hatten denn die Marx und Engels, die Laſſalle, die Liebknecht auf die Seite der Enterbten getrieben? Waren ſie nicht „bürgerliche Intelligenzen“ geweſen, wie Wanda Orbin ſelbſt? Mit frenetiſchem Beifall nahm das Volk ihren Kniefall vor ſeiner Majeſtät ent⸗ gegen, während mir die Schamröte in die Schläfen ſtieg. Als ſie dann mit einer Stimme, die nur noch ein Kreiſchen war, weil nicht mehr das Feuer der Be⸗ geiſterung, ſondern weibiſche Rachſucht ſie belebte, in den Saal hinausſchrie: „Wenn die Gegenſätze ſo ſchrof zutage treten, wie zwiſchen der Maſſe der Genoſſen und den Bernſtein, den Heine, den David, den Schippel, ſo iſt eine reinliche Scheidung beſſer als ein fauler Friede,“ und die Zuhörer trampelnd und johlend Beifall klatſchten, da wußte ich, daß die Partei der Freiheit Scheiterhaufen zu ſchichten imſtande ſein würde. Still davon zu gehen, nachdem die Verſammlung ge⸗ ſchloſſen worden war, wäre gewiß am klügſten geweſen. Der Wirbelſturm meiner Gefühle, der ſich aus Bewun⸗ derung und Empörung, aus Schüchternheit und Angſt zuſammenſetzte, hatte mich gehindert, in der Diskuſſion zu ſprechen, jetzt aber kochte mir das Blut; ich wollte nicht feige erſcheinen, ich mußte mit Wanda Orbin ſprechen, die mich noch immer für ein Glied ihrer Ge⸗ folgſchaft hielt. Sie kam meinem Wunſch entgegen. Wir gingen noch in ein Kaffee, und ſchon auf dem Wege dahin ſprach ſie mich an: „Sie waren gegen mein Re⸗ 19* 202 ferat, hörte ich?“ „Ja, und ich bin es nachträglich noch mehr, als vorher,“ antwortete ich. „Das iſt ja ſehr intereſſant,“ meinte ſie ſpitz und wandte ſich von mir ab. Ich war den Reſt des Abends Luft für ſie. Wir verabſchiedeten uns mit einer kühlen Verbeu⸗ gung, und während ſie, umringt von den Genoſſinnen, ihrem Abſteigequartier entgegenging, fuhr ich allein nach Hauſe. Ich kämpfte mit den Tränen. In dem engen Kreiſe der Arbeiterinnenbewegung Wanda Orbin als Gegnerin gegenüberzuſtehen, das bedeutete entweder mein Ausſcheiden aus ihm oder einen endloſen aufreibenden Kampf. Spät in der Racht kam ich nach Hauſe. Hier draußen im Grunewald bedeckte eine feſte Schneedecke Straßen und Gärten, tiefſchwarz ſtiegen die Kiefern aus ihrer hellen Weiße empor; ihre dünnen, dürftigen Wipfel verloren ſich im Rebel. Ich fürchtete mich. Nacht und Dunkelheit waren meine ſchlimmſten Feinde. Dann ſah ich, wie in meiner Kind⸗ heit, drohende Geſtalten hinter Baum und Buſch, und hörte die Tritte Unſichtbarer hinter mir. Ich lief. Auf dem kleinen Platz wenige Schritte vor unſerem Garten blieb ich ſtehen. Der Atem wollte verſagen. Ich ſah hinüber: Grau, düſter, als wäre es ſelbſt nur ein Gebilde des Rebels, ſchlief unſer Haus zwiſchen den ſchwarzen Stämmen, die es umſtanden wie lauernde Wächter. Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken: wir hatten hier noch keinen frohen Tag gehabt. Der Kleine 203 ſchlief ſchlecht, — der Kiefernduft rege ihn auf, meinte der Arzt, — er war oft krank geweſen. Und zwiſchen mir und meinem Mann richteten die Sorgen ſich auf, immer höher und höher, wie eine trennende Mauer, in die die Kraft unſerer Liebe nur hie und da Breſche ſchlug. Wir trugen unſere Qualen allein, — aus Rück⸗ ſicht; wir hüllten unſere Seelen in den dunkeln Mantel des Schweigens, damit der Anblick ihrer Rot nicht den anderen verletze. Daß einer den anderen überhaupt nicht mehr ſehen konnte, blieb uns verborgen. Unaus⸗ geſprochene Vorwürfe wirkten auf unſere Gefühle wie früher Froſt auf entfaltete Roſen. Uralte Vorurteile, Traditionen, deren triebkräftige Wurzeln den Boden um⸗ klammern, wenn auch der Baum gefällt iſt, nährten ſie. Unter der Schwelle des Bewußtſeins lebte in mir, der Emanzipatorin ihres Geſchlechts, die Vorſtellung: daß der Mann, dem das Weib ſich anvertraute, wie ein Schutzengel über ihrem Leben ſtehen müſſe, daß er verpflichtet ſei, ſie vor Sorgen zu hüten. Statt deſſen hatte der meine — der Vorwurf wühlte in mir — ſie über mich heraufbeſchworen! Und in dem Grunde der Seele des Mannes, der aus eigener Überzeugung meine Berufsarbeit förderte, lebte der Gedanke: daß die Frau das Reich des Hauſes zu regieren habe, daß ihr die Pflicht obliege, durch ihr Wirken die Rot von ſeiner Schwelle zu bannen. Statt deſſen verſtand die ſeine nichts von alledem, und nur zu oft las ich in ſeinen ſprechenden Zügen den Vorwurf: Du — du biſt ſchuld. Ein Licht, das im Erdgeſchoß, wo die Köchin ſchlief, aufflammte, riß mich aus meinem Sinnen. Ich eilte 204 der Gartenpforte zu. Da öffnete ſich die Türe zum Kücheneingang, — „auf morgen!“ hörte ich flüſtern, ein Mann trat heraus, kletterte gewandt über den Zaun und ging, vor ſich hinträllernd, die Straße hinab. Das Licht im Mädchenzimmer erloſch. Ich ſchlich hinauf. Mein Mann ſchlief feſt. Wie ich ihn ſchon um dieſen Schlaf beneidet hatte! Ihn ſuchte er auf, ich mußte ihn mir erſt erzwingen! Heute wollte er ſich überhaupt nicht feſthalten laſſen. Der Gedanke, daß ich morgen die Minna ſchelten mußte, peinigte mich: dadurch, daß ich ihre Arbeitskraft in An⸗ ſpruch nahm, hatte ich doch noch kein Recht über ihre Perſon. Wie durfte ich verlangen, daß ſie mir ihre Liebe opfern ſollte? Und doch würde vermutlich die Konſequenz meiner Nachſicht nichts anderes ſein, als daß ſie ihren Liebhaber mit ernährte. Eine gute Haus⸗ frau nimmt alle Schlüſſel an ſich, — die des Hauſes wie die der Speiſekammer. Ich vermochte es nicht Konnte ich einen fremden Menſchen einſperren, wie einen Sklaven? Vor einer Hausgenoſſin alles ver⸗ ſchließen, als hielte ich ſie von vornherein für eine Diebin? Wieder rollte ſich durch einen geringfügigen Anlaß ein ganzes Problem vor mir auf. Ich grübelte ihm nach, über die kleinen Röte meiner eigenen vier Wände hinaus, und fand keine andere Löſung als die radikalſte: Vernichtung des patriarchaliſchen Haushalts, Entwicklung des Dienſtmädchens, das unter ſtändiger Kontrolle ſteht, das Tag und Racht dienſtbereit ſein ſoll, zur freien Arbeiterin, die ſtundenweiſe beſchäftigt und entlohnt wird. Mit dem grauenden Tage kehrte ich wieder zu mir 205 ſelbſt zurück. Die nächſte Zeit ſtellte ſtarke Anforde⸗ rungen an mich: der Feldzug gegen den Zuchthauskurs ſollte auf der ganzen Linie eröffnet werden, — ich würde häufig abends fort ſein müſſen. Wenn ich doch irgend jemand hätte, der mich im Hauſe vertreten könnte Aber die guten Hausgeiſter der Vergangenheit, — all die unbeſchäftigten Tanten und Couſinen waren ausge⸗ ſtorben, hatten ſich in ſelbſtändige Berufsarbeiterinnen verwandelt. Und meine Mutter?! Gleich nach des Vaters Tod hatte ſie ihren Haushalt aufgelöſt und war zu Erdmanns gezogen. Eine Lungenentzündung hatte Ilſe aufs Krankenlager geworfen, die Mutter war Pflegerin und Haushälterin zugleich geweſen. Durfte ich ſie jetzt, wo ſie ſelbſt der Erholung bedürftig war, für mich in Anſpruch nehmen? Sie beſuchte uns am nächſten Tag. Ottochen lief ihr entgegen. Er ſuchte immer noch den „Apapa“ und weinte, wenn er nicht mitkam. Wie leicht, wie elaſtiſch der Gang der Mutter iſt, dachte ich erſtaunt, als ich ſie näher kommen ſah. Mir wär, als wäre ſie ſonſt ſchwer und hart aufgetreten. Ihre Wangen waren gerötet, der bittere Zug um ihren Mund wie weggewiſcht, die ſchmalen, blaſſen, zuſammen⸗ gepreßten Lippen wölbten ſich plötzlich, wie von jungem Blut durchglüht. „Run kann ich reiſen!“ ſagte ſie mit einem Auf⸗ leuchten in den Augen. „Meine Pflicht Erdmanns gegenüber iſt erfüllt, — ſie wollen ſelbſt ſo raſch als 206 möglich auf See, um ihre Lungen auszuheilen; da bin ich frei —,“ ſie dehnte dies letzte Wort, als müßte ſie es ganz auskoſten. Rach Italien wollte ſie zuerſt. Sie erzählte von einem ganzen Stoß kunſthiſtoriſcher Bücher, die ſie mit⸗ nehmen wollte. „Ich bin nie zum Leſen gekommen, meinte ſie; „wie viel hab' ich verſäumt, wie viel kann ich nachholen!“ Ich ſah ſie verwundert an, wie eine Fremde: hatte ſie mich nicht ſo und ſo oft aus der Lektüre heraus⸗ geriſſen, als ich noch daheim war, und mich neben ſich an den Flickkorb gezwungen? Hatte ſie jemals et⸗ was anderes geleſen als die Zeitung und hie und da einen Roman? „Du biſt erſtaunt?“ lächelte ſic „Du wirſt es noch ſelbſt erfahren, wie die Pflicht für andere zu leben uns Frauen faſt bis zur Selbſtvernichtung treiben kann. Ich fand keine Antwort. Wie unglücklich mußte ſie ge⸗ weſen ſein, — und wie unglücklich gemacht haben, da ſie fünfunddreißig Jahre lang nur aus Pflichtgefühl die Ketten der Ehe getragen hatte! „Im nächſten Winter werde ich mich hier in einer Penſion etablieren,“ fuhr ſie fort, „du glaubſt nicht, wie allein der Gedanke mich beruhigt, alle Haushalts⸗ quälerei los zu ſein!“ Und ſie war ſcheinbar in ihrem Haushalt aufgegangen! „Was geſchieht aber dann mit den Möbeln?“ fragte ich, um nur irgend etwas zu ſagen. „Ich habe heute das letzte verkauft — —“ „Verkauft?!“ Ich ſtarrte ſie entgeiſtert an. Wie?! Ohne uns, ihren Kindern, auch nur eine Mitteilung da⸗ 297 von zu machen, hatte ſie all die hundert lieben Dinge, die ein Stück Heimat für mich geweſen waren, acht⸗ los in alle Winde verſtreut?! Des Vaters Schreib⸗ tiſch mit den geſchnitzten Eulen, — den alten Stuhl davor, — die Reiterpiſtole! Ich ſtrich mir mecha⸗ niſch mit der Hand über die heiße Stirn, um den böſen Traum zu verſcheuchen, — denn es war doch nur ein Traum! „Auch die grünen Lehnſeſſel — und das alte Sofa, das in meinem Zimmer ſtand?“ murmelte ich. „Gewiß!“ antwortete ſie mit heller Stimme, aus der der ſcharfe oſtpreußiſche Akzent mehr als ſonſt hervor⸗ trat. „Ihr alle habt, was ihr braucht, — das Gerümpel hätte kaum noch einen Umzug ausgehalten; — nur Silber, Glas und Horzellan ließ ich bei Ilſe auf den Boden ſtellen. Ich habe lang genug all dies Schwergewicht mit mir gezogen.“ Mir ſchoß das Blut in die Schläfen: So ſtrich ſie Jahrzehnte ihres Lebens aus und mit ihnen die Erinne⸗ rung! Schon hatte ich bittere Worte auf der Zunge. Ich hob den Blick: Der Ausdruck ihrer Züge entwaffnete mich. Mir war, als ſähe ich plötzlich bis zum Grunde ihres Herzens. Dem Götzen der Pflicht hatte ſie ihr Leben geopfert und wußte nun nicht einmal, wie groß ihre Sünde geweſen war. Jetzt erſt trat ſie aus dem Dämmerdunkel ſeines Tempels ans Tageslicht und grüßte es, als ſähe ſie es zum erſtenmal. Arme Mutter! Keinen Strahl deiner ſchon leiſe ſinkenden Sonne will ich dir verdunkeln, dachte ich, und bat ihr im ſtillen ab, was ich an heimlichem Groll gegen ſie im Herzen getragen hatte. Als ich ſie zum Abſchied küßte, liebte 298 ich ſie, — mit jener mitleidigen Liebe, die eine einzige Trennung iſt. Es war gut, daß ſie ging, — für ſie und für mich. Der Glaube, daß ihre Kinder keine materiellen Sorgen hatten, gehörte zu dem Glücksgefühl, mit dem ſie die ſpäte Freiheit genoß. Hätte ich ſie zurückgehalten, ihr in meine Häuslichkeit Einblick gewährt, er wäre doch erſchüttert worden. Ich mußte ſelbſt mit mir und den Verhältniſſen fertig werden. Eine Villa im Grunewald, —“ wie oft hörte ich in den Kreiſen der Parteigenoſſen mit einem miß⸗ trauiſch⸗hohnvollen Blick aufmich dieſe vier Worte flüſtern. Sie wußten nicht, daß uns kein Stein von ihr ge⸗ hörte, daß ſie aber mit dem Gewicht aller ihrer Steine auf uns laſtete. Die Zinſen, die wir zu zahlen hatten, waren ſchließlich doch höher, als die Miete geweſen; Haus und Garten erforderten mehr Arbeitskräfte, als die kleine Etagenwohnung, und das Leben hier draußen war auf Rentiers und Millionäre zugeſchnitten, die den Grunewald allmählich bevölkert hatten. Roch mehr als früher war jeder Erſte des Monats ein Schreckenstag für mich. Und wenn ich am Schreibtiſch ſaß und meine Gedanken auf das Buch, an dem ich arbeitete, konzen⸗ trieren wollte, kamen die Sorgen grinſend aus allen Winkeln gekrochen und bohrten ihre Knochenfinger in mein Gehirn und zerdrückten meine Gedanken zwiſchen ihnen. Dann lief ich zu meinem Sohn hinauf oder ſpielte im Garten mit ihm, — denn über ſeinen Zauber⸗ kreis wagten ſich die grauen Geſpenſter nicht. 299 Wie hatte die Mutter geſagt, als ſie mit jungen Augen von ihrer Freiheit ſprach? „Lang genug hab ich dieſes Schwergewicht mit mir gezogen — —“ Ein Schwergewicht, — eine Kette am Fuß, — ſo empfand ich auf einmal das Haus, in dem ich wohnte. Flügel⸗ los machte es mich und — alt, alt! Du haſt Falten um Mund und Raſe, ſagte mein Spiegel, Falten, und trübe Schleier über den Pu⸗ pillen wie all jene Frauen, denen der jämmerliche Kleinkram des Lebens die Seele zertritt. Ich aber will nicht alt ſein, ſchrie es in mir; noch brauſt und ſchäumt der Strom der Jugend in meinem Innern, der ſtarke Strom, der Felſen höhlt und Rieſen des Waldes entwurzelt, und den die Ehe in ihre gemauer⸗ ten Kanäle zwang. „Heinz, hab' einmal Zeit für mich,“ ſagte ich eines Abends. Wir ſaßen faſt immer bis zum Schlafengehen arbeitend an unſerem Schreibtiſch. Gemeinſame Abende gab's für uns nicht. Ich hatte unter dieſem Mangel im Beginn unſerer Ehe ſchwer genug gelitten. Er ſah von ſeiner Lektüre auf; ein helles Licht huſchte über ſeine Züge. „Immer, mein Schatz — nur leider ver⸗ langſt du nie danach.“ „Ich weiß, du haſt es ſehr gut gemeint,“ begann ich ſtockend, „du haſt nur meinen Wunſch erfüllen wollen, als du dieſes Haus für uns bauteſt. Keiner von uns hat vorher gewußt, daß — daß es eine unerträgliche Laſt für uns ſein würde — —“ „Aber, Alix, du kommſt auf dieſen vernünftigen Ge⸗ danken, du?!“ unterbrach er mich. „Du könnteſt — du wollteſt —2!“ 300 „Das Haus verkaufen, — ja! Tauſendmal lieber, als in dieſer Angſt weiterleben —“ Mir ſtürzten die Tränen aus den Augen, trotz aller Selbſtbeherrſchung. Heinrich gehörte zu den wenigen Männern, die durch Frauentränen nicht weicher, ſondern härter werden. „Wo⸗ zu die Tragik,“ ſagte er ärgerlich. „Wenn du einſiehſt, was mir längſt klar iſt: daß wir über unſere Verhält⸗ niſſe leben, ſo ſind wir einig, und die Konſequenzen ſind ſelbſtverſtändlich.“ Meine Tränen floſſen nur noch ſtärker; ich hatte un⸗ willkürlich ſo etwas wie ein Lob für meinen Opfermut erwartet. Erſt allmählich kam ich zur Ruhe. Wir ſaßen aneinandergeſchmiegt wie in den erſten Zeiten unſerer Ehe auf dem pfauenblauen Sofa und ſpannen neue Zukunftsträume, als wäre durch unſeren bloßen Entſchluß ſchon die Bahn für ſie frei. Wochen und Monde vergingen. Riemand fragte nach unſerem Haus. Indeſſen zog mit blauem Himmel und heißer Sonne der Sommer ein, und auch unter den Kiefern lachten und dufteten Roſen, Relken und Lilien. Grüne Ranken kletterten übermütig an den grauen Wänden empor, vor allen Fenſtern nickten rote Geranien. Und mitten in all der Pracht blühte mein Kind. Es ſpielte den ganzen Tag im Grünen, jeder Buſch wurde ihm ein lebendiger Gefährte. Und wenn es droben im Giebel⸗ ſtübchen hinter den Blumenbrettern ſchlief, dann ſaßen wir noch lange auf der Altane und atmeten den wür⸗ zigen Duft der Nacht und genoſſen der zauberiſchen 301 Ruhe des Waldes. Ich fing an, dies Stückchen Erde zu lieben: es hatte meinem Sohn eine Heimat werden ſollen. Ich trennte mich immer ſchwerer von dem ſtillen Winkel. Richts iſt gefährlicher für den Altruismus, als die mit Egoismusbazillen gefüllte Luft häuslicher Gemüt⸗ lichkeit. Rur die ganz Starken, Widerſtandsfähigen ent⸗ ziehen ſich der Anſteckung. Die Vorkämpfer der Menſchheit waren faſt immer die Heimatloſen. Aber auch meine Körperkräfte hinderten mich oft an der agitatoriſchen Tätigkeit. War ich genötigt, ein paar Abende hintereinander zu ſprechen, ſo verſagte meine Stimme. „Sie dürfen ſich niemals in Rauch und Staub aufhalten,“ ſagte dann der Arzt und verordnete mir Schweigen und friſche Luft. Meine robuſten Genoſſinnen, für die die Atmoſphäre der Verſammlungsſäle nicht ſchlechter war als die ihrer engen Stuben, ihrer über⸗ füllten Werkſtätten und Fabrikräume, hielten mich für ſchulkrank und mißtrauten mir mehr noch als früher. Wir hatten im Winter einen Arbeiterinnen⸗ bildungsverein gegründet, — einen Rot⸗ behelf, da das Geſetz den Frauen die Teil⸗ nahme an politiſchen Organiſationen unterſagte und ſeine Handhabung den Arbeiterinnen gegenüber beſon⸗ ders ſtreng war. Er wurde aber raſch zum Selbſt⸗ zweck; die Frauen hatten ein lebhaftes Bedürfnis nach geiſtiger Aufklärung aller Art, und es war für mich eine Erfriſchung, ſeinen Zuſammenkünften beizuwohnen. 302 Zwei Abende war ſchon über Erziehung geſprochen wor⸗ den, und die Debatte bewies, mit wie viel Ernſt, mit wie viel Eifer dieſe armen Arbeiterfrauen ihre Auf⸗ gabe als Mütter erfaßten. Diesmal hatte ich Romberg genötigt, mitzukommen. Er war in bezug auf die geiſtige Entwickelungs⸗ möglichkeit der Frauen ſehr ſkeptiſch, und ſo ſehr er aus rein ökonomiſchen Gründen die Frauenbewegung für notwendig anerkannte, ſo war ſie ihm doch nur eine traurige Notwendigkeit; was ſie erſtrebte, er⸗ ſchien ihm nicht als Fortſchritt, ſondern nur als einc unausbleibliche beklagenswerte Wandelung. Den Bil⸗ dungshunger der „Waſchfrauen und Näherinnen“ hielt er nun gar für eine meiner unverzeihlichen Illuſionen. Ich wollte ihm einmal ſtatt Gründe Beweiſe liefern. Und allmählich ſchien er wirklich erſtaunt. Eine kleine, adrett gekleidete Frau ſtand jetzt auf dem Podium. „Mein Mann iſt Maſchinenſchloſſer,“ ſagte ſie, „wir haben nur zwei Kinder und ſoweit unſer Auskommen, ſo daß ich nicht mit zu verdienen brauchte. Aber unſer Junge iſt ein heller Kopf. Da hab' ich mir geſagt: Der ſoll was Beſſeres werden als ſeine Eltern, der ſoll auch mal wiſſen, wie ſchön und wie reich die Welt iſt, und nicht, wie wir, bloß durch ſo'n ſchmales Guckloch ein Endchen von ihr zu ſehen kriegen. Und nun gehe ich wieder in die Fabrik, und der Fritze geht dafür aufs Gymnaſium. Ich will mich nicht rühmen, daß ich's tu“, ich möcht' nur jeder raten, es ebenſo zu machen.“ In jener Impulſivität, die ich ſo ſehr an meinem Mann liebte, ſtand er auf, um der tapferen kleinen 303 Frau, die wieder ihrem Platz zuſchritt, die Hand zu drücken. Romberg dagegen ſagte: „Meinen Sie, daß der „Fritze“ als Geiſtesproletarier glücklicher ſein wird!?“ „Auf das Glück kommt es nicht an, ſondern auf den Grad der ſozialen Leiſtung, und die wird größer ſein, wenn ſeine Begabung zu ihrem Rechte kommt, antwortete ich raſch. Ein junges Mädchen trat an unſeren Tiſch. „Ge⸗ noſſin Brandt?“ forſchend ſah ſie mich an. — „Die bin ich.“ — „Ich wollte Sie nur mal was fragen. Ich bin nämlich Dienſtmädchen geweſen und habe eine Freundin, die noch Köchin is, und die hat mich neulich in den Dienerverein mitgenommen, wo ſie jetzt wollen auch die Mädchens aufnehmen. Sie ſchimpfen aber dort alle gegen die Sozialen, und da wollt ich gern mal wiſſen, ob Sie nich mal könnten hinkommen „Sie werden doch nicht!“ flüſterte mir Romberg zu. „Verpflichte dich zu nichts,“ ſagte mein Mann leiſe. „ Selbſtverſtändlich komme ich,“ entgegnete ich der zaghaft vor mir Stehenden; ihr Geſicht erhellte ſich; wir verabredeten alles weitere. Beim Heimweg ſchalt mein Mann: „Du läßt dich von jeder beſchwatzen, und alle ſpekulieren ſchließlich auf deine Gutmütigkeit.“ „Wenn dieſe kleine Begegnung zu einer Dienſtboten⸗ bewegung den Anlaß gibt, ſo wirſt du anders denken.“ „Mir tut es in der Seele weh, wenn ich Sie in der Geſellſchaft ſeh,“ meinte Romberg. Er ſah mich mit einem Blick an, der mich erröten machte. Wie töricht, — dachte ich gleich darauf, zornig über die eigene Schwäche, und doch blieb ich den ganzen Abend 304 über im Bann jener Frauenfreude, die belebend wirkt wie prickelnder Champagner: der Freude an der Be⸗ wunderung. Alix von Kleve ſtieg aus der Verſenkung ernſter Jahre empor und ſonnte ſich an altvertrauten Triumphen. In meinen Verkehr mit Romberg trat ein neuer Reiz: er ließ es mich fühlen, daß das Weib in mir ihn anzog und nicht nur die neutral⸗intereſſante Perſönlichkeit. Es gibt Frauen, die angeſichts ſolcher Erfahrung die Beleidigten ſpielen. Sie lügen. „Ich drehe dir den Hals um, wenn du dir von Romberg die Kur machen läßt,“ grollte Heinrich, als wir zu Hauſe waren, zwiſchen Scherz und Ernſt. Ich flog ihm in die Arme. „Haſt du mich wirklich ſo lieb? lachte ich. Er zog mich ſtürmiſch an ſich: „Dich, dich hab' ich lieb,“ flüſterte er leidenſchaftlich, „das ſüße Katzel, — meinen Schatz; — die berühmte Frau kann mir geſtohlen werden . . . In der erſten Morgenfrühe weckte mich ein wilder Schrei. „Aus Minnas Stube,“ — ſagte ich mir und ſtürzte hinunter. Sie lag in ihrem Blut, und als der Arzt kam, ſchwand mein letzter Zweifel: ſie hatte gewaltſam die Folgen ihres Liebesverhältniſſes beſeitigen wollen. An ihrem Krankenbett ſtudierte ich die Dienſtboten⸗ frage. Sie faßte Vertrauen zu mir. Ich erfuhr von dieſem armen Leben, das von Kindheit an unter frem⸗ den Leuten in ſtändiger Unfreiheit, in ununterbrochener Dienſtbarkeit verfloſſen war. „Was muß unſereiner doch auch haben, — was fürs Herz. Und wenn ich 305 nicht getan hätte, was er wollte, — dann wär' er fort⸗ gegangen, — dann hätte er zehn für eine gefunden,“ ſchluchzte ſie. „Warum heirateten Sie nicht?“ wagte ich einmal einzuwenden. „Heiraten?! Womit denn?! — Arbeit hat mein Franz keine, — meine paar Spargroſchen gab ich ihm, — und vor ſo einer Jammerwirtſchaft in einem Loch auf'n Hof mit'n halb Dutzend Göhren grauſt's mich . .“ Sie wurde von Tag zu Tag elender. Ihr Franz fragte nur einmal nach ihr. Als er hörte, daß ſie krank ſei, kam er nicht wieder. Ich mußte ſie ſchließlich der ſchweren Pflege wegen, die ihr Zu⸗ ſtand nötig machte, ins Krankenhaus bringen. Dort ſtarb ſie. Wir wollen die Harmonie zwiſchen Dienſt⸗ boten und Herrſchaften wiederherſtellen . . .,“ — „die Dienſtboten allein können nichts er⸗ reichen, es gehören auch die Herrſchaften dazu . . ., — „den Arbeitern fehlt es heute an tüchtigen Hausfrauen, weil die Mädchen lieber in die Fabrik als in Stellung gehen, wo ſie ſich dazu vorbereiten könnten . . .“ Das waren die Leitmotive, unter denen die Verſammlungen tagten, die der Dienerverein veranſtaltete. Die wenigen weiblichen Dienſtboten, die ihm ſchon angehörten, ſchlugen zwar zuweilen eine ſchärfere Tonart an, wenn die Er⸗ innerung an all die erlittene Unbill ſie überwältigte, aber ſie trugen ſchwarzweiße Kokarden und verwahrten ſich nachdrücklich dagegen, mit der Arbeiterbewegung irgend etwas gemeinſam zu haben. Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 20 306 Ich verhielt mich während der erſten Verſammlungen nur als Zuhörerin und erkannte bald, daß es dem Ver⸗ ein an Mitteln und Mitgliedern fehlte und er offen⸗ bar nichts wollte, als durch Hinzuziehung weiblicher Dienſtboten dieſem Übel abzuhelfen. Im Grunde fürch⸗ tete er ſchon, die Geiſter, die er gerufen, nicht los zu werden, denn ſobald ein Mädchen ihre Erfahrungen gar zu rückhaltlos zum beſten gab, trat irgendein Be⸗ ſchwichtigungsapoſtel ihr entgegen. „Ich ſtelle den Antrag, daß wir uns der entſtehenden Dienſtbotenbewegung mit allem Rachdruck annehmen, ſagte ich, als ich wieder einmal mit den Genoſſinnen zuſammenkam; „in jeder Verſammlung müſſen einige von uns anweſend ſein. Wir dürfen die Gelegenheit nicht vorübergehen laſſen, um dieſe rechtloſeſten unter den Arbeiterinnen zum Bewußtſein ihrer Klaſſe zu er⸗ ziehen. Wir müſſen ſo bald als möglich eine ſelb⸗ ſtändige Organiſation gründen, damit ſie dadurch dem Einfluß dieſes grundſatzloſen Vereins nicht unterworfen bleiben.“ Aber je lebhafter ich ſprach, deſto kühler und zurück⸗ haltender waren die anderen. „Genoſſin Brandt ſcheint nicht zu wiſſen, daß die Dienſtboten kein Koali⸗ tionsrecht beſitzen —,“ meinte Martha Bartels naſe⸗ rümpfend. „Gerade weil ich das weiß, empfinde ich um ſo mehr unſere Verpflichtung, ihnen zu helfen, ihnen das Rück⸗ grat zu ſtärken,“ entgegnete ich heftig. „Die Dienſtmädchen ſind noch längſt nicht reif für unſere Bewegung, — überlaſſen wir ſie ruhig ſich ſelbſt, ſagte eine andere. 307 „Damit ſie den Rationalſozialen in die Hände fallen, die ihre Retze auslegen, wo immer ſie einen Proletarier⸗ maſſenfang erwarten dürfen,“ antwortete ich, und unter⸗ drückte noch raſch eine Bemerkung über die Schädlichkeit dieſes fataliſtiſchen Glaubens an die Alleinſeligmachung der ökonomiſchen Entwicklung, der uns in geeigneten Momenten die Hände in den Schoß legen läßt. „So werde ich denn allein mein Heil verſuchen,“ er⸗ klärte ich ſchließlich, als mein Antrag abgelehnt wurde, und verließ die Sitzung. Von nun an fehlte ich in keiner Dienſtbotenverſamm⸗ lung. Mit bunten Sommerhüten und hellen Bluſen füllten die während der Reiſezeit der „Herrſchaften“ dienſtfreien Mädchen die glutheißen Säle. Zuerſt kamen nur die Gutgeſtellten, die Jungen, die Handſchuhe trugen und zuweilen vornehmer ausſahen wie ihre „Gnädigen“. Sie betrachteten die Sache faſt wie eine Ferienluſtbarkeit und kokettierten mit den Män⸗ nern, die hier auf Abenteuer ausgingen. Aber all⸗ mählich überwogen die älteren, die von zehn und zwan⸗ zig und dreißig Dienſtjahren erzählen konnten, und die Armen, die Mädchen für Alles waren, auf deren ſchmale Schultern die gut bürgerliche Hausfrau die Laſten des Lebens abzuwälzen ſucht. Und ihre Klagen wurden lauter, ihre Worte deutlicher; das Kichern und Lachen verſtummte vor den Bildern des Grams, die ſich enthüllten. Es gab welche, die ihre Kolleginnen um den bunkeln Hängeboden über der Küche beneideten, weil ſie nichts hatten als ein Schrankbett auf dem offenen Flur oder eine Matratze im Baderaum: „Dabei wird unſere gute 20* 308 Stube nur zweimal im Jahre für die große Geſellſchaft geöffnet . . . Ach, und die ſchmale Koſt bei der harten Arbeit: „Eine Stulle mit Schweineſchmalz am Abend, — wäh⸗ rend der Herr drinnen Rotwein trinkt zu fünf Mark die Flaſche . . . Vor allem aber: „Nie ein Stündchen freie Zeit . .. Wir ſchrubbern und kochen, während die Herrſchaft ſpazieren geht, . . . wir hüten die Kinder, während ſie tanzen . . . Dazwiſchen ſchüchterne Bitten der Ängſtlichen und Gutmütigen: „Rur ein wenig geregelte Arbeitszeit, — und freundliche Worte ſtatt des ewigen Zanks, — dann wollen wir gern dienen, wollen treu und fleißig ſein.“ Sie waren wie aufgeſcheuchte Vögel, die ohne Rich⸗ tung hin⸗ und herflattern. Als ich zum erſtenmal vor ihnen zu reden begann, hielten ſie mich für eine „Gnä⸗ dige“. „Ru aber jeht's los!“ rief kampfluſtig eine rund⸗ liche Köchin. Alles lachte. Ich ſprach von den Geſinde⸗ ordnungen, den Ausnahmegeſetzen für die Dienſtboten, die ſie den Dienſtgebern faſt rechtlos in die Hände liefern, von der erlaubten „leichten“ körperlichen Züch⸗ tigung, von den vielen Gründen zur Entlaſſung ohne Kündigung und ſchließlich von einer jener Schöpfungen der preußiſchen Reaktion, die den Streik der Dienſtboten mit Gefängnis beſtraft. Roch hörte man mir ruhig zu, unſicher, was ich aus den Tatſachen folgern würde. Rur der Vorſitzende, der ſtets aus eigener Machtvoll⸗ kommenheit „das Hausrecht übernahm“, ſah beunruhigt zu mir auf. 309 „Für Sie iſt demnach die Zuchthausvorlage, die Deutſch⸗ lands geſamte Arbeiterſchaft knebeln will, immer Geſetz geweſen,“ rief ich laut. „Eine Sozialdemokratin!“ kreiſchte neben mir eine Frau in hellem Entſetzen. Ein unbeſchreiblicher Lärm erhob ſich; auf die Tiſche ſprangen die Mädchen in hyſteriſcher Erregung, ſchrieen und winkten mit den Taſchentüchern; eine von ihnen drängte ſich neben mich, ballte die Fäuſte und rief ſchluchzend: „Wir ſind königs⸗ treu! Wir ſind gottesfürchtig!“ Hilflos, mit angſt⸗ gerötetem Geſicht ſchwang der Vorſitzende unaufhörlich die Glocke. Aber in der nächſten Verſammlung erwar⸗ teten mich ſchon ein paar Mädchen an der Türe: „Sie werden ſprechen, nicht wahr? — Wir werden Ihnen Ruhe verſchaffen!“ Und im überfüllten Saal waren außer den Dienſtboten: Reugierige, Hausfrauen, bürgerliche Frauenrechtlerinnen, Journaliſten mit der frohen Erwartung einer in mög⸗ lichſt vielen Zeilen zu beſchreibenden Senſation. Auch ein paar Genoſſinnen entdeckte ich: Ida Wiemer und Marie Wengs. „Wir greifen ein, wenn's not tut, ſagten ſie, „nur tapfer!“ Bis um Mitternacht ließ mich der Vorſitzende nicht zu Worte kommen. Ich ging im Saal umher, von Tiſch zu Tiſch. „Das iſt Recht und Freiheit im Dienerverein,“ ſagte ich. Jemand rief: „Alix Brandt ſoll reden!“ und der Ruf pflanzte ſich fort und dröhnte ſchließlich durch den Saal. Als ich aber auf dem Podium ſtand, erſtickte ihn ein zorniges Ziſchen; die Kraft meiner Stimme kämpfte dagegen an, und wie ein Unwetter in der Ferne verklang es. „Sie wollen eine Verbeſſerung der Geſindeordnung, 3I0 als ob auf verunkrautetes Feld friſcher Samen geſät werden ſollte. Es gibt nur eine Forderung, die Sie ſtellen dürfen: ihre Abſchaffung, damit Sie den Ar⸗ beitern gleichgeſtellt werden . „Wir ſind keine Arbeiterinnen, — wollen keine ſein! rief ein zierliches Zöfchen mit gebrannten Stirnlocken entrüſtet. „Sie predigen Harmonie zwiſchen Herrſchaft und Dienſtboten, und doch gibt es zwiſchen ihnen ebenſo⸗ wenig eine Intereſſengemeinſchaft wie zwiſchen dem Arbeiter und dem Unternehmer —“ „Unerhört!“ — Ein paar Damen mit hochrotem Geſicht drängten ſich zur Türe. Die Mädchen lach⸗ ten hinter ihnen: „Sie können die Wahrheit nicht ver⸗ tragen!“ „Je mehr Sie Maſchinen ſind, deſto weniger Menſchen ſind Sie und deſto beſſere Dienſtboten im Sinne der Hausfrauen . . . Sie wollen ſtatt der endloſen eine be⸗ ſchränkte Arbeitszeit, Sie tun recht daran. Aber die Maſſe der Hausfrauen iſt nicht in der Lage, ſtatt eines, zwei und drei Mädchen für dieſelbe Arbeit anzuſtellen. Sie wollen ſtatt einer Schlafſtelle ein Zimmer, das ihnen etwas wie ein Zuhauſe ſein kann. Sie tun recht daran. Aber bei der heutigen Einteilungsart der Woh⸗ nungen und ihren hohen Preiſen ſind die meiſten Frauen nicht imſtande, ſie Ihnen zu geben. Sie wollen — laſſen Sie mich ausſprechen, was Sie ſelbſt noch nicht ausgeſprochen haben — Sie wollen mit Ihren Freundinnen verkehren können, Ihren Bräutigam ſehen, ohne auf die Straße, auf die Tanzböden gehen zu müſſen —“ 31I „Unglaublich!“ — Und wieder leerte ſich der Saal um zahlreiche elegante Zuhörer. „Das iſt Ihr gutes Recht. Und wer ſich hier ent⸗ rüſtet gebärdet, den frage ich: was empört ſich in Ihnen? Ihre Sittlichkeit?! Iſt es ſittlich, junge, lebensvolle Mädchen, die auf Freude dasſelbe Recht haben wie die höheren Töchter, denen die Natur das⸗ ſelbe Verlangen nach der Erfüllung ihrer Geſchlechts⸗ beſtimmung verlieh wie dieſen, auf Hintertreppen, auf Schleichwege und zweifelhafte Balllokale anzuweiſen, ſtatt ihnen den Schutz des Hauſes zu verleihen ..? Minutenlanger Beifall unterbrach mich. Dicht um das Podium ſcharten ſich junge Geſtalten und leuchtende Augen hingen an meinen Lippen. „Es iſt vielmehr der natürliche Egoismus, der Inte⸗ reſſengegenſatz der Hausfrauen zu den Dienenden, der auch die Wohlwollenden unter ihnen zwingt, fremden Gäſten ihr Haus zu ſchließen . .. Wir werden für die Gegen⸗ wart eine Reihe von Forderungen an die Geſetzgebung im Intereſſe der Dienenden zu ſtellen haben, deren Er⸗ füllung viele Mißſtände beſeitigen wird. Aber der Dienſt des Hauſes wird nur dann den Charakter des Sklaven⸗ dienſtes verlieren und zur Würde ſelbſtändiger Arbeit ſich entwickeln, wenn das abhängige Dienſtmädchen ſich in die freie Arbeiterin verwandelt hat, die ihre Arbeits⸗ kraft nur ſtundenweiſe verkauft, die imſtande iſt, in Reih und Glied mit dem in der Sozialdemokratie organiſierten Proletariat für ihre letzten Ziele zu kämpfen . .“ Ich ſtieg in den Saal hinunter, umbrauſt von Bei⸗ fallsrufen und Schimpfworten. 312 Von nun an hatte ich die Mehrheit auf meiner Seite. Die Verſammlungen wurden ruhiger, ſachliche Be⸗ ratungen der aufzuſtellenden Forderungen wurden er⸗ möglicht. Der Lärm tobte ſtatt deſſen außerhalb der Säle weiter. Die Preſſe ſchrie nach der Polizei; Haus⸗ frauenverſammlungen nahmen geharniſchte Reſolutionen an, durch die ſich die Anweſenden verpflichteten, ihren Dienſtboten den Beſuch unſerer Zuſammenkünfte zu ver⸗ bieten. Alles war von der Angſt ergriffen, daß mit der Dienſtbotenbewegung die Intimität des Familien⸗ lebens der Sozialdemokratie ausgeliefert ſei. Auf mich, die ich dieſe Gefahr über die ruhigen Bürger herauf⸗ beſchworen hatte, konzentrierte ſich der perſönliche Haß. In allen Tonarten wurde ich beſchimpft und verleumdet. Und ſelbſt nahe Freunde, aufgeklärte, freidenkende Menſchen, ſprachen mir mündlich und ſchriftlich ihre Mißbilligung aus. Die ruhigſten Frauen gerieten da⸗ bei in leidenſchaftliche Erregung. „Der Kanal, in den Sie den Strom der Dienſtboten⸗ bewegung geleitet haben, wird das „traute Familienleben“ überfluten. Was dann?!“ ſchrieb mir Romberg. Meine Mutter erfuhr durch die Zeitungen von den Vorgängen in Berlin. „Immer wieder zerſtörſt Du durch die Maßloſigkeit Deiner Forderungen ihren nütz⸗ lichen Kern und machſt Dir und Deiner Sache die wohl⸗ wollendſten Menſchen zu Feinden,“ hieß es in einem Brief von ihr. Tags darauf folgte ihm ein zweiter, dem ein Schreiben meiner augsburger Tante beigelegt war. „Rach den unerhörten Vorgängen in Berlin bin ich außerſtande, an Alix perſönlich zu ſchreiben. Ich 313 habe ſie bisher immer verteidigt, habe ein Auge zu⸗ gedrückt, wo ich konnte, aber ihre unverantwortliche Aufhetzung der Dienſtboten, — denen es im Grunde nur zu gut geht, — werde ich weder verſtehen, noch verzeihen können. Teile ihr das in meinem Ramen mit und ſage ihr, was vielleicht nicht ohne Eindruck auf ſie bleiben wird, daß auch ihre alten Freunde, die Grainauer Bauern, empört über ſie ſind . ..“ Ich lächelte unwillkürlich: wenn ich von der Unfreiheit des Geſindes ſprach, mußten ſie ſich getroffen fühlen. Aber dann machte ich mir den Ernſt der Sache klar: Ich hatte in Gedanken an das reiche Erbe der Tante nie auch nur einen Bruchteil meiner Überzeugungen preis⸗ gegeben, die Selbſtändigkeit meiner Entſchließungen war nie durch ſie beeinflußt worden. Jetzt aber beſaß ich einen Sohn, deſſen einzige Zukunftsausſicht vielleicht in Frage ſtand, — ſeine Eltern hatten nicht das Zeug da⸗ zu, Kapitaliſten zu werden! — und ich wußte nur zu gut, was es heißt, unter dem Druck ſtändiger Sorgen zu leben, ich ahnte, wie frei ſich ein Menſch entfalten, wie ungehindert er ſeine Kräfte in den Dienſt der All⸗ gemeinheit ſtellen kann, der an das Dach über dem Kopf, an den Rock auf dem Leib und das tägliche Brot keinen ſeiner Gedanken zu verſchwenden braucht. Ich ſchrieb an Tante Klotilde und verſuchte, ihr meine Stellung zur Dienſtbotenfrage auseinanderzuſetzen. Ich bekam meinen Brief uneröffnet zurück. Meiner Mutter teilte ſie mit, daß ſie das Geſchehene vergeſſen wolle, wenn ich nach dieſer Richtung auf meine agitatoriſche Tätigkeit verzichten würde. In jenen Tagen erklärte Wanda Orbin in der „Frei⸗ 314 heit“, daß die Genoſſinnen verpflichtet ſeien, ſich der Dienſtbotenbewegung anzunehmen. Wenn ſie ſchon ohne beſonderen Beſchluß immer häufiger in den Verſamm⸗ lungen erſchienen, ſo war dies das Signal zur Ande⸗ rung ihrer Stellung der ganzen Sache gegenüber. Die Veranſtaltung ſelbſtändiger Verſammlungen wurde be⸗ ſchloſſen, und zur Rednerin wurde ich beſtimmt. Ich zögerte: verletzte ich nicht ein höheres Intereſſe, das meines Sohnes, wenn ich zuſagte? „Lege ihm die Frage vor, wenn er reif genug iſt, ſie zu verſtehen,“ ſagte mein Mann. „Wie er ſie beant⸗ worten wird, kann ich dir jetzt ſchon ſagen: Meine Mutter darf niemandem, auch mir nicht, ihre Über⸗ zeugung opfern.“ Und ich ſprach. Die Empörung in der Öffentlichkeit wuchs mit jeder Verſammlung. Mit einer gewiſſen Oſtentation zogen ſich die Menſchen von mir zurück. Aber die Bewegung war im Fluß und durch nichts mehr aufzuhalten. Wäre ich weiſe genug geweſen, der ſach⸗ liche Erfolg allein hätte mich befriedigt. Aber noch war ich zu jung, war zu ſehr Weib, um den Menſchen und den Ereigniſſen mit der kühlen Objektivität reifer Politiker gegenüberſtehen zu können. Im Grunde ſehnte ich mich nach einem warmen, aufmunternden Wort ſeitens meiner Kampfgefährten, nach ein wenig freund⸗ licher Anerkennung. Statt deſſen begegneten ſie mir ſtets mit gleicher Kühle, mit gleicher Zurückhaltung. Zu keiner einzigen entſtand ein perſönliches Verhältnis; je länger ich mit ihnen arbeitete, deſto fremder ſchien ich ihnen zu werden. „Ich bin aus Liebe zu euch gekommen, mit vollem 315 Herzen und ganzer Kraft,“ hätte ich ſagen mögen, „warum ſtoßt ihr mich zurück? Ich kämpfte oft mit den Tränen, wenn ihr Mißtrauen mir immer wieder begegnete. Und nachher hörte ich, daß man über meinen Hochmut, meine Unnahbarkeit ſchalt. Im ſtillen hoffte ich, man würde mich diesmal zum Harteitag delegieren, aber ich wurde nicht einmal dazu vorgeſchlagen. Martha Bartels ſagte nicht ohne Be⸗ tonung: „Wir bleiben natürlich dem Grundſatz treu, nur bewährte Genoſſinnen mit einer Delegation zu be⸗ trauen.“ Darauf wurde die große, hagere Frau Reſch gewählt; ſie trug ſchon ſeit Jahren unermüdlich Flug⸗ blätter aus, und ihr Mann war eine Größe in der inneren Bewegung. „Was kümmerſt du dich um die Weiber!“ meinte mein Mann ärgerlich, als ich ihm klagte. Und Ignaz Auer, der uns an einem ſchönen Septemberſonntag be⸗ ſuchte, wiederholte dasſelbe. „Glauben Sie mir altem Knaſter,“ meinte er, und ſein ſchönes blaſſes Geſicht nahm jenen rätſelvollen Ausdruck an, der aus Sarkasmus und Melancholie zu⸗ ſammengeſetzt war, „glauben Sie mir: ſolange ich denken kann, war bei den Frauen ſtets derſelbe Kra⸗ kehl, und wenn ich ſchon lange modere, wird's ebenſo ſein. Sie haben alle Untugenden der Unterdrückten in konzentrierteſter Form, und ſchwingt man nicht, wie die Wanda, ſtändig die Knute, ſo hat man verſpielt. Seien Sie verſichert: ſchon Ihr Ausſehen vergeben Ihnen die Weiber nie.“ „Und doch ſind Sie als Sozialdemokrat für die Gleich⸗ berechtigung der Geſchlechter?“ wandte ich ein. Er 316 wehrte ab, mit einer vollendet geformten ſtarken Männer⸗ hand, die aber durch ihre Blutleere an die eines Toten gemahnte. „Ich werd's ja, gottlob, nicht erleben!“ ſagte er. „Nach der Richtung hat die Wanda recht, wenn ſie den Auer mit dem Bernſtein, den Schippel und den Heine in einen Topf wirft: ich bin mehr für die Bewegung als für das Endziel.“ So waren wir wieder bei dem Thema angelangt, in das jede Unter⸗ haltung zwiſchen Parteigenoſſen zu münden pflegte. „Der Parteitag in Hannover wird eine Klärung bringen,“ meinte ich im Laufe der Unterhaltung. „Eine Klärung?!“ Er lachte kurz auf. „Ich muß Genoſſin Bartels wirklich recht geben: Sie ſind noch nicht mandatsfähig! Glauben Sie wirklich, ſo tief⸗ gehende Meinungsverſchiedenheiten, die auf Unterſchieden des Temperamentes, der Urteilskraft, der Bildung und der Lebenslage beruhen, ließen ſich durch bloßes Hand⸗ aufheben entſcheiden?! Wir werden ſie auch mit zehn Parteitagen nicht aus der Welt ſchaffen. Und wieder füge ich hinzu: Gottlob nicht! Cs wäre nur ein Zeichen von Altersſchwäche, wenn wir alle ja ſchrien. Die Hauptſache bleibt die Einigkeit im Handeln. Und um die iſt mir nicht bange, — die zwingen uns unſere Gegner auf.“ „Die Meinungsverſchiedenheiten wären gewiß kein Unglück, wenn nicht die Unduldſamkeit hinzukäme,“ ſagte mein Mann. „Auch die iſt noch nicht das Schlimmſte. Wenn wir die eigene Anſicht für die richtige halten, ſo müſſen wir voch konſequenterweiſe die falſche des Gegners be⸗ kampfen,“ entgegnete Auer. „Nur daß der Anders⸗ 317 denkende immer gleich als ein hundsgemeiner Kerl ge⸗ brandmarkt wird, — das iſt bitter.“ Er verabſchiedete ſich. Er fürchtete ſichtlich, ſich zu Klagen und Anklagen hinreißen zu laſſen. An der Gartentür blieb er ſtehen, ein ſpöttiſches Lächeln kräuſelte ſeine Lippen: „Wenn Sie übrigens ein Mandat haben wollen, Genoſſin Brandt, — ich verſchaff“ es Ihnen. Die liebe Wanda und ihre Leibgarde ein wenig zu ärgern, macht mir Spaß. Sie müſſen ſich nur nachher zur Agitation in dem betreffen⸗ den Kreis verpflichten.“ Ich ſchüttelte den Kopf. Mir widerſtrebte die Sache. „Rimm's an, Alix,“ mahnte mein Mann, „ſo zeigſt du am beſten, daß du von der Gnade der berliner Frauen nicht abhängig biſt.“ „Sie können's tun, — ganz ohne Gewiſſensbiſſe. Sowas haben auch die oberſten Halbgötter nicht verſchmäht. Zögernd ſagte ich zu. Es war mir nicht wohl dabei, ſo ſehr ich auch gewünſcht hatte, einem Parteitag, und vor allem dieſem, beizuwohnen. Kurz ehe wir abreiſten, kam meine Mutter zurück. Sie ſchien um ein Jahrzehnt verjüngt. „Ich bleibe bei dem Kleinen, während ihr fort ſeid,“ ſagte ſie; „das wird mein bedrücktes Gewiſſen etwas erleichtern, — nach dieſen ſelbſtſüchtigen Monaten!“ Wir mußten ihr nun auch von unſerer Abſicht, das Haus zu verkaufen, erzählen. „Das ſtändige Hin⸗ und Herfahren zerrüttet unſere Rerven,“ ſagte ich leichthin, „ich müßte auf die öffentliche Tätigkeit verzichten, wenn wir draußen bleiben wollten.“ Sie ſah von einem zum anderen in ſtummer ſorgen⸗ voller Frage. „Es iſt wirklich ſo, Mamachen —,“ ver⸗ 318 ſicherte ich lächelnd. Sie ſchüttelte faſt unmerklich den Kopf und fragte nichts mehr. Zwiſchen ſchmalen Gaſſen und engen Höfen, fern jenem modernen Teil der Städte, der auch in Hannover ebenſo elegant wie charakterlos iſt, liegt eine große dunkle Halle, der Ballhof genannt. Vor Zeiten warfen hier Kurfürſten, Prinzeſſinnen und Könige einander im graziöſen Spiel ihre Bälle zu, bis mit ſchwerem Schritt und ernſtem Geſicht einer kam, dem Spielen fremd war: der Proletarier. Hellere Räume ſuchten die Fürſten für ihre Freuden; er nahm für ſeine Arbeit, was ſie übrig ließen. die dunkle Halle. Mit friſchem Grün waren ihre Pfeiler umwunden, hinter purpurroten Fahnen verſchwanden die alten ſchmuckloſen Wände. Das Parlament der Arbeiter tagte hier. Draußen lachte die Oktoberſonne, drinnen brannte über den langen Tafeln künſtliches Licht, das auf alle Geſichter ſcharfe Schatten zeichnete, ſodaß ſie finſter und feindſelig er⸗ ſchienen. Dumpf hing die Luft im Raum; der Atem der Jahrhunderte war hinter den winzigen Fenſtern ge⸗ fangen geblieben. Er beengte die Bruſt. Lange vor dem Beginn der Verhandlungen war der Saal ſchon gefüllt. Anſchwellendes Stimmengewirr, Stühlerücken, Raſcheln von Papier, — jenem Papier, daß alle Süßigkeiten und alle Gifte der Welt auszu⸗ ſtrömen vermag, — bildete die in ihren ungelöſten Disharmonien aufreizende Quvertüre. Zeitungsblätter wurden hin⸗ und hergezeigt: „Bernſtein Apoſtata“ ſtand über dem einen Artikel, „Reinliche Scheidung“ über 319 einem zweiten; „wir werden mit dem Reviſionismus fertig werden, oder wir ſind fertig,“ hieß es an einer rot angeſtrichenen Stelle, „die Genoſſen im Reich er⸗ warten eine klare Entſcheidung,“ an einer anderen. Von der unausbleiblichen Spaltung der Partei ſprachen froh⸗ lockend bürgerliche Zeitungen; in linksliberalen Blättern begrüßten Kathederſozialiſten die Anhänger Bernſteins als die ihren. Bureauwahl. Es hörte kaum jemand zu. Paul Singer war anweſend, das Präſidium alſo von vornherein in guten Händen. Die Begrüßungsreden der Ausländer dämpften das Stimmengewirr im Saal. Frankreich, wo der Dreyfus⸗Skandal noch im Mittelpunkt des In⸗ tereſſes ſtand, wo Millerand, der Sozialdemokrat, mit Jaurés', des Sozialdemokraten, ausdrücklicher Zuſtim⸗ mung das in den Augen der deutſchen Radikalen un⸗ verzeihliche Verbrechen begangen hatte, in das Miniſte⸗ rium einzutreten, — Seite an Seite mit Gallifet, dem Mörder der Kommune, — war nicht vertreten. Des alten Liebknecht heftige Angriffe auf die Genoſſen jen⸗ ſeits der Vogeſen mochte an dieſer Zurückhaltung nicht ohne Schuld ſein. Die Verhandlungen begannen. Mit ungeduldiger Haſt wurde ein Punkt der Tagesordnung nach dem anderen erledigt. Alles drängte dem Hauptthema des Partei⸗ tages zu. Und ſelbſt mitten in die nebenſächlichſten De⸗ batten hinein blitzte ſchon das Wetter der kommenden Tage. „Sie ſtehen bereits mit der Brandfackel an unſerem Scheiterhaufen —,“ ſagte einer der Reviſioniſten neben uns. Am Abend, als wir Frauen zu einer internen Be⸗ 320 ſprechung zuſammenkamen, fühlte ich: in Gedanken war die „reinliche Scheidung“ ſchon vollzogen. Wir berieten einen Antrag für den Arbeiterinnenſchutz, der unſerer nächſten agitatoriſchen Tätigkeit Inhalt und Richtung geben, und deſſen Forderungen durch den Parteitag ſanktioniert werden ſollten. Im Grunde waren es lauter Selbſtverſtändlichkeiten. Rur der Schutz der Schwange⸗ ren war neu. Ich hatte dafür gekämpft, obwohl ich wie vor einer Mauer redete, und ſie hatten ihn nicht ablehnen können, ohne ſich ſelbſt ins Geſicht zu ſchlagen. Dafür waren ſie um ſo hartnäckiger, als ich die Unter⸗ ſtellung der Dienſtboten unter die Gewerbeordnung in den Antrag aufzunehmen empfahl. Das ſteht bereits in unſerem Programm, hieß es. Aber viele unſerer anderen Forderungen ſtanden auch darin. Und gerade jetzt wäre es wichtig geweſen, uns offiziell mit der Dienſt⸗ botenbewegung ſolidariſch zu erklären. „Wir dürfen unſere Kräfte nicht verzetteln.“ — Damit war die Sache abgetan. Die Frauen rückten nach der Beſprechung freund⸗ ſchaftlich zueinander, unterhielten ſich mit wohltuender Herzlichkeit mit all den Genoſſinnen, die aus Oſt und Weſt hierher gekommen waren; mich ſtreifte zu⸗ weilen ein ſcheuer Gruß, ein fremder Blick; — ich ging hinaus. In unſerem Gaſthof fand ich die Führer in er⸗ regte Unterhaltung vertieft. Ihre Augen glühten in jugendlichem Feuer, ſelbſt die Ausbrüche ihrer Leiden⸗ ſchaft bändigte der heilige Ernſt, mit dem ſie alle für ihre Sache kämpften. Bebel war am ſtillſten; immer wieder ſtrich er ſich nervös die widerſpenſtige Locke aus 321 der Stirn; auf ihm laſtete die Verantwortung der kom⸗ menden Tage. Kalt und grau brach der nächſte Morgen an. Im Ballhof kämpften die elektriſchen Lampen um⸗ ſonſt gegen das Dunkel; es hockte um ſo deut⸗ licher hinter den Pfeilern und zwiſchen den Tiſchen, je heller in ihrem direkten Strahlenkreis das Licht erſchien. Rur langſam füllte ſich heute der Saal, und nur we⸗ nige Stimmen wurden laut. Ein gemeſſener Ernſt lag auf allen Geſichtern und eine zweifelvolle Erwartung. Singer betrat das Podium: „. . Zur Verhandlung ſteht Punkt ; der Tages⸗ ordnung: „Die Angriffe auf die Grundanſchauungen der Hartei“. Das Wort hat der Berichterſtatter Ge⸗ noſſe Bebel.“ Roch ein heftiges Stühlerücken, dann tiefe Stille. Bebels Stimme allein beherrſchte den Raum. Im Geſprächston begann er, ruhig, faſt gemütlich. Jeder Zuhörer fühlte ſich unwillkürlich perſönlich an⸗ geredet. Selbſt als er die unbeſchränkte Freiheit der Kritik an den eigenen Grundanſchauungen als die Lebens⸗ luft der Partei bezeichnete, warf er den Satz nicht wie einen Fehdehandſchuh in die Menge, ſondern ſprach im Tonfall der Konſtatierung einer Selbſtverſtändlichkeit. Die Fragen der materialiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung, der Dialektik, der Werttheorie ſchaltete er von vorn⸗ herein aus, — „der Kongreß iſt kein wiſſenſchaftliches Konzil,“ ſagte er, — um zum Problem des Entwicke⸗ lungsprozeſſes der kapitaliſtiſchen Geſellſchaft überzu⸗ Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 21 322 gehen, das Bernſtein anders darſtellte als Marx und Engels. Eine Fülle ſtatiſtiſcher Berechnungen ſchüttete er vor uns aus, um Bernſteins Anſichten zu entkräften, um feſtzuſtellen, daß das marxiſtiſche Dogma von der Zuſpitzung der wirtſchaftlichen Gegenſätze, von der relativen Verelendung des Proletariats noch uner⸗ ſchüttert iſt. Und angeſichts der verwirrenden Maſſe des Mate⸗ rials, an der die große Menge den Grad der Wiſſen⸗ ſchaftlichkeit mißt, wie ſie an der Häufigkeit der Zitate den Grad der Bildung zu meſſen pflegt, ging ein Flüſtern ſtaunender Bewunderung durch die Reihen, das ſich in einem „ſehr richtig“ einem „hört, hört“ wieder und wieder Luft machte. Bebels Stimme ſchwoll an, ſeine Bewegungen wur⸗ den lebhafter, ſeine kleine Geſtalt reckte ſich. Er malte die Rot des Proletariats. Die grollende Leidenſchaft deſſen, dem das Elend Auge in Auge gegenübertritt, zitterte in ſeinen Worten, und klein und jämmerlich er⸗ ſchien dagegen, was Bernſteins nüchterne Schreibſtuben⸗ weisheit von der gebeſſerten Lage des Arbeiters zu be⸗ richten gewußt hatte. Wie der peitſchende Oſtwind über die Baumwipfel, ſo wehte ſeine Rede über die Köpfe. Und ſie neigten ſich gedankenſchwer, ſie wandten ſich einander zu; ſie hoben ſich wieder, von einem Wort, das ſie traf, em⸗ porgeriſſen. Da und dort ſtand einer auf, wie magne⸗ tiſch angezogen von dem, der ſprach. Eine dunkle Gruppe Menſchen umringte die Rednertribüne. Auf einmal aber war es der Wind nicht mehr, der in den Aſten rauſcht, — es war der Sturm. Die 323 jugendſtarke Kraft des Revolutionärs, die begeiſterte Schwärmerei des Glaubenshelden donnerte und brauſte in den Worten des Agitators. All der zaghafte Peſſi⸗ mismus, all der unſchlüſſige Zweifel, all die reſignierte Bedenklichkeit, mit denen Bernſtein die Seelen belaſtet hatte, flog vor ihnen davon wie Spreu und Staub. Und wie der Geiſterbeſchwörer aus dem Rebel Geſtalten entſtehen läßt, ſo entwickelte ſich unter dem Zauberſtab des Redners die Erſcheinung des alten Marx. War er es wirklich? Seltſam, — uns allen, die wir aufmerk⸗ ſam zuſahen, kam es vor, als habe Bernſtein manche Farben zu dieſem Bilde gemiſcht. Was Bernſtein wider ihn geſagt hatte, das nahm Bebel für ihn in Anſpruch: Die Elendstheorie hat an den Tatſachen Schiffbruch gelitten, ſagte Bernſtein, — nie hat Marx ſie im Sinne des abſoluten Riederganges aufgefaßt, erklärte Bebel; der Hinweis auf die Erlöſerkraft der Revolution iſt vom Übel, ſagte Bernſtein, — auf die Evolution hat Marx ſchon das größte Gewicht gelegt und niemals das Heil im Straßenkampf geſehen, erklärte Bebel. Und während er ſein Feuerſchwert gegen all die zückte, die vor lauter Wenn und Aber den rückſichtsloſen Kampfmut einzu⸗ büßen im Begriffe ſtanden, traf es auch die Inquiſi⸗ toren, die ihn beſaßen, aber auf die Ketzer im eigenen Lager zielten. Die Menge, die ſich zuerſt auseinandergeriſſen wie Steine von einem Felsſturz vor ihm ausgebreitet hatte, — jeder die ſcharfe Kante feindſelig wider den anderen gekehrt, — ſchien wieder ein Marmorbruch, aus dem er planvoll gewaltige Quadern ſchlug, die ſich zu Grund⸗ mauern zuſammenſchließen ließen. 21* 324 Fünf Stunden ſprach er ſchon. Run wich der Sturm ſeiner Rede wieder dem ruhigen Geſprächston; ſich ſelbſt zurückgegeben, atmete die Menge tief und geſät⸗ tigt auf. Roch einmal, wie der letzte ferne Donner des Gewitters, hob ſich ſeine Stimme in ungeſchwächter Kraft: „Unſere Grundanſchauungen ſind nicht erſchüttert, — wir bleiben, was wir waren —.“ Tobender Bei⸗ fall verſchlang den Schluß. Minutenlang ſtand der nächſte Redner, Eduard David, an Bebels Stelle, ehe ſeine Stimme den Lärm durchdrang. „Ich habe den Mut, auch nach Bebels Referat, Bernſtein in ſeinen Anſchauungen zuzuſtimmen,“ ſagte er. Irgendwo ziſchte jemand, aber der Reſpekt vor dem ehrlichen Bekennt⸗ nis unterdrückte raſch jeden Laut des Mißfallens. Kühl, faſt nüchtern ſprach er; wer ihn auch nicht kannte, empfand: er kam mitten aus der Praxis des politiſchen Gegenwartslebens, er ſtand nicht mehr im Bann der Tradition der Sekte mit ihrer Geheimbündelei, ihrem Märtyrertum, ihrer Glaubensſeligkeit. Er ließ das grelle Licht des Tages auf die durch Bebel beſchworene Geiſtererſcheinung von Marx fallen, und hinter ihr ſtand der lebendige Bernſtein. Wo Bebels Leidenſchaft Gegen⸗ ſätze verwiſcht oder ſein Zorn die Anſichten des Geg⸗ ners niedergetrampelt hatte, da malte er ſie groß und deutlich, wie der Lehrer die Rechenaufgaben vor der Klaſſe auf die ſchwarze Tafel. Keiner, der nicht blind war, konnte ſich ihnen verſchließen. Und er rief in die Wirklichkeit zurück, wo Bebel uns auf den Flügeln ſeiner Phantaſie in die Zukunft getragen hatte. „Die höhere prinzipielle Bewertung der Gegenwartsarbeit, — das iſt es, was Bernſtein uns gibt, und das iſt mehr 325 wert, als was er uns genommen hat,“ erklärte er und verkündete gegenüber der einſeitigen Betonung des Kampfs um die politiſche Macht — als des einzigen Mittels, den Sozialismus zum Siege zu führen — die Dreieinigkeit der gewerkſchaftlichen, der genoſſenſchaft⸗ lichen, der politiſchen Bewegung, die durch tägliche Arbeit dem Sozialismus einen Fußbreit Erde nach dem anderen erobern. Run erſt war der Kampfplatz abgeſteckt. Der All⸗ tagsausdruck trat an Stelle der Begeiſterungsglut, die Bebels Rede angefacht hatte, auf die Geſichter, und über die Geiſter herrſchten wieder, an Stelle des großen eini⸗ genden Gedankens, all die Streitpunkte der praktiſchen Politik. Durfte ich mich deshalb dem Gefühl des Bedauerns überlaſſen, das mich momentan überwältigt hatte? Ent⸗ ſprang nicht jenes inſtinktive Feſthalten an den über⸗ kommenen Anſchauungen jener Schwerkraft des menſch⸗ lichen Geiſtes, die ſich von je im Dogmatismus, im Konſervativismus, wie in Denkfaulheit und Bequemlich⸗ keit geäußert hat? Wir, die wir Vorkämpfer ſein wollten, waren verpflichtet, ſie zu überwinden. Bewegte Tage kamen, ein Kampf, der nicht immer ein Kampf der Meinungen blieb. Und das „Kreu⸗ zige!“ tönte am lauteſten vom Munde der Frauen. Wanda Orbin kreiſchte es in den Saal hinein; Luiſe Zehringer, die Hamburger Zigarrenarbeiterin, wieder⸗ holte es; eine kleine polniſche Jüdin, die eben erſt in die deutſche Partei eingetreten war, kritiſierte mit der Sicherheit einer Parteiautorität die Anſichten und Hand⸗ lungen bewährter Führer. Und die Maſſe klatſchte ihr 326 Beifall. „Sehen Sie, — das iſt eine Politikerin,“ ſagte ein Journaliſt, „je reſpektloſer ſie die Auer und Vollmar und Bernſtein abkanzelt, deſto ſicherer iſt ihr Erfolg.“ Immer deutlicher ſonderten die Parteien in der Partei ſich voneinander ab; über dem tiefer und tiefer wühlen⸗ den Streit vergaßen auch die Leichtſinnigſten die Ver⸗ gnügungen des Abends; Sitzungen wurden ſtatt ihrer abgehalten. Es gab dabei Augenblicke, in denen es ſchien, als würden die Radikalen vor dem äußerſten nicht zurückſchrecken. Die uneingeſchränkte Anerkennung des Parteiprogramms wollten ſie fordern, wie der orthodoxe Prieſter den Schwur auf das Apoſtolikum. Und jeder begann im ſtillen die große Abrechnung mit ſich ſelbſt. Zum erſten Mal kam mir zum Bewußtſein, was all die Jahre hindurch die unbekannte Quelle meiner Kämpfe und Schmerzen geweſen war: die Sache for⸗ derte den ganzen Menſchen reſtlos, ich aber wollte im Kampfe für ſie ich ſelber bleiben. Und zu gleicher Zeit ſchien mir, als ob zuletzt kein anderes als dies Problem all den Kämpfen, die wir führten, zugrunde lag. „Warum biſt du ſo ſtumm?“ fragte mein Mann, als wir in der Mittagspauſe zuſammenſaßen. „Weil ich anfange zu fürchten, daß ich kein Recht habe, Genoſſe zu ſein. Ich bin ja auch kein Chriſt —.“ Verſtänd⸗ nislos, ein wenig erſchrocken, als zweifle er einen Augen⸗ blick an meinen geſunden Sinnen, ſah Heinrich mich an. Ich legte meinen Arm in den ſeinen. „Hab keine Angſt, Liebſter, — ich dachte niemals klarer als jetzt! Hingabe an den Willen Gottes bis zur Selbſtentäuße⸗ 327 rung fordert das Chriſtentum, Hingabe an den Willen der Maſſen der Sozialismus. Ob es zwiſchen dieſer Forderung und dem Perſönlichkeitsrecht eine Brücke gibt, das weiß ich im Augenblick ebenſowenig, als wir es in der Partei wiſſen.“ „Deine Formulierung iſt falſch, ganz und gar falſch, entgegnete Heinrich erregt, „nicht an den Willen, ſon⸗ dern an das Wohl der Maſſen wird die Hingabe ver⸗ langt.“ „Und doch verlangt Ihr als etwas Selbſtverſtänd⸗ liches das Opfer der Überzeugung,“ unterbrach ich ihn. Wir traten in den Saal. Mit einer fiebrigen Rer⸗ voſität, die alle ergriffen hatte und manche jener ro⸗ buſten ſehnigen Arbeitergeſtalten tragikomiſch erſcheinen ließ, riſſen die Delegierten den austeilenden Ordnern die neuen Druckſachen aus der Hand. Es war Bebels Reſolution in neuer Faſſung. Wir verglichen. „. . . Rach alle dieſem liegt für die Partei kein Grund vor, ihr Programm . . .“ las ich. „Jetzt heißt es: „ihre Grundſätze und Grundforderungen“ zu ändern: las Heinrich, „damit können wir uns ohne weiteres einverſtanden erklären,“ fügte er hinzu, und mit einem lächelnden Blick auf mich: „Du ſiehſt, die Klippe tra⸗ giſcher Konflikte iſt glücklich umſchifft.“ Auer kam an uns vorüber. In ſeinem Geſicht wetter⸗ leuchtete es. „Jetzt werde ich ihnen einmal zum Tanz auf⸗ ſpielen,“ ſagte er in grimmigem Scherz. Dabei ſah ich, wie ſeine Finger ſich zur Fauſt zuſammenzogen. Von allen Seiten, ſchriftlich und mündlich, direkt und indirekt war er angegriffen worden. Er, der ſich zur Bernſteinfrage in der Offentlichkeit überhaupt nicht geäußert hatte, 328 galt als der eigentliche und der gefährlichſte Führer der Reviſioniſten, als der Abtrünnige. Die Luft im Saal war immer ſchwerer geworden. Oder war es nur die geſteigerte Reizbarkeit der Rerven, die ſie ſo empfand? Irgendeine Entladung mußte kommen. Mit Naturnotwendigkeit ſchien jeder Redner die Gegenſätze ins Abſurde ſteigern, den Gegner bis zur Lächerlichkeit herabſetzen zu müſſen. Die Zuhörer wurden unruhiger. Man ging ab und zu, man unter⸗ hielt ſich. Da betrat Auer die Tribüne. Mit dem leiſen Spott der Überlegenheit um die Lippen ſah er über die Menge hinweg. Dann kam die Abrechnung. Un⸗ willkürlich ſenkten ſich alle Köpfe vor dieſem gewal⸗ tigen Ausbruch eines feuerbergenden Kraters. Eine öffentliche Anklage war es, und am Pranger ſtanden alle, die den befreienden Streit der Gedanken in ein lähmendes Gezänk um Perſonen verwandelt hatten. Und eine Verteidigung war es, — eine Verteidigung des Mannes, den dieſelbe Partei, um deretwillen er aus dem Vaterland verbannt worden war, des Verrats bezichtigte; — aber auch eine Verteidigung ſeiner ſelbſt, des in der jahrzehntelangen Parteiarbeit aufgeriebenen Kämpfers. Seine breiten Hände, — beſtimmt, einen Hammer zu führen oder ein Schwert, — umklammerten, zuweilen krampfhaft zuckend, den Rand des Rednerpults. Sie waren am Schreibtiſch, in der eingeſchloſſenen Bureauluft weiß geworden. Das ſtolze Germanenhaupt, dem ein Ritterhelm gebührte, ſank leiſe nach vorn. Die Sorgen der Partei laſteten ſchwer auf ihm. Das Ant⸗ litz, das auf den Bergen ſeiner Heimat, der Sonne am 329 nächſten, braun und rot ſich hätte färben müſſen, war grau und fahl. Durchwachte Rächte ſprachen aus ſeinen Augen. Gereizte Zurufe unterbrachen ihn, — zu wuchtig fielen ſeine Schläge. Und ſeine Stimme, durch hunderte von Reden, hunderte von Agitationsreiſen abgenutzt, drohte zu verſagen. Roch eine die Luft durchſchneidende Bewegung mit der Hand, als wolle er ausſtreichen, was ſich doch unauslöſchlich ſeiner Erinnerung ein⸗ geprägt hatte, noch ein Witz, den er in die Maſſe warf, wie der Tierbändiger einen Knochen zwiſchen die Tiger, und der Strom ſeiner Rede erreichte in ruhigem Fluß ſein Ziel. Die Reſolution Bebel wurde angenommen, nur ein kleines Häuflein Unentwegter, die noch immer ihr „Kreu⸗ zige!“ ſchrieen, ſtimmte dagegen. „. . . Auch auf dieſem Parteitag hat es ſich gezeigt, daß die Partei über ihre Grundſätze und ihre Taktik einheitlich denkt und auch fernerhin in voller Einmütig⸗ keit handeln wird . . .,“ ſagte Singer zum Schluß. Die Arbeitermarſeillaiſe brauſte durch den Ballhof. Hörte niemand die Diſſonanz? Es waren nicht die Geiſter der Vergangenheit, die Prinzeſſinnen, die Kurfürſten und die Könige, die ſie hervorriefen. Es war der Geiſt der Zukunft. 330 Müde und erſchöpft reiſten wir heimwärts. Es dämmerte, als wir vom Bahnhof zum Grune⸗ wald fuhren. Wie herrlich die Stille war in den breiten Alleen! Wie erfriſchend der Duft der Kiefern den heißen Kopf umſtrich! Statt der vielen Menſchenſtimmen nur ein abendlich⸗ſüßes Vogelgezwitſcher! Wer doch im Walde bleiben könnte! — Mit jenem feinen Taktgefühl, das auf dem Baume alter Kultur eine der köſtlichſten Früchte iſt, hatte meine Mutter, kurz ehe wir ankamen, das Haus verlaſſen. So konnten wir uns ungeteilt am Wiederſehen mit un⸗ ſerem Jungen freuen. Mir ſchien, als wären wir Wochen ſtatt Tage weg geweſen: war er nicht viel größer und viel klüger geworden? Und wie entzückend ringelten ſich die blonden Löckchen um den breiten Schädel! In überſprudelndem Eifer mußte er alles er⸗ zählen, alles zeigen. Seinen Bauernhof packte er vor mir aus, nahm die Bäume und rief: „Ru laufen ſie zu dem lieben, duten Mamachen!“ „Aber Bäume laufen doch nicht!“ meinte ich. Darauf nickte er altklug mit dem Köpfchen und ſagte: „Doch, Mama; in der Elek⸗ triſchen, da laufen die Bäume.“ Und als er zur Feier des Tages mit uns zu Abend gegeſſen hatte, rutſchte er geſchickt von ſeinem hohen Stühlchen, ſtellte ſich breit⸗ beinig vor uns hin und rief: „Ich bin ſatt!“ Das erſte „Ich“! — Lachend ſchloß ich ihn in die Arme: Run war mein Kind ein Menſch geworden. Alle Pro⸗ bleme der Welt verſchwanden mir wieder angeſichts dieſes Wunders. 331 Am nächſten Morgen ſaß ich am Schreibtiſch und rechnete. Die Angſt trieb mir Schweiß⸗ tropfen auf die Stirn: ſchon das nächſte Vierteljahr würden wir die Zinſen nicht zahlen können. Wie hatte ich als Mädchen gezittert, wenn die Rech⸗ nungen kamen, die der Mutter Tränen erpreßten! Es war das reine Kinderſpiel geweſen im Vergleich mit meiner Situation. „Mach dir doch keine Sorgen, ehe das Unglück da iſt,“ ſagte mein Mann ärgerlich, als er ſah, wie verſtört ich war. Ich wurde krank. Die alten unausbleiblichen Schmer⸗ zen, die jede Erregung zur Folge hatte, ſtellten ſich mit erſchreckender Heftigkeit wieder ein. Und abends, wenn ich todmüde in die Kiſſen ſank, klopfte mir das Herz bis zum Halſe herauf. Ich war genötigt, ein paar Ver⸗ ſammlungen abzuſagen. Ich war froh darüber: in einem Zuſtand geiſtiger und körperlicher Erſchlaffung verbrachte ich meine Tage. „Wir haben einen Käufer!“ mit der Botſchaft über⸗ raſchte mich mein Mann eines Morgens. Ich zweifelte noch. Aber bald darauf kam er ſelbſt, und in wenigen Tagen war der Kauf abgeſchloſſen. „Siehſt du nun ein, wie töricht es war, ſich zu fürchten?“ ſagte Heinrich. Beſchämt ſenkte ich den Kopf. „Ich will in Zukunft mutiger ſein,“ verſicherte ich. Schon im Januar ſollten wir das Haus verlaſſen. Dann wollen wir von vorne anfangen, dachte ich, und begann eifrig nach einer beſcheidenen Wohnung zu ſuchen. Bin ich erſt in Ruhe, ſo werde ich auch geſund 332 werden, ſagte ich zu mir ſelbſt, wenn die Schmerzen nicht weichen wollten und das Herz mich nicht ſchlafen ließ. Eines Abends nahm ich wieder an einer Sitzung der Genoſſinnen teil. Wie die Befreiung von den perſönlichen Sorgen mich aus der Er⸗ ſtarrung aufgerüttelt hatte, ſo elektriſierten mich jetzt die politiſchen Vorgänge wieder. Das Zuchthausgeſetz war endgültig begraben worden, aber trotz aller gegen⸗ teiligen Verſicherungen drohte eine neue gewaltige Flotten⸗ vermehrung. „Unter den Waffen ſchweigen die Muſen,“ erklärte ich, als wir die Aufgaben beſprachen, die der kommende Winter uns ſtellte, und einige der Frauen den Arbeite⸗ rinnen⸗Bildungsverein und ſeine Veranſtaltungen in den Vordergrund ſchieben wollten. „Wir müſſen unſere Kräfte konzentrieren: auf die beſchloſſene Agitation für den Arbeiterinnen⸗Schutz und auf den Kampf gegen die neue Volksausbeutung. „Wenn wir ſo ſicher wie ſtets auf Genoſſin Brandts wertvolle Unterſtützung rechnen können, wird der Sieg uns nicht fehlen,“ ſpottete Martha Bartels und be⸗ richtete dann, wie ich durch die kürzlich „angeblich wegen Krankheit erfolgten Abſagen die Sache geſchä⸗ digt hätte. „Unſichere Kantoniſten können wir nicht brauchen, ſagte Frau Reſch, die ſeit ihrer Delegation nach Han⸗ nover ſehr ſelbſtbewußt geworden war. Während ich antwortete, drückte ich die Hand krampf⸗ haft in die Seite, wo die Schmerzen wühlten, und 333 ſuchte, tiefatmend, die wilden Schläge meines Herzens zu beruhigen. Aber trotz meiner Verteidigung, ſetzte der Zank ſich fort. Und plötzlich war mir, als drehe ſich das Zimmer um mich —, ohnmächtig brach ich zuſammen. Als ich zu mir kam, überſah ich mit einem einzigen Blick die Situation: Ida Wiemer hielt mich umſchlungen, auf ihren Zügen lag ein Schimmer aufrichtiger Teilnahme; aber ſteif und unbeweglich ſaßen alle anderen um den Tiſch, die Augen auf mich gerichtet, voll Hohn und Spott, voll Kälte und Mißtrauen. Ein eiſiger Schauer lief mir über den Rücken. Ich preßte die Zähne zuſammen und erhob mich. In dem Augenblick kam mein Mann. Der Kellner hatte mich fallen ſehen und ihn, der im Reſtaurant auf mich wartete, benachrichtigt. Auf ſeinen Arm geſtützt, verließ ich das Zimmer. Riemand erhob ſich. Niemand ſagte mir Lebewohl. Wir fuhren noch in der Racht zum Arzt. Er machte ein bedenkliches Geſicht. „Ein paar Monate im Süden, und Sie können geneſen,“ ſagte er. Ich empfand ſeinen Beſcheid wie eine Erlöſung. Fort, — weit fort, wo ich Ruhe finden, wo ich wieder zu mir ſelber kommen würde! Wir entſchieden uns für Meran. Der Überſchuß, der uns vom Kaufpreis des Hauſes bleiben würde, ermöglichte die Reiſe. Mein Kind nahm ich mit. Und eine große Kiſte mit Büchern und Manuſkripten. „Run werde ich ungeſtört meine „Frauenfrage“ vollenden können, ſagte ich hoffnungsvoll. „Wenn der Arzt dir das Arbeiten erlaubt,“ meinte mein Mann und ſah dabei traurig drein. „Ich werde 334 ihn nicht erſt fragen,“ lachte ich; „Arbeit iſt für mich die beſte Medizin. Silveſter 1899 kamen Erdmanns mit der Mutter zu uns. Als es Mitternacht ſchlug, riſſen wir alle die Fenſter auf und riefen ein ſchallendes „Proſt Jahrhundert!“ in die ſternhelle Racht hinaus. Da war keiner, dem das Vergangene nicht wie ein Alp von der Seele gefallen wäre. Und unſere Hoffnungen waren rieſenſtark. Rur die Mutter ſah ſorgenvoll von einem zum anderen: zu Erdmann, deſſen eingeſunkene Bruſt nach jedem lauten Wort trockener Huſten erſchütterte, zu Ilſe, deren Blicke halb ängſtlich, halb oerſchüchtert an ihrem Gatten hingen, zu uns, von deren Kämpfen ſie manches ahnen mochte. Schatten gingen um. Ich mußte ſie bannen. Aus dem Bettchen droben, wo es mit heißen Wangen ſchlief, nahm ich mein Kind und trug es hinunter. Im Licht der Lampen ſchlug es die ſtrahlenden Augen auf. Ich hatte es jubelnd emporheben wollen, nun aber drückte ich es zärtlich ans Herz und flüſterte leiſe, ganz leiſe, damit die anderen nichts hörten: „Dein iſt das Jahr⸗ hundert.“ Wenige Tage ſpäter ſchloß ſich die Pforte des grauen Hauſes hinter uns. Die Wipfel der Kiefern bewegten ſich leiſe über dem Dach. Schwarz ſtanden ihre Stämme vor den blumenloſen Fenſtern. In jubelnder Vorfreude auf die Reiſe warf mein Junge keinen einzigen Blick zurück. So wollte auch ich nur vorwärts ſehen. 335 Zehntes Kapitel Ein eiſiger Wind pfiff aus dem Paſſeier Tal über Meran; die Schneeflocken fielen ſo dicht, daß es ausſah wie lauter weiße Schleier, die der Winter, mißgünſtig, einen nach dem anderen der Ratur vor das ſchöne Antlitz zog. Und ich war mit der ganzen Sonnenſehnſucht des Deutſchen, der jenſeits des Brenners zu jeder Jahreszeit blauen Himmel und blühende Bäume erwartet, gen Süden gefahren! „Du haſt mir das Sommerland verſprochen, — ich will ins Sommerland —,“ weinte mein Bübchen, als es am erſten Morgen aus dem Fenſter unſeres kleinen Zimmers in die weiße Welt hinausſah. Während ich ihn durch lauter Hoffnungen zu beruhigen ſuchte, fröſtelte auch mich. Das Sanatorium „Iduna“, das weſtlich von Me⸗ ran einſam zwiſchen Wieſen und Obſtbäumen lag, war uns empfohlen worden. „Es nimmt nur eine beſchränkte Anzahl von Patienten auf, bewahrt daher den Charakter eines behaglichen Privathauſes,“ hieß es im Proſpekt. In Wirklichkeit war's ein altes Landhaus, das, wie ſo viele ſeinesgleichen im Süden, mit dünnen Wänden und zugigen Fenſtern den Winter zu ignorieren ſchien. Ein paar eiſerne Ofen ſtrahlten ſtundenweiſe 336 rotglühende Hitze aus, um dann wieder kalt, ſchwarz und feindſelig dazuſtehen, als freuten ſie ſich des grau⸗ ſamen Spiels mit den armen Bewohnern. Ich hatte nicht ſchlafen können: der Wind rüttelte an den Fenſtern, mein Sohn warf ſich unruhig in dem ungewohnten großen Bett hin und her, und ein hohler Huſten, nur von ſtöhnenden Seufzern unterbrochen, klang aus dem Zimmer unter uns unaufhörlich zu mir empor. Müde und abgeſpannt ging ich zum Frühſtück in den Eßſaal, — einer verglaſten Veranda, durch deren breite Fenſter der Winter von allen Seiten hereinſah. In der Mitte ſtand der lange ſchmale weißgedeckte Tiſch, darauf in nüchterner Regelmäßigkeit Reihen weißer Teller und Taſſen. Eine Frau ſaß daran in ſchwarzem Kleid mit vergrämten Zügen, neben ihr im Rollſtuhl ihr blaſſer Mann, finſtere, gerade Falten auf der Stirne, — einer jener Kranken, die hoffnungsloſes Leiden böſe gemacht hat, — ihm gegenüber am äußerſten Ende der Tafel ein ſchmalbrüſtiger Jüngling, deſſen Antlitz nur noch mit der Haut beſpannt ſchien, — einer fahlen, graugelben —. Ich zögerte an der Schwelle, mir grauſte vor dem Bilde, in dem alle Farben des Lebens erloſchen waren. Da ſprang mein Kind an mir vorbei, im feuerroten Kleidchen, mit friſchen Wangen und glänzenden Augen. Und der ganze Raum war erhellt. Ein freundliches Lächeln ſpielte um die blutleeren Lippen des Jünglings; die Falten auf der Stirn des Gelähmten glätteten ſich, nur die Frau im ſchwarzen Kleid wandte wie verletzt den Kopf zur Seite. Ich wäre am liebſten wieder fortgezogen. Aber ich 337 war viel zu müde, viel zu apathiſch dazu. Der Arzt, ein gütiger alter Mann mit weichen Frauenhänden, ver⸗ ſprach mir ein anderes Zimmer mit einem Balkon nach Süden. „Das unter Ihnen,“ ſagte er, „der Herr reiſt ab —,“ dabei verſchleierten ſich ſeine hellen Augen. Dann gab er mir Verhaltungsmaßregeln. „Meine wich⸗ tigſte Verordnung iſt: ein Kindermädchen. Sie müſſen Ruhe haben, — Tag und Nacht, der Bub dagegen ſoll ſich tüchtig Bewegung machen,“ begann er. Ruhe, — ſchon das Wort war wie einlullendes Strei⸗ cheln. Am nächſten Tage brachte er mir ein hübſches, brünettes Landmädchen, das mir geſiel; ſie zog mit dem Kleinen, der ſich an die luſtige Gefährtin raſch gewöhnte, in das Zimmer nebenan. Run erſt fühlte ich, wie krank ich war: den ganzen Tag lag ich ſtill, und bewegungs⸗ los wie mein Körper waren Gedanke und Gefühl. Auch meine Umgebung ſtörte mich nicht mehr; — wenn ich nur mein Bett hatte und meinen Liegeſtuhl. „Run wird er bald abreiſen,“ ſagte der Arzt eines Tages und drückte mit der Spitze des Zeigefingers in den Augenwinkel, als ſei ihm ein Staubkörnchen hinein⸗ geflogen. „Dann ſoll ich hinunter?“ fragte ich und dachte ent⸗ ſetzt an die Mühe des Umräumens. „Ja,“ meinte er, „denn nun es täglich wärmer wird, müſſen Sie in der Sonne liegen.“ „In der Sonne?!“ Ich lächelte ungläubig. Seit einer Woche hatte der Schnee ſich in Regen verwandelt. Die Nacht darauf kam ich nicht zur Ruhe. Ich warf mich im Bett hin und her, und plötzlich wußte ich, was mir fehlte: der regelmäßige Huſten unter mir war ver⸗ 22 Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 338 ſtummt; die Stille laſtete auf mir, die unheimliche Stille. Bald danach war mir, als gingen Geſpenſter um: das huſchte im Haus auf leichten Sohlen, das wiſperte und flüſterte, — knarrend öffnete ſich unten eine Tür. Ich erhob mich und trat ans Fenſter: ein Leiterwagen ſtand im Garten; Männer waren darin, die ſich durch Ge⸗ bärden mit denen im Hauſe zu verſtändigen ſchienen; und auf einmal ſchwebte etwas in der Luft dicht unter mir, etwas Schwarzes, Großes, — der Regen klatſchte darauf, — eintönig. Schon wollt' ich ſchreien, — da geriet das Schwarze in den Lichtkreis der nächſten Laterne: es war ein Sarg. Ich ſchwankte ins Bett zurück und verkroch mich zit⸗ ternd unter der Decke. So war er „abgereiſt“! — Ich ſah wieder die Glasveranda vor mir im Schnee⸗ licht, mit den Menſchen, deren Körper im Sterben lagen, oder deren Seelen ſchon geſtorben waren. Und das Badhaus fiel mix ein mit den dunkeln Holz⸗ wannen, in denen das Waſſer ausſah, als wäre es Schlamm. Willenlos war ich hineingeſtiegen, hatte mir Geſundheit holen wollen, wo Krankheit in allen Ritzen und Fugen lauernd ſaß. Und mein Kind hatte ich die Heſtluft atmen laſſen! Roch in der Racht fing ich an zu packen. Früh fuhr ich nach Meran und drüber hinaus nach Obermais, ſo hoch und ſo weit als möglich. Dort fand ich neben alten efeuumſponnenen Schlöſſern ein freund⸗ liches Haus zwiſchen Rußbäumen und Weinreben. Am ſelben Abend zogen wir ein. Es war, als ob der Winter uns nicht hätte folgen können. Die Berge entſchleierten ſich. Der Schnee, 339 der eben erſt wie ein Leichentuch die Erde verhüllt hatte, blitzte jetzt im Sonnenlicht wie eine Hochzeitskrone auf ihren Häuptern. Errötend entfalteten ſich an den Man⸗ delbäumchen die erſten Blüten. Ich lag auf der Veranda und ließ mich wie ſie von der Sonne durchglühen und fühlte, daß auch mir die Lebensfarbe in die Wangen ſtieg. Täglich brachte mir mein Söhnchen friſche Wieſen⸗ blumen. „Ich werde dich führen, Mamachen, wenn du nicht mehr Auau haſt,“ ſchwatzte er, „zu den ſo vielen Vergißmeinnicht, und zu den Muſikmännern auch, wo die Damen und Herren ſind.“ Ich lachte ihn an: wirk⸗ lich, die Sehnſucht nach dem Leben regte ſich wieder in mir. Liegen ſollt' ich, immer liegen, ſagte der Arzt, weil mein Herz noch nicht ruhig genug war. „Dann müßt' ich liegen bis ich neunzig Jahr alt bin, antwortete ich ihm, „denn daß mein Herz ſo gegen alle Vorſicht klopft, iſt nur ein Beweis, daß ich lebe.“ Einmal wachte ich auf nach erquickendem Schlaf, ſtreckte und reckte mich und blinzelte in die Sonne. Mir war ſo wohl, — ſo wohl! Warum nurk: Und in mir antwortete es ganz deutlich: weil du frei biſt. Ich ſah mich erſchrocken um, als könnte irgend jemand dies tiefe Geheimnis, daß ich kaum mir ſelbſt geſtand, erkundet haben. Ich war frei — wirklich frei; ich konnte tun, was ich wollte, ohne vorher all jene bohren⸗ den Fragen erſt beantworten zu müſſen: ſtört es den Anderen? Verletzt es ihn? Beeinträchtigt es ſeine Ruhe, ſeine Wünſche, ſeine Liebe? Jetzt, zum Beiſpiel, konnte ich aus dem Bette ſteigen und luſtig einen Walzer trällern, — läge Heinrich neben mir, ich würde mich 22* 340 aus Rückſicht auf ſeinen Schlaf ganz, ganz ſtill ver⸗ halten. Und dann konnt' ich gemächlich im Waſſer planſchen, mich ankleiden, mir die Haare ordnen, ohne jene quälende Scham des Häßlichen, des Unäſtethiſchen, — die einzig berechtigte zwiſchen zwei Menſchen, die ein⸗ ander lieb haben, und die einzig notwendige, wenn ſie ihrer Liebe den Zauber des erſten Rauſches erhalten wollen. Die Ehe der meiſten iſt ein Erwachen aus ihm, mit einem bitteren Geſchmack auf der Zunge. Sie wiſſen nicht, daß die Liebe eine zarte, koſtbare Blume iſt, die ſorgſamer Pflege bedarf. Sie pflanzen ſie in den Küchengarten und wundern ſich dann, wenn ſie eingeht. Ich war frei — wirklich frei. Und ich konnte hin⸗ gehen, wohin ich wollte! Ganz erſtaunlich kam mir das vor, — gerade, als ob die Welt mir auf einmal ihre Tore aufſchlöſſe. In den erſten Jahren meiner Ehe hatte Heinrich mich auf jedem Weg begleitet, — aus zärtlichſter Liebe, nicht etwa aus Mißtrauen oder aus Eiferſucht. Und ich hatte keinen anderen Weg machen können, als der ihm recht war. Zuweilen war ich heim⸗ lich die Hintertreppe hinuntergeſtiegen, nicht, weil ich ein Geheimnis vor ihm gehabt hätte, ſondern nur um einmal ohne innere Hemmung in den Straßen herum⸗ laufen zu können. Allmählich hatte unſere verſchieden⸗ artige Tätigkeit dem ſteten Zuſammenſein ein Ende ge⸗ macht; aber ſelbſtverſtändlich blieb, daß ich ihm erzählte, wo ich geweſen war, was ich getan hatte. Und da ich ihn nicht unzufrieden machen, nicht ärgern wollte, ſo ſtand ich doch ſtets in ſeinem Bann. Wenn ich einmal ſeiner Empfindung zuwider gehandelt hatte, ſo kam es vor, daß ich — log. 341 Kaum, daß der Gedanke daran in mein Bewußtſein trat, als ich ihn auch ſchon, dunkel errötend, zurück⸗ weiſen wollte. Aber je mehr ich mich mühte, deſto klarer ſtand er vor mir. Ich mußte ihm Auge in Auge ſehn: „Es kam vor, daß ich meinen Mann belog.“ Richt, weil ich ihn hintergehen, ſondern weil ich ihn nicht ärgern, nicht erregen wollte. Aus Liebe alſo! Oder aus Furcht?! So lernen die Frauen lügen, weil ſie des Mannes Beſitztum ſind, weil die Ehe ihre Per⸗ ſönlichkeit auslöſcht wie ihren Ramen. Wie vielen, die gerade gewachſen waren, hat ſie das Rückgrat zerbrochen! Und ſie verlieren nach ein paar Jahren der Ehe ihre Phyſiognomie, — ſind farblos, zermürbt. Ein brennendes Verlangen nach Menſchen überkam mich. Wie war ich doch mein Leben lang an den bunten Schwarm um mich gewöhnt geweſen! In den letzten Jahren hatte er ſich mehr und mehr verflüchtigt. Den alten Freunden war ich geſtorben, ſeit ich Sozial⸗ demokratin geworden war; neue hatte ich unter den Genoſſen nicht gefunden, und von den Künſtlern, von den Gelehrten, die unſere Räume einmal betraten, kamen nur wenige wieder. Romberg war im Grunde unſer einziger Verkehr geweſen. Und der wohnte nicht in Berlin. Woher kam das alles? War ich weniger an⸗ ziehend als die Frauen, die „ein Haus ausmachten“? Waren ſie geiſtreicher als ich? Ich ſchürzte ſpöttiſch die Lippen. Stießen ſich die Sittenſtrengen noch immer an der Geſchichte meiner Eheſchließung? Sie machten ſich doch ſonſt nichts daraus, mit Frauen zu verkehren, die neine Vergangenheit“ hatten, die Gegenwart geblieben 342 war! Nein, in alledem lag die Urſache nicht. Bei meinem Manne, ſchien mir, war ſie zu ſuchen. Er war ein Menſchenſchwärmer geweſen, leicht geneigt, zu be⸗ wundern und zu verehren und ſich den anderen gegen⸗ über gering zu achten. Um ſo ſchmerzhafter hatte jede, auch die leiſeſte Enttäuſchung ihn getroffen, und je häufiger ſie ſich wiederholte, deſto ſcheuer zog er ſich zurück, deſto mißtrauiſcher wurde er. Und für jenen leichten Verkehr, der wie mit Libellenflügeln nur die Oberfläche des Lebensſtromes ſtreift, war er zu ſchwer⸗ blütig. Er hatte nie getanzt; — ſeltſam, daß mir das erſt heute einfiel. Er hatte nie gelernt, eine Geſell⸗ ſchaftsmaske zu tragen. Darum fühlten ſich immer nur die Menſchen, die er aufrichtig gern hatte, wohl bei uns. Die anderen ſtieß er ab. Draußen lachte der Frühlingstag. Zwiſchen blühen⸗ den Bäumen und Beeten von Hyazinthen ſpielte die Muſik fröhliche Weiſen, die Paſſer ſprang dazu in ent⸗ feſſelter Wildheit über Stock und Stein. Ich ging mit meinem Buben an der Hand zwiſchen der Menſchen⸗ menge hin und her. Ich freute mich, als wäre ich zwanzig Jahr, über die bewundernden Blicke, die uns folgten. Täglich wollt“' ich von nun an hinuntergehen, Sonnenſchein trinken und Lebensluſt. Ich traf Be⸗ kannte und geriet durch ſie in einen Kreis fröhlicher Weltbummler. Wie gut das tat, einmal wieder unter⸗ zutauchen in Glanz und Freude! Einmal wieder lachen zu können aus Herzensgrund! Bewundernde Blicke zu fühlen! Man brachte mir täglich Blumen, — jene großen glühenden Roſen von Meran, deren Duft nicht an Gärten erinnert, ſondern an berauſchende Eſſenzen 343 des Morgenlandes. Ich ließ mir gefallen, daß man mir huldigte; ich ſpielte mit heißen Gedanken, wie ein Kind mit rotleuchtenden Giftblumen. Eines Abends, während bunte Lichterkränze ſich an den alten Bäumen vor dem Kurhaus von Aſt zu Aſt ſchwangen und die Geigen der Zigeunerkapelle in die laue Racht hinein ſeufzten und lockten ließ ich mich in den Kurſaal führen, um den Tanzenden zuzuſchauen. Süße Walzer⸗ melodien umſchmeichelten meine Sinne Der Rauſch des Tanzes ergriff mich. Willenlos überließ ich mich ihm. Erſt als der letzte Ton verklungen war, kam ich zu mir und erſchrak. Leichtſinn und Genuß, die Zauber⸗ geiſter, drohten mich in ihre Gewalt zu bekommen. Das durfte nicht ſein! „Meran fängt an, ſchwül zu werden,“ ſchrieb ich am nächſten Morgen an meinen Mann; „ſo ſehr die weiche Luft meiner Geſundheit nützte, ſo ſehr ſchädigt ſie meine Arbeitskraft. Und ich wünſche jetzt nichts mehr, als mich Hals über Kopf in meine Arbeit zu ſtürzen. Da⸗ rum möchte ich fort. Der Arzt verordnet mir Höhen⸗ luft; ich ſelbſt fühle, daß ich etwas Starkes, Herbes atmen müßte. Wollen wir nicht miteinander irgend ein ſtilles Plätzchen ſuchen? Wir waren langegenug getrennt.. Statt aller Antwort kam er ſelbſt. „Ich habe ge⸗ wartet, bis du mich rufen würdeſt —, es iſt mir ſchwer genug geworden,“ flüſterte er zärtlich, „nun aber wirſt du mich nicht mehr los.“ Dunkel errötend barg ich den Kopf an ſeiner Bruſt. 344 An der Ampezzoſtraße, ſüdlich von Cortina, liegt ein kleines Dorf, Pezzié genannt. Zwiſchen ſeinen braunen, ärmlichen Hütten ragte ein einzelnes Bauernhaus mit weißgetünchten Mauern und großen Altanen ſtattlich hervor. Über ein Vierteljahr wohnten wir dort in tiefſter Stille und Zurückgezogen⸗ heit. Im Lärchenwald hinter dem Hauſe ſpielte mein Junge mit den braunen Bauernkindern, auf der Altane, angeſichts des weiten blühenden Tals und des gewal⸗ tigen ſchneebedeckten Felſenmaſſives der Tofana, fing ich wieder an zu arbeiten. Wenn mir in den ver⸗ gangenen Wochen die Aufgabe eingefallen war, die ich mir mit meinem Buch geſtellt hatte, ſo war ſie mir wie ein unüberſteigbarer Berg erſchienen. Jetzt, da ich ſie aufs neue in Angriff nahm, war mir's, als habe all die Zeit hindurch eine fremde Kraft unter der Schwelle meines Bewußtſeins weiter an ihr gearbeitet. Oder ſollten Gedanken wie Samen ſein, die einmal in den Boden des Geiſtes geſtreut, ſich aus eigener Macht weiter entwickeln? Die vielen Zahlen, die ich in meinen Büchern vor mir hatte — Ergebniſſe der Volks⸗ und Berufszählungen europäiſcher und außer⸗ europäiſcher Länder, Lohn⸗ und Arbeitsſtatiſtiken —, wurden merkwürdig lebendig, als zuckten in ihnen die Leiden der Millionen. Immer deutlicher ſah ich das Bild, das ich zu malen hatte: den Zug der Frauen, wie er durch glutheiße Wüſten und rauhe Steppen da⸗ hinſchleicht, jede einzelne in ihm gebeugt unter den Laſten, die ſie zu tragen hat: der Hacke und dem Spaten, 345 der Sichel und der Spindel, dem einen Kinde auf dem Rücken, dem anderen unter dem qualvoll klopfenden Herzen. Was mich zuerſt nur wie ein Inſtinkt in die Reihen der kämpfenden Arbeiterſchaft geführt hatte, das wurde mir jetzt zur bewußten Erkenntnis: die Berufs⸗ arbeit der Frau, die ihre Entſtehung der Umwandlung der Produktionsweiſe durch die Maſchine zu verdanken hat, iſt immer mehr zu einem notwendigen Beſtandteil dieſer Produktionsweiſe geworden. Aber indem ſie ſich ausdehnt, untergräbt ſie zu gleicher Zeit die alte Form der Familie, erſchüttert die Begriffe der Sittlichkeit, auf denen der Moralkodex der bürgerlichen Geſellſchaft beruht, und gefährdet die Exiſtenz des Menſchen⸗ geſchlechtes, deren Bedingung geſunde Mütter ſind. Es bleibt der Menſchheit ſchließlich nur die Wahl: entweder ſich ſelbſt oder die kapitaliſtiſche Wirtſchaftsordnung aufzugeben. Dieſe Konſequenz zu ſcharfumriſſenen Aus⸗ druck zu bringen, ſodaß niemand ihr aus dem Wege zu gehen vermöchte, — das war mein Wunſch. Das Fieber der Arbeit, das alle Pulſe ſchneller ſchlagen läßt, das über jede Müdigkeit hinwegtäuſcht, das die Gedanken des Tages in den Traum der Racht verflicht, hatte mich ergriffen. Und zugleich jener ge⸗ ſunde Egoismus des Schaffenden, der ihn für ſeine Umgebung blind und taub macht, nur damit das Werk wachſen kann. Dankbar überließ ich der Berta, dem meraner Kindermädchen, die ſich mit ſolcher Klugheit in jede Lage zu ſchicken ſchien, die Sorge um unſeren kleinen Haushalt. Daß ſie für uns kochte und wuſch und nähte und eiferſüchtig jede andere Hilfe abwehrte, war mir nur ein Beweis für ihre Tüchtigkeit; und daß 346 der Kleine mit ſolcher Liebe an ihr hing, machte ſie mir vollends unentbehrlich. Wenn ich mit meinem Mann ſpazieren ging, ſo ſprach ich von nichts anderem als von meiner Arbeit, von all den Ideen, all den Plänen, die ſie in mir auslöſte. Und er hörte mir nicht nur ruhig zu, er ging voller Anteilnahme auf meine Intereſſen ein und half mir durch ſeine Fachkenntniſſe. Daß auch er ein ſelbſtändiges Leben hatte, daß auch in ihm vieles bohrte und gärte, das nach Ausdruck ver⸗ langte, daß er um ſo einſamer wurde, je mehr ich mich in die Arbeit verlor, — von alledem wußte ich nichts. Zuweilen ſtiegen am Horizont drohend die Sorgen⸗ wolken empor: was das Grunewaldhaus uns übrig ge⸗ laſſen hatte, war bald verzehrt, die Einnahmen aus dem Archiv blieben unzulänglich, mein Buch, auf deſſen Erfolg ich rechnete, war noch lange nicht vollendet; wie würden wir auskommen?! Mit aller Anſtrengung vertrieb ich die böſen Gedanken, ich arbeitete noch un⸗ unterbrochener, um mir ſelbſt keine Zeit zu laſſen, ihnen nachzuhängen. Eines Morgens bekam Heinrich einen Brief, den er mir ſtumm herüberreichte: Ob er während 7 205 der nächſten Monate für ein uns naheſtehendes Blatt die Pariſer Korreſpondenz übernehmen könne? Ihr bisheriger Leiter ſei erkrankt und habe einen längeren Urlaub angetreten. Es überlief mich heiß und kalt. Wie der Rame Rom auf die Deutſchen des Mittelalters, ſo wirkt der Rame 347 Paris auf die Menſchen des zwanzigſten Jahrhunderts. Aus ihren dunklen Wäldern, ihren finſteren Burgen und engen Städten ſehnten ſich unſere Vorfahren nach dem lachenden Himmel Italiens; und aus dem Ernſt unſeres ſtrengen Alltagslebens verlangt alles, was jung iſt in uns, nach dem Glanz, nach dem Leichtſinn von Paris. Aber ich bemühte mich, ruhig zu ſcheinen und meiner ſtürmiſch aufwogenden Freude Herr zu werden. „Was ſagſt du dazu?“ fragte mein Mann. „Wir würden uns raſch entſchließen müſſen. Mit dem inter⸗ nationalen Sozialiſtenkongreß, der in zehn Tagen zu⸗ ſammentritt, müßte meine Tätigkeit anfangen. „Und dein Archiv?!“ warf ich ein. „Du kannſt es doch nicht monatelang von Frankreich aus redigieren! „Ach, — das Archiv . .!“ meinte er mit einem halb wegwerfenden, halb ärgerlichen Ton, der mich erſtaunt aufſehen ließ. Das Archiv war ſeine Schöpfung, ſein liebſtes Geiſteskind. „Das Archiv könnte ich von überall her leiten! In Paris aber ſcheint mir jetzt der rechte Ort, um den Sozialismus in ſeiner neuſten Phaſe zu ſtudieren, in Paris, wo ein Millerand Miniſter iſt, wo die Intellek⸗ tuellen, — unter ihnen ein Zola, ein France, ein Steinlen, — mit Jaurés Arm in Arm gehen! . . Wenn du alſo nichts dagegen haſt, ſo nehme ich den An⸗ trag an.“ 348 Paris! Die untergehende Septemberſonne um⸗ glühender Glorie. Mir war, als klänge im gab die ſchwarz hingeſtreckte Stadt mit rot⸗ Räderrollen unſeres Zugs ein rhythmiſches Jauchzen, als könne die fauchende Rieſenſchlange es nicht er⸗ warten, ſich in die lodernde Glut zu ſtürzen. Am Morgen nach unſerer Ankunft wanderten wir durch die Straßen. Es war die vollkommenſte Über⸗ raſchung, die mich mehr und mehr verſtummen ließ. Ich hatte etwas Lautes, Buntes erwartet, etwas, das über⸗ einſtimmt mit dem Begriff „Paris“, den wir uns draußen gebildet haben. Und nun ſah ich Häuſerzeilen in gleich⸗ mäßig feiner zurückhaltender Architektur, hohe Fenſter mit ſchmalen Gittern davor, ſah Mauern, über die der Efeu kroch, und Baumrieſen, die aus alten verſchwie⸗ genen Höfen geheimnisvoll herüberrauſchten. Ich ſah, wie ſich die vielen Alleen plötzlich in weite, weite Gärten verloren, unter deren Büſchen graue Statuen träumten, und unter runden Lorbeerbäumen ſtille Baſſins goldig glitzernd von den vielen kleinen Fiſchen darin. An altertümlichen Kirchen kamen wir vorbei mit runden und viereckigen dicken Türmen, oder dem myſtiſchen Maßwerk keuſcher Gotik über alten Portalen. Zur Madeleine ſchritten wir die breite Steintrepve empor und traten aus der heidniſchen Pracht ihrer Säulenhalle in das Dämmerdunkel ihres Inneren. Eine wunderſchöne Ronne kniete regungslos am Eingang, die Sammelbüchſe vorgeſtreckt in ſchmalen weißen Händen. Und als wir uns wieder zum Gehen wandten, ſchweifte der Blick über die zu unſeren Füßen ſich dehnende 349 Straße und die majeſtätiſche Größe der Place de la Concorde, wo Menſchen und Wagen ſich verloren wie Spielzeug, bis weithin zur Kuppel des Inva⸗ lidendoms. Er hütete, was ſterblich war an dem korſiſchen Rieſen, der die Welt formte nach ſeinem Willen, und der, ein Lebender, noch heute die Stadt Paris erfüllt. Durch Alleen breiter Kaſtanienbäume, deren dunkle große Blätter ſchwarze Schatten auf die hellen Wege warfen, gingen wir langſam hinauf, wo der Triumph⸗ bogen des Etoile ſich, von weichen Morgennebeln um⸗ ſpielt, mit den Wolken zu verſchmelzen ſchien. Und in den Gärten der Tuilerien verloren wir uns. Zarte Kinder mit künſtlich geringelten Locken ſpielten auf ſeinen Plätzen, alte Herren, mit dem roten Bändchen im Knopfloch, fütterten die Vögel, von einer Schar Zuſchauer umgeben, deren Intereſſe faſt wie Andacht war. Von den Bäumen tanzten leiſe die gelben Blätter; eine träumeriſch ſüße Luft, die Geräuſche und Farben dämpfte, ſpielte zärtlich um den grauen Königs⸗ palaſt des Louvre und ſtreichelte ſanft die Geſichter der Vorübergehenden, als wollte ſie ſie tröſten, weil es ſchon Herbſt geworden war. Und ſelbſt die Bettler auf der Brücke, und die ſchmutzigen Savoyardenknaben, die ihre Ware feil boten, und die alten Buchhändler, die ihre ſtockfleckigen Schartäken auf den Quaimauern aufbauten, lächelten leiſe. Der Fluß aber wälzte ſich lautlos vorüber; ſeine Waſſer ſchimmerten in gebrochenen Farben wie müde Opale. „Eine vornehme Frau iſt Paris,“ ſagte ich nachdenk⸗ lich, als wir von unſerem erſten Ausgang zurückgekehrt 350 waren, „eine vornehme Frau, deren ſchöne Züge die Wehmut des Alterns umflort . . . Am Abend verließen wir wieder das Hotel. Jetzt brauſte die Weltſtadt: rauſchende Kleider, rollende Wagen, girrendes Lachen, wüſtes Geſchrei —, zu einem einzigen Ton verſchmolz das alles. Zwiſchen den Bäumen der Boulevards ſtrahlten die Laternen wie endloſe Lichter⸗ ketten, breit quoll das Licht aus den Cafés über wippende Federhüte und ſpiegelnde Zylinder. Nur auf dem rie⸗ ſigen Concordienplatz wirkten die Bogenlampen wie Brillanten auf dem dunkelgrauen Samt der Nacht. Da plötzlich leuchtete jenſeits zwiſchen den Bäumen ein Wunder auf: ein ſchimmerndes Tor aus Juwelen erbaut, eine Märchenſtadt dahinter, deren Mauern Kriſtall, deren Türme Feuerbrände waren; die Welt⸗ ausſtellung. Wir folgten dem wimmelnden Menſchen⸗ ſtrom, deſſen Rauſchen ſich aus allen Sprachen der Welt zuſammenſetzte. Es war ein einziger Traum aus Tauſendundeine Nacht. Ein Turm, aus ſtrahlen⸗ den Goldfäden gewoben, trug auf ſeiner diamantenen Spitze die ſchwarze Kuppel des Himmels. In tief⸗ dunkle Teiche ergoſſen ſich Kaskaden von Licht. Der ſtille Fluß ſpiegelte Paläſte wieder, die allen Glanz der Welt an ſeinen Ufern vereinigt hatten. Die Brücken ſpannten ſich über ihn wie lauter glückverheißende Regen⸗ bogen. Und wer ſie überſchritt, den empfing jenſeits ein Lachen, ein Singen, ein Jubeln, — als gäbe es nirgends Tränen mehr. Ein Taumel erfaßte die Men⸗ ſchen: von den Terraſſen herunter, — aus den weit ge⸗ öffneten Türen bunter Häuſer lockte die Freude in ſehn⸗ ſüchtigen Geigentönen, in wilden Trompetenſtößen. Dort 351 tanzte Loie Fuller, die lebendig gewordene Flamme: wenn ſie ſich aufwärts ſchwang, züngelten die Schleier über ihrem Haupte, wenn ſie ſich neigte, leuchtete ſekundenlang ihr ſchneeweißer Buſen. Drüben trippelte auf Stöckelſchuhen Sada Vacco, die Japanerin; aus ihren geſchlitzten Augen ſprühten Blitze fanatiſierter Kunſt, auf ihren Gewändern leuchteten Blumen der Hölle und Vögel des Paradieſes. Und unter dem bun⸗ ten Zeltdach ringelten ſich Schlangen um den halb⸗ nackten Leib der Indierin, züngelten zärtlich um ihre braune Haut, während ihre kleinen Füße, von goldenen Ringen umklirrt, ſich im Takte bewegten und ihre Arme ſich ausſtreckten — eine einzige Gebärde verlangen⸗ der Luſt . Mitten im Gewühl trafen wir Geier, der zum Sozialiſtenkongreß nach Paris gekommen war. „Ein Rieſenvarieté, — nichts weiter, brummte er, „im Grunde widerwärtig.“ Ich erwachte wie aus einem Traum: die Geſichter der Tänzerinnen erſchienen mir plötzlich fratzenhaft; wo die Schminke ſich verwiſchte, grinſte hinter dem Lächeln der Freude die rohe Sucht nach Gewinn. Und der lichtgewobene Turm, der den Himmel trug, war aus Eiſen; Menſchlein kletterten ſelbſtbewußt bis in ſeine Spitze, und hoheitsvoll wich die Sternenkuppel weit, weit zurück vor ihnen. Kuliſſen aus Gips und Leinwand waren die Paläſte, Glas die Juwelen im Portal. „Man ſoll einen Mondſüchtigen nicht anreden,“ ſagte ich. „Schon glaubt' ich mich wirklich auf dem Wege 352 zur Erfüllung einer Sehnſucht, die mit mir geboren zu ſein ſcheint —. „Und die wäre?“ fragte Heinrich. Ich zögerte; ich wußte, wie falſch ich verſtanden werden könnte. „Bacchantiſche Luſt zu ſehen, überſtrömende, jauchzende Lebenswonne, — die dabei eines Gottes würdig wäre. Immer iſt Freude ſo etwas Armſeliges, — Mutloſes.“ „Dann ſind Sie jedenfalls in Paris am rechten Ort. Übrigens hätte ich Ihrer norddeutſchen Prinzeſſinnen⸗ würde nicht ſo exotiſche Phantaſien zugetraut,“ ſpottete Geier. „Aber immerhin, — ich, als alter Pariſer, kann Ihnen vielleicht heute noch dienen.“ Wir verließen die Ausſtellung, überquerten den Platz bis zur Rue Royal. „Maxim“ ſtand in großen Buchſtaben über der Tür des Reſtaurants, in das wir eintraten. Auf den hohen Stühlen vor dem Schenktiſch der Bar ſaßen elegante Männer mit müden, gelangweilten Geſich⸗ tern. Aus dem Saal dahinter klang gedämpfte Muſik. Die Frauen unter ſeinen Spiegelwänden an den kleinen, blumengeſchmückten Tiſchen flüſterten nur hie und da miteinander. Sie waren alle ſchön und jung. Hellblond und üppig die eine im weißen Seidenkleid, Perlen in den roſigen Ohren, rieſelnde Perlen um den runden Hals und einen matten Perlenglanz in den großen hellen Augen. Statuenhaft die andere neben ihr, die prachtvolle Geſtalt eng in roten Samt gehüllt, die ſchmalen Finger von Brillantringen bedeckt, die nacht⸗ ſchwarzen Haare in glatten Scheiteln um die Schläfen. Und rothaarige, hinter deren durchſichtiger Haut blaue Adern klopften, brünette, mit dem bräunlich warmen Ton 353 der Südländerin, reihten ſich ihnen an, eine ſchnee⸗ weiße dazwiſchen, mit roſigem Antlitz, als wäre die Pompadour aus dem langweiligen Jenſeits in ihr ge⸗ liebtes Paris zurückgekehrt. Zuweilen ſtanden ſie auf und ſchritten langſam auf und nieder; ihre Kleider raſchelten, als ob ſchillernde Salamander durch dichtes Blattwerk ſchlüpften, das aufreizende gleichmäßige Klipp⸗ klapp der hohen Abſätze ihrer Seidenſchuhe tönte da⸗ zwiſchen, in ihren Juwelen brachen ſich hundertfarbig die Lichter, Wolken betäubenden Duftes zogen hinter ihnen her. Sie waren wie exotiſche Blumen aus fremden Urwäldern. Die Muſik ging in Walzermelodien über. Und durch die offenen Türen kamen allmählich die Herren aus der Bar, — alte und junge Greiſe. Rüchtern, luſtlos, wie der Trainer ein Rennpferd, muſterten ſie die Frauen. Sie erwachten erſt zum Leben, als der Sekt in den Gläſern vor ihnen perlte. Ihre Blicke wurden zu lüſternem Greifen, ihr Lachen wurde gemein. Sie er⸗ ſchienen wie rohe Barbaren gefangenen Königinnen gegenüber. Und jetzt begannen die Geigen zu jauchzen, raſcher und raſcher füllten ſich die Gläſer und leerten ſich wieder, die Paare ſchwangen ſich in raſendem Tanz; — dort ſenkte ein Graubart die zittrigen Kniee vor einer jungen Schönen und trank aus ihrem weißſeidenen Schuh. „Nun?!“ fragend wandte ſich Geier mir zu. Ich zuckte die Achſeln: „Rennen Sie das bacchantiſche Luſt?! Wenn Männer ſich erſt betrinken müſſen, um für Frauenſchönheit zu entflammen, und Frauen nur durch den Rauſch, der ihre Augen und ihre Sinne um⸗ Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 23 354 nebelt, den Ekel vor dieſen Männern zu überwinden vermögen?! Wir gingen. Über die Boulevards ſchob und drängte ſich die Menge: Fremde, mit geſpannten Zügen, überall ungeheuerliche Enthüllungen der Sünde erwartend, kleine beſcheidene Provinzfrauen mit einem dirnenhaften Funkeln in den Augen, Kinder, blaß und übernächtig, immer noch Blumen verkaufend, den alten wiſſenden Blick halb neidiſch auf die geſchminkten Kokotten gerichtet, die wie Götzenbilder ſich durch die dunkeln Maſſen bewegten. War Paris nicht doch ihresgleichen? Als wir am nächſten Morgen den Sitzungsſaal des Internationalen Kongreſſes betraten, blieb ich ſchon an der Tür erſchrocken ſtehen: das tobte und ſchrie, pfiff und trampelte, als ſollte ein Sen⸗ ſationsſtück zu Fall gebracht werden. Vandervelde, der belgiſche Volksführer, ſtand auf der Rednertribüne, aber weder ſeine Autorität, noch der ſonore Klang ſeiner ſchönen Stimme, noch die beſchwörenden Geſten ſeiner ariſtokratiſchen Hände wurden Herr über die entfeſſelte Leidenſchaft der Menge. Drohende Fäuſte reckten ſich zu ihm empor: „A bas les ministériels!“ tönte es im Takt von der einen Seite, wo ſich um Jules Guesde, den franzöſiſchen Liebknecht, die Anhänger ſcharten. Wer es nicht vorher wußte, erfuhr es angeſichts dieſer Ver⸗ ſammlung: nur um eine Kardinalfrage des Sozialismus konnte ein ſo wüſter Kampf entbrennen. Die Vertreter des alten revolutionären Gedankens behaupteten ſtand⸗ haft ihre Intranſigenz: „Die Befreiung der Arbeiter 355 kann nur ein Werk der Arbeiterklaſſe ſelbſt ſein, jedes Paktieren mit der bürgerlichen Geſellſchaft iſt ein Ver⸗ rat an der Sache des Proletariats.“ Von dieſen lapi⸗ daren, jedem Arbeitergehirn leicht einzuprägenden Sätzen aus, verurteilten ſie notwendigerweiſe den Eintritt des Sozialiſten Millerand in das Miniſterium und forderten vom Kongreß eine offizielle Anerkennung ihres Stand⸗ punktes. Wider Vandervelde, der die Vermittlungs⸗ reſolution der Deutſchen verteidigt hatte, erhob ſich der Italiener Ferri; die ſchönheitstrunkenen Romanen jubel⸗ ten ſchon ſeiner bloßen Erſcheinung zu, und als er mit all den klaſſiſchen Worten der Revolution jonglierte, wie ein geſchickter Taſchenſpieler mit glänzenden Kriſtall⸗ kugeln, und den Reviſionismus von der Landtagswahl⸗ beteiligung der Deutſchen bis zum Miniſterialismus der Franzoſen als einen Abfall brandmarkte, dankte ihm brauſender Beifall. Die graziöſen Franzöſinnen auf den Zuſchauertribünen, denen der Kongreß dieſelben Rervenreize bot wie eine Premiere, ſchlugen begeiſtert die weißbehandſchuhten Händchen aneinander, und des Redners dunkler Blick grüßte dankend die ſeidenrauſchen⸗ den Vertreterinnen des Kapitalismus, gegen den er eben zum Kampf gerufen hatte. Dann kam Jaurés, der das moderne republikaniſche Frankreich in der Dreyfusaffäre gegen Klerikalismus und Militarismus verteidigt hatte, — eine unterſetzte Geſtalt, mit dem breiten blonden Kopf eines Germanen. Er wird es ſchwer haben, dachte ich angeſichts dieſer Verſammlung, die ihre Redner äſtethiſch zu werten ſcheint. Aber ſchon der erſte Laut ſeiner Stimme zog die Menge in ſeinen Bann: ſie war wie das Meer; 23* 356 ſelbſt wenn ſie ruhig ſchien, war Sturm in ihr, und wenn ſie anſchwoll, ſchlug ſie donnernd gegen die Mauern, wie die Wogen gegen den Fels. Ich war nicht imſtande auf die Worte zu achten, ich hörte nur den Klang, jenen muſikaliſchen Tonfall der Sprache, der die Weſensart des ganzen Volkes enthüllt, eines Volkes, das durch logiſche Schlüſſe wiſſenſchaftlicher Deduktionen niemals überzeugt zu werden vermag, wenn nicht der Künſtler in ihm durch die Schönheit der Form, durch das Pathos des Ausdrucks gepackt wird, eines Volkes, von dem ich plötzlich begriff, daß es die Baſtille ſtürmen und Napoleon Bonaparte zu ſeinem Kaiſer krönen konnte. Ich war noch wie benommen, als wir abends den Saal verließen. An der Tür begrüßten uns unſere Landsleute. „Eine unglaubliche Geſellſchaft!“ ſchimpfte der eine. „Für nichts iſt geſorgt: nicht mal Bleiſtift und Papier gibt's auf den Tiſchen.“ — „Und keine Mög⸗ lichkeit, die Anträge rechtzeitig drucken zu laſſen,“ fügte ein zweiter hinzu, — „man weiß nich mal, wo man eſſen jehn ſoll,“ brummte ein dritter. Jetzt fühlte ich mich wieder in Deutſchland. Wir unterhielten uns, als wir zuſammenſaßen, über die deutſche Reſolution. „Sie iſt aus Wenn und Aber zuſammengeſetzt, und einem Fall Millerand iſt zwar die Tür geſchloſſen, aber das Fenſter geöffnet,“ — räſo⸗ nierten die Vertreter des ſechſten berliner Wahlkreiſes, für die der Eintritt eines Sozialiſten in ein bürgerliches Miniſterium keine taktiſche, ſondern eine prinzipielle Frage war. „„Die Eroberung der Regierungsgewalt kann nicht ſtückweiſe erfolgen,“ las ſtirnrunzelnd einer 357 der Wortführer des Reviſionismus; „das iſt ein Satz, den wir unmöglich unterſchreiben können, denn in par⸗ lamentariſch regierten Staaten kann und wird ſie nicht anders als allmählich vor ſich gehen.“ Am Morgen darauf ſtimmten die Deutſchen trotzdem geſchloſſen für die Reſolution, um die Einigkeit der Partei zu dokumentieren, und ſicherten ihr dadurch ihre Annahme. Ich war froh, daß ich kein Mandat be⸗ ſaß, denn die vielgerühmte Diſziplin unſerer Ge⸗ noſſen mißfiel mir, die die perſönliche Anſicht dem Willen der Mehrheit unterwarf; die individualiſtiſche Haltung der Franzoſen ſchien mir ein Beweis größerer innerer Stärke zu ſein. Ich äußerte meine Anſicht, als wir mit unſeren näheren Bekannten nachts vor einem Boulevard⸗Café zuſammenſaßen, und ſtieß auf heftigen Widerſpruch. „Unſere Diſziplin hat uns groß gemacht,“ hieß es von allen Seiten. „Rumeriſch groß, — gewiß, antwortete ich, „ob aber entſprechend einflußreich?! In England, wo die Partei ſo zerriſſen iſt wie hier, durch⸗ dringt die ſozialiſtiſche Idee alle Kreiſe, gehören Sozia⸗ liſten allen öffentlichen Körperſchaften an, in Frankreich ſtützt ſich die Republik auf Sozialiſten, und ein einziger ſozialiſtiſcher Miniſter iſt imſtande, in Monaten mehr Reformen auf dem Gebiete des Arbeiterſchutzes durchzu⸗ führen, als ſeine Vorgänger während Jahrzehnten —“ „Und in Deutſchland übernahm unſere Reichstags⸗ fraktion im Kampf gegen die Lex Heinze die Führung und rettete Wiſſenſchaft und Kunſt vor unerhörter Knebe⸗ lung,“ unterbrach mich einer der Anweſenden lebhaft; „es geht langſam bei uns, aber es geht, und ſelbſt die Reſolution, deren Annahme durch uns Sie ſo verur⸗ 358 teilen, iſt ein Zeichen des Fortſchrittes. Sie hat dem falſchen Radikalismus eine ſeiner Spitzen abgebrochen, indem ſie der politiſchen Taktik freie Hand ließ. „Dazu, ſcheint mir, werden die Verhältniſſe Radikale und Reviſioniſten ſtets ohne weiteres zwingen. Die Preisgabe perſönlicher Überzeugung war überflüſſig, antwortete ich. „So halten Sie es für beſſer, wenn man um ver⸗ ſchiedener Anſichten willen wie verzankte Kinder nach rechts und links auseinander läuft?! „Es ſcheint mir jedenfalls richtiger, als klaffende Gegenſätze mit den morſchen Brettern gegenſeitiger Kon⸗ zeſſionen überbrücken zu wollen.“ Eine augenblickliche Stille trat ein; man ſah erwar⸗ tungsvoll auf Geier, der eben hinzugetreten war. „Politik beſteht aus Konzeſſionen,“ erklärte er und ſtrich gleichmütig die Aſche von ſeiner Zigarre; „aber da⸗ von verſteht ihr Weiber nichts. Für das Geſchäft ſeid ihr entweder zu gut oder zu ſchlecht, darum laßt die Finger davon. Übrigens: — Ich habe eine Rachricht in der Taſche, die den Wünſchen der Genoſſin Brandt ent⸗ gegenkommt: Euer neuer Prophet, Bernſtein, wird Deutſchland in persona beglücken dürfen. Von allen Seiten mit Fragen nach dem Wie und Warum beſtürmt, fuhr Geier mit einem ſpöttiſchen Blick auf mich in ſeinem Berichte fort: „Die deutſche Re⸗ gierung hofft auf eine Spaltung der Partei. Es iſt Bülows, des neuen Reichskanzlers, erſte Heldentat, wenn er das Ausweiſungsdekret gegen Bernſtein nicht mehr wiederholt. Viel Glück zu dieſem Zuwachs, Ihr lieben Reichsdeutſchen!“ Damit erhob er ſich, flüchtig grüßend. 359 Wir gingen ſchweigſam nach Haus, mein Mann und ich, in unſere kleine möblierte Wohnung, die wir nach langem Suchen endlich gefunden hatten. Ich fühlte auf dieſem Heimweg deutlicher als je, daß wir allmählich auch innerlich nebeneinander und nicht miteinander gingen. In der Racht hörte ich, wie unruhig er ſich hin und her warf, und ſah im Laternenlicht, das matt durch die Fenſterſcheiben drang, wie zerquält ſeine Züge waren. Er litt, — und ich wußte nicht warum; ich, die ich ihm am nächſten ſtand, hatte ihn allein gelaſſen! Das Herz krampfte ſich mir zuſammen. Waren nicht jene Frauen wirklich die beſſeren geweſen, die nichts hatten ſein wollen, als ein allzeit offenes Gefäß für die Schmerzen und die Kämpfe des Gatten? Vielleicht waren ſie die tiefſte Bedingung ſeiner Kraft. „Heinz,“ flüſterte ich zaghaft und griff nach ſeiner Hand, „warum ſprichſt du nicht mit mir? — Irgend etwas laſtet auf dir —. Er lächelte mich an. „Gutes Kind, — beunruhige dich doch nicht! Du haſt mit dir ſelbſt genug zu tun und mit deiner Arbeit.“ „Du aber nimmſt teil daran, — du hilfſt mir, und ich ſollte dir nicht helfen dürfen?! — Hängt es am Ende damit zuſammen, daß du dem Archiv innerlich untreu geworden biſt?“ drängte ich. „Woher weißt du das?“ fuhr er auf. „Ich habe doch Augen im Kopf, — ich ſehe, wie oft du die Korrekturen ungeduldig zur Seite wirfſt „Du haſt recht,“ antwortete er, „ich hätte dich nur gern mit meinen Angelegenheiten verſchont, ſo lange ſie mir ſelbſt ſo unklar ſind. Als ich das Archiv ins Leben 360 rief, war die Sozialpolitik ein unbebautes Ackerland. Jetzt, wo der Samen aufging, kann jeder Garben ſchneiden —“ „Ich verſtehe,“ unterbrach ich ihn lebhaft, „wir beide gehören zu denen, die Wege anlegen, aber nicht die Steine dafür karren können. „Wege anlegen —,“ wiederholte er, „ganz richtig! Und dafür iſt in der Partei jetzt die Zeit gekommen. Gräßlich, angeſichts dieſer Aufgabe die Hände gebunden zu haben! Dem Reviſionismus fehlt es an einem geiſtigen Mittelpunkt, einem unabhängigen Organ, das an Stelle bloßer Verneinung die Ideen praktiſcher Politik in die Köpfe der Maſſen hämmert, das die geiſtigen Kräfte der Intellektuellen in den Dienſt unſerer Sache zieht. Die Lex Heinze hat ſie aus dem Schlaf geweckt, — auch hier müßte das Eiſen geſchmiedet werden, ſo⸗ lange es warm iſt.“ „Und wieſo ſind dir dafür die Hände gebunden?! rief ich aus, von den Gedanken, die er ausſprach, ge⸗ packt. „Der Plan muß ausgeführt werden! „Bei all deiner Klugheit biſt du doch ein ganz dummes Katzel!“ ſagte er. „Oder wächſt dir ein Korn⸗ feld auf der flachen Hand?! Kein bürgerlicher Verleger würde ihn verwirklichen helfen, ein Parteiverlag erſt recht nicht . . . Ich dachte an den Amerikaner Garriſon, der ſeine der Idee der Sklavenbefreiung gewidmete Zeitſchrift ſelbſt ſchrieb und druckte. Ob wir nicht dieſem Beiſpiel folgen könnten? Mein Mann lachte mich aus. „Selbſt wenn wir unſere ganze Arbeitskraft der Sache opfern würden, ohne pekuniäre Mittel hülfe das nichts. Ich 361 ſehe nur eine Möglichkeit, um zum Ziel zu gelangen —,“ er brach ab, als habe er ſchon zuviel geſagt. „Die wäre? „Der Verkauf des Archivs. Mit dem Erlös könnte man die Zeitung ins Leben rufen —“ „Warum verſuchſt du das nicht?!“ Ich ärgerte mich, daß er nur einen Moment hatte zögern können. Er ſah mich forſchend an. „Iſt das Tapferkeit oder Leichtſinn, was aus dir ſpricht? — Mit dem Verkauf des Archivs iſt die Sicher⸗ heit unſerer Exiſtenz preisgegeben. Wir können bei dem neuen Unternehmen alles verlieren —“ „Darüber bin ich keinen Augenblick im Zweifel,“ antwortete ich ernſt. „Aber mir ſcheint, gegenüber der Größe der Aufgabe fallen perſönliche Bedenken nicht ins Gewicht.“ Wir waren einig. Von nun an widmete mein Mann all ſeine freie Zeit der Verwirklichung ſeines Gedankens. Er trat mit deutſchen Verlegern in Verkaufsverhand⸗ lungen, und wenn ich angeſichts ihrer wiederholten Reſultatloſigkeit oft nahe daran war, den Mut zu ver⸗ lieren, ſo ſchien der ſeine mit jedem Mißlingen neu zu wachſen. Er wandte ſich an die bekannteren Reviſio⸗ niſten, und wenn ihre zögernden Antworten mich depri⸗ mierten, ſo ſteigerten ſie nur ſeine Energie. Und meine Liebe, die unter der grauen Aſche der Alltäglichkeit nur noch leiſe geglimmt hatte, glühte auf, wie Waldfeuer im Sturm. Je ſtärker ich die Überlegenheit ſeines Willens empfand, deſto mehr liebte ich ihn. Und ge⸗ wohnt, mein eigenes Erleben zu betrachten wie der Forſcher ein wiſſenſchaftliches Experiment, aus dem er 362 beſtimmte allgemeine Schlüſſe zieht, ſah ich, daß eine der Theorien der modernen Frauenbewegung ſich ange⸗ ſichts der Erfahrung wieder einmal als leere Konſtruk⸗ tion erwies. „Das geiſtig entwickelte, ſeeliſch differenzierte Weib iſt die Vorausſetzung und Bedingung tieferer und dauern⸗ der Beziehungen zwiſchen den Geſchlechtern,“ hatte meine alte Gegnerin, Helma Kurz, noch kürzlich in dem ihr eigenen geſchwollenen Stil den Leſern ihrer Zeitſchrift verkündet. Sie identifizierte Liebe und Freundſchaft, weil ſie — das einſame alte Mädchen — wie der Blinde von der Farbe ſprach. Weibesliebe iſt Hingabe an den Höherſtehenden, gleichgültig ob das Herz, das ſie empfindet, unter dem groben Hemd der Dienſtmagd oder dem Talar der Doktorin beider Rechte ſchlägt. Darum wird die erotiſche Treue um ſo ſeltener ſein, je ſtärker das Weib ſich geiſtig und ſeeliſch individualiſiert. Mit noch größerem Eifer als früher ſtürzte ich mich in meine Arbeit; nicht nur, weil der Augenblick ſchreckhaft näher rückte, in dem ich das Honorar dafür nicht mehr würde entbehren können, ſondern mehr noch, weil das Buch vollendet ſein mußte, ehe die neue Aufgabe — die Zeitſchrift meines Mannes — an mich herantrat. Archive, Arbeitsämter und Bibliotheken öffneten ſich mir ohne Schwierigkeit. Vom Miniſter bis zum Por⸗ tier verleugnet der Franzoſe die Kultur des acht⸗ zehnten Jahrhunderts nicht, auch wenn die Dame, die ihm begegnet, keine Marquiſe iſt; jeder beeilt ſich, ihr 363 behilflich zu ſein, ihr entgegenzukommen, kein ſpöttiſches Lächeln, keine herunterhängenden Mundwinkel verraten der arbeitenden Frau, wie der Mann ſie im Grunde wertet. Je mehr ich mich aber in die Arbeit verſenkte, deſto höher türmten ſich die Probleme der Frauenfrage um mich auf, — die ſozialen, die ethiſchen, die ſexuellen entwickelten ſich eines aus dem anderen, als kröche ein Drache aus dunkler Höhle hervor, ein Glied um das andere vorſchiebend, langſam, endlos. Wenn ich mich morgens zum Fortgehen rüſtete und mein Kind die runden Armchen um meinen Hals ſchlang und bat und ſchmeichelte: „Mamachen, bleib doch mal bei mir, — Mamachen, bitte, bitte, erzähl' mir nur eine einzigſte ſchöne Geſchichte —“ dann erſchien mir mein eigenes Leben wie jene unheimliche Höhle, und in mein eigenes Herz bohrte der Drache ſeinen Giftzahn. Wie gläubig hatte ich früher den alten Vorkämpferinnen der Frauenbewegung gelauſcht, wenn ſie von jenen Ameri⸗ kanerinnen erzählten, die ihre Pflichten als Mütter, Hausfrauen und Berufsarbeiterinnen in ſo unvergleich⸗ liche Harmonie zueinander zu ſetzen vermochten. Ich erinnerte mich vor allem jener Advokatin, die neben ihrer großen Praxis ſechs Kinder erzogen und einen großen Haushalt allein geleitet haben ſollte. „Infame Lügen alter Jungfern!“ dachte ich grimmig. Und doch war ich ſelbſt noch eine Bevorzugte. Kam ich nach Haus, ſo fand ich mein Kind in guter Obhut und unſeren Tiſch gedeckt. Der Berta, die mit ſo viel Tränen durchgeſetzt hatte, bei mir zu bleiben, verdankte ich die äußere Arbeits⸗ möglichkeit. Ich konnte ihr nicht dankbar genug ſein. 364 Aber Millionen armer Frauen arbeiten in der Werk⸗ ſtatt und in der Fabrik, während die Straße ihrer Kinder Hüterin iſt und ſie gezwungen ſind, nach der Haſt der Arbeit noch die unzureichende Ernährung für ſich und die Ihren ſelbſt zu bereiten. So unſchätzbar die wirtſchaftliche Selbſtändigkeit des Weibes ſein mag, ſind die Opfer des Mutterherzens und des Kinderglücks nicht ein zu hoher Preis für ſie? Ich fand aus der Wirrnis nicht heraus: auf der einen Seite dieſe Rot, auf der anderen Seite die liebezerſtörende pekuniäre Ab⸗ hängigkeit des Weibes vom Mann. Die deutſchen Gewerbeaufſichtsbeamten hatten um jene Zeit eine Unterſuchung über die Arbeit verheirateter Frauen in der Induſtrie angeſtellt. Die Ergebniſſe lagen mir vor: überall war es die bittere Rotwendig⸗ keit, die ihnen zwiſchen dem natürlichen Weibesberuf und dem Erwerb außerhalb des Hauſes keine Wahl ließ. Und alles deutete darauf hin, daß ihre Zahl ſtändig zunehmen würde. Richts ſchien mir im Augen⸗ blick ſo wichtig, als die Löſung dieſer brennenden Frage. Es galt auf der einen Seite, dem Säugling die Mutter zurückzugeben, und auf der anderen, das Weib von der Laſt doppelter Pflichten zu befreien. Ich baute meinen alten Plan der Mutterſchaftsverſicherung aus, — feſt überzeugt, daß über kurz oder lang die Regierungen ge⸗ zwungen ſein würden, ihm näher zu treten. Aber ſelbſt ſeine Verwirklichung würde die notwendige Arbeitstei⸗ lung zwiſchen Hausfrau und Berufsarbeiterin nicht her⸗ beiführen. „Laß einmal heut deine Rachmittagsarbeit,“ ſagte Heinrich eines Tages, als ich in meine Grübeleien ver⸗ 365 ſunken nach Hauſe kam. „Wir ſind zur Einweihung eines Arbeiter⸗Reſtaurants geladen, — France und Jaurés werden dort ſein —“ „Du weißt, ich darf mich nicht ablenken laſſen,“ antwortete ich mißmutig. „Diesmal iſt aber die Sache intereſſant genug, um eine Ausnahme von der Regel zu entſchuldigen,“ meinte er. „Eine genoſſenſchaftliche Gründung der Art liegr auf dem Wege zu unſeren Zielen.“ Ich horchte auf: irgend etwas, halb Unbewußtes, packte mich. In einer engen Seitenſtraße des Boulevard Mont⸗ parnaſſe lag ein altes kleines Haus geduckt zwiſchen hohen Mietskaſernen. In ſeinem neuen Anſtrich, mit den Girlanden um die Türe und den Fähnchen an den Fenſtern ſah es luſtig aus wie ein altes Männ⸗ lein, das goldene Hochzeit feiert. Drinnen um die feſt⸗ lich gedeckten Tafeln herrſchte eitel Fröhlichkeit „Daß wir es erreicht haben, — endlich!“ ſagte glückſtrahlend einer der Leiter. „Seit Jahren ſam⸗ meln wir Sou um Sou, um die armen Arbeiter dieſer Gegend von der Ausbeutung der Kneipenwirte zu befreien, und um den zahlloſen arbeitenden Fami⸗ lienmüttern ein gutes und billiges Mittagsmahl zu ver⸗ ſchaffen.“ Ich reichte dem Manne die Hand und drückte ſie herz⸗ haft; er ſah mich verwundert an: er konnte nicht wiſſen, welch ein Geſchenk er mir eben gegeben hatte. Die breite Geſtalt von Jaurés erſchien in der Türe, hinter ihm die elegante eines vornehmen Graubarts, deſſen geiſtfunkelnde Augen über die große ſchiefe Raſe unter ihnen zu ſpotten ſchienen. „Anatole France,“ ſtellte 366 Jaurés ihn uns vor. Wir waren ſofort in lebhaftem Geſpräch. „Ich mag nicht fehlen, wenn die ſozialiſtiſche Arbeiter⸗ ſchaft irgendwo einen Fuß breit Boden gewinnt,“ ſagte er; „je mehr die Bourgeoiſie an Idealismus verloren hat, deſto unfruchtbarer iſt ſie für uns Intellektuelle. Wir müſſen uns ſtets zu den Hoffenden und Werdenden halten, wenn wir nicht ſelbſt abſterben wollen. „Unſere deutſchen Intellektuellen halten ſich lieber zu denen, die zwar an Hoffnungen arm, aber an Gold und Juwelen um ſo reicher ſind —,“ antwortete ich. Er lächelte ungläubig: „Wirklich?! In einem Lande, das ſprichwörtlich reich an hungernden Dichtern und arm an Männern iſt?! Dann wurde er zerſtreut, zog ein Blatt Papier aus der Taſche, überflog es wieder und wieder und reichte es Jaurés: „Ich bin kein Redner und ſoll durchaus ſprechen. Was meinen Sie, wenn ich das hier ſage? Dabei ſtieg die Röte der Verlegenheit in das gebräunte Geſicht des berühmten Mannes. Wir ſetzten uns zu Tiſch. Ich konnte nicht glauben, daß die vielen Menſchen um uns herum mit den ſelbſt⸗ verſtändlich guten Manieren, dem freimütigen Ton, der ohne weiteres jeden Abſtand der Bildung und des Milieus ausglich, die Armſten der Armen waren. Ich ſah es erſt allmählich an den hohlen Wangen und ſorg⸗ fältig vernähten Flicken auf den Kleidern. Und doch aßen und tranken ſie, als ob ſie alle Tage ſatt würden. France ſprach; ſtockend, ſchüchtern, aber mit einem ſo warmen Ton in der Stimme, daß er alle gefangen nahm. Und dann wußten ſie auch von ihm: „Unſer 367 großer France,“ flüſterte ſtolz einer dem anderen zu, und ein paar kleine Rähmädchen mit harten zerſtochenen Fingern brachten ihm die Veilchenſträußchen, die ſie im Gürtel trugen. Als ich am nächſten Tage wieder bei der Arbeit ſaß, war mein neuer Plan fix und fertig: „Haushaltungs⸗ genoſſenſchaften“ nannte ich ihn. In den Arbeiter⸗ vierteln der großen Städte ſollte jede Mietskaſerne mit einer Zentralküche verſehen ſein, die den Bewohnern ihre Mahlzeiten liefert. In den Häuſern der Arbeiter⸗ Baugenoſſenſchaften müßte der Anfang damit gemacht werden; Kinderkrippen und Kinderhorte zum Tages⸗ aufenthalt der Mutterloſen ſollten ſich anſchließen; die genoſſenſchaftliche Wirtſchaft, der Einkauf im Großen müßte, ſo berechnete ich, die Koſten für die anzu⸗ ſtellenden Arbeitskräfte aufbringen. Einſichtige Kom⸗ munen würden ſich allmählich bereit finden, ſolche, für die phyſiſche und moraliſche Geſundheit der Bevölkerung überaus wichtige Häuſer ſelbſt zu bauen. Mit der Be⸗ freiung von der doppelten Arbeitslaſt der Hauswirt⸗ ſchaft und der außerhäuslichen Erwerbsarbeit würde einer der wichtigſten Teile der Frauenfrage ihrer Löſung entgegengeführt werden. Und was für die Arbeiterin galt, das galt ebenſo für die geiſtig tätige Frau. Ich war ſo erfüllt von meiner Idee, daß ich vor freudigem Herzklopfen nächtelang ſchlaflos blieb. Mit dieſer Sache konnte ich bis zum Erſcheinen meines Buches nicht warten. Gerade jetzt, wo das Problem der Erwerbs⸗ arbeit verheirateter Frauen auf der Tagesordnung ſtand, mußte ich damit hervortreten. Ich ſchrieb an Wanda Orbin und teilte ihr mit, daß 368 ich an der Hand der neueſten Fabrikinſpektorenberichte eine kurze Broſchüre über die für die Arbeiterinnen⸗ bewegung ſo wichtige Frage der Beſchäftigung verhei⸗ rateter Frauen in der Induſtrie ſchreiben wolle und von ihr nur erfahren möchte, ob nicht etwa von anderer Seite ähnliches geplant würde. Irgendwelche Details gab ich ihr nicht. Sie antwortete mir umgehend, daß ſie ſelbſt ſeit längerer Zeit mit der Bearbeitung der Frage beſchäftigt ſei. „Ich habe mich nunmehr entſchloſſen,“ fuhr ſie fort, „die einzelnen Teile meiner Arbeit als ſelbſtändige Broſchüren erſcheinen zu laſſen, um ſie weiteren Kreiſen leichter zugänglich zu machen. Die erſte enthält die grundſätzliche Auseinanderſetzung der Frage der Fabrik⸗ arbeit verheirateter Frauen und des geſetzlichen Arbei⸗ terinnenſchutzes, das Manuſkript liegt im weſentlichen bereits fertig vor . . Sie werden mir kaum zu⸗ muten, auf die Veröffentlichung zu verzichten, weil an anderer Stelle die Behandlung derſelben Frage beab⸗ ſichtigt wird . . . Rein: ich dachte nicht daran, um ſo weniger, als es mir nichts genutzt haben würde. Ich wollte auch nicht mit Wanda Orbin in einen lächerlichen Konkurrenz⸗ kampf eintreten. Mochte ihre Schrift zuerſt erſcheinen, — mir würde nachher genug zu ſagen übrig bleiben. Während der Monate, die wir noch in Haris ver⸗ lebten, erſchien ſie jedoch nicht, und die verſchiedenen Harteibuchhandlungen wußten nichts von ihr. 369 Schwer und grau hing der Winterhimmel über Paris. Zuweilen tanzten weiße Flocken in der Luft, und dann ſchien's, als ob es hell werden wollte; aber die ſchmutzige Straße verſchlang ſie. Die Obſt⸗ und Gemüſeauslagen, die im Sonnen⸗ ſchein ſonſt ſo bunt und lockend den Vorübergehenden angelacht hatten, ſahen welk und unappetitlich aus. Die kleinen Mädchen mit den ſchönfriſierten Köpfchen, die vor kurzem noch lachend und kokettierend mit ſpitzen Hacken klappernd über das Pflaſter getrippelt waren, liefen jetzt fröſtelnd ihres Wegs mit verfrorenen, miß⸗ mutigen Geſichtern. Wer jetzt dicht am Kaminfeuer ſitzen und träumen könnte! Aber nach wie vor ging ich dieſelben Wege durch alte enge Gaſſen und ſaß mit eiſigen Füßen in dunkeln Bureaus. Wußte ich noch, daß es Paris war, in dem ich lebte? Lebte?!! War das wirklich Leben?! Hatte nicht am Ende auch mich die ſchmutzige Taglöhnerſtraße verſchlungen? Mich, die ich licht und frei ſein wollte? Wenn wir abends zuweilen aus unſerem ſtillen Stadtwinkel zum rechten Seine⸗ ufer hinübergingen, wo die Bogenlampen feſtlich zu ſtrahlen beginnen, wo hinter glänzenden Spiegel⸗ ſcheiben Juwelen und Spitzen und märchenhaft ſchim⸗ mernde Gewänder prahlend ihre Schönheit entfalten und Equipagen und Automobile hin und wieder rollen, aus denen ſchöne Frauenköpfe nicken und lächeln wie ſeltene Treibhausblumen hinter ihrem Glashaus, — nur zum Schmuck einer Racht gezüchtet, — dann fühlte Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 24 370 ich im verborgenſten Winkel meines Herzens einem ſtechenden Schmerz. Am Eingang zum Opernhaus ſtanden dicht gedrängt arme junge Mädels; ſie warteten auf die eleganten Damen, die mit ſeidenbeſchuhten Füßchen und langen Schleppen den Wagen entſtiegen. Sie ließen ſich von den Rädern mit Kot beſpritzen, um vom Glanze des Lebens nur einen Schein zu erhaſchen. Wir hatten bei einigen Parteigenoſſen Beſuch gemacht, — auch bei Millerand, — und waren mit einer Liebens⸗ würdigkeit empfangen worden, als wären wir längſt er⸗ wartete alte Freunde. Aber es blieb bei ein paar förm⸗ lichen Einladungen mit oberflächlichen allgemeinen Ge⸗ ſprächen. Während mein Mann einen unvereinbaren Gegenſatz in dem Benehmen unſerer Gaſtgeber empfand, fühlte ich mich plötzlich in die Umgebung meiner Jugend zurückverſetzt und verſtand ſie. Der Franzoſe iſt ein geborener Ariſtokrat, er hat jene Kultur des Benehmens, jene Liebenswürdigkeit der Form, die zugleich eine unüberſteigliche Mauer iſt, hinter der ſich das perſönlich Menſchliche verbirgt. Wir gerieten auch in einen literariſchen Salon, deſſen Herrin tout Paris um ſich zu verſammeln verſtand. Sie war von unverwüſtlicher Schönheit, und ihre Küche war berühmt. Als wir nach Hauſe gingen, war mein Mann befriedigt und angeregt und ich ſchlechter Laune. „Haſt du dich denn nicht amüſiert?“ fragte er mich ſchließlich. „Ganz und gar nicht,“ antwortete ich, „und wenn ich nicht fürchten müßte, daß meine Ehrlichkeit mich in deinen Augen herabſetzt, —“ „Aber Alix,“ lachte er und zog meinen Arm feſter 371 durch den ſeinen, „du weißt, daß du mich immer ent⸗ zückſt, wenn du du ſelber biſt. „So will ich's drauf ankommen laſſen und dir ge⸗ ſtehen, daß ich die Rolle des unbeteiligten Zuſchauers in jeder Geſellſchaft, — und wäre es die intereſſanteſte, — unerträglich finde. Es iſt ja ſicher lehrreich, zu er⸗ fahren, daß der Wert der Frau in Paris mit dem Wert ihrer Kosmetik und ihrer Toilette ſteigt und fällt, aber da ich auf dem Gebiet nicht konkurrieren kann —“ Heinrich lachte noch lauter. „Du liebe Eitelkeit, du,“ war alles, was er ſagte, während die Röte der Be⸗ ſchämung mir noch auf den Wangen brannte. Ein andermal folgte ich der Einladung einer der führenden Frauenrechtlerinnen in die Redaktion ihrer Zeitung. Ich bewunderte ſchon lange die Energie, mit der ſie die Frauen — franzöſiſche Frauen! — zwang, die politiſchen Tagesereigniſſe zu verfolgen, und an der Seite der Zola und Jaurés an dem Kampf für Dreyfus teilgenommen hatte. Ich erwartete unwillkür⸗ lich ein typiſche Feminiſtin: harte Züge, eckige Be⸗ wegungen, männliche Kleidung. Schon die Räume, die ich betrat, überraſchten mich; ſie hatten alle das Ausſehen und das Parfüm eines eleganten Boudoirs. Ein paar Damen gingen vorüber, — ſie hätten ebenſo beim five o'clock im Grand Hotel erſcheinen können. Dann kam die Leiterin ſelbſt. Wenn ſie mir bei Maxim begegnet wäre, ich hätte mich nicht gewundert. Ihre Schönheit hatte trotz aller ſtatuenhaften Kühle, — oder vielleicht gerade deshalb, — etwas Sieghaftes. „Je radikalere Feminiſten wir ſind, deſto ſtärker müſſen wir unſer Weibſein betonen,“ ſagte ſie im Lauf 24* 372 des Geſprächs. Ich ſtimmte ihr lebhaft zu und dachte an ihre deutſchen Geſinnungsgenoſſinnen, die den Gegen⸗ ſatz zwiſchen der Weltdame und der Frauenrechtlerin nicht genug glaubten zeigen zu müſſen. „Sie vergeſſen nur eins,“ fuhr ich fort. „Die Hflege der Schönheit koſtet Zeit und Geld. Und die eigentlichen Trägerinnen der Frauenbewegung, die Frauen, die heute im Kampf ums Daſein ſtehen, haben keins von beiden.“ „Darum müſſen wir es ihnen ſchaffen,“ warf ſie leb⸗ haft ein und führte mich, um ihre eigene Tätigkeit nach dieſer Richtung zu illuſtrieren, in den Setzerſaal, wo lauter junge Mädchen beſchäftigt waren. Unter den großen Schürzen lugten zierliche Kleider hervor, die hübſchen Lockenköpfchen hätten höheren Töchtern gehören können. Ihre Augen folgten mit ſchwärmeriſcher Be⸗ wunderung der ſtolzen Geſtalt ihres weiblichen Chefs, die ſich, umgeben von Veilchenduft, mit einem leiſen Wiegen in den Hüften durch ihre Reihen bewegte. Ich hörte ſpäter, ſie ſei eine grande amoureuse, eine von jenen, deren Herzen kalt bleiben, wenn ihre Sinne glühen. „Ihre Mittel ſind unerſchöpflich,“ ſagte man mir mit einem vielſagenden Lächeln. Mich intereſſierte dieſer Typus, der mir in Deutſchland nicht würde be⸗ gegnen können. Ich verſuchte, ihr näher zu treten. Doch auch ſie blieb ſtets dieſelbe: geiſtvoll, liebens⸗ würdig, — aber unnahbar. 373 Unſer Pariſer Aufenthalt neigte ſich ſeinem Ende zu. Mein Buch war faſt fertig. Es fing ſchon an, ſich von mir loszulöſen und vor mir zu ſtehen wie etwas Fremdes, nicht mehr zu mir Ge⸗ höriges, mit dem ich auch innerlich abgeſchloſſen hatte. Es war wie eine erſtiegene Höhe, von der aus ich nun weiter gehen mußte. Meine Gedanken kreiſten immer enger um die neue Aufgabe, die wir uns geſtellt hatten. Meine Hoffnungen, genährt von der Liebe zu meinem Mann, der ſeine Lebensbeſtimmung glaubte gefunden zu haben, übertönten die leiſe warnenden Stimmen meines Inneren. „Du kannſt nur ſchaffen, wenn du dich ſelbſt be⸗ haupteſt,“ ſagten ſie. „Du wirſt die Sache zum Siege führen, wenn du dich ſelbſt hingibſt,“ frohlockte die Hoffnung. Ich glaubte ihr. Heinrich fuhr voraus nach Berlin. Ich erinnerte mich während der letzten acht Tage, daß ich in Paris war. Mein Junge jubelte, weil er nun jeden Morgen mit „Mamachen“ gehen durfte. Die Berta hatte auf ihren Spaziergängen mit ihm viel mehr geſehen als ich; der kleine Bub wurde mir zum Führer. Er kam ſich dabei ſehr wichtig vor. Zuerſt zog er mich in atem⸗ loſer Eile durch die Tuilerien hindurch zu „der Frau, die ein Soldat war“. Ich lächelte: war es doch meiner frühſten Kindheit Traum geweſen, das Vater⸗ land zu befreien wie ſie! Stolz und ſiegesſicher, Frank⸗ reichs Fahne feſt in der Hand, erhob ſich ihr Stand⸗ bild vor mir; ſie war den Stimmen in ihrer Bruſt ge⸗ 374 folgt, — unbeirrt; aus dem Scheiterhaufen, der ihren Leib verzehrte, erhob ſie ſich nur noch größer. „Die Jungfrau von Orleans, — iſt das ein Märchen? fragte der Kleine, als ich ihm die Geſchichte erzählt hatte, und ſah mit naſſen Augen zu der Reiterin empor. „Rein, es iſt Wahrheit,“ antwortete ich. „Warum verbrannten ſie denn die böſen Menſchen? Auf ſeine glatte Kinderſtirn gruben ſich tiefe Falten des Zornes. „Sie vertragen nur, was ihresgleichen iſt,“ ſagte ich leiſe, wie zu mir ſelbſt. Unter der hohen Kuppel des Invalidendomes ſtanden wir miteinander. Ein breiter Strom bläulichen Lichtes entſprang ihr und wogte tief unten um den roten Por⸗ phyr, der des großen Korſen Gebeine umſchließt. Der Gang ringsum, die Kapellen zur Seite ſchienen im Dämmer zurückzutreten. Mit leiſer Stimme erzählte ich von dem armen Knaben aus Ajaccio, der, ſeinem Sterne getreu, die Welt eroberte, der das Teſtament der Revolution vollzog, und der auf der Felſeninſel im Weltmeer ſtarb — in Ketten. „Auch weil — weil —“ das Kind neben mir ſuchte nach den Worten, deren Sinn er nicht verſtanden hatte; „weil er zu groß war für die anderen,“ ergänzte ich. Am letzten Tage vor unſerer Abreiſe kämpfte der erſte Frühlingsſonnenſchein mit den ſchwarzgrauen Regen⸗ wolken; grüne Spitzchen lugten neugierig an Büſchen und Bäumen aus braunen Hüllen hervor; die Kinder mit den langen gedrehten Locken bevölkerten wieder die Gärten. Ich war ſtundenlang im Louvre geweſen. Ich hatte 375 die Menſchen, die Welt, die Jahrhunderte durch die Augen der Größten aller Zeiten geſehen und fühlte meinen Geiſt heller, mein Herz wärmer werden. In der Kunſt kommt es nicht darauf an, wie die Welt iſt, ſon⸗ dern wie die Augen ſind, die ſie betrachten. Rur der Künſtler hat recht, dem ſie immer Objekt bleibt, der im Häßlichen noch das Schöne, im Böſen das Menſchliche findet. Und nun, zum Abſchied, nahm ich noch einmal den Kleinen mit mir. „Zur Göttin der Griechen wollen wir,“ ſagte ich ihm, „die Odyſſeus und Achilles anbeteten.“ Die Leute drehten ſich um, lächelnd, ſpottend, ent⸗ rüſtet, als ſie mich mit dem Kind an der Hand durch die Säle gehen ſahen, bis dahin, von wo der Venus von Milo weiße Geſtalt uns entgegenleuchtete. „Warum beten die Menſchen nicht?“ flüſterte mein Sohn, der die Mütze vom Köpfchen gezogen hatte. In einſamer Herrlichkeit ſtand ſie vor uns, im Be⸗ wußtſein ihrer Macht und Schöne, zeitlos, beziehungs⸗ los. Ihr Blick ſchweifte hinweg über die Menge, gleich⸗ gültig, ob ſie ihr Opfer zündete oder die Linien ihres Körpers mit dem Zirkel maß. Sie herrſchte, ſie be⸗ geiſterte und belebte, nicht weil ſie vom Sockel ſtieg in den Dienſt der Maſſen, ſondern weil ſie vollendet war in ſich. Droben in den Sälen hingen die Bilder aller derer, die die Menſchen, denen ſie dienten, gekreuzigt harten. die Heiligen, die Madonnen, die Chriſtuskinder. Sollte der Zweck des Daſeins nicht doch der Olymp der Griechen und nicht der Himmel der Chriſten ſein? 376 Ich ſtrich mit der Hand über die Stirn. Es war etwas wach geworden in mir, das ſchlafen mußte. Ein weiches Händchen neſtelte ſich in das meine: „Warum hat die Göttin keine Arme, Mamachen? „Zur Strafe, weil ſie die Menſchen nicht feſthielt, die ihrem Tempel entliefen." 377 Elftes Kapitel Es war ein Sonntag, als wir Berlin wieder⸗ ſahen. Mir ſchien, als wären wir Fremde. Wie klein, wie armſelig war das alles: die Linden mit ihren kraftloſen Bäumen und ſtilloſen Häuſern, der Pariſer Platz mit ſeiner bedrückenden Engigkeit. Und die neuen Stadtteile: eine gute Bürgersfrau,, die ſich herausgeputzt hat, und das bißchen echte Kultur, das ſie beſaß, darüber vollends verlor. Dazwiſchen die Feier⸗ tagsbummler: Der Kontraſt zwiſchen ihrer kreiſchenden Lautheit in Tönen und Farben und dem matten Grau des Märztages tat Augen und Ohren weh. „Ich möchte wiſſen, wo ich zu Hauſe bin,“ ſeufzte ich und legte mich abends mit jenem Gefühl innerer Leerheit ſchlafen, das uns zuweilen überkommt, wenn wir eine Staatsſoirée hinter uns haben. Mir träumte von einem rieſigen Waſſerfall. Roch im Halbſchlaf am Morgen hörte ich ſein Rollen und Rauſchen, und je wacher ich wurde, deſto ſtärker ſchwoll es an. Vom Potsdamer Platz herauf klang es; Straßenbahnen, Omni⸗ buſſe, Laſtwagen, eilende Menſchenfüße waren die In⸗ ſtrumente dieſes Konzertes; Berlin ging auf Arbeit. Da war kein Winkel ohne Leben. Drüben in der Leipzigerſtraße waren unter der Spitz⸗ hacke alte Mauern zuſammengebrochen, und ſieghaft er⸗ 378 hob ſich jetzt, von Rieſengranitpfeilern getragen, ein mächtiges Warenhaus, wie ſelbſt Paris es nicht kannte aus dem märkiſchen Sand. Kein Baſar, deſſen Bau Gotik, Barock und Renaiſſance durcheinanderwirft, wie ſeine reklameſchreienden Schaufenſter die Waren, — ein Stück neuer Kultur vielmehr, die die Schönheit der Zweckmäßigkeit erkannte und doch allen Zauber der Kunſt über ſie ausgoß. Die Menſchen ſtrömten aus und ein. Sie trugen von all jenen glänzenden Gold⸗ blumen und köſtlichen Steinreliefs, die ſeine inneren Räume ſchmückten, von den farbenleuchtenden Onyx⸗ platten und gemalten Holzdecken, von den Feuertropfen und Lichtgirlanden einen Schimmer von Schönheit mit ſich nach Haus. Jenſeits des Platzes waren Baumrieſen geſtürzt, denn dem Verkehr mußte die Straße ſich weiten, und an der Peripherie der Stadt ſtanden reihenweiſe die Holzgerüſte, wie gewaltige Palliſaden, — Zeichen dafür, daß das alte Kleid ihrem Rieſenleibe zu eng wurde. Ein Emporkömmling iſt ſie, — gewiß! Aber keiner, den das Glück aufwärts trug. Vielmehr einer, der ſich durch die Kraft ſeiner Fäuſte den Weg bahnte. Wie die Menſchen liefen und haſteten! Sie kannten jenes gemächliche Schlendern nicht, mit dem Lächeln der Behaglichkeit auf den Lippen und kokettierenden Blicken hin und her. Aller Züge ſchienen geſpannt von nervöſer Eile, von ſorgender Angſt, von laſtenden Gedanken. Klingendes Spiel, feſte Schritte im Takt kündeten das Rahen von Soldaten. Der Verkehr ſtockte. Wo in Preußen die bewaffnete Macht erſcheint, gehört ihr die Straße. Und hypnotiſiert durch den Marſch, durch die 379 Maſſe, durch wehende Federbüſche und blinkende Uniformen, drängte jung und alt ihr nach, ihr voran. Die Alexander⸗Grenadiere bezogen heute ihre neue Kaſerne: in nächſter Rähe des Schloſſes war ſie er⸗ richtet worden, eine Zwingburg mit Mauern und Schieß⸗ ſcharten; und vom Luſtgarten aus führte der Kaiſer ſelbſt ſeine Garde dem neuen Heime zu, während die Polizei in weitem Bogen das gaffende Volk beiſeite⸗ drängte, damit der Herrſcher allein blieb mit ſeinen Truppen. „Ihr ſeid die Leibwache eures Königs,“ ſagte er, „und wenn dieſe Stadt noch einmal wie Anno 48 ſich wider ihn erheben wird, ſo ſeid ihr berufen, die Frechen und Unbotmäßigen mit der Spitze eurer Bajo⸗ nette zu Paaren zu treiben.“ Fürwahr, wenn ich mich bis jetzt wie in einem Traum befunden hatte, nun wußte ich: wir waren in Berlin. Wir gingen mittags zu Erdmanns. Sie waren erſt kürzlich von einer langen Seereiſe zu⸗ rückgekehrt, die der Arzt ihnen verordnet hatte, und ſchienen, nach den Briefen meiner Schweſter zu ſchließen, befriedigt von ihrem Erfolg. Und nun ſtanden ſie mir gegenüber, ſo anders als ich ſie ver⸗ laſſen hatte. Scharf und eckig traten die Backenknochen aus meines Schwagers Geſicht hervor, ſein Anzug hing um ihn, als wäre ſein Körper nichts als ein Knochengerüſt. Rur ſein Geiſt ſchien lebensvoller als je und ſprühte Funken. Das Schweſterchen dagegen war ebenſo ſtill, wie ſie blaß und ſchmal war. Wo war das runde Kindergeſicht und die glänzenden Augen? 380 Seltſam: auch aus ihren Haaren war der Goldſchimmer verſchwunden; es lag wie Aſche auf ihnen. Die einſt⸗ mals lauter Wärme ausſtrömte, hatte eine Atmoſphäre abweiſender Kühle um ſich. Ihre Lippen glichen jetzt denen meiner Mutter: ſcharf, ſchmal, blutlos. Ich ſah, daß ſie ſich mir nicht öffnen würden, und forſchte in ihren Zügen; aber auch ſie blieben verſchloſſen. Ob ſie unglücklich war, weil ſie kein Kind hatte? Erdmann ſpielte ſtundenlang mit meinem Buben, während ſie ihn kaum mit einem Blick ſtreifte. Wir ſprachen von der Mutter, die den Winter in Italien verlebt hatte und Briefe ſchrieb wie ein junges Mädchen, das zum erſten⸗ mal in die Welt ſieht. „Sie iſt glücklich, ſeitdem ſie allein iſt,“ ſagte Ilſe. Ein flehender, gequälter Blick ihres Mannes traf ſie. „Was ſpielſt du jetzt?“ fragte ich, zum Flügel deutend, um das Geſpräch abzulenken. „Ich habe die Muſik aufgegeben, ſie macht mich nervös,“ antwortete ſie. „Auch die Oper?? „Die erſt recht! Die offenen Mäuler und geſpreizten Arme all der dicken Tenöre und Primadonnen zerſtören jeden Reſt von Illuſion. Man kann ſie beſtenfalls er⸗ tragen, wenn man geſchloſſenen Auges zuhört. Aber da man immer den übrigen Pöbel um ſich hat — . Sie unterbrach ſich und ſchürzte ein wenig ſpöttiſch die Lippen: „Ach ſo, — entſchuldige! Ich vergaß, daß ich euer proletariſches Empfinden kränken könnte.“ Erdmann lachte. „Run — nun,“ meinte er be⸗ gütigend, „der Pöbel des Parketts dürfte doch auch in euren Augen mit dem Proletariat nicht identiſch ſein. 387 Übrigens bin ich mit Ilſe einer Meinung: der Zirkus und das Überbrettl ſind für unſereins allein noch er⸗ träglich. Hohe Kunſt auf der Bühne iſt verletzend für Menſchen von Kultur. Man ſollte dafür Marionetten⸗ theater ſchaffen, oder ſechsfache Schleier vor die Dar⸗ ſteller hängen, damit ſie wie Schatten wirken.“ „Unvergleichliche Wirkungen müßten ſich dadurch er⸗ zielen laſſen,“ ſagte Ilſe, etwas lebhafter werdend, „zum Beiſpiel mit herrlichen Sachen, wie dieſen hier. Sie wies auf das neuſte Heft der Blätter für die Kunſt, das dramatiſche Gedichte von Schülern Stefan Georges enthielt. „Ich leſe ſie noch immer nicht,“ entgegnete ich lächelnd; „weniger denn je kann ich heute die hochmütige Abkehr vom Leben vertragen, die das Kennzeichen all dieſer Menſchen iſt. Sie berauſchen ſich am Klang der Sprache und bekommen, wenn es zu handeln gilt, zittrige Hände wie Abſinthtrinker.“ Wir gerieten in eine Debatte, die ſich immer ſchärfer zuſpitzte. Ilſe bekam heiße Wangen und mitten im Ge⸗ ſpräch einen heftigen Huſtenanfall, der mich angſtvoll aufhorchen ließ. Erdmann ſah in dieſem Augenblick wie verſtört drein. Und wie um gewaltſam den Ein⸗ druck abzuſchütteln, beſchloß er, uns durch den Tiergarten zum Hotel zurückzubegleiten. „Ich bin zu müde —,“ ſagte Ilſe. „In der friſchen Luft wirſt du ſchon munter werden,“ damit drängte er ſie hinaus. Wir begegneten vielen Menſchen, die Erdmanns grüßten. Das ſtimmte ihn fröhlich. „Lauter Leute, die ich einrichte,“ ſagte er. „Wenn ich erſt all den Berlin⸗W.⸗ 382 Protzen zu anſtändigem Wohnen verholfen haben werde, kann ich den ganzen Kram an den Ragel hängen und Pinſel und Palette wieder vorholen. Was, mein kleines Ilschen?!“ Und zärtlich ſchob er ſeinen Arm in den ihren. Aber ſie ſenkte den Kopf nur noch tiefer. AIs die Mutter zurückkehrte, äußerlich und inner⸗ lich verwandelt, friſch und ſtrahlend, dabei mit geſteigertem Lebensdurſt, der ſich auf alles ſtürzte, was ſich ihr bot, lag Erdmann ſiebernd zu Bett. „Er wird ſich erholen, ſobald es warm wird,“ ſagte ſie zuerſt, und erzäblte voll freudigem Eifer von ihren ſchweizer Sommerplänen. Ein paar Tage ſpäter ſah ich ſie wieder: gerade, ſteif, mit zuſammengekniffenen Lippen, wie damals, als der Vater noch lebte. Die Arzte hatten ſie aufgeklärt. Erdmann hatte die Schwind⸗ ſucht, Ilſe ſchien angeſteckt. Wir nahmen Abſchied von Erdmanns. Sie ſollten in ein heidelberger Sanatorium überſiedeln. Die ſei⸗ dene Decke, unter der er lag, bauſchte ſich kaum ſicht⸗ bar über dem Körper; die mageren Finger führten eif⸗ rig den langen Bleiſtift über das Papier auf ſeinem Schoß. „Ich muß doch für Prinzeſſin Ilſe Geld ver⸗ dienen,“ und ein leidenſchaftlicher Blick traf die ſchöne junge Frau, die ihm mit geſenkten Lidern, ruhig und pflichttreu, die Arznei zum Munde führte Ich kämpfte mit den Tränen, als ich nach Hauſe kam. Richt nur, weil meine Schweſter in einem Augen⸗ blick, wo ich ſie unglücklich wußte, mir fremd, faſt feind⸗ ſelig gegenüberſtand, ſondern weil ſie das Opfer einer 383 Ehe war, von der ich ſie vielleicht hätte zurückhalten können. Ich empfand ihre Kühle wie einen Vorwurf. „Vor Kinderſchmerzen haſt du mich einſt gehütet,“ ſchienen ihre Augen zu klagen, „warum haſt du mich vor dem ſchlimmſten nicht bewahrt?“ Und wenn ſie meinen Buben gefliſſentlich überſah, ſo wußte ich, was ſie damit ſagen wollte: „Du haſt mich über ihm ver⸗ geſſen. Unſer Einzug in die neue Wohnung, — einem Gartenhaus der Uhlandſtraße, — war kein fröhlicher. All die tauſenderlei Dinge, die mit ihm zuſammenhingen, vom Auslöſen der Möbel auf dem Speicher bis zu den Löhnen der Handwerker, hatte unſer letztes Geld verſchlungen. „So mach dir doch nichts draus, — quäle nicht dich und mich mit unnützen Sorgen,“ rief Heinrich heftig, als ich ihm unſere Lage auseinanderſetzte. Ich ſchwieg verletzt. Er war wie ein geiſtig Weitſichtiger, der das Rächſte nicht ſieht, dem immer nur das Ferne gegen⸗ wärtig iſt. Der Plan ſeiner Zeitſchrift beherrſchte ihn völlig. So mußte ich mir ſelber helfen. Ich bat den Verleger meines Buches um mein Honorar. Er erfüllte meinen Wunſch ohne weiteres. Heinrich aber wunderte ſich nicht einmal, wieſo ich plötzlich Geld hatte. Für ihn ſchienen die pekuniären Seiten des Lebenskampfes nicht zu exiſtieren, mir dagegen nahmen ſie alle Schwung⸗ kraft und machten mich bis zur Grauſamkeit bitter gegen ihn. Bat ihn jemand um ein Almoſen oder um ein Darlehn, ſo gab er, was er in der Taſche hatte. 384 Wagte ich einen leiſen Vorwurf, ſo gruben ſich ſeine Stirnfalten noch tiefer, und es kam immer häufiger vor, daß er mir mit einem: „Sieh lieber, daß deine Berta dich nicht betrügt!“ antwortete. Dann erſt war die Entzweiung eine vollkommene. Richts ſchien mir ungerechter, als dieſes Mädchen zu verdächtigen, das ſich für uns aufopferte und nicht einmal eine Auf⸗ wärterin zu ihrer Hilfe zuließ. Daß ſie allmählich in ihrem Ausſehen und Benehmen zu einem „Fräulein“ geworden war, ſchien mir im Intereſſe meines Jungen nur vorteilhaft, während Heinrich es als Folge meiner Verwöhnung anſah und behauptete. ich verdürbe nur das einſt ſo ſchlichte Bauernmädchen. Lange freilich währten unſere gegenſeitigen Verſtim⸗ mungen nie. Vor den klaren Augen unſeres Kindes, denen nichts entging, ſchämten wir uns ihrer. Seine Jugend ſollte nicht durch den Unfrieden ſeiner Eltern vergiftet werden, wie die meine. „Ru lach doch wieder ein ganz kleines bißchen! Damit kletterte er ſchmeichelnd auf ſeines Vaters Knie. „Rich wahr, Mamachen, du gibſt dem Heinzpapa gleich einen dicken, runden Kuß!“ Damit lief er zu mir und legte das weiche Bäckchen zärtlich an meine „ange. Waren wir ſo verſöhnt, ſo fühlten wir den Stachel nicht, der ſich trotzdem immer tiefer in unſere Herzen bohrte. 385 Gleich nach unſerer Ankunft hatte ich den Ge⸗ noſſinnen meine Rückkehr mitgeteilt. Auch das war der Anlaß zu einer kleinen Aus⸗ einanderſetzung zwiſchen uns geweſen. „Willſt du dich wirklich wieder in die unfruchtbare Arbeit ſtürzen?!“ ſagte mein Mann ärgerlich. „Gewiß,“ entgegnete ich mit jener Gereiztheit, die mich immer überkam, wenn ich meine perſönliche Frei⸗ heit durch ihn gefährdet glaubte. „Ich ſehe die Frauen⸗ bewegung mehr denn je als das Gebiet an, auf dem ich wirken muß.“ „Du wirſt in unſerer Zeitſchrift genug für ſie tun können, — mehr als in eurem Kaffeekränzchenl“ Ich zuckte ſpöttiſch die Achſeln und meinte gedehnt: „Wenn ich darauf warten ſoll!“ Im ſelben Moment aber bereute ich ſchon, ihn an ſeiner empfindlichſten Stelle verletzt zu haben. Es lag wahrhaftig nicht an ihm, wenn ſeine Idee noch nicht verwirklicht war. Unſere Geſinnungsgenoſſen, mit Einſchluß von Bern⸗ ſtein, der ſie noch von London aus in Briefen an meinen Mann lebhaft begrüßt hatte, ſtimmten ihr rück⸗ haltlos zu, aber es fand ſich niemand, der auch nur einen Pfennig für ſie gegeben oder ſich ſonſt um ihre Ausführung bemüht hätte. Daß auch dies nur ein Symptom für die Uneinigkeit und Unklarheit des Revi⸗ ſionismus war, empfand jeder von uns. Eine Bewegung war vorhanden, aber es fehlte ihr die ſtarke Hand eines Führers, der ſie zuſammenzufaſſen und ihr Rich⸗ tung zu geben vermag. Wir erwarteten für die Sache wie für unſeren Plan, der ja nur in ihren Dienſten Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 25 386 ſtehen ſollte, von dem perſönlichen Eingreifen Bernſteins nicht wenig. An einem Maienabend des Jahres 1901, deſſen Luft vom Brodem lebensſchwangerer Erde ſo geſättigt war, daß er ſelbſt mitten in der ſteinernen Ode der Stadt fühlbar wurde, drängten ſich die Menſchenmaſſen in einem engen Saal dicht zuſammen; ſie trugen in ihren Haaren und Kleidern den Duft des Frühlings mit herein, und der ganze Raum ſchien erfüllt von ſeinem Fieber. Es waren keine Arbeiter. Aber die intellek⸗ tuelle Jugend war es. Beſann ſie ſich endlich auf ſich ſelbſt? War ſie im Begriff, Ideale aufzurichten, die einer großen Kraft und eines großen Kampfes würdig waren? Die ſozialwiſſenſchaftliche Studentenvereini⸗ gung Berlins hatte dieſe Verſammlung einberufen und Eduard Bernſtein zum Redner gewählt. Ihre be⸗ rühmteſten Lehrer ſaßen unter ihnen, dazwiſchen die politiſchen Führer jener Linken, — die Barth, die Rau⸗ mann, die Gerlach, — die, abgeſtoßen von allen anderen bürgerlichen Parteien, zwiſchen ihnen und der Sozial⸗ demokratie die unfruchtbare Rolle des Puffers ſpielte. Sie alle hofften, — bewußt oder unbewußt, — daß dieſer Abend irgendeine Quelle erſchließen würde, an der. ſie nicht nur ihren Durſt ſtillen könnten, ſondern deren Waſſer ſich zum Strome weiten und alle ihre irrenden Schiffe zu tragen vermöchten. „Wie iſt wiſſenſchaftlicher Sozialismus möglich? lautete die Frage, auf die Bernſtein die Antwort geben wollte. Er trat an das Rednerpult. Hinter den Brillengläſern ſahen ſeine kurzſichtigen Augen mit einem verlegen⸗erſtaunten Blick auf die Menge der Zuhörer. 387 Dann ſprach er. Mit einer Stimme, die brüchig klang. In abgehackten Sätzen. Ein Mann, der an die Enge der Studierſtube gewohnt war, nicht an die Volks⸗ verſammlung. Schon zog der Schatten der Enttäu⸗ ſchung über den hoffnungsfrohen Glanz auf den Ge⸗ ſichtern. Schüchtern und leiſe tauchte hie und da ſchon die Frage auf: „Was hat er eigentlich? — Was will er?“ Daß der Sozialismus von ſpekulativem Idealismus erfüllt und darum nicht Wiſſenſchaft ſei, die im vor⸗ ausſetzungsloſen Streben nach Erkenntnis beſtehe; daß die Arbeiterbewegung vom Wollen eines beſtimmten Zieles, vom Glauben an ein beſtimmtes Zukunftsbild getragen ſei und nicht vom Wiſſen, — es war kaum möglich, aus der langen Rede etwas anderes heraus⸗ zuhören, als dieſe wenigen, für den Ausgangspunkt einer neuen Bewegung viel zu negativen Gedanken. Zuweilen ſchien es, als ob der Vortrag nichts wäre als das laut gewordene Grübeln eines Menſchen über Dinge, die ihn ſelbſt noch als Probleme quälen. Er war ſo mit ſich beſchäftigt, daß er nicht fühlte, wie jener elektriſche Strom, der ihn zuerſt mit den Zuhörern verband, ſich mehr und mehr verflüchtigte, ſtatt daß er ihn benutzt hätte, um die unerſchütterten, befreienden Gedanken des Sozialismus dieſen offenen Seelen einzu⸗ prägen, ihnen den Willen zur Tat zu vermitteln, nach dem ihre junge Kraft ſich ſehnte. Wir hatten einen Künder neuer Wahrheit erwartet, und ein Zweifler war gekommen, dem des Pontius Pi⸗ latus Frage Geiſt und Gewiſſen bewegte. Ein feiner durchdringender Regen rieſelte hernieder, 25* 388 als wir den Saal verließen. Mich fröſtelte. Ich wäre am liebſten ſtill nach Hauſe gegangen. „Run?! In dieſem zweieinhalbſtündigen Redefluß ſind Ihnen wohl alle Felle weggeſchwommen?“ ſagte eine ſarkaſtiſche Stimme neben mir. Ich ſah in Rombergs lächelndes Geſicht und machte eine abwehrende Be⸗ wegung; mir war nicht zum Scherzen zumute. „Und nun raſch, kommen Sie beide mit, in irgend einen ge⸗ mütlichen Winkel. Wir haben uns eine Welt zu er⸗ zählen;“ damit verſuchte er, einen Weg durch die Menge zu bahnen. Seine aufrichtige Freude über unſer Wieder⸗ ſehen tat mir in dieſem Augenblick, in dem ich ſo viel verloren zu haben glaubte, doppelt wohl. „Laſſen wir's heute,“ meinte mein Mann mißmutig, „wir würden nur Ihre gute Laune verderben. „Oder ich Ihre ſchlechte, da meine die dauerhaftere iſt,“ lachte Romberg. Wir gingen zuſammen in eins der zunächſt gelegenen Reſtaurants, aber der „gemütliche Winkel“, den wir uns ausſuchten, wurde raſch zum Kriegsſchauplatz, denn eine ganze Geſellſchaft Verſammlungsbeſucher fand ſich allmählich ein, und jeder hatte das Bedürfnis ſeinem Herzen Luft zu machen. Es zeigte ſich nun erſt recht, wie unklar Bernſtein geſprochen hatte: je nach der poli⸗ tiſchen oder philoſophiſchen Richtung, der der einzelne zugehörte, gab er ſeinen Worten eine andere Deutung. „Das Todesurteil des Marxismus!“ triumphierte der Rationalſoziale. „Nein,“ antwortete ſcharf einer unſerer radikalen Parteigenoſſen, „ein Todesurteil ſeiner ſelbſt! Er hat als wiſſenſchaftlicher Sozialiſt abgedankt. 389 Und nun wurden aus ſeiner Rede einzelne Sätze herausgeriſſen, die der und jener ſich notiert hatte, und betrachtet und zerpflückt. Als eine Rückkehr zum Utopis⸗ mus wurde bezeichnet, daß er die „Wünſchbarkeit einer ſozialiſtiſchen Geſellſchaftsordnung“ für den Hebel der Agitation und die werbende Kraft der Partei erklärt hatte. „Rur alte wundergläubige Weiber lockt man damit hinter dem Ofen hervor,“ ſpottete einer; „auch das himmliſche Jeruſalem war „wünſchbar“, und doch haben wir die Fahrt dahin aufgegeben, weil ſeine Exiſtenz un⸗ beweisbar blieb.“ „Vollends lächerlich,“ fügte ein anderer hinzu, „iſt die Behauptung, daß die Einſicht in die größere Ge⸗ rechtigkeit ſozialiſtiſcher Einrichtungen uns zu Sozialiſten gemacht hat. Mag ſein, daß Mitleid mit den Armen, Empörung gegen die Ungerechtigkeit manch einen zuerſt in unſere Reihen trieb. Aber bloße Empfindungen ver⸗ flüchtigen ſich, wenn die Erkenntnis ſie nicht auf realen Boden zwingt. Würde Bernſtein wirklich die Frage nach der Wiſſenſchaftlichkeit des Sozialismus verneinen können, ſo wäre er ſo viel wert, als das Chriſtentum bisher geweſen iſt.“ Romberg hatte zuerſt ruhig zugehört. „Jetzt zerzauſen ſie den armen Bernſtein, weil er ihnen nicht die letzte Wahrheit gab!“ ſagte er nun, während aller Augen ſich auf ihn richteten. „Die Wiſſenſchaft iſt doch nichts Fertiges, ſondern ein ewiges Suchen! Er ſucht, und beweiſt dadurch, daß er denkt. Wiſſenſchaftlich abgedankt hat nicht er, ſondern haben diejenigen ſeiner Gegner, die jeden Satz im Lehrgebäude des Sozialismus für ein unerſetzliches Glied in der 390 Kette der ſozialiſtiſchen Beweisführung halten. Dieſer Dogmatismus könnte die Bewegung töten, nicht aber der Reviſionismus, auch wenn er ſich noch ſo täppiſch gebärdet.“ „Bernſteins Kritik vernichtet doch aber geradezu grund⸗ legende Ideen des Marxismus?“ wandte der Rational⸗ ſoziale ein. „Und wenn ſchon?!“ antwortete Romberg. „Der Bau des marxiſtiſchen Syſtems iſt ſo genial, daß ſich Mauern herausbrechen laſſen, ohne ihn zu gefährden. Die Tatſache des Klaſſenkampfes ſchaffen Sie nicht aus der Welt, ſie allein genügt, um die Naturnotwendigkeit des Sozialismus zu beweiſen.“ Er trank ſein Glas leer und erhob ſich mit einem hochmütigen Blick auf die verdutzten Geſichter der Tiſchgenoſſen. „Unſer Schick⸗ ſal iſt unentrinnbar, — damit muß man ſich abfinden,“ ſagte er, „aber wünſchbar — weiß Gott! — iſt's für unſereinen nicht. Ich bin bloß froh, daß die berühmte Jutte finale“ ſich erſt auf meinem Grabe abſpielen wird.“ Wir gingen zuſammen. „Ich danke Ihnen,“ ſagte ich, als wir draußen waren: der niederdrückende Eindruck der Rede Bernſteins war verwiſcht. „Im Grunde habe ich ja auch nur für Sie ge⸗ ſprochen —,“ es war der teilnehmende Blick eines Freundes, mit dem er mir bei den Worten in die Augen ſah, — „ich bin ſo gewohnt, Sie ſtark zu ſehen, daß mir Ihr Kummer förmlich weh tar.“ Er begleitete uns bis nach Haus. Mein Mann weihte ihn in unſere Pläne etu. „Und Sie ſind einverſtundru? Sie wollen am Ende gar mittun?!“ wandte er ſich an mich. 391 „Mit allen Kräften, — gewiß!“ antwortete ich. „Was können Sie dagegen haben, nach all den Gedanken, die Sie heute über den Sozialismus entwickelten.“ „Ich mag Sie mir nicht vorſtellen, — auf dem Dreh⸗ ſchemel vor dem Redaktionspult, — die Schmierereien anderer Leute korrigierend. Sie gehören ins achtzehnte Jahrhundert — „Gewiß! An die Seite der Madame Roland —!“ unterbrach ich ihn raſch. Rach und nach erwärmte er ſich für unſeren Gedanken. „Mit all dem Kleinbürgerlichen, Philiſtröſen in Ihrer Partei werden Sie gründlich abrechnen müſſen,“ meinte er im Laufe des Geſprächs, „weite Horizonte geben, die über den Miſthaufen des Rachbarn hinausgehen.“ Und er verbreitete ſich über die Stellung der Partei zur aus⸗ wärtigen Politik. „Hier trennen ſich unſere Wege, lieber Profeſſor, ſagte mein Mann. „Sie werden kaum erwarten, daß ich als Sozialdemokrat auf dieſem Gebiet Ihre Wand⸗ lungen mitmache.“ „Wandlungen?! Wieſo?!“ ereiferte ſich Romberg. „Es entſpricht der Konſequenz meiner Entwicklung, daß ich für den Kolonialbeſitz Deutſchlands eintrete und demzufolge für die Flottenvorlage agitiert habe. Traurig genug, daß ihr Sozialiſten euch, ſcheint es, erſt belehren laſſen werdet, wenn ihr die Macht im Staate habt! Das iſt, — verzeihen Sie, liebe Freundin! — der un⸗ glückſelige feminiſtiſch⸗ſentimentale Einſchlag in der Sozialdemokratie, der ſie für die notwendigen, großen, — wenn Sie wollen — grauſamen Forderungen der Kultur blind und taub macht. Der Kampf um die 392 Macht iſt die Bedingung unſerer Entwicklung. Die Frage, die uns die Weltgeſchichte ſtellt, iſt einfach die: ſoll uns die Erde gehören oder den Regern und den Chineſen? Die Antwort ſcheint mir nicht zweifelhaft.“ Ich ſah empört zu ihm auf: „So ſind Sie für das Chinaabenteuer mit all ſeinem Gefolge von Hunnentum und für die Kolonialkriege mit all ihrer Unmenſchlich⸗ keit?! Das heißt doch nicht, Forderungen der Kultur erfüllen, ſondern die Kultur preisgeben, die wir haben! „Ich bin für die Erſchließung Chinas, die für unſeren Handel eine Rotwendigkeit iſt; ich bin für die Kolonial⸗ kriege, die den Boden gewinnen für unſere Volksver⸗ mehrung, aber daraus folgt doch nicht, daß ich die Greuel des Krieges verteidige. Ich nehme ſie nur um der größeren Werte willen in den Kauf, wenn ſie un⸗ vermeidlich ſind . . Wir würden heute noch in Ur⸗ wäldern wohnen, wenn wir mit den wilden Tieren Mit⸗ leid gehabt hätten.“ Eine lebhafte Debatte über die volkswirtſchaftliche Bedeutung der Kolonien und der „offenen Tür“ Chinas entſpann ſich zwiſchen meinem Mann und Romberg. Ich hörte kaum zu; der Gedanke an die Urwälder und die wilden Tiere ließ mich nicht los und ſpann ſich wie von ſelber weiter. Ich horchte erſt auf, als Romberg ſagte: „Wenn die Sozialdemokratie ſich nicht entſchließt, die Sache der Starken zu führen, ſo wird ihr Sieg eine Riederlage der Menſchheit ſein.“ Vor unſerer Haustür nahmen wir Abſchied voneinander. „Was wird denn aber mit dem Archiv?“ wandte ſich Romberg noch einmal an Heinrich; „es wäre ein Jammer, wenn es zugrunde ginge!, 393 Mein Mann zuckte die Achſeln. „Wiſſen Sie einen Käufer dafür?“ fragte er ſtatt einer Antwort. „Einen Käufer? — Vielleicht!“ meinte Romberg nach⸗ denklich. Eine leiſe Hoffnung ſtieg in uns auf. An einem der folgenden Tage kam ich zum erſten⸗ mal ſeit meiner Rückkehr mit den Genoſſinnen zuſammen. Man empfing mich kühl, — faſt als bedaure man, mich überhaupt wieder zu ſehen. Ich unterdrückte den aufſteigenden Arger. Bald würden ſie mir ganz anders begegnen. Lag erſt mein Buch in ihren Händen, — das Buch, das eine wiſſenſchaftliche Leiſtung und ein Bekenntnis war, — ſo würden ſie mich alle freudig willkommen heißen. In dem Jahr meiner Abweſenheit waren die Fort⸗ ſchritte der Arbeiterinnenbewegung nicht erheblich ge⸗ weſen. Man hatte verſucht, durch Einrichtung von Be⸗ ſchwerde⸗ und Auskunftsſtellen einen perſönlichen Zu⸗ ſammenhang mit den der Bewegung noch fremd gegen⸗ überſtehenden Arbeiterinnen zu ſchaffen. Ich lächelte unwillkürlich, als ich davon hörte. Vorſchläge der Art hatte mein ſo leidenſchaftlich bekämpfter Plan eines Zentralausſchuſſes für Frauenarbeit enthalten. Für den Arbeiterinnenſchutz und gegen die Beſchränkung der Fabrikarbeit verheirateter Frauen war auf Grund eines Parteitagsbeſchluſſes eine größere Agitation ent⸗ faltet worden. Die Erfolge waren minimal. „Es fehlt uns immer noch an packenden Schriften, die wir verbreiten könnten,“ meinte eine der Frauen. 394 „Iſt denn Genoſſin Orbins Broſchüre noch nicht er⸗ ſchienen?“ fragte ich und begegnete erſtaunten Ge⸗ ſichtern. „Genoſſin Orbins Broſchüre?!“ wiederholte Ida Wiemer. „Von der wiſſen wir nichts! „Ich habe doch darauf hin meine eigene Abſicht, eine ſolche zu ſchreiben, aufgegeben!“ rief ich aus, — noch immer wollte ich nicht glauben, woran doch nicht mehr zu zweifeln war: ſie hatte mich nur an der Arbeit hin⸗ dern wollen! Martha Bartels lächelte ironiſch. Ich hörte, wie ſie ihrer Rachbarin zuflüſterte: „Sie will ſich nur aufſpielen, — uns glauben machen, daß ſie auch mal was zu arbeiten die fromme Abſicht hatte —,“ und ich ſah wie ihre Worte von Mund zu Mund gingen und die Mienen ſich klärten. „Wenn Sie ſich mit der Frage beſchäftigt haben,“ ſagte ſie dann laut und hochmütig, „ſo können Sie ja ein paar Referate übernehmen.“ Ich war bereit dazu. „Vielleicht ſprechen Sie auch bei uns?“ fragte die Vor⸗ ſitzende des Arbeiterinnenbildungsvereins; „es müßte freilich ein anderes Thema ſein. „Gern!“ antwortete ich und war entſchloſſen, die Frage der Haushaltungsgenoſſenſchaft bei der Gelegen⸗ heit zur Erörterung zu bringen. „Frauenarbeit und Hauswirtſchaft“ nannte ich meinen Vortrag, der ſchon eine Woche ſpäter ſtattfand. Der niedrige, enge Raum der Arminhallen war überfüllt, als ich eintrat. Eine Anzahl bürgerlicher Frauenrechtlerinnen ſuchten ſich in den Winkeln des Saales zu verbergen. Sie hatten mein Auftreten bei Gelegenheit des inter⸗ 395 nationalen Frauenkongreſſes nicht vergeſſen und zeigten nicht gern ihr Intereſſe für mich. Ich ſtellte in großen Zügen die Entwicklung der Frauenarbeit dar, von ihrer erſten Beſchränkung auf das Haus bis zu ihrer heutigen Ausdehnung auf alle Berufe, und die parallel laufende Evolution der Haus⸗ wirtſchaft von jenen Zeiten an, wo innerhalb ihres Kreiſes alle Bedürfniſſe der Familie hergeſtellt wurden, bis zur Gegenwart, wo nichts von ihr übrig geblieben war als der Herd. Ich ſchilderte die Lage der erwerbstätigen Familienmütter, die phyſiſchen und ſeeliſchen Gefahren, denen ihre Kinder ausgeſetzt ſind, und ich erörterte die Zunahme der Berufsarbeit verheirateter Frauen nicht nur auf dem Gebiet der manuellen, ſondern auch auf dem der geiſtigen Arbeit. „Die unausbleiblichen Folgen dieſer Tatſachen liegen auf der Hand: entweder bricht der weibliche Körper unter der doppelten Arbeitslaſt des Hauſes und des Beruſs vorzeitig zuſammen und der Geiſt büßt ſeine Leiſtungskraft ein, oder die Häus⸗ lichkeit wird vernachläſſigt, und die junge Generation wird durch Mangel an Pflege und hygieniſch einwand⸗ freier Ernährung aufs äußerſte geſchädigt . . . Die Gefahr iſt zu groß, zu dringend, als daß wir uns mit dem Appell an die Hilfe des Staats genügen laſſen dürften, wir müſſen zu gleicher Zeit zur Selbſthilfe greifen.“ Und nun entwarf ich meinen Plan. „Hun⸗ gernde engliſche Weber waren die Schöpfer der Kon⸗ ſumgenoſſenſchaften, deren Kauffahrteiſchiffe heute die Meere durchziehen; der Wohnungsnot armer Arbeiter entſprang die Idee der Baugenoſſenſchaften, deren Häuſer überall aus der Erde wachſen, — ſollte der 396 Jammer der Frauen und der Kinder nicht die Haus⸗ haltungsgenoſſenſchaft ins Leben rufen können? Ich fühlte die wachſende Erregung, die ſich der Zu⸗ hörerſchaft bemächtigte. Es war das Zentrum der In⸗ tereſſenſphäre der meiſten, in das ich getroffen hatte. Aber auf den Sturm, der ſich erhob, war ich doch nicht gefaßt geweſen. Alle jene Gründe, mit denen die So⸗ zialdemokratie vor Jahrzehnten der Selbſthilfe der Ge⸗ werkſchaften entgegengetreten war, mit denen ſie heute noch vielfach den Genoſſenſchaften entgegentritt, — als Ablenkungen vom Hauptziel, der Verwirklichung des Sozialismus, und vom allein wichtigen Kampf: dem politiſchen; als Verſöhnungen des Proletariers mit dem Gegenwartsſtaat, — wurden mir wie ein Hagel von Pfeilen entgegengeſchleudert. Es fehlte nicht an ſcharfen Seitenhieben auf meinen Reviſionismus, der ſich darin dokumentiere, daß ich innerhalb der kapitaliſtiſchen Ge⸗ ſellſchaftsordnung ſozialiſtiſche Ideen verwirklichen wolle, wie die alten, überwundenen Utopiſten. Rur wenige unterſtützten mich. Die Frauenrecht⸗ lerinnen ſchwiegen. Bereits am nächſten Morgen ging mein Vortrag durch die Preſſe, entſtellt, verſpottet, beſchimpft. „Der Zukunfts⸗Karnickelſtall, wo ſich das Familien⸗ leben auf das Schlafzimmer beſchränkt“, hieß es in der konſervativen Preſſe; von der „Kaſerne als Ideal⸗ zuſtand“ ſprach die liberale. Als die Spottluſt befrie⸗ digt war, kamen die pathetiſchen Artikel, die angeſichts der drohenden Zerſtörung der Familie ihre Kaſſandra⸗ ſtimme erhoben. Und in den „Sprechſälen“ und „Frauenecken“ zeterten die guten Hausfrauen, deren 397 einziges Zepter der Kochlöffel war. Hatte ich ſie ſchon durch die Dienſtbotenbewegung gegen mich aufgebracht, — jetzt ſtanden ſie mir als ein Heer gerüſteter Feinde gegenüber. Der Kochherd war wirklich nicht nur der Inhalt, ſondern die Grundlage ihres Familienlebens. „Die Männer werden überhaupt nicht mehr heiraten, wenn ſie keine Hausfrau brauchen,“ jammerte eine ehr⸗ liche Raive. Ich wartete vergebens auf die Unterſtützung der Frauen, die mir ihre Rot oft ſelbſt geklagt hatten: der Schriftſtellerinnen, Arztinnen, Künſtlerinnen. „Rur ein Jahr lang ſollten unſere männlichen Kollegen Suppe kochen und Strümpfe ſtopfen,“ hatte einmal eine von ihnen ausgerufen, „und wir würden an dem Fehlen großer Leiſtungen ihre geiſtige Minderwertigkeit beweiſen können!“ In den Blättern der Frauenbewegung fand mein Plan keinen Widerhall. Helma Kurz rief Ach und Wehe über mich, die ich „alle Frauen aus der trauten Häuslichkeit in die Kaſerne“ treiben wolle. Keine der Führerinnen der Frauenbewegung begriff, daß die Be⸗ freiung der erwerbstätigen Frau von der Sklaverei der Küche eine ihrer Programmforderungen ſein müßte. Rur eine kleine Gruppe Menſchen, die in der Offentlichkeit unbekannt waren, ſchloß ſich mir allmählich an, und ein paar Baumeiſter meldeten ſich, die den Mut gehabt hätten, ein Haus nach meinem Plan aufzuführen, — mit abgeſchloſſenen kleinen Wohnungen und Speiſeauf⸗ zügen aus der Zentralküche. Wir waren überzeugt, nur ein lebendiges Beiſpiel würde genügt haben, um die Bewegung in Fluß zu bringen. Aber wir waren zu 398 wenige, um das Beſtehen des Hauſes zu ſichern, und mein Name, — der der Sozialdemokratin, — ſchreckte viele ab. Sie fürchteten den kommuniſtiſchen Zukunfts⸗ ſtaat im Kleinen. Inzwiſchen kam Wanda Orbin nach Berlin und bat mich, da ſie krank ſei, „in wichtiger Angelegenheit“ um meinen Beſuch. Sie reichte mir nur die Fingerſpitzen, als ich eintrat. „Sie haben die Intereſſen der Partei auf das ſchwerſte verletzt,“ begann ſie im Ton eines Inquiſitors, „und da es nicht das erſte Mal geſchieht, ſo bin ich verpflichtet, Sie zu warnen. Ich griff mir an die Stirn: was war es nur, was ich verbrochen hatte?! „Ihre Agitation für die Haushaltungsgenoſſenſchaft — ich lachte ihr ins Geſicht; ſollte ſie mit ſo ſtrenger Miene ſcherzen?! Aber ſie runzelte die Stirn, — es war ihr Ernſt, blutiger Ernſt! — „hat weitere Kreiſe gezogen, als gut iſt. Dergleichen verwirrt die Köpfe, ſtört die Einheit⸗ lichkeit des Vorgehens Ich ſtand auf. „Möchten Sie mir wohl noch mit⸗ teilen, worin meine erſte Verletzung der Parteiintereſſen beſtand?“ fragte ich ruhig. „Sollten Sie Ihren Plan eines Zentralausſchuſſes für Frauenarbeit ſchon vergeſſen haben?“ rief ſie aus. „Und durch ihn habe ich die Partei geſchädigt?! — Sie ſind ja jetzt ſchon im Begriff, teilweiſe auszuführen, was ich wollte —! Wanda Orbins Augen funkelten mich zornig an: „Wenn Sie die Unterſchiede nicht verſtehen, ſo beweiſt das nur wieder Ihren Mangel an proletariſchem Be⸗ 399 wußtſein —;“ dabei kreiſchte ihre Stimme wie auf der Rednertribüne. „Mag ſein!“ entgegnete ich ſcharf. „Mir fehlt das Demagogentalent, um mich zur Proletarierin aufzuſpielen.“ Damit wandte ich mich zum Gehen, auf das tiefſte ver⸗ wundet. Mein Vortrag erſchien im Verlag des „Vorwärts“ als Broſchüre. Wanda Orbin „vernichtete“ ihn in vier Leitartikeln, und ihre Autorität war viel zu gewichtig, als daß ſich innerhalb der Partei irgendeine Stimme für ihn erhoben hätte. Wie die Schnecke, wenn ihre Fühlhörner unſanft berührt werden, ſich in ihr Haus zurückzieht, ſo hatte ich das Bedürfnis, mich zu verkriechen. „Laß deine Ideen erſt Wurzel faſſen, Liebſte,“ tröſtete mich mein Mann; „ſind ſie lebenskräftig, ſo fällt dir die Frucht von ſelbſt in den Schoß. Ich lächelte wehmütig über den Irrtum, in dem er ſich befand. Was mich ſchmerzte, war nicht das momen⸗ tane Scheitern eines Planes, ſondern daß ich Wanda Orbin ſo klein geſehen hatte, die mir, auch mit ihren Fehlern, ſo groß erſchienen war. Und daß ſie die anderen beherrſchte, zum Teil mit Mitteln, gegen die ich mich waffenlos fühlte! Run galt es, ſtatt alle Kräfte auf den Kampf für die gemeinſame Sache zu konzentrieren, ſich für den eklen Streit im eigenen Lager ſtets gewappnet zu halten. Wenn ich mich abſeits ſtellen, einer jener Eigenbrödler werden könnte, mit Scheuklappen vor den Augen, immer nur ein Teilchen des allgemeinen Zieles verfolgend?! Daß ich unfähig dafür war, bewies mir die Erfahrung mit meinem eigenen Plan. Hätte ich das Talent und 400 die Zähigkeit des Organiſators gehabt, ich würde ihn in jahrelanger ſteter Arbeit, unbekümmert um die Spötter, haben durchſetzen können. Und nun ſtand ich da und ſah erſchrocken auf meine Hände, die ſo leer geworden waren und ſo kraftlos. Die Sonne brannte auf dem Aſphalt, braun und verdorrt hingen die Blätter an den armen Bäumen, zu ihren ſteingepanzerten Wurzeln drang keine Luft und kein Tau. Grauer Staub deckte die Büſche wie mit Trauerſchleiern. Wer draußen im Wald den Sommer ſuchen ging, den empfingen die Kiefern ſchwarz und ernſt und die blumenloſen Felder. O, daß ich empor auf einen Berg ſteigen könnte zu reiner Luft und klaren Quellen! Heimweh packte mich, — Heimweh nach den ſchmalen Pfaden zwiſchen duftenden, buntblühenden Wieſen, nach dem ſtillen See im Buchenwald, wo zwiſchen Moos und Geſtein Märchenblumen ihre Kelche öffnen. Heimweh nach der großen Einſamkeit! Ob nicht der Geiſt der Frauen verkümmert und ihr Gemüt verdorrt, weil ſie nicht einſam ſein dürfen? „Geh, — erhole dich, — ruh' dich aus, und wenn es nur ein paar Tage ſind, — es wird dir gut tun,“ ſagte mein Mann, dem meine Schlafloſigkeit, meine Bläſſe auffiel; „ich und die Berta hüten den Jungen.“ Es bedurfte keiner Überredungskünſte, meine Sehn⸗ ſucht, allein zu ſein, ganz allein, war zu groß. Ich fuhr nach dem Harz. Aber ſchon unterwegs packte mich die Unruhe: was konnte dem Kleinen inzwiſchen nicht 401 alles geſchehen! Tauſend Fragen und Sorgen ſchreckten mich am Tage, ängſtliche Träume verfolgten mich bei Racht. Und die Berge hier, die mir fremd waren, blieben mir ſtumm, und die rauſchenden Quellen ſprachen eine fremde Sprache. Da erreichte mich ein Brief meiner Mutter aus Heidelberg. „Erdmann iſt aufgegeben,“ hieß es darin, „und Ilſe hat Lungenentzündung, deren Ausgang un⸗ abſehbar iſt. Sie ſpricht oft von Dir . . . Am ſelben Abend ſchrieb ich an meinen Mann: „Liebſter! Ich halte es nicht aus ohne Dich, ohne Otto. Aber ehe ich zurückkehre, muß ich Ilſe wiederſehen. Rach den Andeutungen meiner Mutter iſt alles zu fürchten. Du haſt mich ausgelacht, als ich Dir einmal ſagte, daß ich mich ihr gegenüber ſchuldig fühle. Es kommt ja aber auch nicht darauf an, ob eine Schuld im Sinne landläufiger Moral beſteht, ſondern darauf, ob ich ſie empfinde. Ich muß das gut machen, — da⸗ mit ich mich nicht quäle, wenn das arme Kind ſterben ſollte, und damit ſie mir wieder vertraut, wenn ſie lebt und meiner bedarf . . .“ Ich reiſte am ſelben Abend noch ab. Meine Mutter empfing mich am Bahnhof. „Es geht zu Ende,“ ſagte ſie auf meinen fragenden Blick. „Und Ilſe?“ „Sie fiebert noch immer! Meine Ahnung betrog mich nicht. Dieſe unglückſelige Ehe! Die letzten drei Worte ſtieß ſie zwiſchen den Zähnen hervor. Es war kein zärtliches Mitleid, das ſie empfand, ſondern Empörung gegen das Geſchick. „Das iſt lieb, daß du kommſt, gute Schweſter,“ rief mir Ilſe entgegen, als ich an ihr Bett trat. Seit 26 Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 402 langem hörte ich wieder den alten warmen Ton in ihrer Stimme, und ihr Geſichtchen hob ſich rund und roſig von den weißen Kiſſen ab, als wäre es wieder das des ſüßen kleinen Mädchens von einſt. Wußte ſie nicht, daß ein paar Türen weiter ihr Mann im Sterben lag? Der Arzt trat ins Zimmer mit den Tropfen und dem Fieberthermometer. Ich ſah, wie ihre Augen jeder ſeiner Bewegungen folgten, wie ſie ihn anlächelte, voll dankbaren Vertrauens. Und in der Sorgfalt, mit der er ihr die Kiſſen rückte und den Vorhang am Fenſter weit zurückſchlug, damit die Sonnenſtrahlen ihre Haare umſpielen konnten, lag tiefere Empfindung, als die des Arztes. Blühte dem armen Kinde eine Herbſtroſe auf dem Totenacker? „Du gehſt zu ihm?“ fragte ſie und lehnte ſich mit ge⸗ ſchloſſenen Augen müde zurück. „Ja,“ antwortete ich leiſe. Das Lächeln aus ihrem Antlitz verſchwand, die Lippen preßten ſich zuſammen. In Decken gehüllt, am weit offenen Fenſter lag er. Die weißen Wände des Zimmers, die Betten, das weiße Geſchirr, von blinkenden Metall unterbrochen, die weiße Schürze der Pflegerin ſtrahlten über ſein eingefallenes gelbes Geſicht eine grauſame Helle aus. Er war ſo geiſtvoll, ſo lebendig wie je; das hätte täuſchen können, wenn mein Auge nicht eben auf die Morphiumſpritze in der Hand der Diakoniſſin gefallen wäre. „Sieh nur, wie wunderſchön das iſt!“ ſagte er und ſein Blick umfaßte in leidenſchaftlicher Liebe das bunte Herbſtlaub der Bäume draußen. Er hatte den Schoß voll kleiner Skizzen und ließ den Pinſel nur aus der Hand, wenn die Schwäche ihn übermannte. 403 „Haſt du Ilſe geſehen?“ fragte er ſchließlich. Ich nickte. „Sie iſt noch viel, viel ſchöner als die Berge und der Wald,“ flüſterte er ſehnſüchtig. Am nächſten Tage verließ ich Heidelberg wieder. Eine bleierne Müdigkeit bemächtigte ſich meiner. Ich hätte immerfort ſchlafen mögen. Dabei fand ich lauter dringende Briefe vor: der Verleger wünſchte eine raſchere Erledigung der Korrekturen, der Verein für Haushaltungsgenoſſen⸗ ſchaften lud mich zur nächſten Sitzung, ein paar Partei⸗ genoſſen erinnerten an die ihnen bereits zugeſagten Vor⸗ träge. Eine mir ſelbſt Fremde ſtand ich auf der Redner⸗ tribüne. Jene Glut der Leidenſchaft, die allein fähig iſt, den Eiſenmantel zu ſchmelzen, den Kummer und Rot um die Herzen der Armſten ſchmiedete, jene Klarheit der Überzeugung, die allein das Dunkel des Vorurteils und der Unwiſſenheit zu durchleuchten vermag, fehlten mir und ließen ſich nicht erzwingen. „Ich bin unfäyig, zu ſprechen, — erlaſſen Sie es mir diesmal,“ bat ich einen der Genoſſen; „die Menſchen kehren heim, ohne einen Gran Kraft und Klugheit ge⸗ wonnen zu haben.“ Aber er beſtand auf ſeinem Schein: „Ihr Rame zieht, und wir brauchen einen vollen Saal.“ Eines Abends ſollte ich bei den Textilarbeitern refe⸗ rieren. Als ich kam, war der Saal leer, und der Wirt erzählte mir, daß die Verſammlung ſchon vor zwei Tagen ſtattgefunden und man mich vergebens erwartet habe. Ich zog die Einladungskarte aus der Taſche: nur das Datum war angegeben, nicht der Tag, und dieſes ſtimmte. 26* 404 Der Vertrauensmann der Gewerkſchaft, zu dem ich ging, mußte mir beſtätigen, daß der Irrtum nicht auf meiner Seite lag. Wenige Tage ſpäter hörte ich, eine der Ge⸗ noſſinnen habe behauptet, ich hätte das Datum gefälſcht, um mich der Aufgabe zu entziehen, und habe hinzugefügt, ſowas ſei bei mir ſchon öfter vorgekommen. Auf das äußerſte empört, verlangte ich eine Unterſuchung der Angelegenheit. Ein Schiedsgericht trat zuſammen. In endloſen Sitzungen wurden Zeugen vernommen, die Ein⸗ ladungskarte geprüft, verglichen. Ich ballte die Fäuſte unter dem Tiſch vor Erregung und konnte mich doch dem Eindruck nicht entziehen, den die ruhige Gründlich⸗ keit all dieſer Arbeiter auf mich machte. An Ernſt und Objektivität, an Takt und Würde ſtanden ſie turmhoch über ihren weiblichen Klaſſengenoſſen, mit denen ich bisher zuſammengekommen war. Eine formelle Ehren⸗ erklärung, die mir ſchriftlich zuging, war das Reſultat der Verhandlungen. Aber die Empfindung, beſudelt zu ſein, wurde ich lange Zeit nicht los. Ich vertiefte mich in die Korrekturen meiner „Frauen⸗ frage“. Und die Genugtuung über meine Arbeit wirkte wie ein ſtärkendes und reinigendes Bad. Mitten in der Arbeit an den letzten Druckbogen be⸗ ſuchte mich die weibliche Vertrauensperſon meines Wahl⸗ kreiſes. Für eine große Volksverſammlung, die in den allernächſten Tagen ſtattfinden und ſich mit den von der Regierung angekündigten Zollerhöhungen beſchäftigen ſollte, hatte man mir den Vortrag zugedacht. Ich lehnte ab. Meine Beſucherin wurde immer dringender. „Sie müſſen kommen,“ erklärte ſie ſchließlich. „Ich muß?! Warum?!“ fragte ich verwundert. 405 „Wir haben Ihren Ramen ſchon auf die Plakate ge⸗ druckt!“ „Das iſt Ihre Schuld, — nicht die meine,“ entgegnete ich; „ſelbſt wenn ich Zeit hätte, mich binnen zwei Tagen auf ein ſchwieriges Thema, wie den drohenden Zolltarif, vorzubereiten, würde ich bei meiner Ablehnung bleiben und Sie die Folgen eines ſo unverantwortlichen Vor⸗ gehens tragen laſſen.“ Sie warf mir noch einen rachſüchtigen Blick zu und ging. Mein Buch erſchien. Die Aufnahme, die ihm zuteil wurde, entſchädigte mich für viele Schmerzen und gab mir das Vertrauen in die eigene Kraft zurück. „Sie haben mehr geleiſtet, als ich erwartet hatte, und das will viel ſagen,“ ſchrieb mir Romberg. „Ihr Werk iſt eine wiſſenſchaftliche Leiſtung, dem keine Kritik und keine Zeit den Charakter eines standard work nehmen wird, und — was für mich ſeinen größten Wert aus⸗ macht — der Ausdruck einer ſtarken Perſönlichkeit. Die objektive Wiſſenſchaft iſt zweifellos etwas ſehr Großes, aber der Menſch bleibt immer das Allergrößte . . . Rur zwei Zeitſchriften riſſen meine Arbeit herunter; die Monatsblätter von Helma Kurz und — die „Frei⸗ heit“ von Wanda Orbin. „Alix Brandts Buch iſt jeder Mütterlichkeit und jeder Wiſſenſchaftlichkeit bar,“ hieß es in dem einen Blatt: „die Genoſſin Brandt hätte in der Kleinarbeit der Agi⸗ tation erſt lernen und ſich bewähren müſſen, ehe ſie etwas für die Arbeiterinnenbewegung wirklich Rützliches 406 hätte ſchaffen können,“ lautete das Endurteil in dem anderen. Ich lachte zuerſt und dachte daran, wie ich von einer meiner bürgerlichen Gegnerinnen einmal pathetiſch als ein „Tribünenweib“ bezeichnet worden war, „deren Lenden nie ein Kind getragen haben“, und eine Ge⸗ noſſin mir als ſchwere Unterlaſſungsſünde die Tatſache vorgehalten hatte, daß ich eine wichtige Parteipflicht — die, Flugblätter auszutragen — noch nicht erfüllt hätte. Aber dann verging mir das Lachen. Mein ganzes Ich lag in dem Buch, all mein Wiſſen, mein Glauben, mein Hoffen. „Meinem Mann und meinem Sohn“ ſtand als Widmung vor dem Titel. Das war keine bloße Form, es war ein Bekenntnis: ich hätte es nicht ſchreiben können ohne das Doppelerlebnis der Liebe und der Mutter⸗ ſchaft, das aus dem Kinde erſt den Menſchen macht, das Schleier von den Augen reißt und eiſerne Klammern von den Herzen. Es ſind Männer geweſen, die die Madonna zur Mutter Gottes erhoben, denn nur der lebendig befruchtete Schoß vermag Lebendiges zu ge⸗ bären. Und arme Irre waren es, die die Jungfrau⸗ ſchaft mit dem Heiligenſchein krönten. Denn die Voran⸗ leuchtenden ſind nur, die des Lebens Tiefen erſchöpften. An die Mütterlichkeit hatte ich appelliert mit jedem Satz, den ich niederſchrieb. Aus einem primitiven Empfinden, das über die Wiege des eigenen Kindes kaum hinausging, ſollte ſie zu weltumſpannender Kraft ſich entfalten. All die Tauſende und Abertauſende Hilf⸗ loſer und Entrechteter hatte ich aufgeboten, daß ſie die Mütter ſuchen ſollten. Einſt pochte ihr Murmelgebet: „Heilige Maria, bitte für uns!“ umſonſt an das Tor 407 des Himmels, — ſollte ihre ſtumme Rot auf der Erde keine Antwort finden? Waffen hatte ich geſchmiedet für die Proletarierinnen, Waffen, — ich wußte es, — die unzerbrechlich waren. Ich erwartete keinen Dank dafür, denn daß ich ſie ſchaffen konnte, war Dank genug. Nur nehmen, nur gebrauchen ſollten ſie meine Klingen und Pfeile. „Warte die Zeit ab,“ ſagte mein Mann. Aber ich ſieberte nach Tat, nach Wirken, — ich konnte nicht warten. Dem Arbeiterinnen⸗Bildungsverein und einzel⸗ nen der führenden Genoſſinnen hatte ich mein Buch zur Verfügung geſtellt. Eines Mor⸗ gens bekam ich einen Brief von Martha Bartels. Schon freute ich mich, — ich werde ſie wiedergewonnen haben, dachte ich, und erinnerte mich, wie ſie mir, der Fremden, einſt entgegengekommen war, als ich noch Alix von Glyzcinski hieß. Ich ließ ihren Brief in den Schoß fallen, als ich ſeine wenigen Zeilen durchflogen hatte, und lehnte mich mit einem Gefühl von Schwindel in den Stuhl zurück. „Rachdem Ihre Unzuverläſſigkeit in der Ausführung übernommener Parteipflichten wieder offenbar wurde, ſchcieb ſie, „haben die Genoſſinnen einſtimmig beſchloſſen, Sie zu unſeren Sitzungen nicht mehr einzuladen.“ Ein formeller Ausſchluß alſo, — ohne Gründe anzu⸗ geben, — ohne mich zu hören! Und das in einer Partei, die die Ideale der Demokratie vertritt! Ich verlangte, mir zu gewähren, was die Geſetzgeber des kapitaliſtiſchen Staates den Mördern und Dieben zu⸗ 408 geſtehen: mich vor meinen Richtern verteidigen zu können. Man antwortete mir nicht. Ich erfuhr ſchließ⸗ lich, daß jene Genoſſin, die mich vergebens zu einem Vortrag hatte preſſen wollen, die Sache ſo dargeſtellt hatte, als ob ich mein gegebenes Wort gebrochen hätte. Und ich hörte weiter, daß meine „Fälſchung“ jener Einladungskarte zum Referat bei den Textilarbeitern noch immer in aller Munde ſei. Ich ſandte die Ehren⸗ erklärung der Gewerkſchaft ein, ich zwang die Lügnerin, ihre Behauptung zu widerrufen. Es nützte nichts „Wir erkennen an, daß in dieſen beiden Fällen ein Irrtum vorlag,“ ſchrieb Martha Bartels, „aber es ſtehen noch ſo viele andere feſt, wo Sie ſich als unzu⸗ verläſſig erwieſen haben, daß die Genoſſinnen an ihrem einſtimmigen Beſchluß, Ihre Mitarbeit abzulehnen, feſt⸗ halten.“ Ich ging zum Parteivorſtand, um die Einſetzung eines Schiedsgerichts zu fordern. „Liebe Genoſſin,“ ſagte Auer, mir gutmütig die breite Hand auf die Schulter legend, „tun Sie das nicht! Lehren Sie mich unſere Weiber kennen! Jedes Schiedsgericht wird Ihnen recht geben, — natürlich! Aber, glauben Sie, daß damit geholfen iſt?! Schon am nächſten Tag werden die Klatſchmäuler, denen Sie nun einmal ein Dorn im Auge ſind, neue, noch ſchlimmere Sünden über Sie zu verbreiten wiſſen, und das moderniſierte Gerichtsverfahren der heiligen Fehme wird alle demokratiſchen Schieds⸗ ſprüche umſtoßen. Überlaſſen Sie der Wanda die Weiber! Für Ihren Tätigkeitsdrang iſt in der Partei noch Raum genug.“ Ich fügte mich ſeiner Anſicht. Ob aus Einſicht, aus 409 Müdigkeit, aus Ekel? Ich weiß es nicht mehr. Auers Hand umſpannte die meine ſchmerzhaft feſt. „Wollen Sie von mir alten Kerl noch einen Rat auf den Weg nehmen?“ fragte er. „Wer auf hoher Warte ſteht, dem ſollten die leid tun, die ſich von unten im Schweiße ihres Angeſichts abmühen, mit Steinen zu werfen. Er ſollte immer über ſie hinwegſehen. Dann hören ſie von ſelber auf und beſinnen ſich, daß ein Weg da iſt, auf dem auch ſie aufwärtsſteigen könnten ... Wer die Diſtanz nicht wahren kann, iſt kein Politiker.“ „Die Diſtanz, — das bedeutet Fernſein, Kühle,“ antwortete ich mit einem leiſen Seufzer, „— ich liebe die Menſchen; ich möchte von ihnen geliebt ſein. „Sie lieben die Menſchen, — dieſe Menſchen?! Sie cherzen!“ Er reckte ſich zu ſeiner ganzen Größe. „Wir würden ſie erhalten, wenn wir ſie lieben würden. Aber wir wollen ſie überwinden — mit dem gewaltigen Er⸗ ziehungsmittel einer neuen Geſellſchaftsordnung —, alſo haſſen wir ſie.“ Ich ſchüttelte den Kopf. War das eine hohe Warte? Würde ich ſie je erreichen, — erreichen wollens! 410 Zwölftes Kapitel Probleme werden nicht durch Reſolutionen aus der Welt geſchafft. Auch der beſte Wille der Streitenden, — und es gab Augenblicke, wo ſelbſt Eduard Bernſtein die Schwäche dieſes „guten Willens“ hatte und Hervorragende unter ſeinen An⸗ hängern den „Reviſionismus“ als eine neue Richtung innerhalb der Partei abſchworen, — vermag das Streit⸗ objekt nicht aus der Welt zu ſchaffen. Einmal aus⸗ geſprochene Gedanken löſen ſich gleichſam von dem, der ſie dachte, ab und haben ein ſelbſtändiges Leben. Die Beſchlüſſe des Parteitags von Hannover hatten nichts zur Folge, als einen Waffenſtillſtand. Bern⸗ ſteins Rede im ſozialwiſſenſchaftlichen Studentenverein eröffnete den Kampf von neuem. In Artikeln, Reden und Broſchüren wurde er mit ſteigender Erbitterung ge⸗ führt. Und die aufreizenden Zurufe der Zuſchauer, die vom nächſten Tage die Spaltung der Sozialdemokratie erwarteten und erhofften, erhitzte die Kämpfenden noch mehr. Die wachſende Leidenſchaft tötete jede Objek⸗ tivität. Keiner geſtand dem anderen die Ehrlichkeit der Geſinnung zu. Hinter jeder Außerung eines Reviſio⸗ niſten entdeckte der orthodoxe Marxiſt Parteiverrat, in jeder Verteidigung des radikalen Standpunktes ſah der 41I Reviſioniſt dogmatiſche Verbohrtheit und bewußtes De⸗ magogentum. Er überhörte gefliſſentlich die Lehren der Hſychologie und der Geſchichte, aus denen er hätte folgern können, daß die Verteidigung der Tradition, der grundlegenden Dogmen des Sozialismus notwendig zu demſelben Haß, derſelben Verfolgung der Angreifer führen muß, wie einſt die des Heidentums gegen die Chriſten, der römiſchen Kirche gegen die Reformation. Aber ein noch merkwürdigeres Zeichen dafür, wie wenig bloße Erkenntniſſe des Verſtandes die urſprüng⸗ liche, nur auf die Einflüſſe des Gefühls reagierende Ratur des Menſchen zu ändern vermögen, war die Haltung der Radikalen. Sie verleugneten in ihrem Zorn eine der Grundlagen ihrer eigenen Anſchauung: die materialiſtiſche Geſchichtsauffaſſung. Es war die befreiendſte Lehre, die Marx hinterließ, zu der ſich all⸗ mählich, bewußt oder unbewußt, auch Richtſozialiſten bekannten: daß, da „alles fließt“, auch die Theorien ſich entwickeln müſſen, entſprechend den Wandlungen des wirtſchaftlichen und ſozialen Lebens. In dieſem Sinne war der Reviſionismus marxiſtiſch und der Ra⸗ dikalismus reaktionär. Die ernſten Kämpfe zwiſchen den beiden Richtungen ſpielten ſich zwiſchen den geiſtigen Führern ab, von denen die einen die Maſſe der Arbeiterſchaft hinter ſich hatten, die anderen noch Offiziere waren ohne Armee. In dem harten Schädel der Proletarier ſaß jeder Buch⸗ ſtabe des ſozialiſtiſchen Apoſtolikums noch feſt; wurde der Kampf daher in die Volksverſammlungen getragen, ſo äußerte er ſich in wüſtem Geſchimpfe gegen die Reuerer, die dem Armen das Beſte zu erſchüttern 412 drohten, was ihnen der Sozialismus gegeben hatte: ihren Glauben. Es kam aber noch ein anderes hinzu: der Reſpekt vor der Wiſſenſchaft, zu dem der Sozialis⸗ mus ſie verpflichtete, ging Hand in Hand mit einem glühenden Verlangen nach Wiſſen. Bildungsſchulen, wiſſenſchaftliche Vorträge und Kurſe kamen dieſem Ver⸗ langen entgegen und pfropften auf den lebensſchwachen Baum der Volksſchule ein Reis, unter deſſen Früchten Dilettantismus und Bildungsdünkel am beſten gediehen. Wozu ernſte Denker Jahrzehnte brauchen, das glaubte der Proletarier in ein paar Abendſtunden erreichen zu können. Daß er es glaubte, war nicht ſeine Schuld: die Naivetät ſeiner Jugend unterſtützte die Partei, die ihm in Wort und Schrift nichts mehr einprägte als die Überzeugung von der Dummheit ſeiner Gegner. Als Gegner aber erſchienen ihm auch die Reviſioniſten. Zu ſeinem gefühlsmäßigen Haß gegen die Unruhſtifter trat die hochmütige Verachtung der Akademiker hinzu. Einmal, — ich war gerade von einer Agitations⸗ reiſe zurückgekehrt, — beklagte ich mich dar⸗ über, als Reinhard gerade bei uns war. „Ich habe Sie ſonſt für ſo verſtändig gehalten,“ ſagte er; „daß Sie nun auch ſo nervös, ſo empfindlich geworden ſind! — Ich kann Ihnen verſichern: mir ſelbſt kommt der Krakehl zum Halſe heraus! Er macht unſere Leute kopfſcheu; von jedem Gegner wird er uns aufs Butterbrot geſchmiert. Außerdem haben wir doch jetzt, ein Jahr vor den Reichstagswahlen und angeſichts der 413 Zolltarif⸗Vorlage Beſſeres zu tun, als uns über die Ver⸗ elendungstheorie die Köpfe blutig zu ſchlagen. „Sind wir etwa daran ſchuld?!“ fuhr Heinrich auf. „Oder nicht viel mehr die Großinquiſitoren der „Reuen Zeit“, die ſeit Jahr und Tag ihre Spürhunde auf uns hetzen?! Die jungen Leuten, die noch nichts geleiſtet haben, als ihnen nachzubeten, geſtatten, gegen alte ver⸗ diente Genoſſen, — einen Jaurés, einen Auer, einen Vollmar, — wie gegen Schwachköpfe oder Verräter vom Leder zu ziehen?! „Die Propheten aus dem Oſten nicht zu vergeſſen, die desgleichen tun —,“ unterbrach ihn Reinhard mit einem ſarkaſtiſchen Lächeln. „Die gehören in dieſelbe Kategorie, nur daß ihre. — na, ſagen wir parlamentariſch: Unbeſcheidenheit noch größer iſt. Vom Kothurn ihrer Unentwegtheit herab führen ſie das große Wort, und ihr Ziel iſt offen⸗ ſichtlich der Bannfluch, d. h. der Ausſchluß aller derer aus der Partei, die eine ſelbſtändige Meinung haben.“ „Wenn man Sie ſo ſchimpfen hört, lieber Brandt, könnte man die Schickſalsfügung ſegnen, die Sie bisher verhinderte, Ihre Zeitſchrift ins Leben zu rufen,“ ſagte Reinhard. „Wenn Sie all Ihre Wut noch in Drucker⸗ ſchwärze verwandeln würden!! „Sie irren ſehr, wenn Sie glauben, ich werde mein Blatt zum Kampfplatz für Theoretiker machen,“ ent⸗ gegnete Heinrich ruhig. „Mir würde es in erſter Linie darauf ankommen, praktiſche Politik zu treiben. Daß das auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens not⸗ wendig iſt, daß es endlich an der Zeit wird, den ruhenden Koloß der Partei in Bewegung zu ſetzen und Tages⸗ 414 arbeit verrichten zu laſſen, — das ſcheint mir das wich⸗ tigſte Ergebnis der gegenwärtigen Bewegung. Reinhard ſtand auf, ſtampfte ärgerlich mit der Krücke auf den Boden und ſagte: „Als ob das alles eine blitz⸗ blanke neue Erfindung wäre! Was war es denn, was wir lange vor Bernſtein in den Parlamenten, in den Kommunen, in den Gewerkſchaften und Genoſſenſchaften getrieben haben?! Der ganze Unterſchied zwiſchen den Reviſioniſten und den Radikalen iſt, daß die einen in der Arbeiterſchutzgeſetzgebung, in der Gewerkſchafts⸗ und Genoſſenſchaftsbewegung, in der allmählichen Demokra⸗ tiſierung des Staats nichts als Erziehungsmittel für das Proletariat erblicken, und die anderen Sozialiſie⸗ rungen der Geſellſchaft, Vorausſetzungen des Sozialis⸗ mus. Dem Arbeiter aber iſt's wirklich einerlei, wie die Dinge heißen, die er bekommt, wenn er ſie nur über⸗ haupt kriegen kann. Und darum —“ er ging erregt im Zimmer auf und nieder — „begreife ich die ganzen Skandale nicht und fühle es meinen Genoſſen nach, wenn ſie euch Akademiker mißtrauiſch betrachten. Wir ſind ja auf dem beſten Wege, — was werft ihr Steine in unſeren Teich?! Sehen Sie ſich z. B. mal die Tagesordnungunſeres Stuttgarter Gewerkſchaftskongreſſes an! Sie waren ja dabei, als man ſich wütend an die Gurgeln fuhr, weil der eine die ſozialpolitiſche Tätig⸗ keit der Gewerkſchaften forderte, der andere ſie für ſchädlich hielt. Und ich ſelbſt, — Sie beſinnen ſich! — war der radikalſten einer. An meiner eigenen Ent⸗ wicklung mögen Sie die Entwicklung der ganzen Be⸗ wegung meſſen. In aller Stille iſt viel Waſſer die Spree hinuntergelaufen, und jetzt ſind wir mitten drin 415 in der Sozialpolitik Oder betrachten Sie unſere Hal⸗ tung in der inneren Politik: denken Sie an die Bud⸗ getbewilligung der Budener im vorigen Jahr, — Bebel hat ſie freilich hinterher heruntergeputzt, — oder an die Zuſtimmung unſerer bayriſchen Landtagsfraktion zur Wahlreform, — Bebel wird ſie natürlich darum auch noch unter die Lupe des Prinzips nehmen —. Und, vor allem!, erinnern Sie ſich, wie ſelbſt die ärgſten berliner Revolutionäre mit dem dreifachen R jetzt ſtramm und einig zur Landtagswahl aufmarſchieren. Von dem Augenblick an, wo der Parlamentarismus den Charakter des Kräutchens Rührmichnichtan für uns ver⸗ loren hatte, ſind wir folgerichtig weitergegangen.“ Ich hatte ihm mit wachſendem Intereſſe zugehört. „Und was wollen Sie mit alledem beweiſen?“ fragte ich. „Daß der ganze Stank und Zank überflüſſig iſt. — Sowohl vom Standpunkt eurer Angſt um Verſumpfung und Verknöcherung der Hartei, wie vom Standpunkt all der radikalen Kaſſandras männlichen und weiblichen Geſchlechts, die um unſer ſozialiſtiſches Seelenheil zittern. Wahrhaftig: wenn wir mit der Bourgeoiſie paktieren, ſo doch nur, um für uns das Schäfchen ins Trockne zu bringen! „Ich folgere aus Ihren Beweisführungen etwas ganz anderes,“ rief ich aus. „Da die Praxis wieder einmal der Theorie vorausgeeilt iſt, ſo muß die Theorie ſich ihr anpaſſen, ſonſt kommt der Moment, wo das Band zwiſchen beiden zerreißt. Die Lehre von der plan⸗ mäßigen Demokratiſierung und Sozialiſierung der kapi⸗ taliſtiſchen Geſellſchaft muß an Stelle des Dogmas von der alleinſeligmachenden Revolution treten —“ 416 „Aber das iſt doch genau dasſelbe!“ polterte Rein⸗ hard. „Selbſt der dümmſte Radikale denkt doch nicht im Schlaf daran, daß er die Hände nur in den Schoß zu legen und auf die gebratene Taube der politiſchen Macht zu warten braucht, die ihm ins Maul fliegen wird! Jeder Rekrut in unſerer Armee ſieht alle Tage, wie ſie ſich jede Handbreit politiſcher Macht ſchrittweiſe erobern muß. Ebenſo wächſt ihr Einfluß nur nach und nach, und das berühmte Endziel kann nichts anderes ſein als die letzte Krönung des Gebäudes.“ Mein Mann lächelte: „Ich ſage ja: Sie ſind Revi⸗ ſioniſk.“ „Zum Donnerwetter, nein! — Ich bin Sozialdemo⸗ krat!“ — Reinhards Augen glänzten — „Und ihr ſeid Rabuliſten.“ Beim Abſchied nahm ſein Geſicht wieder den alten, gutmütig⸗freundlichen Ausdruck an. „Richts für ungut, Genoſſen!“ brummte er mit einem leichten Anflug von Verlegenheit; dann reichte er meinem Mann die Hand. „Sie können auf mich rechnen. Wenn Ihr Blatt praktiſche Politik treiben wird, — in bewußtem Gegenſatz zu unſeren Zeitſchriften von rechts und links, die ſich um des Kaiſers Bart raufen, — ſo wird es befreiend wirken und ſeines Er⸗ folges bei unſeren Genoſſen ſicher ſein.“ Als er gegangen war, reichte mir mein Mann einen Brief von Romberg. „. Ihre Pläne ſind mir immer wieder durch den Kopf gegangen,“ ſchrieb er, „und der Gedanke, das IArchiv“ ſelbſt zu erwerben, ließ mich nicht los. Trotz⸗ dem bin ich zu dem Entſchluß gelangt, meine perſön⸗ 417 lichen Wünſche nicht nur zu unterdrücken, ſondern Ihnen überdies dendringenden Rat zugeben, die Verkaufsideeüber⸗ haupt fallen zu laſſen. Sie wiſſen ſelbſt, daß das neue Unternehmen, dem Sie Ihren Brotgeber, das Archiv, opfern wollen, in bezug auf ſeinen materiellen Erfolg ein ganz unſicheres iſt. Stünden Sie allein, ſo könnten Sie meinetwegen den Huſarenritt unternehmen, aber Sie haben Familie, — verübeln Sie es meiner auf⸗ richtigen Freundſchaft nicht, wenn mich die Sorge um ſie in dieſem Zuſammenhang von ihr ſprechen läßt. Ich weiß: Frau Alix zieht in dieſem Augenblick zürnend die Brauen zuſammen; ſie iſt ja noch fanatiſcher, noch leichtſinniger wie Sie. Seien Sie darum doppelt klug für beide und erhalten Sie ſich das Archiv. Es kann einmal die Rolle der Planke ſpielen, die Sie vor dem Ertrinken rettet . . Ich warf den Brief heftig auf den Tiſch. „Daß Romberg ſolch bourgeoiſe Anſchauungen hat!“ rief ich aus. „Als ob wir beide nicht im Rotfall ſchwimmen könnten!“ Heinrich zog mich zärtlich in die Arme. „Daß du ſo denkſt, weiß ich,“ ſagte er, „trotzdem werde ich handeln wie ein Bourgeois!“ Ich wollte auf⸗ fahren. „So höre doch erſt zu, ehe du ſchimpfſt! meinte er lächelnd. „Beſinnſt du dich auf Lindner, den jungen Dichter, den wir auf dem Pariſer Kongreß ge⸗ troffen haben?“ Ich nickte. „Er tauchte vor kurzem hier auf und beſuchte mich, während du weg warſt: ein ſympathiſcher Menſch, deſſen Schüchternheit alle ſeine guten Abſichten im Keime erſtickt. Er möchte in der Partei wirken; aber auf der einen Seite fürchtet er als Akademiker das Mißtrauen der Genoſſen, auf der an⸗ Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 27 418 deren Seite ſtößt ihn die Pöbelgeſinnung zurück, die ihm vielfach ſchon begegnete. Er ſchüttete mir ſein Herz aus; dabei erfuhr ich, daß er der einzige Sohn reicher Leute iſt. Ich ſprach ihm von unſerem Plan, er war ſofort Feuer und Flamme dafür.“ „Und gibt die Mittel?!“ unterbrach ich Heinrich erregt. „Wenn die Eltern, von denen er noch abhängig iſt, ſie ihm bewilligen . . . Endlich dem Ziele nah! war der einzige Gedanke, der mich beherrſchte; winzig erſchienen ihm gegenüber die noch vorhandenen Hinderniſſe. Einige Tage ſpäter kam Lindner zu uns: ein lang aufgeſchoſſener blonder Menſch, mit kurzſichtig zwinkern⸗ den blaßblauen Auglein und ſchlaffen, feuchten Händen. Er gefiel mir nicht. Aber ich unterdrückte raſch dieſe erſte inſtinktmäßige Empfindung. „Ich möchte den Arbeitern die Kunſt nahe bringen,“ ſagte er im Verlauf unſeres ſchwerfällig ſich hinſchlep⸗ penden Geſprächs. „Die Freien Volksbühnen erfüllen, wie mir ſcheint, Ihren Wunſch. Sie haben Tauſende von Mitgliedern aus Arbeiterkreiſen und leiſten Vorzügliches,“ antwor⸗ tete ich.. „So meinte ich es nicht, nein —,“ und die Stimme unſeres Gaſtes, die noch den Timbre der Knaben⸗ ſtimme hatte, obwohl er längſt über die Entwicklungs⸗ jahre hinaus war, wurde lebhafter; „ich dachte, es müßte möglich ſein, das Künſtlertum im Proletariat zu erwecken, eine neue Kunſt — die Kunſt der Zukunft — entſtehen zu laſſen. Ich würde das als meine Auf⸗ gabe anſehen. 419 Ich muſterte ihn genauer: er war gar nicht dumm, er hatte ſogar einen originellen Zug. „Ich glaube nicht recht daran,“ ſagte ich dann lang⸗ ſam. „Daß die Talente ſich durchſetzen, gehört zu den Fabeln der Menſchheit. Der harte Kampf ums Daſein erſtickt die meiſten ihrer Keime. Und die davon doch zur Blüte gelangen, verkümmern ſchließlich im Dilet⸗ tantismus. Vielleicht würden die von Ihnen erhofften Talente ſtatt freier Künſtler Hörige des Proletariats, wie die Talente, auf die wir vor zehn Jahren hofften, Hörige des Kapitalismus geworden ſind . Mein Junge kam herein und erfüllte das Zimmer im Augenblick mit ſeiner ſtrahlenden Friſche. Wie eine Pflanze, die im Dunkel geſtanden hat mit blaſſen ſaft⸗ loſen Trieben, wirkte Lindner jetzt auf mich. Er tat mir leid, und ich wurde darum weicher. Er erzählte von ſeinen Eltern. Sie hatten große Hoffnungen auf ihn geſetzt, und daß er ſie immer wieder enttäuſchte, machte ihn ſelbſt mutlos. Aber jetzt, — jetzt würde er um ſeine Überzeugung, — um ſeine Zukunft mit ihnen kämpfen! Er gewann Vertrauen zu mir. Und wenn er meine inſtinktive Abneigung immer wieder hervorrief, ſo überwand das Mitleid mit dieſer armen Greiſen⸗ ſeele eines Jünglings ſie eben ſo oft. Seine Beſuche waren oft recht unbequem. Wie die meiſten Menſchen, für die die Arbeit nur eine Rebenbeſchäftigung iſt, hatte er keinen Reſpekt vor der Zeit. Er fühlte nicht, daß er ſtörte, und wenn man es ihm andeutete, ſo war er gekränkt. Nur wenn er mit Ottochen ſpielen konnte, merkte er nicht, daß ich ihn hatte los werden 27* 420 wollen. Er liebte die kleinen Kinder und ließ ſich von meinem fünfjährigen Wildfang mit einer Gutmütigkeit tyranniſieren, die rührend war. Oft hörte ich durch die Türe die hellen Kommandotöne meines Jungen. Mein Bub'! Daß ich nur heimlich, wie aus dem Hinterhalt, ſein Geplauder belauſchen durfte! Daß ich mir die Stunden für ihn ſtehlen mußte! Ich war abermals einem falſchen feminiſtiſchen Lehrſatz auf der Spur. Richt der Säugling bedarf der Mutter am meiſten. All die vielen, mechaniſchen Dienſte, die der kleine Körper fordert, verſteht eine geſchulte Pflegerin beſſer als ſie. Erſt der erwachende Geiſt braucht die Augen der Mutter, die jede ſeiner Regungen ſieht, und ihre Sorgfalt, die allein weiß, welche ſeiner vielen Triebe beſchnitten, welche geſtützt, welche der Sonne und dem Wetter aus⸗ geſetzt werden können. Und Millionen Frauen dürfen es nicht! Rie erſchien mir unſere Geſellſchaftsordnung widerſinniger: ſie zwingt den Staat, Gefängniſſe zu bauen für die Verbrecher und Fürſorgeerziehungsanſtalten für die verwahrloſte Jugend, der ſie die Mütter ge⸗ nommen hat. Sollten wir wirklich darauf warten müſſen, bis ſich in hundert und aberhundert Jahren der Prozeß der Sozialiſierung der Geſellſchaft abgeſpielt hat? War unſere wirtſchaftliche und techniſche Entwicklung, nicht heute ſchon ſo weit vorgeſchritten, um durch eine ſozia⸗ liſtiſche Organiſation in Verbindung mit der allgemeinen Arbeitspflicht, die Herabſetzung der Arbeitszeit auf das geringſte Tagesmaß zu ermöglichen und den Kindern nicht nur die Mutter, ſondern auch den Vater zurück⸗ zugeben? In dem leidenſchaftlichen Zorn, der mich gegen 421 die Hüter der beſtehenden Ordnung erfüllte, konnte ich nicht anders, als ſie für Heuchler oder für Dummköpfe zu erklären. Die Frauen galt es, wider ſie zu empören! Mutterliebe iſt das ſtärkſte Gefühl in der Welt, ſtärker als die Leidenſchaft der Geſchlechter, ſtärker als der Hunger. Einmal von den Feſſeln befreit, in die die Tradition ſie zwängte, muß ſie zum Motor werden, der die Geſellſchaft aus den Angeln hebt. Ich wandte mich in meinen Reden immer mehr an die Frauen. Ich peitſchte ihre Empfindung auf; ich er⸗ klärte ſie für die Schuldigen, wenn ihre Kinder hungerten an Leib und Geiſt, wenn ſie verkamen, wenn die Ma⸗ ſchine ihre Jugend zerfraß, wenn ſie im Zuchthaus endeten. Der Zolltarif mit ſeiner Verteuerung aller Lebensmittel, der zu gleicher Zeit die Reichstagsdebatten beherrſchte, die Fleiſchteuerung, die eine Folge der Schließung der Grenzen war, — kurz, die ganze agra⸗ riſche Reichspolitik, in die die Regierung eingeſchwenkt war, boten mir die Handhabe, um an die nächſten In⸗ tereſſen der Frauen anzuknüpfen, an jene Frage, die je nach der Bedeutung, die ſie für die Glieder des Volkes hat, ein Gradmeſſer der Menſchheitskultur ſein kann: wie ſättige ich meine Kinder? Von einer meiner Verſammlungen war ich faſt ſtimm⸗ los zurückgekehrt. „Sie dürfen weder in Rauch noch in Staub ſprechen, ſagte der Arzt wie ſchon einmal vor Jahren. Ich lachte ihm ins Geſicht, ließ mir den Hals ein paarmal einpinſeln und fuhr nach Schleſien. Mit außerſter Anſtrengung gelang es mir, noch zwei Reden zu halten. Dann verſagte die Stimme ganz. 422 Jetzt erklärte der Arzt, daß ich ſobald als möglich fort müſſe: „In gute reine Luft, am beſten ins Ge⸗ birge.“ Ich ſchüttelte den Kopf. Wie konnte ich an eine Sommerreiſe denken?! „Die Geſundheit geht allem anderen voraus,“ ſagte mein Mann, „heute noch kannſt du packen und morgen in den Alpen ſein.“ Die Frage, ob ſolch eine Reiſe möglich wäre, ſchien ihn keinen Augenblick zu beunruhigen. „Ich kann den Kleinen nicht wochenlang allein laſſen — wandte ich ein. „Natürlich: Ottochen nimmſt du mit,“ antwortete Heinrich ohne Beſinnen, „auch dieſem Stadtpflänzchen wird das Landleben gut tun.“ Um jene Zeit war mein Schwager Erdmann ge⸗ ſtorben. Meine Mutter kam mit Ilſe nach Berlin zurück. Ich erſchrak, als ich ſie ſah. Jetzt erſt war ſie wirklich alt geworden, unauslöſchlich hatten ſich die Falten der Verbitterung um ihre Mund⸗ winkel eingegraben. Zwiſchen ihre feſt aufeinander⸗ gepreßten Lippen kam kein Laut der Klage. Aber wenn Ilſe neben ihr ſtand in all ihrer ſtrahlenden Jugend, mit den Augen, die ſehnſüchtig die Sonne ſuchten nach all dem monatelangen Leid, dann fühlte ich die ganze Qual dieſes Zuſammenlebens. Sie kamen häufig allein zu mir, und ich mußte immer wieder zwiſchen ihnen vermitteln. Endlich faßte ich den Mut, der Mutter ehrlich meine Meinung zu ſagen: „Warum läßt du ſie nicht frei? — Viele in ihrem 423 Alter ſtehen allein in der Welt. Wozu quälſt du dich ſelbſt und ſie? Die Mutter wurde hochrot im Geſicht. „Da ſieht man, wohin eure religionsloſe Moral euch führt!“ rief ſie. „Richt genug, daß du im Lande umherziehſt und die Frauen gegen Kirche und Staat aufhetzſt, wie mir mein Bruder erzählt, du reſpektierſt nicht einmal mehr die ſelbſtverſtändlichſten Gebote der Mutter⸗ und der Kindespflicht.“ „Nein,“ antwortete ich erregt. „Eine Pflicht, die kein Gebot des Herzens iſt, eine Pflicht, die ſich wie ein antiker Schickſalsſpruch durchſetzen will, auch wenn die Menſchen dabei zugrunde gehen, erkenne ich nie und nimmer an! — Was Onkel Walter erzählt, ſollte dir übrigens nichts Neues ſein: du weißt, daß ich Sozial⸗ demokratin bin. Daß meine Agitation ihm jetzt, wo ſie ſich gegen ſeine ſpeziellen agrariſchen Intereſſen richtet, beſonders antipathiſch iſt, ſcheint mir auch nur ſelbſt⸗ verſtändlich.“ „Und ich hatte gehofft, daß die Mutter in dir dich all⸗ mählich von dieſen Abwegen zurückführen würde —“ „Die Mutter in mir treibt mich vorwärts!“ unter⸗ brach ich ſie. „Lehrt ſie dich auch jede Familienrückſicht über Bord werfen? Richt daran denken, wie du alle kompromittierſt die unſeren Ramen tragen? Wie mein Bruder ſich ſo⸗ gar gezwungen ſieht, ein Mandat für den nächſten Reichs⸗ tag nicht mehr anzunehmen?!“ Ihr Zorn fing an, mich zu entwaffnen. „Liebe Mutter, das alles wollen wir, denke ich, nicht wieder aufrühren,“ ſagte ich ruhig. „Die Verwandten 424 haben ſich längſt in aller Form von mir losgeſagt, und wenn es für mich Familienrückſicht gibt, ſo iſt es allein die auf mein Kind.“ „Gerade an dieſem Kind wirſt du für all das Unglück, das du über uns gebracht haſt, büßen müſſen!“ rief die Mutter mit funkelnden Augen. Ich war von dem drohenden Ton ihrer Stimme be⸗ troffen. „Was meinſt du damit?!“ frug ich. „Sollteſt du für Otto etwa nicht auf Klotildens Erbe hoffen?“ entgegnete ſie. „Hat ſie dich ſeit deiner Heirat jemals eingeladen?! „Ich ſtehe dauernd in brieflichem Verkehr mit ihr. Sie hat mir erſt kürzlich über meine „Frauenfrage“ Worte wärmſter Anerkennung geſchrieben. Und daß ſie mich nicht bei ſich ſehen kann, begreife ich vollkommen. Ich würde ihre Freunde vertreiben, an denen ſie hängt, antwortete ich ausweichend. „Run ſo laß dir von mir geſagt ſein, daß die Berichte über deine agitatoriſche Tätigkeit ſie aufs äußerſte em⸗ pörten. Jenny Kleve kam eben aus Augsburg zurück — Ich biß mir heftig auf die Unterlippe. „Jenny Kleve! Allerdings eine gute Quelle! Und eine geeignete Ver⸗ treterin meiner Intereſſen!“ ſpottete ich. „Biſt du es nicht geweſen, die alles daran ſetzte, um zwiſchen ihr und ihren Geſchwiſtern und Tante Klotilde nähere Be⸗ ziehungen herzuſtellen?! Dein eigener Bruder warnte dich damals, dir kein Kuckucksei ins Reſt zu legen!“ „Ich habe nur meine Pflicht getan,“ erklärte die Mutter. 425 Tante Klotildens Erbſchaft! Der Gedanke bohrte ſich mir in Hirn und Herz. Mit einer Sicher⸗ aufkommen ließ, hatte ich ſtets auf ſie gerechnet. Ich heit, die nie auch nur den geringſten Zweifel wußte: ihrem geliebten älteſten Bruder, meinem Vater, hatte ſie verſprochen, für mich ſorgen zu wollen; er hatte mir noch kurz vor ſeinem Tode den Inhalt ihres Teſta⸗ mentes vorgeleſen, und hinzugefügt: „Daß ich Deine und Deines Jungen Zukunft geſichert weiß, wird mir das Sterben erleichtern. Habe ich doch ſelbſt gar nicht für Euch ſorgen können!“ Über manche ſchwere Stunde hatte die Erinnerung daran mir hinweggeholfen: Mag kommen, was will, mein Kind wird einmal nicht darben! Sollte ſie ihr Wort brechen können?! Ein kalter Schauer erſchütterte meinen Körper. Ich wußte, wie es tat, an die jämmerliche Rotdurft des Lebens ſtändig denken zu müſſen. Wie viele junge Menſchen hatte ich aus der Flut des Lebens auftauchen ſehen, von einem ſtarken Talent emporgetragen, und nach ein paar Jahren hatte das Bleigewicht der Rot ſie niedergezwungen! Mein Sohn ſollte ſich frei entwickeln können. Ich mußte mich ſelbſt überzeugen, ob die Warnung meiner Mutter berechtigt war. Mein Mann war böſe, als ich davon ſprach. „Du wirſt dich doch nicht mit den Kleves auf eine Stufe ſtellen?!“ rief er aus. „Unſer Junge hat es nicht nötig, daß ſeine Mutter ſich erniedrigt. Er wird ſtark genug ſein, ſich ſelbſt durchzukämpfen. Ich war ſo erregt, daß all die verſchwiegenen Qualen hervorſtürzten wie ein entfeſſelter Wildbach: „Du frei⸗ 426 lich wirſt nichts davon merken, wenn er ſich grämt, gerade ſo, wie du nicht merkſt, nicht merken willſt, wie mich die Sorgen niederdrücken. Du ſchiltſt, wenn ich nach deiner Anſicht nicht genau genug auf jeden Wurſt⸗ zipfel achte, der in die Küche kommt, aber du fragſt nicht danach, woher ich das Geld nehme, wenn du keins mehr haſt und wir leben wollen!“ Und ich erzählte ihm, wie ich im vorigen Jahr den Verleger um Vorſchuß hatte bitten müſſen, wie ich mein bißchen Schmuck heimlich aufs Verſatzamt getragen hatte. Er wurde ganz blaß, und ſein Geſicht nahm jenen harten, kalten Ausdruck an, vor dem ich mich immer fürchtete. Tagelang gingen wir ſtumm nebeneinander her, während das gezwungene Zuſammenſein uns ſtets aufs neue reizte. „Die Ehe iſt doch eine gräßliche Einrichtung,“ ſagte Heinrich ſchließlich und reichte mir in verſöhnlicher Stimmung die Hand. Ich nickte eifrig und meinte lächelnd: „Wie ſtark muß die Liebe ſein, um ſie auszuhalten! „Die beſten Freunde müſſen einander unerträglich werden, wenn ſie Tag und Racht in denſelben Käfig geſperrt ſind,“ ergänzte er. „Ich glaube, es iſt Zeit, daß wir für ein paar Wochen in Freiheit geſetzt werden,“ wagte ich zögernd auszu⸗ ſprechen; — ich erwartete jeden Tag die Antwort von Tante Klotilde auf meinen Brief, in dem ich ſie gefragt hatte, ob es ihr recht wäre, wenn ich mit dem Kleinen nach Grainau käme. Ich würde mir eine eigene Woh⸗ nung nehmen, — natürlich, — und ſie nur beſuchen, wenn ſie uns ſehen wollte. Mein Mann runzelte zwar noch die Stirn, aber er meinte dann doch lachend: 427 „Mach, daß du wegkommſt, damit ich die Gattin los werde und die Geliebte wiederfinde. Die Antwort kam, — eine kühle, glatte Ablehnung. „Die Welt iſt groß,“ ſchrieb ſie, „Du brauchſt Deine Sommerferien nicht gerade in Grainau zu verleben, wo die Situation für dich, — ganz abgeſehen von der meinen, auf die Du ja keine Rückſicht zu nehmen ſcheinſt —, eine wenig gemütliche wäre. Die Bauern würden Dir fremd, wenn nicht feindlich gegenüberſtehen. Seit der Dienſtbotenbewegung, die Du mit ſoviel Lärm in Szene ſetzteſt, haſt Du ihre Sympathie verloren. Deine ſtändigen Angriffe auf unſeren allverehrten Kaiſer⸗ — hier hörte ich die Stimme der Kleves, die nur in der Potsdamer Hofluft zu atmen vermochten — „haben den vielleicht noch vorhandenen Reſt vollends zerſtört ... Ich bin eine alte, kranke Frau und brauche innere und äußere Ruhe. Im übrigen wird meine Liebe zu Dir durch die räumliche Entfernung eher erhalten, als be⸗ einträchtigt werden . . . Was nun? Gab es nichts mehr, das mir den Weg zu ihr bahnen könnte? „Gehen Sie ins Gebirge,“ hatte der Arzt geſagt. Wenn ich nun doch reiſen würde, — mit dem Kleinen, — irgend wohin nicht allzuweit von Grainau, wo der glückliche Zufall eine Begegnung er⸗ möglichen könnte! Ich war überzeugt: ſah ſie mein Kind, ihr ganzes Herz würde gewonnen werden! 428 In Mittenwald, dicht unterm Berg, fand ich bei einem Bauern ein Giebelzimmerchen und die große, bunte Wieſe, die ich meinem Liebling verſprochen hatte. Den ganzen Tag ſpielte er dort mit dem kleinen Sohn des Hauſes, dem Hanſei, und ſeine weiße Stadthaut bräunte ſich, und ſeine Muskeln wurden ſtraff. Ich ſaß indeſſen auf der Altane und ſchrieb alle möglichen Artikel und freute mich, wenn das Honorar immer wieder eine Woche längeren Aufenthalt möglich machte. Von fernher glänzte und lockte die Zugſpitze bis zu mir herüber. Ich ſah ſie bei Racht im Mond⸗ ſchein, wenn die Sterne am dunkeln Himmel ſich be⸗ wundernd um ſie ſcharten. Ich ſah ſie bei Tage, wenn die Sonne ſie inbrünſtig küßte und ihr doch nichts zu rauben vermochte von ihrer jungfräulichen Reinheit. Ihr zu Füßen war das Stückchen Erde, das ich liebte, wie keins in der Welt. Wo ich mein Jugendglück fand und — begrub. Ich verſtand, daß es Menſchen gibt, die vor Heimweh krank werden. Auf unſeren Spaziergängen ſuchte ich immer die Wege, auf denen ich dem weißen Berge näher kam, und erzählte dem aufhorchenden Kleinen von ihm als der verzauberten Prinzeſſin und ihrem grauen finſteren Wächter, dem Waxenſtein. Dabei wurden mir wohl auch die Augen feucht. „Sei nich traurig, Mamachen,“ tröſtete mich mein Kind. „Ein großer Held wird kommen und die Prinzeſſin befreien! Einmal, als wir wieder zu dem ſtillen See aufwärts gingen, plauderte er luſtig von den Kühen und den Blumen. Dann wurde er plötzlich ſtill, ein grübelnder 429 Zug trat in ſein rundes Kindergeſichtchen, und ſeine Wangen färbten ſich dunkler. „Der Hanſei will Kutſcher auf'n Stellwagen werden, begann er unvermittelt; „iſt das nicht dumm? Ich nickte zerſtreut. Er ſchwieg wieder. Als wir uns aber im Walde lagerten, zog er meinen Kopf dicht an den ſeinen und flüſterte aufgeregt: „Ich muß dir ein großes Geheimnis ſagen, — dir ganz allein. Ich will ein Held werden und alle ſchlechten Leute tot⸗ ſchlagen!“ Ich ſtreichelte ſeinen Lockenkopf. „Das iſt nicht leicht, mein Kind,“ ſagte ich ernſt. „Oh, ich weiß! Aber was man will, das kann man auch! rief er mit einem hellen Jauchzen in der Stimme. Ich zog ihn zärtlich an mich. Hatte ich es nötig, um ihn zu bangen? Brauchte ich zu fürchten, daß ſeine Zukunft von der Gunſt der harten Frau dort drüben abhängig werden könnte? Ich vergaß allmählich, weshalb ich hier⸗ her gekommen war. Ich ſah nicht mehr erwartungsvoll die weiße Straße hinauf, wo ich vor Zeiten ſo oft mit der Tante gefahren war. Es ſiel von meiner Seele wie lauter dunkle Schleier. Die Sonne und die freie Bergluft berührten ſie wieder. Zuweilen kam ich mir ſelbſt wie verzaubert vor: als ſei all mein Träumen, mein Hoffen und Sehnen aus mir herausgetreten und lebendig geworden in der Geſtalt dieſes Kindes. An den Wieſenwegen ſtanden überall Kruzifixe, Wahr⸗ zeichen jener Verneinung des Lebens, die uns gelehrt hat, Armut und Unglück nicht als unſre ärgſten Feinde, ſondern als gottgewollt anzuſehen. 430 „Ich kann einen angenagelten Gott nicht anbeten, ſagte mein Sohn. Unſer Aufenthalt ging zu Ende. Ich mußte zum Parteitag nach München. Aber ich konnte nicht fort, ohne drüben geweſen zu ſein, wo auf dem Hügel die kleine weiße Kirche ſteht und der grüne Baderſee im Walde träumt, mit dem Bilde der Zugſpitze im Herzen. Wir fuhren nach Garmiſch und wanderten über die Wieſen, an den braunen Heuſchobern vorbei, dorthin, wo ſich in leiſen Wellenlinien das Tal erhebt, Hügel an Hügel von alten Baumrieſen bekrönt und blühenden Büſchen. Glänzend wie ein Silberſtreifen ſchlängelt ſich der Weg durch die Gründe, — braune und rote Dächer tauchen auf, — ſchon plätſchert der Berg⸗ bach, der ganz, ganz oben in den Furchen und Spalten dem Felſen entſpringt und vom Schnee ſich nährt und vom Eis: Das war Grainau —. „Und nun, Bubi, paß auf: nun kommen die blauen und gold⸗ gelben Häuſer mit den luſtigen Heiligenbildern daran und den vielen, vielen Relken auf den Altanen. „Wo denn, Mamachen?!“ Ich ſah mit großen Augen um mich. Wo waren ſie nur? Die Erinnerung malte mir wohl ihr Bild, aber die Zeit hatte ihre Farben verlöſcht, und überall ſtanden neue Häuſer mit kalkweißen Wänden, — ohne den hei⸗ ligen Florian in den Riſchen, — blumenlos. Wie ver⸗ ſchüchterte Bauernkinder vor den Städtern verkrochen ſich die alten ſcheu in den Winkeln. Ich beſchleunigte meine Schritte. Der Wald war derſelbe geblieben, und zwiſchen den Buchenſtämmen leuchtete ſchon der See. Dort wollt' ich ſtille Andacht halten! — Mein 431 Fuß ſtockte: ein großes Hotel erhob ſich an ſeinem Ufer. In ſeine kriſtallklare Flut hatte man eine Rixe aus Bronze verſenkt; auf den Kähnen drängten ſich die Menſchen um ſie und ſtarrten hinunter. Aber den Baderſee ſahen ſie nicht. Der lag ganz ſtill und ſah zum Himmel empor in großer, großer Einſamkeit. Und hinter dunkeln Wolken verſteckten ſich die Berge, als ſchämten ſie ſich der Welt unter ihnen. Ich kämpfte mit den Tränen. Meine Jugend hatte ich geſucht, — war ich nicht ſtatt deſſen plötzlich uralt geworden? Ich mochte nichts mehr ſehen, auch das Roſenhaus nicht. Aber mein Junge gab nicht nach. Lange lagen wir auf dem Mooſe im Wald, den kleinen Roſenſee uns zu Füßen, am jenſeitigen Ufer das traute grün⸗ umrankte Haus. Hier hatte ſich nichts verändert. Und all die Bilder von Glück und Leid, die dieſer Rahmen einſt umſchloß, zogen an mir vorüber. Die Jahre zwiſchen damals und heut wären mir wie ein Traum erſchienen, wenn nicht das Kind neben mir mich an die lebendige Gegenwart erinnert hätte. Ich ſtand auf und reckte den Körper. Der Abſchied von dieſem Haus, dieſem See, dieſem Wald war der erſte Schritt in das neue Leben geweſen. Ich bereute ihn nicht. Dankbar ſah ich noch einmal hinüber. Trotz alledem: dieſer Erden⸗ winkel blieb mein. Eine weißhaarige Frau, die den ſchweren Körper nur mühſam am Stock vorwärts bewegte, trat aus der Tür in den Garten. Uns entgegen auf dem ſchmalen Steg kam haſtig ein hellgekleidetes Mädchen. Dicht vor mir blieb ſie ſekundenlang mit weit aufgeriſ⸗ ſenen Augen ſtehen. Es war Jenny Kleve. Dann ſah 432 ich noch, wie ſie hinüberlief, mit erregten Geſten auf die alte Frau einſprach, und wie dieſe dem herbei⸗ gerufenen Diener eine Weiſung erteilte. Ich lachte auf: jetzt hat ſie Befehl gegeben, mich nicht vorzu⸗ laſſen, dachte ich; — Jenny Kleve, auf dieſen Triumph freuſt du dich umſonſt! In München erwartete uns Berta, mit der der Kleine nach Berlin zurückreiſen ſollte. Hätte ich nur mit ihnen heimreiſen können! All der Staub der Stadt, der meine Lunge erfüllt, der grau und ſchwer die Glut meines Herzens faſt er⸗ ſtickt hatte, war vom Bergwind weggeweht worden. Mein Kind, — mein Geliebter, — waren ſie nicht der Inhalt meines Lebens? Mein Geliebter, — nicht mein Gatte, an deſſen Seite nichts mich zwang als ein Stück Papier. „Die geläuterte Moral der Zukunft wird die Roheit unſerer Geſittung nicht verſtehen,“ ſchrieb ich an Heinrich, „die die Beziehungen der Geſchlechter, wie die zwiſchen Unternehmer und Arbeiter, zwiſchen Herrn und Diener, mittelſt eines formulierten Vertrages regeln wollte, die die Frau nötigte, als Symbol des Aus⸗ löſchens ihrer Perſönlichkeit, den eigenen Ramen mit dem des Mannes zu vertauſchen. Liebe ſollte immer ein Geheimnis ſein, eins, um das nur die Allernächſten wiſſen. Die Ehe ſchreit es in alle Welt hinaus und erzählt zyniſch jedem Gaſſenbuben: ſieh, dieſes Weib ge⸗ hört jenem Mann! . . Ich ſehne mich nach Dir. Mit tieferer, heißerer Sehnſucht, als da die Liebe mir nur 433 ein Traum war. Ich möchte untertauchen bis auf den Grund ihres Ozeans, denn mir iſt, ich wäre bisher nur auf der Oberfläche gefahren, und in der Tiefe warteten Schätze auf mich von unermeßbarem Wert. Aber wenn ich an unſere laute Straße denke, an die engen Zimmer, in die unſere große Liebe ſich ſperren ließ, um Magd⸗ dienſte zu tun, — dann ſinkt meine Sehnſucht in ſich zurück, wie ein Springbrunnen, der eben in Milliarden Waſſertropfen der Sonne entgegenflog und nun, da der Gärtner den Hahn abdreht, plötzlich verſchwindet ...“ — „Du haſt recht,“ antwortete er, „tauſendmal recht! Aber glauben kann ich Dir erſt, wenn Du Deine Emp⸗ findung nicht nur ausſprichſt, ſondern ihr folgſt . . . Komm, und wir wollen in irgend einem ſtillen Winkel, wo uns niemand kennt, Hochzeit feiern, wie einſt . . . Der Parteitag braucht Dich nicht. Dieſer Augenblick jedoch iſt vielleicht der einzige, der in uns beiden die Erinnerung an die Ehe auslöſcht .““ Aber ich ging nicht. Ich war unfrei. Rie hätte ich es mir eingeſtanden, und doch war es ſo: ich ſtand, wie die Mutter, noch unter dem kalten Geſetz der Pflicht. Ich durfte die Aufgabe nicht im Stiche laſſen um meiner Wünſche willen! Am wenigſten jetzt, wo ihre Erfüllung mir widerſtrebte. Wie ſchön hatte ich es mir einſt gedacht, wenn zu den Kongreſſen der Partei die Geſin⸗ nungsgenoſſen von Oſt und Weſt, von Nord und Süd zuſammenkommen würden, ungleich nach Be⸗ ruf und Alter und Geſchlecht, und doch ein einiges Heer, Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 28 434 von derſelben Kraft durchdrungen, von demſelben Willen beſeelt, neue Kreuzfahrer, die auszogen, der Menſchheit heiliges Land zu ſuchen. Und jetzt? Schon im Hotel, wo die meiſten Delegierten unter⸗ gekommen waren, muſterte man ſich mißtrauiſch, begrüßte ſich kühl. Und Gruppen bildeten ſich, die berieten, ob und wie man die Anſichten der anderen Gruppen über⸗ ſtimmen könne. Dem Parteitag ging eine Frauenkonferenz voraus. Als ich in den Kreis der fünfundzwanzig Genoſſinnen trat, fühlte ich die abweiſende Kälte, die mir entgegen⸗ ſtrömte. Rur Ida Wiemer ſchüttelte mir herzhaft die Hand. „Was ſagen Sie nur zu dieſer Tagesordnung?! flüſterte ſie erregt. Ich lachte ſpöttiſch: „Sie wollen offenbar in andert⸗ halb Tagen die ganze Frauenfrage löſen. Arbeiterinnen⸗ ſchutz, Kinderſchutz, geſetzliche Regelung der Heimarbeit, politiſche Gleichberechtigung, — ein imponierendes Pro⸗ gramm! Es iſt ja aber auch eine hübſche Zahl von Jaſagern beiſammen. Die ſchlucken die Reſolutionen unbeſehen.“ „Aber Krach gibt's auch,“ antwortete Frau Wiemer. „Ihnen müßten die Ohren geklungen haben, ſo giftig iſt die Bartels auf Sie.“ „Auf mich?! Ich habe ja gar nichts getan!“ meinte ich verwundert. „Aber die düſſeldorfer Genoſſinnen haben einen An⸗ trag auf Anſtellung einer Parteiſekretärin eingebracht. Man meint, Sie müßten dahinterſtecken —“ Darum alſo die böſen Geſichter! „Und dann: daß Sie als Einzige von uns morgen im Kindlkeller ſprechen! 435 Darum alſo die gekränkten Mienen! Die arme Düſſeldorferin wußte offenbar nicht, in was für ein Weſpenneſt ſie mit ihrem Antrag geſtochen hatte, und konnte die Erregung, die er hervorrief, nicht begreifen. Ich kam ihr zu Hilfe und goß nur Ol ins Feuer. Alles fiel über uns her. Martha Bartels ſah in dem Antrag ein Mißtrauensvotum gegen ihre Tätig⸗ keit als Zentralvertrauensperſon und ſpielte die perſön⸗ lich Gekränkte, Luiſe Zehringer gab der offenbar all⸗ gemeinen Meinung, wonach ich mir auf dieſe hinter⸗ liſtige Weiſe eine fette Pfründe ſchaffen wollte, draſtiſchen Ausdruck, indem ſie mit einem wütenden Blick auf mich erklärte: „Die Genoſſinnen, die nur ab und zu von ſich hören laſſen, ſonſt aber praktiſch gar nicht arbeiten, können wir für ſolche Stelle nicht brauchen. Die haben unſer Vertrauen nicht.“ Dabei begann ſie krampfhaft zu ſchluchzen und kreiſchte, wie ich es von ihr noch nie gehört hatte. Aller Klang und alle Weichheit waren aus ihrer Stimme verſchwunden. Ob das das unausbleibliche Schickſal aller Agitatorinnen war?! Die Bartels ſekundierte ihr: „Uns können nur Frauen nützen, die Fleiſch von unſerem Fleiſche ſind . . . Keine akademiſch gebildeten Damen, die nur mal, um ſich zu zeigen, ab und zu in einer großen Verſammlung einen Vortrag halten —.“ Ich ſtand dicht vor ihr und ſah ihr gerade ins Geſicht. „Solche Paradepferde können wir nicht brauchen,“ ſchrie ſie. Mein Rachbar, ein belgiſcher Genoſſe, ſchüttelte ver⸗ wundert den Kopf: „Es ſcheint, die ganze Konferenz 28* 436 richtet ſich gegen Sie. Was haben Sie nur getan?! fragte er. „Iſt's nicht Verbrechen genug, daß ich überhaupt da bin?!“ antwortete ich bitter. Als im weiteren Verlauf der Debatte die Frage des Arbeiterinnenſchutzes beſprochen wurde, nahm ich die Gelegenheit wahr, abermals die Forderungen einer um⸗ faſſenden Mutterſchaftsverſicherung zu verteidigen. Ein paar Beifallsrufe wurden laut, die meiſten der Frauen jedoch, ihr Leben lang gewohnk, ſich unterjochen zu laſſen, waren durch die Anweſenheit ſo anerkannter Harteiautoritäten, wie Wanda Orbin und Martha Bartels, viel zu verſchüchtert, als daß ſie ihnen hätten opponieren können. Kaum hatte ich geendet, als Wanda Orbin ſich zum Worte meldete. Sie ſprach mit einer Leidenſchaft, als gelte es, die höchſten Prinzipien des Sozialismus zu verteidigen, und mit einer Stimme, als hätte ſie eine Rieſenvolksverſamm⸗ lung vor ſich: „Der Gedanke, welcher der Mutterſchafts⸗ verſicherung zugrunde liegt,“ ſagte ſie, „iſt der Ge⸗ danke der menſchlichen Solidarität in ſeiner weiteſten Form. Die Verwirklichung dieſes Prinzips aber ſteht in ſo ſchreiendem Gegenſatz zu dem Weſen der kapita⸗ liſtiſchen Geſellſchaftsordnung, daß wir ſie auf ihrem Boden nicht erreichen werden . .. Sie kann erſt zur Verwirklichung gelangen, wenn das Recht des lebenden Menſchen über den toten Beſitz zur Geltung gebracht ſein wird, — in einer ſozialiſtiſchen Geſellſchaft . . . Ihre Stimme überſchlug, ſich, Schweißtropfen ſtanden auf ihrer Stirn. Von allen Seiten klatſchte man enthu⸗ fiaſtiſch. 437 „Bisher hat es nur als ein Kennzeichen der bürger⸗ lichen Frauenbewegung gegolten, aus Opportunitäts⸗ gründen möglichſt wenig zu fordern, um überhaupt etwas zu erreichen,“ antwortete ich in ruhigem Geſprächston. „Wir verlangen im Gegenteil Alles, und nehmen nur als Abſchlagszahlung, was davon ſtückweiſe errungen wird. Haben wir etwa jemals aufgehört, für den Acht⸗ ſtundentag zu agitieren, weil der Gegenwartsſtaat ihn nicht gewähren wird? Mit noch größerem Recht können wir von ihm die Mutterſchaftsverſicherung fordern, denn ein gut Teil ihrer Ziele muß er im eigenſten Intereſſe verwirklichen. Er braucht geſunde Mütter, arbeitsſtarke Männer, kriegstüchtige Rekruten.“ Wanda Orbin erhob ſich noch einmal. „Die Forde⸗ rung der Mutterſchaftsverſicherung iſt durchaus nicht ſo radikal ſozialiſtiſch, wie Frau Brandt meint . . .“ rief ſie. Ringsum klatſchte man wieder. Weder ſie noch ihre Zuhörerinnen hatten bemerkt, daß ſie, um mir zu widerſprechen, ſich innerhalb weniger Minuten ſelbſt widerſprochen hatte. Als ich ins Hotel zurückkam, müde und verärgert, trat mir überraſchend mein Mann entgegen. Ich er⸗ rötete dunkel. Er küßte mir nur die Hand. „Ich wußte, daß du Kämpfe haben wirſt,“ ſagte er, „und daß ein Freund dir fehlen könnte.“ Mit tiefer Dankbarkeit ſah ich ihm in die Augen. Der Geiſt, der in der Frauenkonferenz umgegangen war, herrſchte auf dem Parteitag. „Wir brauchen die Akademiker nicht!“ war die Parole, unter der er ſtand. „Wenigſtens die nicht, die ſich er⸗ lauben, eine andere Meinung zu haben als wir. 438 Ein Antrag beſonders war von ſymptomatiſcher Be⸗ deutung; er verlangte nichts weniger, als daß die Mit⸗ glieder der Partei verpflichtet werden ſollten, Kritiken über ſchriftliche oder mündliche Außerungen von Partei⸗ genoſſen nur in Parteiblättern, das heißt ſolchen Zei⸗ tungen und Zeitſchriften, die der Parteikontrolle unter⸗ ſtehen, zu veröffentlichen. War es nicht ein grotesker Widerſpruch zu den grundlegenden Prinzipien der Partei, daß ſolch ein Antrag auch nur ernſthaft diskutiert werden konnte? Daß es Sozialdemokraten gab, die die „Einheit⸗ lichkeit der Partei“ dazu mißbrauchten, um die Meinungs⸗ freiheit niederzuknütteln? „Ich habe geglaubt, die Leute hätten ſich in der Adreſſe geirrt,“ ſagte Vollmar und reckte ſich zu ſeiner ganzen Rieſengröße auf, ſodaß er turmhoch und turm⸗ ſicher über der brandenden Woge der Menge ſtand. „Das iſt ein Antrag für die Zentrumspartei, für die Kirchenorgane mit dem Zenſor obenan, wo nur eine Meinung gilt. Es genügt nicht, ihn zu bekämpfen, ihn niederzuſtimmen. Bis auf ſeine Wurzeln, gilt es, ihn zu verfolgen, ſonſt kehrt er in der und jener Form all⸗ jährlich wieder und überwuchert unſer Erdreich. Es iſt der ewige Geiſt der Kontrolle, der Geiſt der Kaſernen⸗ hofdiſziplin, dem er entſpringt. Und gegen ihn müſſen wir uns wenden. Richt die freie Meinung unterdrücken, was eine Schwäche verraten würde, die nur dem Tode, das heißt der Verſteinerung einer Bewegung voran⸗ gehen kann, ſondern ſie fördern, iſt unſere Aufgabe. Sollte der Verſuch unternommen werden, ſelbſtändige Menſchen mundtot zu machen, ſo wäre der kein echter Sozialdemokrat, der es fertig bekäme, ſich ſolcher Zenſur 439 zu unterwerfen. Es wäre wahrhaftig nicht der Mühe wert, die Feſſeln der bürgerlichen Geſellſchaft von ſich zu werfen, um ſie nur mit neuen zu vertauſchen! Ich ſah mich um im Saal. Es waren nur beſtimmte Gruppen, die Beifall klatſchten. Reihenweiſe ſaßen die Genoſſen an den langen Tafeln mit verſchloſſenen oder gleichgültigen Mienen. Unwillkürlich lief mir ein Schauer über den Rücken. Die „Diktatur des Proletariats“, — wird ſie die Freiheit ſein? „Sie würde ein raſches Ende nehmen, wenn ſie etwas anderes wäre,“ ſagte einer unſerer Genoſſen, als wir am Abend zuſammen waren und ich die Frage ausge⸗ ſprochen hatte. Während der letzten Tage des Kongreſſes, deren Ver⸗ handlungen ſich um die praktiſchen Fragen der Arbeiter⸗ verſicherung und der Kommunalpolitik drehten, legten ſich die Wogen der Erregung wieder. Und als Auguſt Bebel von den kommenden Reichstagswahlen ſprach und ſeine braunen Jünglingsaugen unter dem grauen Haar⸗ ſchopf immer feuriger glänzten, je draſtiſcher ſeine Dar⸗ ſtellung der inneren und äußeren politiſchen Lage wurde, je weitgehendere Hoffnungen er für den Wahlkampf daran knüpfte, da jubelte alles ihm einmütig zu; jener zündende Funke der Begeiſterung ſprang von einem zum anderen, derſelbe Funke, den eine Kriegserklärung für alle waffenfähigen Männer bedeuten mag. Sie werfen ihr Werkzeug beiſeite, ſie treten in Reih und Glied, und zum guten Kameraden wird der Rachbar, mit dem ſie eben noch in kleinlichem Hader lebten. Roch erging ſich die bürgerliche Preſſe in langatmigen Betrachtungen über den „Bruderzwiſt“ in der Partei, 440 um Hoffnungen für ihre Sache daraus zu ſchöpfen, und ſchon ſtanden wir in Reih und Glied dem gemeinſamen Feind gegenüber. Am Tage unſerer Rückkehr nach Berlin ging ich zur Mutter. Drei Monate hatte ich ſie nicht geſehen. Ihre Briefe, die kurz und freudlos waren, ließen mich nichts Gutes ahnen. Sie wohnte mit Ilſe in einer Penſion am Lützow⸗Ufer. Als ich aus dem hellen Tageslicht in das dunkle Zimmer trat, — die Häuſer hier traf nie ein Sonnenſtrahl, — löſte ſie ſich langſam, wie ein Schatten, aus dem tiefen Stuhl, in dem ſie geſeſſen hatte. Ihre Hände nur leuchteten weiß und überſchlank aus dem ſchwarzen Armel des Kleides. Sie war ſehr verändert. Streifen weißen Haares zogen ſich durch ihre blonden Scheitel. Auf ihrem ſchmalen Geſicht wechſelte fahle Bläſſe mit fliegender Röte. Die Pupillen in ihren Augen ſtanden keinen Augenblick ſtill. Ein Gefühl von Zärtlichkeit überkam mich. Ich küßte ihre beiden Hände. „Es iſt nicht leicht —,“ ſagte ſie. „Was denn, Mamachen?“ fragte ich ſo ſanft, als hätte ich eine Kranke vor mir. „Weißt du noch, wie ich Ilſe die Stiefel zuſchnürte, als ſie ein Kind war? Vor ihr auf den Knieen, — nur damit ſie ſich nicht bücken ſollte?“ begann ſie lang⸗ ſam, traumverloren. „Dann pflegte ich ihren Mann zu Tode, — und nun läßt mir die Angſt keine Ruhe, daß ſie wieder in ihr Unglück rennt —“ Sie ließ ſich nicht beruhigen. Es war, als ob eine fixe Idee ſie beherrſchte. Eines Abends ſchickte Ilſe nach mir. „Um Gottes willen — raſch —,“ rief ſie mir ſchon vor der Haustür entgegen, „ich fürchte mich ſol Oben fand ich die Mutter im Bett zuſammengekauert, die Augen ſtarr ins Weſenloſe gerichtet. „Hans — Hans — tu mir nichts!“ wimmerte ſie. „Du haſt ja mein Verſprechen —“ Und dann ſtreckte ſie wie lau⸗ ſchend den Kopf vor. „Hier meine Hand darauf flüſterte ſie ruhiger werdend, und ihre weißen Finger griffen in die leere Luft, um etwas zu umſchließen, das niemand ſah als ſie. Der Arzt erklärte ihren Zuſtand für Rervenüber⸗ reizung und verlangte die Trennung von Mutter und Tochter. Aber erſt nach Wochen voller innerer und äußerer Qualen ließ ſie ſich überreden, ohne Ilſe nach Montreux zu gehen. Ich hatte ihr verſprechen müſſen, die Schweſter zu mir zu nehmen, und ſie ſelbſt über⸗ wachte noch ihre Überſiedlung in eine zufällig leere Wohnung neben uns. 441 Es war um die Weihnachtszeit; jene Zeit voller Geheimniſſe und voller Freuden; jene Zeit, die ein Gott der Liebe wirklich geweiht zu haben ſcheint. Ich hatte dann immer alle Hände voll zu tun. In den Laden gehen und kaufen, das kann jeder, der einen vollen Beutel hat, auch im Alltag des Jahres. Aber den Wünſchen derer, die man liebt, nachſpüren, und ſie mit eignen Händen zu erfüllen ſuchen, das kann nur, wer Feſttagsſtimmung hat. Eine Götterburg baut' ich meinem Buben auf mit 442 Wodan und Baldur, mit Loki im roten Feuerkleid und den Walküren in Schwanengewändern. Stets fehlte noch irgend was: ich mußte weit umherlaufen, um die Silberflügel für die Helme der Schlachtjungfrauen oder den goldenen Eber für Freyrs Wagen zu finden. Und ich war ſo müde, ſo ſchrecklich müde! Es war, als ob mein Körper täglich ſchwerer auf den Füßen laſtete. Endlich war alles fertig. Ich lag erſchöpft auf dem Sofa. Wie ſchwach mir war und wie glühend heiß dabei! Mit einer letzten Kraftanſtrengung ſchlich ich ins Schlaf⸗ zimmer und legte mir den Fieberthermometer unter den Arm: 30½ — Ich rief nach Berta und ſchickte zum Arzt. Dann wußte ich nichts mehr von mir. Erſt allmählich ſah ich ſchattenhaft Geſtalten um mein Bett — Heinrich — den Arzt — die Pflegerin in der weißen Haube und — die Mutter! Wie hatte man ſie nur rufen können, die arme, kranke Frau?! Oder, — eiskalt packte mich die Angſt, — ſollte ich ſterben müſſen?! Ich durfte doch gar nicht! Ich mußte den Weihnachtsbaum putzen für mein Kind! Unaufhaltſam liefen mir die Tränen über die Wangen. Ich genas. Auf dem Sofa lag ich jetzt wieder, und über meine Decke ließ Ottochen alle Götter und alle Walküren reiten. „Wie kam es nur,“ wandte ich mich zur Mutter, die, noch ſchmaler geworden, im Stuhl neben mir lehnte, „wie kam es nur, daß du ſo plötzlich hier warſt? Heinrich gab mir ſein Wort, daß er dir nichts von meiner Erkrankung geſchrieben hat, — und Ilſe auch. Ein ſtilles Lächeln glitt über ihre Züge. 443 „Rein, niemand ſchrieb mir, — aber ich ſah, daß der Tod neben dir ſtand. Ihr mögt noch ſo ſehr zerren wie an einer Kette, das Band zwiſchen Mutter und Kind iſt ſtärker als Ihr.“ Am nächſten Tage reiſte ſie ab. Sie hatte den alten ſchwarzen Mantel an, den ich ſeit Jahren an ihr kannte, und auf ihrem dunkelgrauen Hut ſaß ein kleiner grünſchillernder Käfer, — ich weiß noch alles ganz genau. An der Tür zögerte ſie und ſah mich an, mit einem langen, langen Blick. Ich wollte mich auf⸗ richten und ſie noch einmal umarmen. Aber ich war viel zu ſchwach dazu. Acht Tage ſpäter war ſie tot. 444 Dreizehntes Kapitel Genoſſe Weber aus Frankfurt a. O. — meine Frau.“ Ich war gerade zur Türe ein⸗ ſtellte, einen kleinen lebhaften Menſchen mit blanken, getreten, als Heinrich mir ſeinen Gaſt vor⸗ braunen Augen und kahlem Schädel. Verwundert ſah ich von einem zum anderen: ſie waren beide heiß und rot vor Erregung. „Helfen Sie mir, Genoſſin Brandt,“ ſagte der Fremde und trommelte mit den Fingern auf der Tiſch⸗ platte. Komiſch, was für einen breiten, nach außen gebogenen Daumen er hat, wie bei der Spinnerin im Märchen, dachte ich zerſtreut, während meine Augen gewohnheitsmäßig an ſeinen Händen hängen blieben. „Weber bietet mir die Kandidatur ſeines Wahlkreiſes an,“ erklärte Heinrich. Run erſt horchte ich auf. „Und er zögert, ſie anzunehmen. Bringt lauter Wenn und Aber vor. Und will Bedenkzeit. Als ob es jetzt noch was zu bedenken gäbe! Jeder von uns muß ins Geſchirr, — ſo oder ſo,“ rief unſer Gaſt, und ſeine Worte überſtürzten ſich vor Eifer. „Machen Sie kurzen Prozeß, — ſchlagen Sie ein! „Schade, daß Sie mich nicht brauchen können, — ich täte es beſinnungslos,“ antwortete ich und legte meine 445 Hand in die ſeine, die er noch vergeblich meinem Mann entgegenſtreckte. Weber hielt ſie feſt. „Ein Weib — ein Wort,“ lachte er. „Sie ſollen ſehen, wie wir Sie brauchen können, — zuerſt müſſen Sie uns den Kandidaten und dann den Wahlkreis er⸗ obern helfen.“ Aber mein Mann blieb feſt, trotz allen Zuredens. „In vierundzwanzig Stunden werden Sie meine Ant⸗ wort haben .“ ſagte er. Als Weber gegangen war, ſchalt er mich. „Du biſt unüberlegt wie ein Kind! Glaubſt du, daß das Archiv nicht ſehr geſchädigt wird, wenn ich für die Partei kandidiere, oder gar als Mitglied der ſozial⸗ demokratiſchen Fraktion in den Reichstag komme? Ich machte eine wegwerfende Bewegung: „Ach, — das Archiv und immer das Archiv! Lindner wird ſich über kurz oder lang entſcheiden müſſen, und wenn du erſt eine ausgeſprochen ſozialiſtiſche Zeitſchrift leiteſt, ſo wird das auf das Archiv nicht anders wirken, als wenn du Abgeordneter biſt . . Einen Augenblick lang ſchwieg ich und ſah ihn er⸗ wartungsvoll an, aber er blieb am Schreibtiſch ſitzen mit geſenkten Augen und zuſammengekniffenen Lippen, während ſeine Hand unruhig mit dem Bleiſtift ſpielte. „Heinz —,“ fuhr ich mit weicherer Stimme fort, „Heinz, das biſt nicht du, den ich unſchlüſſig vor mir ſehe! Alle Wetterzeichen deuten auf einen großen Kampf, und du könnteſt abſeits bleiben, wenn man dich zu den Waffen ruft?! Du, den ich liebe um ſeiner Kühnheit willen, der all die tauſend jämmerlichen Rückſichten des Alltagsmenſchen nicht kennt —“ 446 „Ich ſage dir, wie ſchon einmal, daß ich an euch zu denken habe, an dich und das Kind,“ unterbrach er mich, aber ſeine Stimme hatte keinen Ton dabei. „Hat Romberg, der den Freien ſpielt und im Grunde nichts iſt als ein Philiſter, ſo viel Macht über dich?! antwortete ich heftig. „Soll auch für uns die Familie der Götze ſein, deſſen Unerſättlichkeit wir das Beſte opfern: unſere Freiheit, unſere Überzeugung, unſer Menſchentum?! Sie wäre wert, daß wir ſie zerſtörten, wie unſere Gegner es von uns behaupter wenn dem ſo wäre!“ Heinrich erhob ſich und reichte mir die Hand. Seine Augen glänzten wieder. „Du biſt mein tapferer Kame⸗ rad,“ ſagte er, — nichts weiter. Und ich ſtellte keine Frage mehr an ihn. Am nächſten Morgen gingen wir in den Reichstag. Seit Wochen tobte hier der Kampf um den Zolltarif. Mit eiſerner Konſequenz hatte die ſozialdemokratiſche Fraktion es bisher durchgeſetzt, daß über jeden einzelnen Zollſatz beraten und namentlich abgeſtimmt wurde. Wenn ſie die ſchließliche Annahme der Vorlage auch nicht ver⸗ hindern konnte, — ſie hatte eine geſchloſſene Mehrheit gegen ſich; von den bürgerlichen Parteien wagte es nur die kleine freiſinnige Vereinigung unter Führung von Theodor Barth mit ihr zuſammen gegen die drohende Verteuerung aller Lebensmittel Front zu machen —, ſo wollte ſie wenigſtens nichts verſäumen, um ihre Folgen abzuſchwächen, oder, — das war die Hoffnung der Op⸗ timiſten in ihrer Mitte, — die Entſcheidung ſo lange hinauszuſchieben, bis die neu gewählten Volksvertreter ſie zu fällen haben würden. Sie wußten genau: wenn 447 ſie mit dem Zolltarif als Agitationsmittel vor die Wählermaſſen treten könnten, ſo würde eine verſtärkte Oppoſition in den Reichstag zurückkehren. Aber ihre poli⸗ tiſchen Gegner fürchteten dieſe Entwicklung der Dinge ebenſo ſehr, als die Sozialdemokraten ſie wünſchten. Schon hatten ſie verſucht, durch eine Umänderung der Ge⸗ ſchäftsordnung die Verhandlungen zu beſchleunigen, — umſonſt. Die Sozialdemokraten begegneten ihnen mit vier⸗ und fünfſtündigen Dauerreden, mit immer neuen Anträgen. Die Empörung ſtieg bis zur Siedehitze. Und jetzt, — darüber war kein Zweifel, — hatten die Vertreter der Rechten und des Zentrums nach lang⸗ wierigen Beratungen ein Mittel gefunden, das den Ein⸗ fluß der Oppoſition endgültig lahmlegen ſollte. In der langen grauen Wandelhalle, die der dunkle Rovembertag noch öder, noch farbloſer erſcheinen ließ, warteten wir auf unſere Tribünenkarten. Abgeordnete eilten an uns vorüber, in ſchwarzen Röcken oder in Soutanen, ſchwere Mappen unter den Armen, mit müden, überwachten Geſichtern, oder ſie gingen flüſternd zu zweien und blieben in den Ecken ſtehen, die Köpfe zueinandergeneigt, wie Verſchwörer. Erhob ſich ihre Stimme im Eifer des Geſprächs, ſo hallten abgeriſſene Worte durch den hohen Raum und ſchwebten wie ver⸗ irrt in der Luft. Ein langſamer feſter Schritt näherte ſich uns: Ignaz Auer. „Sie haben eine gute Raſe, Genoſſin Brandt,“ lachte er, indem er uns kräftig die Hände ſchüttelte; „heute platzt hier irgend eine Bombe. Und da müſſen Sie dabei ſein, was?!“ Er führte uns in den Wandel⸗ gang, der den Sitzungsſaal umſchließt, und mit ſeinem 448 weichen Teppich und ſeiner braunen Täfelung behaglich gewirkt hätte, wenn nicht ein unaufhörliches haſtiges Hin und Her die Luft in ſtändiger nervöſer Schwingung erhalten hätte. Wir ſetzten uns. „Mir iſt die Kandidatur für Frankfurt⸗Lebus an⸗ geboten worden. Was halten Sie davon?“ wandte ſich mein Mann an Auer. Der ſtrich ſich nachdenklich mit der breiten Hand den Bart, während ein leiſer Spott ſeine Lippen kräuſelte. „Alſo wieder ein Akademiker! Was werden unſere Berliner ſagen?! — Übrigens,“ fügte er lauter hinzu, „ich kenne den Wahlkreis: Acker, nichts als Acker, und Bauern⸗ und Rittergüter, wenig Induſtrie, — kurz, ein böſer Winkel.“ „Ausſichtslos?“ fragte Heinrich. „Ausſichtslos? Rein!“ antwortete Auer. „Nur er⸗ leben wir beide ſeine Eroberung nicht.“ Ich biß mir ärgerlich die Lippen, — ich hatte erwartet daß er zu⸗ reden würde. Ein heller Glockenton klang durch das Haus. Die Sitzung war eröffnet. Wir ſtiegen zur Tribüne hinauf. Jeder Platz war beſetzt. Geſpannte Erwartung lag auf allen Zügen. Man zeigte einander flüſternd die Haupt⸗ führer im Kampf. Allmählich füllte ſich unten der Saal. Das gelbgraue Licht, das von den farbloſen Wänden und der tiefen Glasdecke ausſtrahlte, ließ alle Geſichter gleichmäßig fahl erſcheinen. „Ein vornehmer Raum!“ ſagte eine Dame neben mir. Daß man ſo oft für vornehm hält, was nur kühl, nur leblos iſt! Die Architekten öffentlicher Ge⸗ bäude ſollten den pſychologiſchen Einfluß der Farben 449 auf die Menſchen ſtudieren. Vielleicht würden dann manche Parlamentsverhandlungen und Gerichtsbeſchlüſſe anders ausfallen. Hinter dem Rednerpult ſtand ein Abgeordneter, der mit einförmiger Langſamkeit über die Petitionen zu den Vieh⸗ und Fleiſchzöllen berichtete. Riemand hörte auf ihn. In Gruppen ſtanden die Mitglieder der Rechten und des Zentrums beieinander. Hier und da eilte einer von ihnen zur Tür, um bald darauf achſelzuckend wiederzukommen. Irgend etwas ſehnlich Erwartetes fehlte. Die Linke nur ſaß ſcheinbar ruhig auf ihren Plätzen, und auf dem Präſidentenſtuhl lehnte Graf Balleſtrem in erzwungener Gelaſſenheit den weißen Kopf an die hohe Lehne. Der Berichterſtatter ſchloß. Graf Balleſtrem erhob ſich: „Wir treten nunmehr in die Be⸗ ratung des Zolltarifes ein . . In dieſem Augenblick ſtieg Herr von Kardorff, der greiſe Führer der Rechten, mit jugendlicher Elaſtizität die Stufen zur Eſtrade empor. Ein weißes Papier zitterte in ſeinen Händen. Die Stimme, mit der er ſcharf und hell ſeine Worte in den Saal hinausſtieß, vibrierte: „In wenigen Minuten wird dem Hauſe ein Antrag vorliegen, der dahin geht, in Paragraph I der Ge⸗ ſetzesvorlage die Enbloc⸗Annahme des Zolltarifs aus⸗ zuſprechen . . Ein Hohngelächter übertönte jedes weitere Wort. Die Linke ſprang auf und umdrängte die Eſtrade. „Eine Guillotinierung!“ klang es aus dem ſchwarzen Menſchenknäuel. „Sie haben uns ſelbſt auf dieſen Weg gedrängt .., 29 Braun, Memoiren einer Sozialiſktin II 450 rief Kardorff. Er ballte die Fauſt um das weiße Pa⸗ pier, reckte die überſchlanke Geſtalt hoch auf und maß mit einem hochmütigen Blick die Gegner unter ihm. Man wartete auf die Verteilung des Antrages. Eine lange, atemloſe Pauſe. Endlich traten die Diener ein. Man riß ihnen die bedruckten Blätter aus der Hand. Dicht unter der Rednertribüne, auf der Kardorff noch immer aushielt — gerade, ſtarr, ſcheinbar gleichgültig —, warf einer der Sozialdemokraten in fanatiſchem Zorn das zuſammengeballte Blatt zu Boden. Um den heftig geſtikulierenden Bebel ſammelte ſich die Linke. „Zur Geſchäftsordnung!“ rief Singers tiefe Stimme immer wieder dem Präſidenten zu. Und dann ſprach er. Aber durch den frenetiſchen Beifall der Linken und die empörten Zwiſchenrufe der Rechten und des Zentrums klangen nur abgeriſſene Sätze zu den Tribünen empor. „ . . . Dieſer Antrag iſt der Ausfluß des perſönlichen Intereſſes, welches die Herren Geſetzgeber an der Zoll⸗ tarifvorlage haben . . . Sie fördern den Umſturz, Sie propagieren die Revolution, indem Sie die Intereſſen des Volkes mit Füßen treten . .. Reunhundert Poſi⸗ tionen, von denen jede einzelne die wirtſchaftliche Exiſtenz Tauſender bedroht, wollen Sie in einer Abſtimmung zur Entſcheidung bringen . . . Sie fürchten ſich, die Beute könnte Ihnen entgehen . . . Sie ſind die Schleppenträger der Agrarier und die Regierung iſt . . . „Ihr Zuhälter!“ kreiſchte eine Stimme dazwiſchen. Der Präſident erhob ſich und ſchwang die Glocke. Aber das Wort ſaß feſt; flüſternd ging es ſchon durch die Menſchenreihen auf den Tribünen. 451 Roch einmal übertönte Singers Rede den Sturm im Saal: „Mehr denn je wird das Recht der Minorität, ſich gegen Vergewaltigungen zu wehren, zur heiligen Pflicht, wo es ſich darum handelt, dem Volke ein Geſetz zu erſparen, das es der Rot ausliefert, während es Ihre Taſchen füllt . . .“ Seine Fraktionskollegen umringten den Redner; einen Augenblick lang lag die Hand Theodor Barths in der ſeinen. „Das Wort zur Geſchäftsordnung hat der Herr Ab⸗ geordnete von Kardorff.“ Schon hatte ſich Singer ſeinem Platz wieder zugewandt. Wie er den Ramen hörte, drehte er ſich um und blieb zwiſchen den Seinen ſtehen, groß, ſchwer, breitſchultrig. Über ihm auf einer der Stufen, die zur Eſtrade führten, ſtand Bebel, die dunkelglühenden Augen feſt auf den Redner gerichtet, während ſeine Finger ſich nervös be⸗ wegten, ſich ſpreizten und wieder zuſammenzogen, als prüften ſie ihre Kraft. Ruhig, mit der ganzen Selbſtbeherrſchung des alten Ariſtokraten, begann Kardorff zu ſprechen: „Wir ſind der Überzeugung, daß der vorliegende Antrag das ein⸗ zige Mittel iſt, um die Tarifvorlage, deren Erledigung wir für ein großes vaterländiſches Intereſſe halten . . . „Vaterländiſch?!“ fragte jemand ironiſch; ein ſchallendes Gelächter antwortete. Der Redner gab ſich nicht die Mühe, den Lärm zu überſchreien. Gleichgültig ſah er über die Menge hin⸗ weg und wartete, bis der Präſident die Ruhe wieder hergeſtellt hatte. Dann ſprach er weiter, ohne die Stimme zu erheben, ohne Pathos. Er gab ſich nicht 29* 452 die Mühe, überzeugen zu wollen; in ſeiner ganzen Art lag eine ſouveräne Verachtung des Gegners. „. . . Daß die Mehrheit wichtige Geſetzesvorlagen auch gegen den Willen der Minorität durchſetzt, iſt eine grundlegende Forderung unſeres konſtitutionellen Lebens . . . Toſender Lärm unterbrach ihn. Aus dem dichtge⸗ drängten Haufen, der ſich allmählich immer näher zur Rednertribüne emporſchob, erhoben ſich geballte Fäuſte. „Räuber!“ — „Taſchendieb!“ — „Volksverräter! — wie Peitſchenhiebe pfiff und ſauſte es durch die Luft. Die Mitglieder der Rechten erhoben ſich und beſetzten wie zum Schutz die andere Seite der Treppe. Kardorff ſprach weiter. Sein Geſicht war um einen Schein blaſſer geworden, und ſeine ſchmalen Hände umklammerten krampf⸗ haft das Pult. Hier ſtand nicht mehr der einzelne, der um einen momentanen Vorteil kämpft, — in dieſem Mann erhob ſich vielmehr die alte Welt wider die neue und umgab ſeinen ſcharf geſchnittenen Ariſtokratenkopf mit dem dunklen Glanz tragiſcher Größe. Als wir gingen, ſtritt man ſich noch immer in end⸗ loſen Reden über die Zuläſſigkeit des Antrags. „Acht Tage läßt ſich die Sache wohl noch hinziehen,“ meinte einer unſerer Reichstagsabgeordneten, den wir in der Wandelhalle trafen, „dann iſt der Zolltarif an⸗ genommen. Ein Pyrrhusſieg für die Rechte, — der Ragel zum Sarg für die Rationalliberalen! „Und hundert Mandate für uns!“ fügte ein anderer frohlockend hinzu; „das wird ein Wahlkampf werden, der ſeinesgleichen nicht hatte!“ In einem Kaffee der Potsdamerſtraße erwartete uns 453 Weber. Fragend ſah er von einem zum anderen. Mein Mann reichte ihm die Hand. „Hier haben Sie mich, wenn Sie noch mögen. Auer ſagt, wir würden die Eroberung von Frankfurt⸗Lebus nicht erleben, — das gab den Ausſchlag. Die gebra⸗ tenen Tauben, die in den Mund fliegen, ſchmecken mir⸗ nicht. Wir wollen uns zuſammen ein Wild erjagen.“ Wir blieben noch lange beieinander. Weber erzählte von ſeinem eigenen Leben: wie er als armer Schuſter⸗ geſelle in die Welt hinausgewandert war, ſich ſchließ⸗ lich ſeßhaft gemacht hatte und anfing, ſich emporzu⸗ arbeiten. „Eine verbiſſene Zähigkeit gehört dazu, wenn's ge⸗ lingen ſoll,“ meinte er, „dieſelbe Zähigkeit, die wir haben müſſen, ſoll die Partei vom Flecke kommen. Rur ein paar ſolcher Genoſſen haben wir in Frankfurt, die ſeit Jahren den ſteinigen Boden beackern, unermüdlich, in täglicher Kleinarbeit, gegen den Haß und die Ver⸗ folgungsſucht des ganzen bourgeoiſen Klüngels, — und⸗ doch ſind wir ein gut Stück weitergekommen. Seit zwanzig Jahren ſchau ich mir die alte rote Fahne an, die ſeit dem erſten Laſſalleſchen Arbeiterverein eingerollt im Winkel ſteht. Der ſchönſte Tag meines Lebens wär's, wenn ich ſie einmal flattern ſehen könnte!“ Und mit dem breiten Schuſterdaumen wiſchte er ſich einen feuchten Tropfen aus dem Augenwinkel. 454 Mit jedem neuen Tage wurde der Kampf im Reichstage brutaler; ſelbſt die politiſch Gleich⸗ gültigen wurden aufgerüttelt und verfolgten ihn mit geſpannter Aufmerkſamkeit. Durch Rachtſitzungen verſuchte die Mehrheit die Kraft der Minderheit zu er⸗ ſchöpfen, aber mit trotziger Ausdauer hielt ſie ſtand, und ſchob die Entſcheidung durch endloſe Reden immer wieder auf Tage und Stunden hinaus. Der gegen⸗ ſeitige Haß zerriß in zügelloſer Leidenſchaft alle Bande äußerer Geſittung. Konſervative Abgeordnete bezeich⸗ neten die Arbeiter Berlins, die in rieſigen Verſamm⸗ lungen gegen den Umſturz der Geſchäftsordnung durch den Antrag Kardorff proteſtierten, als „ſkrophulöſes Geſindel“, und ihre Preſſe forderte von der Regierung: „der Beſtie den Zaum anzulegen“. Die „Beſtie“ blieb ihre Antwort nicht ſchuldig. Die größten Säle der Millionenſtadt konnten die Menge nicht faſſen, die nichts mehr war, als ein Wille: nieder mit der Re⸗ aktion! und eine Hoffnung: der Rachefeldzug der nächſten Wahlen. Und mehr und mehr tauchten Menſchen in den Verſammlungen auf, die nicht zum Proletariat gehörten. Bewunderung für die wilde Energie der kleinen Schar Belagerter riß ſo manchen aus dem poli tiſchen Schlummer, und der Groll führte andere hierher; ſie fühlten ihre liberalen Intereſſen durch ihre eigenen Vertreter im Reichstag — die Baſſermann, die Richter — ſchmählich verraten. Zu früh vernarbte Wunden brachen auf: die Erinnerung an die Lex Heinze erwachte, durch die Kunſt und Wiſſenſchaft tödlich getroffen worden wären, wenn die Roten im Reichstag ſie nicht ſo wütend 455 verteidigt hätten; und die Rede des Kaiſers klang lauter, als da ſie gehalten wurde, in die Ohren derer, die ſich bisher vom Getümmel der Schlacht ſcheu vor ihre Staffelej und ihren Schreibtiſch zurückgezogen hatten. „Eine Kunſt, die ſich über die von mir bezeichneten Geſetze und Schranken hinwegſetzt, iſt keine Kunſt mehr,“ hatte er angeſichts der vollendeten Standbilder in der Siegesallee erklärt, und die großen Eroberungen neuer künſtleriſcher Möglich⸗ keiten, wie ſie denen um Manet und van Gogh, um Liebermann und Klinger gelungen waren, als ein Rieder⸗ ſteigen in den Rinnſtein bezeichnet. Jetzt rötete das Scham⸗ gefühl manchem die Wangen, der den Streich ruhig emp⸗ fangen hatte. „Wahrlich, es gilt mehr als den Zolltarif, ſagte mir einer aus dem Kreiſe der Sezeſſion, „es gilt die Verteidigung der ganzen modernen Entwicklung. Wenn es zu dieſem Ende nichts anderes gibt, als den Stimmzettel, ſo werden auch wir uns ſeiner zu bedienen wiſſen.“ Eine Revolte der Intellektuellen ſtand bevor, und im ſtillen hoffte ich wieder, daß ſie zu einer Revo⸗ lutionierung der Geiſter führen würde. Aber auch die Gegner außerhalb des Reichstages rüſteten ſich ſchon für die kommenden Wahlen. Was der Adel Preußens vor zwanzig Jahren noch für un⸗ möglich gehalten hatte, das geſchah: Junker und Fabri⸗ kant vereinigten ſich, da der gemeinſame Feind drohte: die Sozialdemokratie. Und der Kaiſer ſelbſt wurde in dieſem Kampf der erſte Agitator: „Zerreißt das Tiſch⸗ tuch zwiſchen Euch und dieſen Leuten, die Euch aufhetzen gegen Thron und Altar, um Euch zugleich auf das rück⸗ ſichtsloſeſte auszubeuten und zu knechten —;“ wie auf Windesflügeln durcheilten dieſe ſeine Worte, die er an 456 eine Deputation von Arbeitern gerichtet hatte, das Reich, denn jeder Sozialdemokrat trug ſie weiter. Und lauter, immer lauter wurde der Groll: „Wer anders beutet uns aus als die Zollwucherer, die uns das Fleiſch vom Tiſch nehmen und das Brot verteuern? Wer anders knechtet uns als die Stützen von Thron und Altar, die das Joch der Fronarbeit auf unſere Schultern laden?⸗ Während die Folgen der ſchweren Krankheit mir die agitatoriſche Tätigkeit noch unmöglich machten, ſtand mein Mann ſchon mitten im Wahlkampf. Er kam jedes⸗ mal hoffnungsvoller wieder, denn an der neuen Aufgabe wuchs ſeine Energie. Ich benutzte die Stunden der Alleinherrſchaft über unſeren Schreibtiſch zur Abfaſſung einer Agitationsbroſchüre, in der ich die politiſche Situa⸗ tion vom Standpunkt der Frau aus beleuchtete. Für den kommenden Wahlkampf ſollte ſie die Arbeiterinnen aufklären, anfeuern, mit Waffen verſehen. Das Häuf⸗ lein ihrer offiziellen Vertreterinnen hatte mich zwar hin⸗ ausgeworfen, aber Hunderttauſende gab es, zu denen ich ſprechen konnte. „Jetzt mache ich auch mit Lindner kurzen Prozeß, ſagte Heinrich eines Abends, als er eben von Frankfurt zurückkehrte. „Gehen wir aus dem Wahlkampf in der Stärke hervor, wie wir es hoffen dürfen, ſo treten die Aufgaben praktiſcher Politik mit zwingender Rotwendig⸗ keit an uns heran, und meine Zeitſchrift hat einen Wirkungskreis ohnegleichen . .. Lindner kam. Mit Wünſchen und Hoffnungen und ohne Entſchloſſenheit, wie immer. „Sie haben mich lange genug genarrt,“ fuhr ihn Heinrich an; „im Vertrauen auf Sie habe ich gewartet 457 und immer wieder gewartet. Run aber verlange ich ein Ja oder Nein. Lindners ſchmale Geſtalt ſank förmlich in ſich ſelbſt zuſammen. Halb verlegen, halb gekränkt verſprach er eine raſche Entſcheidung. „Wie kannſt du nur!“ rief ich, als die Türe ſich hinter ihm ſchloß. „Nun wird er ganz gewiß zurück⸗ treten!“ „Und wenn ſchon!“ lachte Heinrich fröhlich, „glaubſt du, die Zeitſchrift hinge von ihm allein ab?! Drei Tage ſpäter war der Vertrag abgeſchloſſen, die Zeitſchrift geſichert. Lindner ſchien umgewandelt; die Aufgabe, die er vor ſich ſah, wirkte auf ihn wie Mor⸗ phium auf Hyſteriſche: ſie gab ihm Kraft, Tatendurſt, Selbſtbewußtſein. „Run fehlt nur noch die notarielle Beglaubigung,“ ſagte er, nachdem er ſeinen Ramen unter das Schrift⸗ ſtück geſetzt hatte, „und morgen kann die Arbeit losgehen! Mein Mann legte ihm die Hand mit einer bevor⸗ mundenden Bewegung auf ven Arm: „Arbeiten müſſen wir tüchtig, alle drei, aber über den geeigneten Zeit⸗ punkt des Erſcheinens wollen wir noch andere hören. Und eine notarielle Beglaubigung?“ — Er lachte — „Ich denke, ſolche Scherze ſchenken wir uns. Unſer Wort genügt, auch wenn wir es nicht ſchriftlich gegeben hästen.“ An einem der nächſten Abende folgten die Führer der Reviſioniſten unſerer Einladung. Wie zu einem Feſte hatte ich unſer Zimmer geſchmückt und unſere Tafel be⸗ reitet. Und feſtlich war mir zumute, — wie den Sol⸗ daten nach der Kriegserklärung. Die frankfurter Fahne 458 ſiel mir ein, die eingerollt im Winkel ſtand, — eine im Sturme immer voran flatternde ſollte unſere Zeit⸗ ſchrift werden! Unſere Gäſte gratulierten uns, — aber ſie hatten doch viel Bedenken, ob unſer Plan durchführbar ſei. Sie anerkannten die Wichtigkeit der Aufgabe, die wir uns geſtellt hatten, — aber an der Stärke der Wirkung zweifelten ſie. Ihre rege Mitarbeit verſprachen alle, — aber ohne den Enthuſiasmus für die Sache, den ich erwartet hatte. Der Rame der Zeitſchrift wurde be⸗ ſtimmt: Die Reue Geſellſchaft; die Zeit ihres Er⸗ ſcheinens wurde feſtgeſetzt: nach den Wahlen, nach dem Parteitag. — Es war eine nützliche und verſtändige Be⸗ ſprechung, die wir hatten, aber wir feierten kein Feſt. Die vielen Blumen auf meinem Tiſch taten mir leid. Was ich ſchon oft empfunden hatte, das verſtärkte ſich jetzt: der Reviſionismus beſaß den Verſtand und die Einſicht des Alters, das Feuer der Jugend war ihm jedoch darüber verloren gegangen. Wer aber die Zu⸗ kunft erobern will, der muß es erhalten, muß es mit ſeiner Liebe, ſeinem Haß, ſeiner Hoffnung nähren, da⸗ mit es weithin leuchtet und wärmt, und die Fackeln derer, die ihm folgen, ſich daran entzünden können. An einem frühen Märzmorgen des Jahres 1903 war ich zu meiner erſten Wahlagitation von Berlin weggefahren, das grau und grämlich, jenſeits aller Jahreszeit, den Schlaf noch in den Augen hatte. In Guſow verließ ich den Zug. Auf dem Bahn⸗ ſteig ſtand ein Mann, die Schirmmütze keck auf ein 459 Ohr gezogen, eine Rummer unſerer märkiſchen Partei⸗ zeitung in der Hand — unſer Erkennungszeichen. Er lachte mich fröhlich an. „Ich bin der Jenoſſe Merten,“ ſagte er. „So was war noch nich da in Juſow und Platkow. Alles, aber auch alles lauert auf Ihnen — Wir ſtiegen in ein klappriges Wägelchen und fuhren zwiſchen Weiden und Erlen die Straße hinauf. Über⸗ raſcht ſah ich um mich. Ich hatte es gar nicht gewußt, daß es ſchon Frühling geworden war! „Welch eine Luft!“ ſagte ich mit tiefen Atemzügen. „Rich war, jut iſt ſie!“ antwortete mein Begleiter mit einem Stolz, als wäre ſie ſein eigenſtes Werk. „Wenn die nich wäre, wir gingen längſt auf und da⸗ von. Aber wenn wir — meine Kollegen und ich — Sonnabends von der Arbeet aus Berlin nach Hauſe fahren und unſere Kinder kommen uns entgegen, nich ſo blaß und dünn wie die berliner Jöhren, und wir können im Jarten in der Laube ſitzen, an unſerem eigenen Jemüſe rumpuſſeln und an unſeren Obſtbäumen, — dann vergeſſen wir gern die Plackerei der ganzen Woche.“ Wir begegneten vielen Fußgängern. Er grüßte nach rechts und links. „Kommſt du ooch nach Plat⸗ kow?“ redete er ſie an. „Jawoll —“ „Ratierlich,“ riefen ſie. „Sind das alles Maurer? fragte ich. „Wo denken Sie hin,“ antwortete er, „da ſind Land⸗ arbeeter mang, ſogar Bauern. Heute kommt alles zu uns. Die haben ja nie in ihrem Leben 'ne Frau reden jehört.“ Mitten auf der Straße, wo die Ausſicht am freieſten war, ließ er den kräftigen Braunen halten. 460 „Das iſt das Oderbruch,“ erklärte er und wies nach links, wo ſich das Land weit, endlos weit in der Ferne verlor, und darauf verſtreut, wie Spielzeug, zwiſchen knorrigen Bäumen, rotbedachte Häuschen und Kirchen mit breiten Türmen hervorſahen. Blaßblau, wie von durchſichtigem Kriſtall, wölbte ſich die Himmelsglocke über der Ebene. Aus den dunkeln Ackerfurchen ſtieg lebenverkündend ein würziger Geruch. Vergeſſene Ge⸗ ſchichten fielen mir ein: vom alten Fritz, der dies frucht⸗ bare Land dem Waſſer abgetrotzt hatte, von all den märkiſchen Junkern, den Itzenplitz, den Marwitz, den Finkenſtein, die hier ringsum ſeit Generationen die Herren waren. Mein Begleiter zeigte nach rechts, wo der Boden ſich hob und Wälder den Horizont begrenzten. „Hier oben ſind die Ritterjüter, da ſitzen lauter Agrarier, — unſere ärgſten Feinde,“ erzählte er. „Die ſind ſchlau geweſen, von Anfang an. Haben ſich die guten Stellen geſichert, wo das Waſſer ſie nicht erreichen konnte; während die Bauern unten alljährlich drauf gefaßt ſein mußten, daß es ihre arme Kate davontrug. Sie kennen doch die Jeſchichte, die unſere Kinder in der Schule lernen müſſen: „Hier habe ich in Frieden eine Provinz erobert,“ ſoll König Friedrich geſagt haben, als er mal hier in die Jegend kam. So 'n Mumpitz! Als ob es nich arme Luders wie wir geweſen wären, die die Kanäle gruben und die Dämme aufwarfen!“ „Aber den Gedanken hat doch der König gehabt, meinte ich. Ein mißtrauiſcher Blick ſtreifte mich. „Für'n König mag das freilich ooch ſchon 'ne Anſtrengung geweſen ſein!“ ſpottete er. 461 Eine breite Kaſtanienallee führte in das Dorf Guſow. Einſtöckige Häuſer, mit weißen Vorhängen an blanken Fenſtern, umgaben in weitem Bogen den Dorfteich, ſeitwärts öffnete ſich der kiesbeſtreute Weg zum Schloß, dem einſtigen Beſitztum des alten Derfflinger, und zur Kirche, unter deren Altar ſeine Gebeine ruhten. Mein Begleiter ſah nach der Uhr. „Was meinen Sie, wenn wir zu Fuß durch den Park gingen? Sie glauben nich, wie ſchön der iſt!“ Dabei bekam ſein breites Geſicht einen faſt ſchwärmeriſchen Ausdruck. An dem ſtillen Schloß vorbei betraten wir den Park. Weite Raſenflächen dehnten ſich vor der Terraſſe, mit einem lichten Schimmer jungen Grüns überzogen. Zu Füßen uralter Eichen, die ſchwarz gegen den hellen Himmel ſtanden, guckten Schneeglöckchen neugierig aus der Erde hervor und Krokusblüten ſchlugen ver⸗ wundert ihre blauen Augen auf. Ein ſchmaler Pfad wand ſich zwiſchen hohem Gebüſch, das plötzlich zur Seite wich, um dem Wunder fremdartig märchenhafter Bäume Platz zu machen; grau ſchimmerten ihre Stämme wie Granit, und graue Wurzeln krochen knorrig über das dunkle Moos des Bodens. „Zedern ſind es,“ ſagte mein Begleiter, „Zedern vom Libanon;“ und blickte bewundernd auf den Traum des Südens. Über uns in den Kronen der Bäume brauſte der Frühlingsſturm. Rach ſeiner Melodie wiegten ſich ſchlanke Birken, und krachend ſplitterten von Eichen und Linden die dürren Aſte. Mein Begleiter kannte jeden Platz im Park und jede Pflanze, — mit ſcheuer Zärtlichkeit ſtrichen ſeine 462 riſſigen Hände über die erſten kleinen Knöſpchen an den Sträuchern. „Daß Sie in der Stadt arbeiten, wo Sie das Land ſo lieben!“ ſtaunte ich. Er ſchüttelte ſich: „Landarbeeter?! Ree! Das is niſcht for unſereens!“ Wir näherten uns Platkow, dem nahen Ziel unſerer Fahrt. „Sehen Se mal hier die wackeligen Buden an,“ ſagte Merten, „Strohdächer, — Fenſter, wie Mauſelöcher, Türen, daß ſich ein ordentlicher Mann bücken muß, — wahrſcheinlich, damit man's nich verlernt! Riſcht als Leiſetreter gab's hier, die die Mütze bis auf die Erde zogen, wenn die herrſchaftliche Kutſche ſie mit Dreck beſpritzte! Aber nu wird's anders, ſage ich Ihnen, janz anders —“ dabei ſtrahlte er förmlich — „ſehen Sie dort das Weiße, das iſt unſer Gewerk⸗ ſchafshaus!“ Mitten in dieſem agrariſchen Winkel, der der Agi⸗ tation der Partei ſo gut wie unzugänglich geweſen war, weil kein Lokal ihren Verſammlungen zur Verfügung ſtand, hatten die Bauarbeiter ſich ihr eigenes Haus er⸗ richtet. Die Ortspolizei verweigerte ihnen zwar die Schankkonzeſſion, aber ſie hatten ein Dach über dem Kopf, einen freien Raum zu freier Rede. „Sie hätten die Bauern ſehen ſollen, wie unſer Haus eins — zwei — drei, haſte nich jeſehn! aus der Sand⸗ kule herauswuchs!“ erzählte Merten. „Wir hatten ja nur Sonntags Zeit zur Arbeet, aber die Steene flogen man ſo. An eenem Sonntag in aller Frühe, als ſie nach Juſow zur Kirche fuhren, fingen wir zu buddeln 463 an, und als ſie nach dem letzten Amen wieder vorbei⸗ kamen, ſahen die Mauern ſchon aus der Erde! Der Wagen hielt. Der ganze Platz ſtand vol Menſchen. Sie ſchoben ſich hinter mir in den kleinen Saal; auf den Bänken an den Wänden ſaßen ſchon die Frauen mit heißen Geſichtern. Ich ſprach vom Sturm, der draußen den Staub von den Dächern fegte und alles Morſche zu Boden riß. Und von dem Sturm des Sozialismus. Ich ſchilderte die poli⸗ tiſche Lage Deutſchlands und zählte die Sünden der Regie⸗ rung und der Reichstagsmehrheit auf vom Zuchthauskurs bis zum Zollraub, ich erzählte von den Milliarden, die dem armen Mann in Geſtalt von indirekten Steuern, Zöllen und Liebesgaben aus dem ſchmalen Beutel gezogen werden, während ſein Weib daheim im kleinen Haus⸗ halt ſeufzend mit jedem Pfennig rechnen muß. An der Hand der Unterſuchungen bürgerlicher Gelehrter wies ich nach, wie die Verteuerung der Lebensmittel auf die Steigerung des Alkoholismus, der Kriminalität, der Lungentuberkuloſe wirkt. Ich zog die ärztlichen For⸗ ſchungen heran, um zu zeigen, wie ganze Volkskreiſe entarten, wenn die Ernährung eine unzureichende iſt: „Schwächerer Wille, ſchneller verſagende Aufmerkſamkeit, raſchere Erſchöpfung ſind die Folgen einer Politik, die das Wohl des Volks, die Liebe zum Vaterland ſtändig im Munde führt, in der Tat aber die Leiſtungsfähig⸗ keit der Arbeiter untergräbt, und unſere Stellung auf dem Weltmarkt erſchüttert. Die wirtſchaftliche Kriſe, unter der wir alle leiden, die Zunahme der Arbeitsloſigkeit mit ihrem Gefolge von Kinderjammer und Frauenausbeutung ſind ein Beweis dafür. Keine 464 „gepanzerte Fauſt“ kann uns davor retten .. Einmal im Laufe von fünf Jahren iſt es jedem Deutſchen ver⸗ gönnt, Urteil zu ſprechen über die, die ſein Schickſal ſind. Des Volkes Rot und Unterdrückung liegt auf der einen Schale der Wage, des Volkes Glück und Freiheit auf der anderen. Wir, die „Vaterlandsloſen“, wir, die „Elenden“, wir, die „Rotte von Menſchen, nicht wert, den Namen Deutſche zu tragen“, machen unſer Urteil davon abhängig, welche Seite der Wage ſchwerer wiegt . . . Man hatte mir bewegungslos zugehört, die Frauen, mit den Händen gefaltet im Schoß, die Männer, ohne den Blick von mir zu wenden. Nur hie und da ſah ich ein zuſtimmendes Ricken. Das Volk dieſer kargen Erde trug ſein Herz nicht auf den Lippen und wußte nichts von der Reaktion empfindlicher Nerven, worin oft der ganze Beifall des Städters beſteht. Aber nach⸗ her, als ich nicht mehr über ihnen ſtand, ging ein Fragen und Erzählen an, das mehr als jedes Hände⸗ klatſchen bewies, wie jedes Wort vom durſtenden Boden ihres Innern aufgenommen worden war. Freilich: im engſten Kreiſe eigenen Lebens drehten ſich ihre Inter⸗ eſſen, aber ein jeder umſchloß das große Leid der Welt. Ich wurde in Arbeiterhäuſer geführt: ſo klein, ſo arm, ſo eng. „Und hier is doch ſo ville Sand, auf dem jut noch zehn Häuſer ſtehen könnten! Sie zeigten mir das Armenhaus: in einem winzigen Raum hauſte ein uraltes Paar mit vier kleinen Enkel⸗ kindern. Das einzige Bett nahm faſt die Hälfte der Stube ein. „Immer, von kleen auf, haben wir hier uf'n Jut je⸗ 465 arbeetet,“ ſagte der Mann, eine zuſammengeſchrumpfte Geſtalt mit einem kleinen braunen Geſicht wie eine Wurzelknolle, „nu eſſen wir's Inadenbrot —,“ dabei kicherte er halb verlegen, halb höhniſch. „Det Schloß aber, det hat woll an die fufzich leere Zimmer . . Wir gingen durch das nachtdunkle Dorf zum Bahn⸗ hof. Einer, der jüngſte der Schar, begann mit heller Stimme zu ſingen. Allmählich fielen die anderen ein. Die Türen der Häuſer, an denen wir vorüberkamen, öffneten ſich. Einige der Bewohner traten neugierig bis zur Schwelle. Andere lockte das Lied und die feucht⸗ warme Märznacht, — ſie folgten uns. Und ſo ging es im Takt auf die Straße hinaus und immer, immer länger wurde der Zug ſingender Menſchen. „Wir hämmern jung das alte morſche Ding, den Staat, Die wir von Gottes Zorne ſind, — das Proletariat — das Prole⸗ tartat —“ klang es ſchmetternd hin über das ſchlafende Bruch. Allmählich, je mehr ich dem Land und ſeinen Be⸗ wohnern nähertrat, gewann ich es lieb, und die weite Ebene enthüllte mir all ihre verborgene Schön⸗ heit, und die Menſchen ihr weiches, trotziges Herz. Sie fühlten noch nicht die Diſtanz zwiſchen ſich und mir, darum begegnete mir nirgends Reid oder Mißtrauen. Fingen ſie doch kaum an, das Allerhandgreiflichſte zu empfinden: wie etwa den Gegenſatz ihrer Hütte zum Herrſchaftsſchloß. Und gerade an dieſem Punkt ihres Weſens ſah ich, wo ich eingreifen mußte. „Wer andere Zuſtände ſchaffen ſoll, muß doch erſt den Druck der eigenen empfinden lernen,“ ſagte ich zu 30 Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 466 Romberg, der mir meine agitatoriſche Tätigkeit durch⸗ aus verleiden wollte. „Ich kann Sie mir nun einmal nicht vorſtellen, in einer Dorfkneipe Unzufriedenheit predigend,“ antwortete er ärgerlich. „So überzeugen Sie ſich durch eignen Augenſchein, daß ich es kann,“ meinte ich. Auf meiner nachſten Fahrt kam er mit. Diesmal war es ein Leiterwagen, der uns in ſtrömendem Regen über aufgeweichte Land⸗ wege nach einem kleinen Dörfchen fuhr, Lehmannshöfel mit Ramen. „Wie wird's mit unſerer Verſammlung bei dem Wetter?“ fragte ich den alten Genoſſen, der uns an der Bahn empfangen hatte. „Jut, — ſehr jut,“ entgegnete er. „Was unſer oller Pfarrer is, der hat vorichte Woche die Weiber ufjehetzt. Sie ſollten man bloß nich in die Verſammlung jehn, hat er jeſagt, ſo wat jinge ſie jar niſcht an, am we⸗ nichſten, wenn 'ne Frau reden tut, die lieber zu Haus det Mittagbrot kochen und mit die Kinder beten ſollte. Ru können Se ſich denken, daß ſe juſtament in die Ver⸗ ſammlung jehn. Proppenvoll war's ſchonſt heut morſen.“ Radfahrer begegneten uns, von oben bis unten be⸗ ſpritzt, Fußgänger mit aufgeweichten Sohlen, denen das Wuſſer von der Mütze tropfte. Wir luden auf, ſo viel der Wagen faſſen konnte. Seit dem Morgengrauen hatten ſie Flugblätter ausgetragen. Voll guten Humors erzählten ſie ihre Abenteuer. Auf manchem Hof hatten ſie über Zäune klettern müſſen, weil das Tor vor ihnen verſchloſſen wurde; der eine war als reiſender Hand⸗ werksburſche bis in die Geſindeſtuben der Rittergüter 467 vorgedrungen, der andere hatte mit demütigem Geſicht, als wär's ein Traktätchen, den Kirchgängern die Zettel in die Hand gedrückt; im Vorüberſauſen hatte der Radler ſie geſchickt durch offene Türen und Fenſter geworfen. In der Wirtsſtube von Lehmannshöfel glühte der eiſerne Ofen. Raſſe Mäntel und Stiefel trockneten daran. Tabaksqualm zog in ſchweren Schwaden an der niedrigen Decke. Mein Platz war mit Kiefern⸗ zweigen umwunden. Vor mir auf dem Tiſch ſtanden rechts und links zwei Blumenſträuße in flachen weißen Papiermanſchetten. „Von den Tagelöhnerinnen aufs Jut —,“ erklärte dunkel errötend ein junges Mädchen, das als letzten Reſt der alten Tracht die ſtrohblonden Flechten unter dem ſchwarzſeidenen Kopftuch verborgen hatte. Wie in der Kirche ſaßen die Leute vor mir: rechts die Männer, links die Frauen, — lauter Geſichter, in die kein anderer Gedanke als der an die nächſte Rot des Daſeins ſeine Zeichen gegraben hatte. Roch nie war eine Verſamm⸗ lung hier geweſen. Ob ich den Ton finden würde, der zu ihnen drang? Ich erzählte von ihrem eigenen Daſein, wie es in ewigem Gleichmaß dahinfließt, nach der alten eintönigen Melodie: Leben, um zu arbeiten, arbeiten, um wieder leben zu können. Wie Freude für ſie nur ein kurzer Rauſch iſt mit böſem Erwachen — ein Alkoholrauſch, ein Liebesrauſch — und die Sorgen allein ſie nie verlaſſen. Wie die Welt voll Glanz und Schönheit iſt; wie das größte und ſchönſte, was die Menſchheit in Jahrhunderten gedacht und empfunden, in Tauſenden von Büchern und Statuen und Bildern aufbewahrt wurde für ihre Nachkommen. „Aber eine 30* 468 Mauer baute man ringsum, und nur wer den goldenen Zauberſtab beſitzt, dem öffnet ſich die Pforte . . Ein junger Mann, der ein bißchen ſtumpfſinnig vor mir geſeſſen hatte, ſah plötzlich auf — mit ein paar Augen, in deren Tiefe die Sehnſucht flammte. „Das Kind der armen Tagelöhnerin hat vielleicht die Seele eines Dichters, — mit vierzehn Jahren ſchon muß es Kartoffeln buddeln und Rüben ziehen, und die Arbeit tritt mit ihren eiſenbeſchlagenen Füßen ſeine Seele tot . . An der Tür drüben ſah ich ein altes Mütterchen, das den weißen Kopf ſchluchzend in den knochigen Händen vergrub. „Für dieſe Welt iſt Armut ein Verbrechen, das mit lebenslänglicher Zwangsarbeit beſtraft wird . . Tränen darüber ſind genug vergoſſen worden. Vor lauter Jammern haben wir das Handeln vergeſſen. Von der Kanzel herab haben ſie gepredigt, daß die Ergebung in das Geſchick eine Tugend iſt. Ich ſage Euch, ſie iſt ein Laſter. Denn an all dem Elend in der Welt ſind wir ſchuld, — wir mit unſerer Demut, unſerer Unterwürfig⸗ keit, unſerer Trägheit . . Jeder Blick in das bleiche Geſichtchen ihres Lieblings, jede jammernde Bitte um Rahrung ſollte der Frau nicht Tränen fruchtloſen Leids erpreſſen, ſondern ſie anſpornen, ihrem Kind die Zu⸗ kunft erobern zu helfen .. Wo die Mutter unfrei und furchtſam iſt, wächſt ein Geſchlecht von Knechten mit knechtiſcher Geſinnung empor, und der Wert einer Mutter wird in Zukunft nicht blos daran gemeſſen werden, ob ſie ihre Kinder gewaſchen, gekleidet und genährt hat, ſondern ob ſie ſie zu Kämpfern erzog 469 und ihnen mit dem Vorbild tatkräftiger Begeiſterung voranging.“ An Beiſpielen des täglichen Lebens ſuchte ich ihnen klar zu machen, wie jeder Einzelne, auch der Beſchei⸗ denſte, an dem großen Befreiungsfeldzug des Sozialis⸗ mus teilnehmen kann, wie er nie zum Ziele führen würde ohne die Arbeit des einzelnen. Mir war, als hörte ich die Atemzüge der Menſchen vor mir und ihre Seufzer. O, daß ich ſie doch ins Herz getroffen hätte! Feuchte Rebel hingen wie lange Trauerſchleier über den Feldern. Wir fuhren ſtumm zurück. Froſtgeſchüttelt lehnte ich mich in die Kiſſen, als wir endlich den Zug nach Berlin beſtiegen hatten. „Wie Sie das verantworten können!“ brach Rom⸗ berg los, der bis dahin kein Wort geſprochen und den armen Leuten, zwiſchen denen er geſeſſen hatte, ſein Unbehagen ſo deutlich fühlen ließ, daß ich ſchon be⸗ dauerte, ihn mitgenommen zu haben. Jetzt fuhr ich aus dem Halbſchlaf auf. „Ich verſtehe Sie nicht!“ ſagte ich. „Um ſo ſchlimmer!“ rief er. „Sie nehmen dieſen Menſchen das einzige, was ſie beſitzen, was ihnen das Leben erträglich machte: ihre Unwiſſenheit, ihren Stumpf⸗ ſinn, — ohne ihnen irgend etwas dafür geben zu können. „Wie, das Erwachen aus der Lethargie wäre nichts?! entgegnete ich heftig. „Sich durch die Teilnahme an dem Befreiungswerk der Klaſſengenoſſen über ſich ſelbſt und ſein kleines Schickſal hinauszuheben, — das wäre nichts?! Von Ihnen hörte ich zuerſt das Wort von der Politik der Starken. Das iſt mein Leitmotiv. Ohne die Dis⸗ harmonien des aufwühlenden Schmerzes, ohne die Grau⸗ 470 ſamkeit der Erkenntnis gibt es nicht den ſtarken Akkord ihrer Löſung.“ „Und wie ſteht's mit denen, die daran zugrunde gehen?! „Sie wären auch am Leben zugrunde gegangen! Mit einem fremden Blick, der mir zu meinem eigenen Erſtaunen wehe tat, ſtreifte er mich. „Iſt Weichheit und Schwäche auch für Sie noch ein Attribut der Weiblichkeit?“ fragte ich, und das Herz klopfte mir, als fürchtete ich die Antwort. „Ich weiß ſelbſt nicht recht —,“ meinte er zögernd. „Aber daran ſoll unſere Freundſchaft nicht Schiffbruch leiden.“ „Haben Sie gar keine Zeit mehr für mich?“ fing er nach einer Pauſe wieder zu ſprechen an, als der Zug ſich Berlin ſchon näherte. Ich ſah auf. „Ich möchte, daß Sie wenigſtens zwiſchendurch wieder ein Kultur⸗ menſch werden! Ohne rechte Luſt, nur um ihn nicht wieder zu verletzen, verſprach ich ihm, mich am nächſten Tag ſeiner Führung zur „Kultur“ anzuvertrauen. Am Bahnhof empfing uns Heinrich, der eine Stunde früher aus einer anderen Gegend ſeines Wahlkreiſes zurückgekehrt war. Wir waren beide ſo erfüllt von unſeren Erlebniſſen, daß wir im Eifer des Erzählens Romberg faſt vergaßen. Er verabſchiedete ſich ſteif und verſtimmt. „Bildung und Politik ſind für mich ſchwer vereinbare Begriffe —,“ ſagte er am nächſten Morgen, als wir zu⸗ ſammen in die Stadt gingen. „Sie ſcheinen einem Wechſel der Stimmungen unter⸗ worfen, der bisher nur einer Frau geſtattet war,“ ent⸗ gegnete ich ärgerlich. „Es iſt noch nicht lange her, daß Sie 471 mit einer Begeiſterung, die ich nicht vergeſſen habe, die Sozialdemokratie als die bedeutſamſte Erſcheinung der Zeit feierten.“ Er lächelte. „Frauenlogik! Es tut mir ordentlich wohl, dieſen weiblichen Zug bei Ihnen zu finden! Was hat mein Urteil über den Klaſſenkampf des Proletariats mit meiner Meinung über die Beteiligung des Gebil⸗ deten an der Politik zu tun?! Wir ſollten um höhere Werte ringen — „Gibt es höhere, als die Befreiung der Menſchheit von all den Feſſeln, die ſie an die Erde ſchmieden und ihren Höhenflug hemmen?!“ unterbrach ich ihn erregt. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, — die alte Parole, unter der ſchon die Baſtille geſtürmt wurde,“ entgegnete er mit ſpöttiſchem Lächeln; „fügen Sie noch das Ideal des Chriſtentums, — die ſelbſtentſagende Rächſtenliebe hinzu, ſo beweiſt das alles, wie unſäglich arm eine Zeit ſein muß, die ſelbſt einer ſo gewaltigen Bewegung wie der des Proletariats keine neuen Ideale hat ſchaffen können.“ Seine Worte begegneten einem noch unklaren Emp⸗ finden, das ich um ſo energiſcher zu unterdrücken geſucht hatte, als mir die Wege dunkel erſchienen waren, zu denen es hätte führen können. Wir traten in den modernſten Kunſtſalon Berlins. Der Holzbogen der Eingangshalle, der in ſeinen ge⸗ ſchwungenen Linien alle Sprödigkeit des Materials ſieg⸗ reich überwunden hatte, empfing mit weit ausgebreiteten Armen die Beſucher. In hellen Vitrinen, durch unſicht⸗ bare Lichtſpender von innen ſtrahlend, lagen auf grauem Samt Gürtel, Schnallen, Armreifen und Diademe; 472 Vogelgefieder und Schmetterlingsflügel aus durchſichtigem Email vereinten ſich mit dunklem Gold, mattem Silber; Perlen in phantaſtiſchen Formen ſtanden neben Edel⸗ ſteinen von unerhörter Farbenpracht — „Ein Schmuck für Märchenprinzeſſinnen, von einem Dichter geſchaffen,“ ſagte Romberg bewundernd und verſenkte ſich in den Anblick. Er mochte weißer Arme gedenken und ſchimmernder Nacken und holder Frauen⸗ köpfe mit lachenden Lippen und duftenden Locken. In meinen Augen aber hafteten andere Bilder: riſſige Hände, gebeugte Rücken, ſorgendurchfurchte Geſichter — ich wandte mich ab, im Innerſten verletzt. Der nächſte Raum war voll ſanften Lichtes und tiefer, weicher Seſſel. „Wie wohltuend, wie ruhig!“ meinte jemand. „Eine ſchöne alte Frau mit ſehr weißen ſtillen Händen müßte ihren Lebensabend hier verträumen.“ Aber die Armen⸗ ſtube von Platkow ſah ich vor mir. Vor ein großes Bild traten wir dann: auf weichem, blumendurchwirktem Raſenteppich, der ſich im ſtillen Wald verlor und zärtlich eine Quelle umgab, die dieſen Frieden mit keinem Plätſcherlaut ſtören mochte, kniete ein Jüngling, den dunkeln Dantekopf andachtsvoll zu der Jungfrau erhoben. Aus der Säulenhalle des Tem⸗ pels tretend, krönte ſie ihn; lange, ſchmale, durchſichtig bleiche Finger hielten den Kranz. Mädchen, ſo ſchlank und hoheitsvoll wie ſie, ſtanden zur Seite. Und das alles leuchtete in myſtiſchem Blau, in trunkenem Purpur, in ſattem Grün, — weitab allen grauen Tönen der Wirk⸗ lichkeit. Faſt nahm die fremde Wunderwelt mich ſchon gefangen. Da tauchte der ſturmdurchpeitſchte Park vor 473 mir auf und der rauhe Mann, der mit harten Arbeits⸗ händen zärtlich die kleinen Knoſpen ſtreichelte. Ich war ſehr einſilbig. Wir beſchloſſen den Tag im Theater, wo Maeterlincks Pelleas und Meliſande unter der Direktion eines jungen Revolutionärs der Bühne zur Aufführung kam. Böck⸗ lins Landſchaften ſchienen lebendig geworden: Der Zauberwald und die Felſen, die finſteren Schloß⸗ türme und der weiße Marmorbrunnen verſchmolzen mit den ſchwebenden Geſtalten, dem Sonnenglanz und dem Mondlicht zum reinen Rhythmus bewegter Kunſt. Die lärmende Straße draußen zerſtörte den Traum. Mit ſchmerzhafter Klarheit empfand ich die gähnende Kluft zwiſchen all der äſthetiſchen Kultur, die um uns her zu blühen begann, und dem Leben, dem Denken und Wünſchen der Millionen, die erſt anfingen, um die Befriedigung urſprünglichſter Triebe zu kämpfen. Rom⸗ bergs Gedanken begegneten den meinen. „Fühlen Sie nicht ſelbſt, wie weltenfern Sie denen ſtehen, deren ganzes Bedürfen in etwas mehr Zeit, et⸗ was mehr Brot gipfelt?“ ſagte er. „Sie müſſen Ihre Sinne, Ihre Rerven, an deren ſubtiler Verfeinerung Generationen arbeiteten, gewaltſam abſtumpfen, um ihr Sprachrohr werden zu können.“ Meine ganze Freudigkeit kehrte mir wieder. „Wie eng Sie denken!“ lachte ich. „Richt abſtumpfen. ſteigern muß ich meine Empfänglichkeit, damit ich immer weiß, wie groß das Entbehren iſt und wie ungeheuer der Gewinn unſeres Kampfes.“ „Machen Sie ſich denn gar nicht klar, daß, wenn die Maſſe erreichen ſollte, was Sie heute haben, Sie und 474 Ihresgleichen ihr wieder um tauſend Jahre voran ſind?!“ ſagte Romberg. „So wird die Kluft bleiben, — immer bleiben, und die Gleichheit iſt eine Chimäre. „Ich fordere auch nur die Gleichheit der Lebens⸗ bedingungen; wie der Baum aus dieſem Boden wächſt, darüber entſcheidet ſeine eigene Kraft,“ antwortete ich. Wir brachen ein Geſpräch ab, das uns nur vonein⸗ ander entfernen mußte. Aber einen Gedanken hatte es wachgerufen, der ſich von nun an nicht mehr einſchläfern ließ. Wenn er mich quälte und ich ihn abſchütteln wollte, ſo bohrte er ſich nur noch tiefer in Hirn und Herz. Hörbarer, als da die Völker wanderten, um ſich neuen Heimatboden zu erobern, dröhnte die Erde unter den Tritten der Millionen, die ſich in Bewegung geſetzt hatten, um dem Elend zu entfliehen. Aber ihrem Wollen fehlte die einheitliche Formel. Im Dreigeſtirn der Re⸗ volutionsideale lag ſie nicht. Und was Marx ihnen gegeben hatte, das waren wiſſenſchaftliche Erklärungen über die Art, das Tempo und das Ziel der Bewegung geweſen, die nur ſo lange über den Mangel hinweg⸗ täuſchen konnten, als ſie unerſchüttert waren. Ein Ereignis beſtärkte mich in meiner Idee. Mitten im Wahlkampf, der all unſere Kräfte auf ein Ziel, — die Riederwerfung des Gegners, — hätte konzentrieren müſſen, entſpann ſich ein wüſter Krieg zwiſchen den Parteigenoſſen ſelbſt. Er wäre unmöglich geweſen, wenn nicht jenes Fehlen der inneren Einheit gegen⸗ ſeitiges Mißtrauen zur Folge haben mußte. Was der eine ruhigen Gewiſſens tat oder ließ, das erſchien dem anderen als ein Verſtoß gegen die Partei. Ein halbes Dutzend Parteigenoſſen, — ich gehörte zu 475 ihnen, — hatten ſeit Jahr und Tag an einer bürger⸗ lichen Wochenſchrift mitgearbeitet, die eine Tribüne war, auf der alle Richtungen ungehindert zu Worte kamen. Die literariſchen und künſtleriſchen Kritiken, die ich darin veröffentlicht hatte, — Augenblicksarbeiten, denen ich gar kein längeres als ein Augenblicksintereſſe beimaß, — hatten oft weniger dem Bedürfnis nach Aus⸗ ſprache, als dem Erwerbszwang ihr Entſtehen zu ver⸗ danken. Die Parteipreſſe ſtand mir nur ſelten zur Ver⸗ fügung, und um ſo ſeltener, je mehr ich des Reviſio⸗ nismus verdächtig war. In ähnlicher Lage wie ich waren die meiſten derer, die mit mir „geſündigt“ hatten. Zwei von ihnen ſtanden als Reichstagskandidaten im heftigſten Feuer der Wahlkampagne. Aber das hinderte einige radikale Wortführer nicht, uns in breiteſter Öffent⸗ lichkeit als Schleppenträger der gegneriſchen Preſſe zu verdächtigen. Kaum hatte ich den betreffenden Artikel geleſen, als ich ſchon am Schreibtiſch ſaß, um uns dagegen zu ver⸗ teidigen. Die Anſicht, daß wir jede Tribüne benützen müſſen, von der aus wir gehört werden können, hatte ſich in mir ſeit der Zeit, wo ich ſie, von Wanda Orbin beeinflußt, angeſichts des Frauenkongreſſes verleugnet hatte, nur befeſtigt. Unſere Preſſe, unſere Verſamm⸗ lungsreden erreichten immer nur dieſelben Kreiſe, und abſeits ſtanden Hunderttauſende, die uns nur aus den Darſtellungen der Gegner kennen lernten. Ich legte meine Erklärung den Mitbetroffenen vor. Sie ſollte in derſelben Zeitung erſcheinen, die uns angegriffen hatte. Ich wurde daran verhindert; man wünſchte die Aus⸗ dehnung des Zwiſts zu vermeiden, indem man die 476 öffentliche Antwort, wie ich ſie beabſichtigt hatte, in eine Zuſchrift an den Parteivorſtand verwandelte. Dieſer aber ſah ſich nicht mehr imſtande, auf eine interne Auseinanderſetzung einzugehen, — die ganze Preſſe hatte ſich ſchon der Sache bemächtigt, unſere politiſchen Gegner ſchlachteten ſie gegen uns aus —, er veröffent⸗ lichte ſeine Entſcheidung: kein Parteigenoſſe darf an einer Zeitſchrift mitarbeiten, die die Sozialdemokratie in hämiſcher oder gehäſſiger Weiſe kritiſiert. Die ganze Provinzpreſſe druckte natürlich die lapidaren Sätze des Vorſtands ab. Wir waren gebrandmarkt vor den Ge⸗ noſſen, in deren Mitte wir wirken ſollten; den Gegnern waren die Waffen in die Hand geliefert, um uns vor ihnen zu diskreditieren. Darüber verging uns das Lachen, das im Grunde die richtigſte Antwort geweſen wäre. Wir ſahen in der Entſcheidung, die es jedem Parteiführer an die Hand gab, mißliebige Blätter auf den Index zu ſetzen, einen weiteren Schritt zum Papis⸗ mus, wir empörten uns, daß gerade diejenigen, die in der Partei in Amt und Brot waren, den freien Schrift⸗ ſtellern, die dem Verdienſt nachgehen mußten, die Zu⸗ gehörigkeit zur Partei unmöglich zu machen ſuchten, und eine ihrer Grundlagen ſchien uns in dem Angriff auf die Freiheit der Meinungsäußerung verletzt. Wir Überläufer aus der Bourgeoiſie, die im Kampf gegen alle Autoritäten, — die der Familie, der Bildung, der Religion, des Staats —, den Weg zur Sozialdemokratie gefunden hatten, wären die letzten geweſen, eine neue Autorität, — die des Parteivorſtands, — anzuerkennen. Und mein Mann, der ſeine Frondeurnatur am wenigſten verleugnen konnte, wurde unſer Wortführer gegen ihn: 477 in einem geharniſchten Artikel verteidigte er die Freiheit der Meinungsäußerung. Run erſt entbrannte der Kampf, der ſeit dem Münchener Parteitag ſchon im ſtillen die Geiſter erhitzt hatte, auf der ganzen Linie, — mit all jener Bitterkeit, die entſteht, wenn Freunde zu Feinden werden. Im ſtillen fürchteten wir, was unſere politiſchen Gegner hofften: daß die Wahlen dadurch zu unſerem Rachteil beeinflußt werden könnten. Am erſten Mai, dem Weltfeiertag der Arbeit. ſollte ich in Frankfurt a. O. die Feſtrede halten. Mir war im Augenblick wenig feſt⸗ lich zumute: mit ſo viel Hoffnungsfreudigkeit hatte ich die Agitation begonnen, — ſollte ſie vergebens geweſen ſein?! Sollte ich am Ende an ihrer Erfolgloſigkeit mitſchuldig ſein, weil ich — es klang wie der dumme Witz eines Poſſenreißers — in einer bürgerlichen Zeit⸗ ſchrift über Halbes Theaterſtücke und Laura Marholms Frauenbücher geſchrieben hatte?! Aber ſchon als der Zug die letzte berliner Bahnhofshalle verließ und ſtatt der hohen grauen Häuſer ſich draußen Laube an Laube reihte, von dem erſten jungen Grün überhaucht, mit bunten Fähnchen luſtig bewimpelt, und Menſchen in Feſttagskleidern auf der Chauſſee zwiſchen den jungen Birken, die grüßend die grünen Schleier ihrer Aſte be⸗ wegten, den Verſammlungen entgegeneilten, in denen ihres Frühlingsglaubens Auferſtehungsbotſchaft gepre⸗ digt werden ſollte, verſchwanden all meine törichten kleinlichen Angſte. Was hatten die dogmatiſchen Zän⸗ 478 kereien der Prieſter mit der Religion der Maſſen zu tun? Zwei kleine Mädchen empfingen mich am Bahnhof, mit blauen Bändern in den Zöpfchen und friſch ge⸗ waſchenen weißen Kleidern, die ſich um ſie bauſchten, ſo daß ſie ausſahen wie Rieſenglockenblumen. Sie führten mich hinunter in die Stadt über den Platz mit ſeinen geharkten Wegen, ſeinen artigen Raſenfleckchen und den kleinen dürftigen Beeten darauf, an Häuſern vorüber mit nüchternen Faſſaden und ablehnend ver⸗ hangenen Fenſterſcheiben. Die Glocke der Elektriſchen wirkte hier wie erſchreckender Lärm. Als wir aber um die Ecke bogen, wo die Kaſtanien über das holprige Pflaſter ſchon breite Schatten warfen, da ſchien das Leben der träumenden Stadt erwacht: in Trupps zu vieren und fünfen, mit weißen und braunen und gelben Kinderwägelchen dazwiſchen, die Männer im Sonntags⸗ rock, die Frauen mit nickenden Blumen auf hellen Hüten, ſo zogen ſie durch die Straße. Und an jeder Gaſſen⸗ mündung geſellten ſich andere hinzu, und wo die Gärten größer und die Häuſer kleiner wurden, kamen Land⸗ leute mit Stulpenſtiefeln, Mädchen mit Kopſrüchern über die Feldwege. Alles grüßte einander mit dem Blick frohen Erkennens. Weit hinunter bis zu dem ſilbernen Band der Oder dehnten ſich, von alten Weiden umrahmt, üppige Wieſen; in goldgelben Flecken, wie auf die Erde gebanntes Sonnenlicht, glänzten Butter⸗ blumen daraus hervor. Von der anderen Seite des Wegs, wo der Boden ſich hob, nickten über Weiß⸗ dornhecken roſig blühende Bäume; darüber klang der langgezogene Sehnſuchtston der Stare, das Kwiwitt 479 der Rotkehlchen, das vielſtimmige Zwitſchern buntgefie⸗ derter Meiſen. Run hatten ſich die Wandernden zu einem Zuge zu⸗ ſammengeſchoben, und eins war ich mit ihnen. Aus dem Garten, durch deſſen laubumwundene Pforte wir zogen, tönte Muſik. Auf der Bühne der Feſthalle, die wir betraten, warteten ſchon die Sänger. Ich ſtieg die Stufen hinauf. „. Ein Sohn des Volkes will ich ſein und bleiben ..“ ſang der Chor. Durch die hohen weit geöffneten Fenſter ſtrömte die Sonne in breiten Wogen; ihre Strahlen trugen den Duft des Frühlings mit her⸗ ein und berührten all die braunen und blonden Scheitel der andächtig lauſchenden Menge. Dicht unter der Bühne hatten ſich die Kinder zu⸗ ſammengeſchart, die kleinſten in ihren bunten Kleidchen, wie ein Beet farbenfroher Sommerblumen, am weiteſten nach vorn. Ein kecker kleiner Kerl war bis auf die Rampe geklettert, ein ſtrohblondes Mädchen ſchmiegte ſich ſchüchtern an ſein Knie, und die beiden Augenpaare — ein ſchwarzes und ein blaues — hingen an mir wie eine große verwunderte Frage. Sehr feierlich war mir zumute, als ſtünde ich, ein geweihter Prieſter, zum erſtenmal auf der Kanzel. Aber es war nicht die Religion der Liebe, die ich predigte, — jener Liebe, die den Haß der Welt in ſich trägt, es war nicht die ewige Seligkeit, die ich verkündigte, — jene Seligkeit, in die nur Eingang findet, wer zu kriechen und den Kopf zu bücken gelernt hat. Was als unklare Empfindung in den Herzen unſerer Väter lebte, die die Sonne anbeteten, deren Feſte Sonnwend⸗ feiern waren, die dem ſteigenden Licht im Lenz die Reu⸗ 480 geborenen weihten, — das iſt die Grundlage unſerer Religion. Richt wer am nachhaltigſten ſeine Sinne ab⸗ tötet, ſondern weſſen Augen am klarſten ſind, weſſen Ohr am feinhörigſten iſt, um alle Schönheit der Welt in ſich aufzunehmen, der iſt der Heiligſte unter uns. Und ein Anrecht auf unſer Himmelreich gewinnt nicht, wer leidet und duldet, ſondern wer handelt und genießt. Dulden und leiden kann jeder, aber nur der Sohn einer reifen Kultur vermag zu genießen, nur der Wiſſende handelt. „Wenn ſich die Arbeiter der ganzen Welt Jahr um Jahr in der Forderung des Achtſtundentages zu dieſem Frühlingsfeſt vereinigen, ſo tun ſie es, weil ſie wiſſen, daß ſie damit ihre Menſchwerdung fordern. Zeit iſt die Vorausſetzung für Wiſſen und Genuß . . . Halb enttäuſcht, halb erwartungsvoll ſahen die Frage⸗ augen der Kinder noch immer zu mir empor. Mit dem⸗ ſelben Ausdruck bettelte mein eigen Kind um eine Ge⸗ ſchichte, wenn wir im Walde gingen, wo die Bäume und die Blumen ihm noch ſtumm waren. Auch dieſe Kleinen hier ſollten nicht vergebens warten: von den Bettelkindern erzählt' ich ihnen, die auszogen, ihre ver⸗ lorenen Königskronen wiederzufinden . . . Draußen im Garten kamen ſie dann alle und dankten mir. Die Kinder hatten die Fäuſtchen voll Wieſen⸗ blumen und legten ſie mir in den Schoß. Die Alten luden mich an ihren Tiſch. Sie wußten nicht, daß ich ihnen zu danken hatte. Ich war wieder ſtark und froh, ich hatte in ihnen die Erde berührt, die kraftſpendende. 481 Der Tag der Entſcheidung rückte näher. Immer leidenſchaftlicher wurden die Angriffe unſerer Gegner in ihrer Preſſe, in ihren Flugblättern. Mir dem alten Märchen vom gewaltſamen Teilen ſuchten ſie den Bauern, der an ſeiner Scholle hängt, den kleinen Handwerker, der ſich an den kläglichen Reſt ſeiner Selbſtändigkeit klammert, in ihre Gefolgſchaft zu feſſeln. Mit der Autorität des Kaiſers ſtützten ſie ihre Angriffe auf die ſozialiſtiſchen Agitatoren. „Zerreißt das Tiſchtuch zwiſchen Euch und jenen Leuten, — dieſes kaiſerliche Wort machten ſie zu ihrem Schlacht⸗ ruf. Weite Kreiſe des Volkes, denen der Thron noch ſo heilig war wie der Altar, ſcharte er unter ihre Fahnen, aber größere noch, empört über die Stellung⸗ nahme des Staatsoberhaupts im Kampf der Parteien, trieb er zu uns herüber. Hochauf loderte der Zorn in unſeren Reihen. Was ſich in Jahren angeſammelt hatte an bitterer Enttäuſchung und ſtillem Groll, das brach flammend hervor. Zu Regimentern, die wider den Gegner aufmarſchierten, wurden die vielſtelligen Zahlen, die Mil⸗ liarden, die Armee und Flotte, China und Afrika ver⸗ ſchlungen hatten; als Raubritter und Ausbeuter wurde geſtempelt, wer je dazu ja geſagt hatte. Malten ſie drüben mit blutigen Farben das Bild der Revolution und riſſen dadurch den Gleichgültigen aus dem ver⸗ ſchlafenen Winkel ſeines Daſeins, ſo beſchworen ſie hüben alle Geſpenſter der Rot und des Hungers herauf und ſchreckten mit ihnen die Stumpfen aus ihrem Arbeits⸗ leben. Der ehrliche Kampf mit offenem Viſier auf freiem Felde wurde zum Guerillakrieg mit heimtückiſchen Liſten Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 31 482 und nächtlichen Überfällen. Und durch die feindlichen Lager hin und her auf leiſen Sohlen ſchlich die Ver⸗ leumdung; wen das Schwert nicht niederſtreckte, den vergiftete ſie. Ich hatte dem Gegner gegenüber gerecht bleiben, mich als einzelne behaupten wollen, gegenüber der Suggeſtion der Maſſe. Aber je länger ich im Kampfe ſtand, deſto ſchwerer wurde es, ihrer Gewalt zu widerſtehen. War ich nicht auch nur ein Soldat im Heere, deſſen Füße von ſelbſt im Takt der anderen marſchieren, der die gleichen Waffen trägt, und, vom Rauſch des Krieges überwältigt, einen perſönlichen Feind in jedem Glied des gegneriſchen Heerbannes ſieht? Der Gegenkandidat meines Mannes war ein alter Reaktionär, den der Bund der Land⸗ wirte auf ſeinen Schild erhoben hatte. Der Zolltarif galt ihm als ein „gigantiſches Werk“; die Arbeitsloſenverſicherung, die in dieſem Jahre wirtſchaft⸗ licher Depreſſion für uns eine immer dringendere For⸗ derung geworden war, erklärte er für „unmoraliſch“; dem geſetzlichen Arbeiterſchutz, deſſen Ausbau auf dem Wege zu unſeren Zielen lag, müſſe, ſo ſagte er, ein „Stopp“ entgegengerufen werden, und wider den Groß⸗ kapitalismus, deſſen Entwicklung eine Vorausſetzung des Sozialismus war, galt es, den Mittelſtand mobil zu machen. Als der typiſche Konſervative war er der will⸗ kommenſte Gegner, weil ſich hier, klar voneinander ge⸗ ſchieden, zwei Weltanſchauungen gegenüberſtanden. Zwiſchen ihnen ſchwankten, als das Zünglein an der 483 Wage, die Liberalen des Kreiſes hin und her. Sie wollten nicht glauben, daß wir ein gut Stück Weges zuſammengehen konnten und es einer Verleugnung aller liberalen Grundſätze gleichkam, wenn ſie den Konſer⸗ vativen Gefolgſchaft leiſten wollten. Meinen Mann ſah ich immer ſeltener. Trafen wir uns zu Hauſe, ſo ſchrieben wir zuſammen Flugblätter und Artikel, wobei er mit der ruhigen Sachlichkeit ſeiner Beweisführung die Gegner zu entwaffnen und ich mit dem Feuer, das mich durchglühte, Anhänger zu werben verſuchte. Hie und da trafen wir uns in Verſamm⸗ lungen, dann hörte ich, daß er ſprach, wie er ſchrieb: er wandte ſich an den Verſtand, er ſuchte zu überzeugen, wo ich an das Gefühl appellierte. Er hatte die Sprache des Dozenten, nicht die des Agitators. Wen er dem Sozialismus gewann, der wurde zum Bekenner. Was ich entzündete, mochte nur zu oft nichts als ein Feuer⸗ werk ſein. In den letzten Tagen fuhren wir von Ort zu Ort. Schon blühten Pfingſtroſen in den Gärten, und von Flieder und Hollunder dufteten die Lauben. Über den ſtaubigen Chauſſeen brütete die Sommerſonne. Die Menſchen in den engen Sälen atmeten raſch und ſchwer wie im Fieber. In den Dörfern gab's Schlägereien. War einer als Genoſſe bekannt, ſo ſpieen die Bauern vor ihm aus, und ſeinem Weibe gingen die Rach⸗ barinnen aus dem Wege. Die Kinder aber in der Schule ließ der Lehrer mit beſonderer Vorliebe patrio⸗ tiſche Lieder ſingen. Säle, die uns zur Verfügung ge⸗ ſtanden hatten, wurden uns genommen; breitſpurig, ein Herr der Situation, ſtand der Gendarm vor der Türe, 31* 484 wenn wir den Eingang erzwingen wollten. Kamen wir auf freiem Felde zuſammen, der Sonne und dem Regen trotzend, ſo löſte er die Verſammlung auf, hatten wir irgendwo einen Raum für ſie gefunden, ſo erklärte er ihn für feuergefährlich, kam ich als Rednerin in irgend ein abgelegenes Reſt, ſo hieß es: „Frauensperſonen dürfen nicht ſprechen.“ Aber die Genoſſen waren immer wieder erfinderiſcher als er. So fuhren wir einmal in ein kleines Dorf, das weltverlaſſen zwiſchen zwei blauen Seen in der Riederung liegt. Rur arme Schiffer wohnten hier und kleine Bauern, die elender lebten als der Fabrikarbeiter in der Stadt. Einer von ihnen hatte ſeine ganze arme Kate ausgeräumt, um die Verſamm⸗ lung zu ermöglichen. Das Hausgerät ſtand auf dem Hof, die Sonne enthüllte unbarmherzig all ſeine Armſelig⸗ keit. Die leeren Stuben faßten trotzdem die Menge nicht, das Gärtchen ſtand noch voll von ihnen. Selbſt auf den Gemüſebeeten trampelten ſchwere Stiefel, aber als ich ein Wort des Bedauerns äußerte, ſagte des Schiffers Frau mit glänzenden Augen: „Wenn's auch mit Erbſen niſcht is dies Jahr, wenn's man mit die Stimmen für den Sozi wat ſein wird! Am Vorabend der Entſcheidung kamen wir in Frankfurt an. Im Hauptquartier der Partei herrſchte fieberhaftes Leben: hier meldeten ſich Radfahrer, um zum morgigen Dienſt ihre Marſchorder in Empfang zu nehmen, blutjunge Leute unter ihnen, die ſich mit um ſo größerem Enthuſiasmus in den Dienſt der Sache geſtellt hatten, als ſie ſelbſt noch nicht wählen 485 durften; dort ſtellten ſich Frauen zur Verfügung, um die Säumigen an die Urnen zu holen, und in ſpäter Rachtſtunde kamen andere hungrig, heiß und verſtaubt von der letzten Verteilung der Wahlflugblätter zurück. Als die Stadt ſchlief, huſchten die Unermüdlichſten noch durch die Straßen, und am Morgen leuchtete in weißen und roten Lettern ein „Wählt Brandt!“ an den Zäunen und auf dem Trottoir. Wir gingen durch die Wahllokale. Vormittags ſtell⸗ ten ſich allmählich die Bürger ein, ruhigen Schrittes, ohne ſonderliche Erregung; mit dem Zwölfuhrglocken⸗ ſchlag wurde es auf den Straßen lebendig, und durch die Türen ſchoben ſich die Arbeiter, beſchmutzt, ver⸗ ſtaubt, wie die Fabrik und der Bau ſie entlaſſen hatte. Die Bezirksleiter notierten jeden, der ſich mel⸗ dete, ſtrichen an, wer noch fehlte, gaben Weiſung an die ihrer Aufgabe wartenden Frauen. Und die ſuchten dann die Säumigen in den Wohnungen, auf den Arbeitsſtätten. Rachmittags lag wieder ſommerliche Stille über der Stadt. Dann aber, als der Himmel ſich ſchon mit roſigen Wolken überzog, hallte das Pflaſter wider von raſchen Tritten. Sie kamen in Scharen: die jungen, rüſtigen voran, und zuletzt, von Frauen, von Kindern geführt, Alte, Kranke und Krüppel. Der Zettel in ihrer Hand, das war ihr einziges, freies Mannesrecht, damit waren ſie an dieſem einen Tage die Geſtalter ihres Geſchicks. Es dämmerte. In den Wahllokalen ſaßen unter ſpärlichen Gasflammen, vor rauchenden Petroleumlampen die Zähler. Wenn wir eintraten, bedurfte es keiner er⸗ klärenden Worte, die leerſten Geſichter waren ſprechend 486 geworden: Furcht und Hoffnung, Zorn und Sieges⸗ zuverſicht drückte ſich in ihnen aus. Schon brannten die Laternen in den Straßen. Im Hauſe, wo die Partei ihr Bureau aufgeſchlagen hatte, waren alle Fenſter erleuchtet. Im Saal oben war es noch leer; nur der Vorſtand des Wahlvereins harrte vor dem Tiſch mit dem großen Tintenfaß und den un⸗ beſchriebenen weißen Blättern der kommenden Dinge: Sie grüßten uns kopfnickend, ſie waren blaß und ſchweig⸗ ſam vor Erregung. Über Webers Stirn ſtanden helle Schweißtropfen, ſeine blanken Augen waren verſchleiert: Wir ſetzten uns. Nach und nach füllte ſich der Raum. Lauter Schweigende. Die Minuten ſchlichen wie ebenſo viele Stunden. Endlich der erſte Radler! Gleich da⸗ rauf der zweite, der dritte, der vierte — die Wahlbe⸗ zirke der Stadt. „Schlecht ſteht's!“ knirſchte der eine und warf den Zettel auf den Tiſch. „Der Weſten Frankfurts —,“ ſagte Weber, „immer⸗ hin: zum erſtenmal Stimmen für den Sozi! — Das Zentrum, — na, beſſer hätt's ſein dürfen! — Und die Vorſtadt, pfui Teufel, das ſind die Eiſenbahner, die auf Kommando wählten! — Aber hier —,“ ſein Geſicht ſtrahlte — „das reißt die ganze Stadt heraus!“ „Hurra!“ rief einer und ſchwenkte die alte Soldaten⸗ mütze zum offenen Fenſter hinaus. „Bravo!“ antwortete es vielſtimmig von unten. Wieder verrannen Viertelſtunden. Schon waren alle Plätze an den langen Tiſchen beſetzt. „Warum dauert das nur ſo lang —,“ ſeufzte ich. „Die Radler aus dem Oderbruch können noch nicht 487 hier ſein —,“ ſagte Weber, der wieder und wieder nach der Uhr ſah. „Telegramme!“ ſchrie jemand. Der Poſtbote drängte ſich durch die Reihen. Mit bebenden Fingern riß Weber ſie auf: „Berlin erobert! — Ganz Sachſen unſer — Ein Jubelruf, der ſich wieder bis auf die Straße weiterpflanzte, aber raſch verklang. Das Schweigen war eine einzige Frage: „Und wir?!“ — Jetzt aber tönte von unten ein donnerndes „Hoch!“ Wir ſtürzten zum Fenſter: über das Pflaſter ſprangen Lichter in langer Kette, Räder blitzten auf —, die Treppen ſtürmte es empor: atemlos, blaurot, mit zitternden Knien ſtanden ſie vor uns, die Männer aus dem Oderbruch. Sie waren keines Wortes mächtig, aber die Tränen, die hellen Freudentränen tropften ihnen über die Wangen. Mit einer faſt feierlichen Gebärde breitete Weber die Botſchaften vor uns aus. Hunderte von Stimmen hatten wir gewonnen. Dicht unter den Augen der Gegner, auf Gutshöfen, in Dörfern hatten die Land⸗ leute für uns geſtimmt. Stumm ſtreckte ich dem Maurer Merten die Hand entgegen. Er hielt ſie lange zwiſchen ſeinen harten Fingern. Jetzt ſtanden die Menſchen ſchon Kopf an Kopf. Roch fehlten die entfernteſten Bezirke, — Buckow, Fürſten⸗ walde. „Entſchieden iſt noch nichts,“ murmelte Weber angſtvoll. Wieder ein Lärm auf der Straße. „Die Oderzeitung bringt ein Extrablatt!“ ſchrieen ſie zu uns empor. In weitem Bogen flog es von der Tür über die Köpfe hin⸗ weg auf unſeren Tiſch: „Depeſchen aus Süddeutſchland 488 — München, Nürnberg, Bayreuth, Stuttgart, Darm⸗ ſtadt — alles unſer! Und nun löſte ein Depeſchenbote den anderen ab; jede Siegesnachricht ſteigerte die elektriſche Spannung, ſelbſt die Rachtluft draußen ſchien erfüllt von ihr. Zu elf dumpfen Schlägen holte die Uhr auf der Marienkirche aus. „Im Haus der Oderzeitung löſchen ſie die Lampen,“ — rief ein junger Burſche, und brach ſich mit Ellbogen⸗ ſtößen freie Bahn in den Saal. Die Geſichter rings⸗ um erhellten ſich. Eine Gärtnersfrau, der ausdauerndſten eine im Heran⸗ holen ſäumiger Wähler, nahm aus ihrem bis dahin ſorg⸗ fältig gehüteten Korb einen großen Strauß roter Relken und ſtellte ihn vor uns auf den Tiſch. — „Iſt's nicht zu früh?!“ — Ein Brauſen lag in der Luft, — war's nicht das pochende Blut in meinen Schläfen? Oder waren's die vielen Stimmen vor dem Haus? „Die ganze Straße ſteht ſchwarz voll Menſchen,“ flüſterte ein baumlanger Arbeiter neben mir in ſcheuer Angſt. Es war heiß, — glühend heiß im Saal, und doch ſchien mir, als müßten alle frieren wie ich. Da — „Fürſtenwalde!“ und wie ein Echo: „Buckow! Weber war weiß im Geſicht, — ſekundenlang bohrten ſich ſeine Augen in das Papier. Wir hielten den Atem an, — dann ſtieß er mit rauher Stimme ein einziges Wort hervor: „Geſiegt!⸗ Einen Augenblick war es noch ſtill. Einem alten Mann, den ich nicht kannte, und der bis zu mir vor⸗ gedrängt worden war, drückte ich krampfhaft die Hand. Dann brach es los wie Gewitterſturm. Das ſchrie, 489 das jauchzte, das ſchluchzte —, alte Männer ſielen ein⸗ ander um den Hals, Frauen verbargen die Geſichter an den Schultern der Rächſten. Und draußen zerriß ein ein⸗ ziger Jubelruf die Stille der Racht. Sie riefen nach ihrem Gewählten. Auf die Fenſterbrüſtung trat er. „Richt mir dieſes Hoch, Parteigenoſſen —,“ und ſeine tiefe Stimme klang voll und warm und die Luft ſelbſt ſchien ſie weiter und weiter zu tragen, „— Euch vielmehr, die ihr den Sieg erkämpftet, und unſerer großen Sache vor allem, die die Siegesgewißheit in ſich trägt! Ein Hoch der Sozialdemokratie, ein dreifaches Hoch!“ Und wieder brauſte es, als ſchlügen orkangepeitſchte Wellen an Felſenriffe. Inzwiſchen war Weber ſtill beiſeite gegangen. Run kam er zurück. Er trug die alte Fahne, von grauen Tüchern umwunden. Dicht vor dem Fenſter nahm er langſam die Hülle ab, hob die ſchwere Stange hinaus, und das rote Tuch rollte auseinander und wehte, auf⸗ glühend, wo das Licht es traf, wie entfachte Flammen über die ſtumme Menge. „Genoſſin Brandt! — — Alix Brandt!“ — Riefen ſie mich?! — Man ſchob mich zum Fenſter, — man hob mich empor, — ich ſah keine Menſchen, ich ſah nur ein wogendes Meer, — ohne Anfang, ohne Ende. Und ich ſtreckte die Arme weit aus — 490 Vierzehntes Kapitel Alle Vorbereitungen für das Erſcheinen der Neuen Geſellſchaft waren getroffen. Es ſollte eine Zeitſchrift großen Stiles werden. Hervorragende Parteigenoſſen des In⸗ und Auslandes hatten uns ihre Mitarbeit zugeſagt. Eine junge Künſtlerin, von der Idee, die uns leitete, gepackt, hatte den Um⸗ ſchlag gezeichnet: ſchwarze Fabriken, aus deren Eſſen die Feuerflammen der kommenden Zeit emporſchlagen. Es gab Leute, die angeſichts der ſchönen Ausſtattung, des niedrigen Preiſes und der hohen Honorare, die wir feſtgeſetzt hatten, bedenklich die Köpfe ſchüttelten. Aber der Dreimillionen⸗Sieg der Partei hatte den Glauben an unſere Sache, den wir von jeher beſeſſen hatten, nur noch geſtärkt. Jetzt war wirklich die Zeit gekommen, wo die Sozialdemokratie eine Macht im Staate zu werden begann, wo ſie vor der Aufgabe ſtand, ſelb⸗ ſtändig praktiſche Politik zu treiben. Breite Schichten der Arbeiterſchaft, die erſtarkten Gewerkſchaften an der Spitze, verlangten danach, und die Maſſe der Mitläufer, die unſeren Sieg hatte vergrößern helfen, war zweifel⸗ los nicht durch die ferne Ausſicht auf den Zukunftsſtaat zu uns gekommen, ſondern durch die Hoffnung auf Reformen der Gegenwart. 491 Eines Morgens kam Heinrich verärgert aus dem Bureau: „Der Lindner läuft umher wie die Jungfrau von Orleans: „und mich, die all dies Herrliche vollendet, mich freut es nicht, das allgemeine Glück“. Sollten die Schwarzſeher ihn ſchon beeinflußt haben?! Das könnte mir paſſen!“ Wir hörten eine Woche lang nichts von ihm. Dann kam ein Brief; — während mein Mann ihn überflog, veränderten ſich ſeine Züge: „Hier haſt du den Wiſch, rief er wütend und warf die Türe hinter ſich ins Schloß. „Da ich mich überzeugt habe, daß ein gedeihliches Zu⸗ ſammenarbeiten zwiſchen uns nicht erreichbar ſein wird, trete ich von unſerem Vertrag zurück —,“ las ich. Das iſt doch nicht möglich, — das kann doch nicht ſein, fuhr es mir durch den Kopf; wie kann er ſein Wort brechen, jetzt, in dieſem Augenblick, wo er weiß, das damit alles ſteht und fällt! Heinrich war beim Rechtsanwalt geweſen. „Richts zu machen,“ knirſchte er, als er nach Hauſe kam, „mein Anſtand, oder ſagen wir lieber meine Dummheit, die mich hinderten, den Vertrag notariell zu machen, ermög⸗ lichen dieſen erbärmlichen Rückzug.“ Was nun?! Heinrichs trotzige Energie hatte auf dieſe Frage nur eine Antwort: „Erſt recht! Ich fühlte mich im erſten Augenblick wie gelähmt und war geneigt, im Rücktritt Lindners etwas zu ſehen, das einem Wink des Schickſals oder einem Gottesurteil gleichkam. Aber die Ereigniſſe innerhalb der Partei zer⸗ ſtreuten den Rebel, der meinen Blick vorübergehend ver⸗ dunkeln wollte. Überall hatten nach den Wahlen Siegesfeiern ſtatt⸗ 492 gefunden. Hunderte von Rednern hatten das „Unſer die Welt!“ in die überfüllten Säle hinausgeſchmettert und ein vieltauſendſtimmiges Echo gefunden. Dann aber war der Rauſch verflogen, und jenes erwartungs⸗ volle Schweigen war eingetreten, das jedem großen Er⸗ eignis zu folgen pflegt. Man konnte ſich nicht vor⸗ ſtellen, daß nun der Alltag wieder da iſt, — genau ſo wie vorher; es mußte irgend etwas folgen, das dem Un⸗ geheueren entſprach, das wir erlebt hatten! Doch es ge⸗ ſchah nichts. Nur der Sommer war gekommen mit ſeiner Blumenpracht, — wie immer. Ein unbeſtimmtes Ge⸗ fühl der Enttäuſchung erkältete die eben noch glühenden Herzen. Die durch den Kampf aufgepeitſchten Rerven erſchlafften plötzlich; eine nörgelnde Empfindung der Un⸗ zufriedenheit entſtand; kaum einer war, der ſich ihr ent⸗ ziehen konnte, und wer am leidenſchaftlichſten um den Sieg gerungen hatte, den packte ſie mit doppelter Gewalt. Einige der führenden Geiſter in der Partei waren ſich bewußt, daß die nervöſe ungeduldige Frage der Maſſen nach dem Preiſe des ſiegreichen Kampfes Ant⸗ wort heiſchte. Aber ſie empfanden nicht, daß die Ant⸗ worten, die ſie gaben, angeſichts der Größe der Er⸗ wartungen wie eine Verhöhnung wirken mußten. Kautsky, der Theoretiker des Radikalismus, verſuchte ihr als der Vorſichtigere aus dem Wege zu gehen, indem er ſich nur mit den Wahrſcheinlichkeiten der künftigen Haltung unſerer Gegner beſchäftigte, und im übrigen die Ge⸗ müter durch den Hinweis auf „die alte, bewährte Taktik der Partei“ zu beruhigen ſuchte. Eduard Bernſtein da⸗ gegen, der Reviſioniſt, hatte in dem Beſtreben, zu momen⸗ tanen praktiſchen Reſultaten zu gelangen, acht Tage nach 493 dem Siege auf die Frage: was folgt aus dem Ergebnis der Reichstagswahlen? keine andere Antwort als die: ein ſozialdemokratiſcher Vizepräſident im Reichstag! Was in ruhigen Zeiten vielleicht zu einer Erörterung inner⸗ halb der Fraktion geführt hätte, das wurde jetzt das Signal zum Aufruhr. Wie, darum haben wir monatelang unſere Haut zu Markte getragen, darum haben drei Millionen Deutſche einundachtzig Sozialdemokraten in den Reichstag ge⸗ ſchickt, damit einem von ihnen die Gelegenheit geboten wird, vor dem Kaiſer zu katzbuckeln, — dem Kaiſer, deſſen Fauſt wir von Eſſen und Breslau her noch auf unſerer Wange brennen fühlen?! So tönte es von allen Seiten. Vergebens, daß Vollmar von München aus verſuchte, der kühlen Vernunft zu ihrem Rechte zu verhelfen, in⸗ dem er die tatſächlichen Vorteile der Vertretung der Partei im Präſidium hervorhob und die Haltloſigkeit der prinzipiellen Gegnerſchaft zu dem „Hofgang“ dadurch illuſtrierte, daß die Parteigenoſſen in den Einzelſtaaten es mit ihrer republikaniſchen Geſinnung vereinigen müſſen, dem jeweiligen Landesherrn Treue zu ſchwören, der Eid aber doch bedeutungsvoller ſei, als ein offizieller Beſuch im Kaiſerſchloß, — bis nach Rorddeutſchland drang ſeine Stimme nicht. Zu tief empfanden Alle die unbe⸗ wußte Verhöhnung ihrer Hoffnungen und ihres Glaubens in Bernſteins Antwort auf die Frage, die ſie bewegte. Und auch ich konnte mich dem niederdrückenden Eindruck nicht entziehen. Die Empörung über Bernſtein verdichtete ſich zur all⸗ gemeinen Wut auf die Reviſioniſten, die ſie ihrerſeits 494 mit einem Ungeſchick, das ſich nur aus ihrer Temperament⸗ loſigkeit erklären ließ, ſchüren halfen. „Wir müſſen die liberalen Parteien erſetzen —,“ er⸗ klärte der eine; die aufgeregten Maſſen laſen daraus: wir müſſen unſere ſozialdemokratiſchen Grundſätze in die Taſche ſtecken. „Ein proletariſcher Klaſſenkämpfer ſein, das heißt nicht auf die bürgerliche Geſellſchaft unterſchiedslos drauflos prügeln —,“ ſagte ein anderer; die Arbeiter ergänzten: wir ſollen mit ihr liebäugeln. Sie hatten unrecht — zweifellos —, wie jeder un⸗ recht hat, den die Leidenſchaft nicht nur dem Ziel ent⸗ gegen vorwärts reißt, ſondern blind und taub macht für alles, was rechts und links geſchieht. Aber weit größer war das Unrecht derer, die imſtande geweſen waren, an dem Siegesfeuer, deſſen himmelauflodernde Flammen die Begeiſterung der Kämpfer entfacht hatten, ihr armſeliges Süppchen zu kochen und es den An⸗ dächtigen, deren Glauben noch glühender brannte als das Feuer, als ſättigende Speiſe darzureichen. Ein mächtiger Helfer erwuchs ihrem Zorn, einer, der noch immer wundergläubig geweſen war, wie ſie; einer, den, wie ſie, der Sieg trunken gemacht hatte: Auguſt Bebel. In einer Erklärung, die dem Pronunziamento des Rachfolgers Chriſti auf dem apoſtoliſchen Stuhle gleichkam, verurteilte er Bernſtein und die Seinen und drohte überdies mit der Entſcheidung des nächſten Partei⸗ tages. Run erſt, nachdem der Führer geſprochen, ent⸗ brannte der Bruderkrieg in vollem Umfang. Was Bebel nur hatte ahnen laſſen, das ſprachen andere aus: fort aus der Partei, wer uns den Sieg verekelt. 495 Ich fürchtete das Schlimmſte. Meine perſönlichen Beſorgniſſe verſchwanden wie Tautropfen im Meer. Jetzt galt es, den Bedrohten einen Mittelpunkt ſchaffen, der zum Ausgang einer ſtarken, jungen Bewegung werden könnte. Aus tiefſter Überzeugung wiederholte ich Hein⸗ richs: „Erſt recht! Der Verkauf des Archivs war der erſte Schritt zu unſerem Ziel. Heinrich wandte ſich an einen der größten Verleger, der ſeine Bereit⸗ willigkeit ausſprach, das Archiv zu übernehmen, wenn der alte Herausgeber ihm erhalten bliebe. Er bot ein Redaktionshonorar dafür, das uns zeitlebens der Sorgen enthoben hätte. Wir beſannen uns keinen Augenblick, ſeine Vorſchläge zurückzuweiſen. „Run bliebe noch Romberg,“ ſagte ich zögernd; ich wußte, ſeit jener erſten Anfrage war eine leiſe Ent⸗ fremdung zwiſchen den beiden Männern eingetreten. „Damit er mich wieder behandelt, wie der hochmögende Vormund,“ brauſte Heinrich auf. Roch am ſelben Abend ſchrieb ich an Romberg. Wenige Tage ſpäter war er in Berlin. Ich ſetzte ihm die Lage auseinander. „Ich appelliere lediglich an Ihr Intereſſe für die Zeitſchrift,“ ſagte ich, „die heute eine der angeſehend⸗ ſten ihrer Art iſt. Es lag Ihnen daran, ſie in die Hand zu bekommen; — Sie ſprachen ſeinerzeit davon. als von einem Erſatz der ordentlichen Profeſſur. ¹Er machte eine abwehrende Handbewegung. „Wenn ich nun aber ſtatt meines perſönlichen Intereſſes, das 496 ſich nicht verändert hat, meine Freundſchaft entſcheiden ließe?!“ rief er aus. „Mir ſcheint, ich müßte Sie vor einem Unglück bewahren!“ „Das laſſen Sie meine Sorge ſein,“ antwortete ich herb. Er ſchwieg verletzt, und als gleich darauf mein Mann eintrat, ſtellte er ſich auf einen ausſchließlich ge⸗ ſchäftlichen Standpunkt und verhandelte nur mit ihm. Kurze Zeit darnach war die Angelegenheit entſchieden: Mit zwei anderen Herren übernahm Romberg das Archiv. Ich hatte im Augenblick meine ganze Zuverſicht wiedergewonnen und lud ihn ein, den Abſchluß fröhlich mit uns zu feiern. Aber er war ſchon abgereiſt. „Dann geben wir uns allein ein Feſt,“ meinte mein Mann; „wir haben Urſache genug dazu als ſelbſtändige Inhaber der Reuen Geſellſchaft!“ Doch es ſchien, als ſollte es nicht ſein. Zuerſt verſchlang die Arbeit unſere Zeit, und dann kam die Stimmung nicht wieder. Der Hader in der Partei nahm immer bös⸗ artigere Dimenſionen an. Was Bebel an Erklärungen und Artikeln veröffentlichte, das klang ſo maßlos, daß die Vizepräſidentenfrage und die Mitarbeit der Parteigenoſſen an bürgerlichen Blättern unmöglich die einzige Urſache ſeines Vorgehens ſein konnte. Er mußte irgendwo Parteiverrat wittern, wenn er alle politiſche Klugheit ſo völlig zu vergeſſen ver⸗ mochte und den Gegnern die bittere Pille der Wahl⸗ niederlage durch den Kampf in den eigenen Reihen verſüßte. „Die Zeit des Vertuſchens und Komödienſpiels iſt vorbei —,“ rief er; „jetzt heißt es Farbe bekennen, jetzt 497 gibt's kein Ausweichen mehr —,“ was hieß das anders, als daß Elemente in der Partei vorhanden waren, die nicht hinein gehörten, die entfernt werden mußten? „Die Maſſe der Parteigenoſſen halte die Augen auf mahnte er; was bedeutete das anders, als daß ſich Verräter in ihrer Mitte befanden? Aber während Bebels Zorn vom Feuer der Leidenſchaft noch immer verklärt erſchien, ſekundierten ihm die Zionswächter des Radikalismus mit der Kälte ſyſtematiſcher Verfolgungsſucht. Und nun er⸗ wachte im Proletariat, auf deſſen rohe Inſtinkte ſie ſpe⸗ kulierten, der Pöbel. Er warf ſich keifend auf alles, was nicht mit ihm lärmte. Wir, die wir dem Reviſionismus eine ſelbſtändige Zeitſchrift ſchaffen wollten, ſtanden, das zeigte ſich bald, mit auf der erſten Seite der Liſte der Konſkribierten. Roch ehe die erſte Rummer unſeres Blattes erſchienen war, wurde es als ein kapitaliſtiſches Unternehmen ge⸗ brandmarkt; von Mund zu Mund ging der Klatſch, daß wir einen reichen Gönner gefunden hätten, der es wie einen Sprengſtoff in die Partei werfen wollte, und in einer der wild erregten Verſammlungen, die dem Parteitag vorangingen, ſiel zum erſtenmal das verächt⸗ liche Wort, das wohlgefällig weitergetragen wurde: „Ge⸗ ſchäftsſozialiſten.“ Es traf mich wie ein Keulenſchlag. Eben erſt hatten wir eine geſicherte Exiſtenz von uns gewieſen, — und nun dies Wort!! Ich brütete ſtumm vor mich hin. Ich ging nicht auf die Straße, denn ich fühlte mich wie beſchmutzt. Was ich erlebte, war nur ein Teil deſſen, was allen begegnete, die unter dem Namen Reviſioniſten zuſammen⸗ Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 32 498 gefaßt wurden. Das zahnloſe alte Weib, der Klatſch, ging um mit den ewig beweglichen Lippen und den dürren Fingern, die in jeder Goſſe gierig wühlen. Als Mandatsjäger wurde der eine verdächtigt, als lügne⸗ riſcher Verleumder Bebels der andere. Und weſſen wir bisher fälſchlich beſchuldigt worden waren, — eine ge⸗ ſchloſſene Gruppe zu ſein, — das machte die Verfolgung aus uns. Den Kopf umnebelt von den giftigen Dünſten, die rings um uns aufſtiegen, erſchien uns der Haß der Perſonen, die uns bekämpften, als das Pri⸗ märe; kaum einer war, der noch wußte, daß es der Gegenſatz der Anſchauungen war, der ihn zeugte, und niemand gab zu, daß Bebel recht hatte, wenn er an kleinen Symptomen die ganze Richtung erkannte, — die Richtung, die ſeinen tiefgewurzelten Prophetenglauben, aus dem er die ganze Schwungkraft ſeiner Lebensarbeit ſog, erſchüttern mußte, wenn ſie zur allgemeinen Anerkennung kam. Wie ſich ſein Zorn und derer um ihn auf die Ein⸗ zelnen entlud, die im Augenblick als die Sünder er⸗ ſchienen, ſo entlud ſich der unſere auf einen Mann, der ſeit Jahren das Feuer ſchürte, das uns verbrennen ſollte, der, ohne ſich jemals in das Gewühl der Volks⸗ verſammlung zu wagen, von der Abgeſchiedenheit ſeiner Studierſtube aus Jeden verfolgte, der kein Buchſtaben⸗ gläubiger des Marxismus war. Seine glänzende jour⸗ naliſtiſche Fähigkeit hatte ihm ſeine Stellung geſchaffen; die fanatiſche Rückſichtsloſigkeit, mit der er ſeine Gegner verfolgte, hatte ſie erhalten helfen. Riemand wagte, ſich ihm entgegenzuſtellen. Selbſt ſeine Geſinnungs⸗ freunde fürchteten ihn, denn er haßte heute, was er geſtern noch liebte. 499 „Er iſt das böſe Prinzip der Partei,“ hieß es in unſerem Kreiſe, während tatſächlich nur der konſerva⸗ tive Radikalismus mit all ſeiner Unduldſamkeit, all ſeinem Dogmenglauben in ihm Fleiſch geworden war. „Wenn wir die Partei von ihm befreien können, ſo haben wir ſie gerettet,“ erklärten unſere Freunde. Meinen Mann packte der Gedanke wie keinen. Roch immer hatte ſeine überſchäumende Willenskraft ſich an Aufgaben erproben wollen, die niemand ſonſt übernahm. Er hörte um ſo weniger auf die warnenden Stimmen, die ſich erhoben, als ich ihn in ſeinem Vorhaben nur beſtärkte. Die Partei aus der inneren Zerrüttung er⸗ retten, in der ſie ſich befand, ſie einer neuen geſicherten Einheit entgegenführen, — keine Aufgabe wäre mir im Augenblick größer erſchienen. Es war am Abend vor unſerer Abreiſe nach Dresden, wo der Parteitag ſtattfand. „Es wird ein Kampf bis aufs Meſſer, ſagte Heinrich; „aber was auch kommen mag, mich ſoll's nicht kränken, wenn ich nur deiner ſicher bin! Ich legte beide Arme um ſeinen Hals: „Du kannſt es, Heinz! Roch niemals liebte ich dich ſo wie heut! Und zärtlich ſchmiegte ich meinen Kopf an ſeine Schulter, während mein Auge in demütiger Liebe an dem ſeinen hing. „Ihr törichten Frauen wollt in den Männern immer nur Helden ſehen,“ meinte er. Seine Lippen brannten auf meinem Mund. Wir vergaßen der Ehe, wie in allen glücklichen Stunden unſeres Lebens; — der Ehe, die alle Geheimniſſe ſchamlos ihrer Schleier beraubt, 32* 500 ſo daß die Liebe, die nur von Sehnſucht lebt, ſterben muß. Gegen Morgen weckte mich ein Schrei. Ich fuhr entſetzt aus dem Schlaf. „So bleib doch, Liebſte,“ flüſterte Heinrich traum⸗ befangen. Aber ſchon war ich im Rebenzimmer am Bett meines Kindes. Seine Wangen glühten, ver⸗ ſtändnislos irrten ſeine Augen an mir vorbei. Und wieder löſte ſich ein Schmerzensruf von ſeinen trockenen Lippen. Ich wickelte den zuckenden Körper in naſſe Tücher und ſchickte die Berta zum Arzt. Jetzt erſt er⸗ wachte mein Mann und erſchien an der Türe. „Papachen,“ ſagte der Kleine und verzog den Mund mühſam zu einem Lächeln. „Was iſt denn nur?!“ rief Heinrich mit gerunzelter Stirn und ungeduldiger Stimme; „komm doch ins Bett, — du erkälteſt dich ja! Ich lief ins Schlafzimmer zurück, um mir einen Mantel zu holen. „Du ſiehſt doch, — Ottochen iſt krank,“ flüſterte ich ihm im Vorübergehen zu. „Krank!“ wiederholte er laut und trat näher. „Richt wahr, mein Junge, dir fehlt nichts, — du träumteſt nur ſchlecht, — du ſiehſt ja rund und roſig aus, wie's liebe Leben!“ Mit einem ängſtlich fragenden Blick ſah der Kleine von einem zum anderen. „Gewiß, Papa, gewiß,“ ſagte er dann mit ſtockender Stimme, „jetzt iſt ſchon alles wieder gut.“ Aber ſeine tränenumflorten Augen, die flehend zu mir aufſahen, ſein heißes Händchen, das krampfhaft meine Finger 501 umſchloß, ſtrafte ſeine Worte Lügen. Ich drängte Hein⸗ rich hinaus. Wo nur die Berta blieb? Warum der Arzt nicht kam? — Im Wohnzimmer ſchlug die Uhr ſieben. „Es iſt die höchſte Zeit, daß du dich anziehſt, Alix, rief Heinrich. Wir hatten uns mit unſeren Freunden für den Achtuhrzug verabredet. Ich wechſelte raſch die Kompreſſe auf der brennenden Stirn meines Kindes und ging ins Schlafzimmer. „Selbſtverſtändlich bleibe ich hier,“ ſagte ich, die Stimme dämpfend. „Das wäre noch ſchöner!“ antwortete er heftig. „Wegen eines Schnupfens, den der Junge im ſchlimmſten Fall kriegen wird, willſt du in dieſem Augenblick mich und die Sache im Stiche laſſen! Ich fühlte, wie das Blut mir ſiedendheiß in das Antlitz ſchos: „So ſprich doch wenigſtens leiſe —“ Aber Heinrich wollte nicht hören: „Du weißt, was auf dem Spiele ſteht, — du kommſt mit,“ ſchrie er mich an, und ſeine Hand umkrallte meinen Arm. „Und wenn die ganze Partei darüber zugrunde ginge, — ich bleibe hier,“ ziſchte ich, außer mir vor Empörung. „Mama, — Mama!“ rief eine ſüße weinende Stimme. Der Kleine ſtand auf der Schwelle, mit angſtvoll auf⸗ geriſſenen Augen, wie im Schwindel auf den bloßen Füßchen hin und her ſchwankend. Auf meinen Armen trug ich ihn ins Bett zurück und riegelte die Tür hinter uns zu. Nach kurzer Zeit hörte ich Heinrich das Haus verlaſſen. Ich fühlte keinen Schmerz, — nur eine ungeheure Leere in meinem Herzen. Darüber nachzu⸗ grübeln, war ich nicht imſtande: in wilden Fieberphan⸗ taſien wälzte ſich mein Kind auf ſeinem Lager. 502 Kaum in Dresden angekommen, telegraphierte mir mein Mann: „Verzeih. Wie geht es?“ Mußte ich ihm nicht jetzt, wo er ſo ſchweren Stunden entgegenging, die Wahrheit ſchonend verſchweigen?! Aber warum dieſe Rückſicht?! War er doch mehr als ſchonungslos, war grauſam geweſen! Rie würde ich ihm das ver⸗ zeihen können! „Otto ſchwere Blinddarmentzündung,“ antwortete ich kurz, dem Ergebnis derärztlichen Unterſuchung entſprechend. Zwei Tage vergingen und zwei Rächte. Roch immer ſtieg das Fieber; der kleine Körper krümmte ſich vor Schmerzen. Die Schreie der Angſt wurden ſchwächer; an ihre Stelle trat ein Wimmern — jammervoll, ununterbrochen. Ich wich nicht von dem kleinen Bett. Wenn ich die Hand auf das heiße Köpfchen des Kranken legte, ſchien er für Augenblicke ruhiger, wenn ich mich ganz dicht an ihn ſchmiegte, verlor ſein Blick den Ausdruck tiefen Ent⸗ ſetzens. Einmal glaubte ich ſchon beglückt, er ſchliefe. Da riß er ſich ungeſtüm aus meinen Armen, richtete ſich hoch auf, ſtarrte mich verſtändnislos an und ſchrie: „Mama, — Mama, — warum biſt du ſo weit, — ſo weit weg, — ich ſehe dich gar nicht mehr —“ und in ver⸗ zweifeltem Schluchzen bebten ſeine Schultern. Das Herz krampfte ſich mir zuſammen, — und doch hatte ich noch Kraft genug ihm beruhigend zuzulächeln, während ich den kleinen Körper wieder in naſſe Tücher hüllte. Er wurde ſtill, er ſchloß die Augen, er atmete regelmäßiger. Aber in meinen Ohren dröhnten ſeine Worte: warum biſt du ſo weit weg! Er hatte mich angeklagt, — und ich ſprach mich ſchuldig: War ich nicht Tage, Wochen, Monde lang von meinem Sohn „weit weg“ geweſen?! 503 War nicht auf ſeinen Gedankenwegen mit ihm gegangen, — hatte nicht mit ſeinem Herzen gefühlt, — mit ſeinen Augen geſehen? Wenn er nun mich verlaſſen wollte?! Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. An ſeinem Bette ſank ich in die Kniee; ich faltete die Hände auf ſeinen Kiſſen; — ich betete. Richt zu den Schutzengeln, die mir ein Märchen waren, nicht zu dem Chriſtengott, den ich nicht kannte. Mein Gebet war voll Frömmig⸗ keit, ob es auch keine Worte hatte, mein Gebet war voll Glauben, ob es auch glaubenslos war, mein Gebet war voll Kraft, denn es richtete ſich nicht gen Himmel, — es brachte dem Heiligtum des Lebens mich ſelbſt zum Opfer dar . . . Der grauende Tag kroch durch die Fenſter. Mein Kind ſchlief mit einem Lächeln um die blaſſen Lippen. Ich küßte es leiſe. Mir war, als wäre ich erſt in der letzten Racht ſeine Mutter geworden. Draußen läutete es. Es war der Telegraphenbote: „Wie geht es? Rege dich über Zeitungen nicht auf. Ich mußte den zweiten Satz noch einmal leſen; gab es noch irgend etwas in der Welt, über das ich mich nach dieſer Racht hätte aufregen können?! Ja ſo! Der Parteitag, — ich hatte nichts geleſen. „Otto beſſer. Bin ruhig. Wünſche dir das Beſte,“ antwortete ich. Während Berta mich bei dem Kranken vertrat, las ich die Berichte. Ich erſchrak, als ich ſah, daß Hein⸗ rich entgegen ſeiner Abſicht, durch den Artikel eines ſächſiſchen Parteiblattes herausgefordert, in der Dis⸗ kuſſion über die Mitarbeit von Genoſſen an der bürger⸗ lichen Preſſe als Erſter geſprochen hatte. Die ganze Erregung über unſer Auseinandergehen, die wachſende 504 Sorge um das kranke Kind mußte ihn beherrſcht, ſeine Stimmung beeinträchtigt haben. Und ich fühlte zwiſchen jeder Zeile der Rede die Bitterkeit ſeines Herzens, die quälende Angſt. Über jenen Mann hatte er geſprochen, der ſich herausnahm im Kampf gegen uns den Ton an⸗ zugeben, der uns um einiger Artikel in einer bürger⸗ lichen Zeitſchrift willen wie Verräter verfolgte; und er hatte ihn gekennzeichnet, als das, was er war: ein doppelter Renegat, in der Jugend Sozialdemokrat, gleich darauf der Verfaſſer einer der giftigſten Schmähſchriften gegen die Sozialdemokratie, nach wenigen Jahren wieder Mitglied der Partei, und jetzt: ihr unfehlbarer Sitten⸗ richter. Keiner, ſo ſchien mir, würde ſich dem Eindruck der Rede meines Mannes entzogen haben, wenn nicht in jedem Ton die Aufregung gezittert hätte, deren Ur⸗ ſache niemand kannte als ich. Immer wieder hatte ihn Bebel unterbrochen, mit ſtets geſteigerter Heftigkeit, und jeder Zuruf mußte meinen Mann, deſſen ganze Seele wund war, doppelt ſchmerzhaft treffen. Und dann waren ſie alle über ihn und uns hergefallen, und am tollſten hatten uns, die freien Schriftſteller — „frei“ wie der Lohnarbeiter, der ſeinem Verdienſt nachgehen muß —. die Genoſſen geſchmäht, die in ſicheren Parteipfründen ſaßen. Ein Gefühl von Ekel ſtieg mir bis zum Hals. Wie hatte doch Romberg einmal geſagt? „Durch eine beſtimmte Perſonengruppierung kann eine Sache rettungs⸗ los verloren gehen.“ War dieſe Geſellſchaft wütender Proleten wirklich noch der würdige Träger der menſch⸗ heitbefreienden Gedanken des Sozialismus? In einem kurzen Brief, den ich von Heinrich erhielt, hieß es: „ . . . Die Lage der Dinge iſt unbeſchreiblich. 505 Die eingeſchloſſene Luft in dieſem engen halbdunkeln Saal ſcheint gefüllt mit Sprengſtoff. Das gezwungene dicht Rebeneinanderſitzen erhöht die Reizbarkeit ... Bebel iſt ſelbſt für Freunde, die ihn beruhigen wollen, unnah⸗ bar. Er hat ſich ſtundenlang in ſein Hotel zurückge⸗ zogen und hat den Ausdruck eines Rachegottes, wenn er wieder erſcheint. Warum? Riemand weiß es. Er ſoll ſich während der Wahlkämpfe überanſtrengt haben, ſagen die einen; die Erbſchaft, die ein bayeriſcher Offizier ihm hinterließ, und das, was an Pro⸗ zeſſen mit den Verwandten dieſes Offiziers darum und daran hängt, ſoll ihn aufregen, meinen die anderen. Jedenfalls kommt mehr denn je alles auf ſeine Haltung an; und ſein Benehmen mir gegenüber läßt wenig Gutes hoffen. Übrigens ſcheint er auf uns beide ganz beſonders wütend zu ſein. Als Wanda Orbin die Mitarbeit an bürgerlichen Blättern als todeswürdiges Verbrechen kennzeichnete und dabei von den ſündigen „Genoſſen“ ſprach, rief er wiederholt mit ſtarker Be⸗ tonung dazwiſchen: „Und Genoſſinnen!“ Damit biſt Du in erſter Linie gemeint . . . Man ſpricht von einer Reſolution, durch deren Unannehmbarkeit die Reviſio⸗ niſten hinausgedrängt werden ſollen . . . Seltſam, wie kühl, faſt gleichgültig ich dieſer Möglich⸗ keit gegenüber blieb. Gegen Abend fieberte mein Kind wieder. Es phan⸗ taſierte von Rieſen, die das Zimmer füllten, und am Morgen war mir, als ob ich die ganze Racht mit ihnen hätte ringen müſſen, um ſie vom Bett meines Lieblings fernzuhalten. Ich fühlte mich zu Tode er⸗ ſchöpft. 506 „Wir ſind noch nicht über den Berg,“ ſagte der Arzt mit einem ernſten Geſicht, „aber Sie ſollten ſich trotz⸗ dem ſchonen —. „Ich bin die Mutter,“ unterbrach ich ihn. „Gerade darum,“ antwortete er. Aber wie konnte ich von meinem Sohne weichen, ſo⸗ lange ſeine Augen ſich trübten, wenn ich den Platz an ſeinem Bett verließ! Während er ein paar Bleiſoldaten auf den weißen Berg ſeiner Kiſſen klettern ließ, überflog ich zerſtreut den neuen Parteitagsbericht. Erſt Bebels Rede fina an, mich zu feſſeln. Er zählte die Sünden jener Wochen⸗ ſchrift auf, für die wir fünf. Angeklagten geſchrieben hatten: Vor genau zehn Jahren hatte deren Herausgeber ihn als „rote Primadonna“ verulkt. Ich ſtaunte: ſollte Bebel, der große Bebel, von ſo kleinlicher Empfindlich⸗ keit ſein, daß er dergleichen Rebenſächlichkeiten als un⸗ auslöſchliche Kränkungen empfand?! Und im vorigen Jahre während des Zollkampfes hatte derſelbe Redakteur ſich gegen die Obſtruktionspolitik der Sozialdemokraten ausgeſprochen. War das nicht ſein gutes Recht? Sollte er ſelbſt mit ſeiner Überzeugung hinter dem Berge halten, wenn er allen ſeinen Mitarbeitern die vollſte Meinungs⸗ freiheit gewährte? Ich las weiter. Ich rieb mir die Augen, — vielleicht war ich es jetzt, die fieberte, — der Kopf fing an, mir zu brennen. Ich las noch einmal. Aber ich irrte mich nicht. Hier ſtand es, ganz deutlich, und noch unter⸗ ſtrichen durch den „ſtürmiſchen Beifall“, mit dem es begrüßt worden war: „Es gibt unter uns Marodeure, die ein ſolches Blatt unterſtützen —“, „Elemente, die 507 moraliſch tief geſunken ſind —“, „ihnen gebührt nichts anderes, als ein kräftiges Pfuil Griff mir nicht eine rohe Fauſt an die Kehle —, traten die Augen nicht ſchon aus ihren Höhlen? Und der Boden unter mir, auf dem ich ſtand, ſchwankte er nicht? — — Meine Familie, meine Freunde, meine Exiſtenz, — alles hatte ich der Partei geopfert, — und jetzt kam dieſer Mann und beſchimpfte mich, weil ich ein paar literariſche Kritiken in ein Blatt geſchrieben hatte, das ihm nicht paßte?! Er, dieſer Ritter der Frauen, hatte den traurigen Mut, mich vor der ganzen Welt für ehrlos zu erklären?! Ich ſprang vom Stuhl, — vergaß mein krankes Kind, — und lief ins Reben⸗ zimmer. Dort in der alten Truhe lag ſie noch, — meines Vaters Piſtole! Wenn ich ein Mann wäre —! Meine Hand krampfte ſich um ihren Griff, mein Finger ſuchte den Hahn. Wenn mein Vater noch lebte! Vor ihre Mündung würde er den Räuber meiner Ehre fordern! „Mama!“ rief es von nebenan. Ich ſtrich mit der Hand über meine heiße Stirn und warf mit einem ſpöttiſchen Achſelzucken über die romantiſche Anwand⸗ lung, die ich eben gehabt hatte, die alte Piſtole in die Truhe zurück. Ich ſtehe ja nicht allein, dachte ich; mein Mann, der auf die kleinſte Kränkung, die mir angetan wird, mit hellem Zorn reagiert, hat mich in dieſem Augenblick ſchon verteidigt, und die anderen alle, die getroffen wurden, genau wie ich, werden zu flammendem Proteſt einmütig zuſammenſtehen. Aber ſchon, daß die Diskuſſion ohne Unterbrechung ihren Fortgang genommen hatte, machte mich ſtutzig. Freilich, der eine der Angegriffenen, der eben einen 508 Wahlkreis erobert hatte wie wir, verteidigte ſich in auf⸗ flammender Empörung. „Auch dem Parteiführer, der die Ehre eines Menſchen beſchmutzt, gebührt ein Pfui,“ rief er aus. Aber mitten in ſeiner Rede war er imſtande geweſen, mit ſentimen⸗ taler Rührung von der Verehrung zu erzählen, die er für den Beleidiger empfunden hatte! Ich ſchämte mich, auch nur mir ſelbſt ſolch ein Gefühl zuzugeben. Und als Bebel nachher ein paar väterliche Worte der An⸗ erkennung für ihn ausſprach, bedankte er ſich dafür! Der andere ſtimmte ſeine Rede auf denſelben Ton und ſprach von der ganz beſonderen Verehrung, die er für den Veteranen der Partei ſtets empfunden habe. Der Dritte endlich brauſte zwar in jugendlichem Eifer auf, hatte aber ſchon vorher reumütig abgebeten. Ich ſchüttelte mich. Wer ſich ſo behandeln ließ, war wert, daß er ſo behandelt wurde. Mein Mann, dachte ich triumphierend, wird anders zu ſprechen wiſſen! Jetzt endlich fand ich ſeinen Namen unter den Red⸗ nern. Unwillkürlich ſuchte ich zuerſt nach den Zwiſchen⸗ rufen, nach den wilderregten Szenen, die ſein Zorn hervorrufen mußte; — und da ſtand es ja ſchon: „ſtürmiſche Unterbrechungen“ — „große Unruhe“ — „Skandal“. Aber das bezog ſich gar nicht auf eine Zurückweiſung der Beleidigungen Bebels. Meine Hände, die das Blatt hielten, begannen zu zittern. Wie?! Auch was er ſagte, klang wie eine halbe Entſchuldigung?! „Wir ſind entſchloſſen, an der fraglichen Wochenſchrift nicht mehr mitzuarbeiten, da das Intereſſe der Partei es fordert . . .“ Und dann: „Ich erwarte von Bebel, 509 daß er das ſchwere und bittere Unrecht, das er begangen hat, einſieht und durch eine Erklärung gut zu machen ſucht.“ War das alles? Wirklich alles?! Ich ballte die Hände und drückte die Rägel ins Fleiſch, ich preßte die Zähne aufeinander, daß ſie knirſchten. Rur nicht weinen, nur jetzt nicht weinen, — wiederholte ich immer wieder. Die große Uhr über dem Schreibtiſch tickte laut und vernehmlich, — meines Vaters Uhr, die ich vor fremden Händen gerade noch gerettet hatte. „Er hat dich nicht verteidigt, — nicht verteidigt — ſagte ſie unaufhörlich; oder war es des Vaters Stimme? — „Richt verteidigt — Ich ſchrieb an den Vorſitzenden des Parteitags und forderte ihn auf, Bebel zu einer Rücknahme ſeiner Be⸗ leidigung zu veranlaſſen. Mein Wunſch wurde ab⸗ gelehnt. Ich verlangte ein Schiedsgericht, das über meine Ehre entſcheiden ſollte. „Wegen der Meinungs⸗ äußerung eines Genoſſen über den anderen kann ein ſolches nicht angerufen werden,“ lautete die Antwort. Jetzt alſo war ich vogelfrei; ausgeſtoßen aus meiner alten Welt, als Ehrloſe gebrandmarkt in der neuen! Ich wurde merkwürdig ruhig. Ich ſpielte lächelnd mit meinem Sohn, dec ſich langſam erholte. Es gab Stunden, in denen ich dem Schickſal dankbar war, das mich an dieſe Stelle zwang, das es mir deutlicher ſagte, als Worte es je vermocht hätten: dein Kind allein iſt deine Welt. Faſt mechaniſch, intereſſelos, fing ich wieder an, die Berichte zu leſen. Inzwiſchen war die Abſtimmung über die Erklä⸗ rung des Parteivorſtandes zur Frage der Mitarbeit 5I0 von Genoſſen an bürgerlichen Preßunternehmungen vor ſich gegangen. Mit überwältigender Mehrheit war ſie zur Annahme gelangt. Ich lachte unwill⸗ kürlich laut auf. So orthodox war bisher nicht einmal die Kirche geweſen! Sie war viel zu klug dazu; ſie benutzte jede Tribüne, wenn es galt, auch nur eine Seele zu gewinnen. „Richt darauf kommt es an, wo Parteigenoſſen ſchreiben, ſondern was ſie ſchreiben. Je mehr ſie mit ihrer Überzeugung und ihrer Perſon in die Reihen der uns noch feindlich Geſinnten eindringen, deſto beſſer iſt es für unſere Sache, denn wir ſind keine Sekte, die ſich zu ihrem Gottesdienſt in ihrer Kapelle verſchließt, ſon⸗ dern eine Bewegung, die der ganzen Menſchheit dienen und die Welt erobern will . . . Das wäre eine unſerer ſozialiſtiſchen Grundſätze wür⸗ dige Erklärung geweſen. Niemand beantragte ſie. Nur vierundzwanzig — unter ihnen mein Mann, Göhre, Vollmar — hatten den Vorſtandsbeſchluß abgelehnt. Und nun ſtand der zweite Streitpunkt: die Taktik der Partei, die Vizepräſidenten⸗Frage, auf der Tagesordnung. Bebel referierte. Nach allem Vorhergegangenen er⸗ wartete ich eine wütende Philippika. Aber das, was er ſagte, übertraf jede Erwartung. War das derſelbe Bebel, der in Hannover ſo klug und ſo einſichtig ge⸗ weſen war? „Mie und zu keiner Zeit waren wir in der Partei uneiniger als jetzt —;“ das erklärte er, nachdem wir eben einmütig den größten politiſchen Sieg erfochten hatten! „So geht's nicht weiter, — jetzt müſſen wir endlich reinen Tiſch machen,“ und: „Wer nicht pariert, 5II der fliegt hinaus!“ War das noch die Sprache des Führers einer demokratiſchen Partei, oder nicht viel⸗ mehr die eines Diktators? Er ſprach von den Reviſio⸗ niſten als von den Leuten, die mit der Bourgeoiſie lieb⸗ äugeln, und verlangte, daß man ſie öffentlich denunzieren müſſe, damit die Genoſſen ſich vor ihnen hüten könnten. Er erklärte auf der einen Seite, um einen Gewerkſchafts⸗ antrag zu Falle zu bringen, daß es für die Fraktion viel zu ſchwierig ſei, ganze Geſetzesvorlagen auszuarbeiten, und verſicherte auf der anderen, daß, wenn die Partei. heute zur Herrſchaft im Staate käme, ſie ſchon morgen wiſſen würde, was ſie zu tun habe. Der heimliche Haß gegen die Akademiker, durch den er die Maſſe des Prole⸗ tariats unzerreißbar mit ſich verband, ohne zu fühlen, daß er dem erſten Grundſatz des Sozialismus dadurch ins Geſicht ſchlug, durchglühte ſeine Rede. „Seht Euch die Akademiker dreimal an, ehe Ihr ihnen Vertrauen ſchenkt!“. „Stürmiſcher Beifall“ ſtand daneben. Und doch waren es Akademiker geweſen, die dem Proletariat die Organiſation, ſeiner Bewegung die Grundlage und das Ziel gegeben hatten. Schließlich warnte er noch vor „dem anderen Teil der Reviſioniſten, den Proletariern in gehobenen Lebensſtellungen“. Und niemand lachte ihm ins Geſicht, — und niemand wies mit Fingern auf die, die Beifall jauchzten: Gaſt⸗ wirte, Redakteure, Parteibeamte, lauter eheinalige Prole⸗ tarier in gehobenen Lebensſtellungen, — und ihn ſelbſt, der ein wohlhabender Mann geworden war. Fielen denn heute lauter Schleier von meinen Augen, oder war ich nur vorher blind geweſen? Rach ihm ſprach Vollmar. Er zeigte, wie die Partei 512 ſeit Jahren angeſichts der praktiſchen Forderungen des Tages ein Vorurteil nach dem anderen habe fallen laſſen, wie zum eiſernen Beſtand ihrer Taktik geworden ſei, was kurz vorher als hochverräteriſche Forderung gebrand⸗ markt worden war. Dann aber wandte er ſich per⸗ ſönlich gegen Bebel, — der erſte und der einzige, der es mit der Autorität ſeines Ramens zu tun vermochte. „Ein ungezügeltes Temperament ſchadet nicht nur auf Fürſtenthronen, ſondern auch auf denen der Partei, rief er aus. „ . . . In welchem Ton hat Bebel ſich an die ganze Partei gewandt? „Ich werde nicht dulden ...“, „Ich werde den Kopf waſchen . . .“, „Ich werde Abrech⸗ nung halten“. Ich, ich, ich — ſo hat der Lordprotektor Cromwell zum langen Parlament geſprochen . . . Ich atmete tief auf. Auch eine Verteidigung meiner Ehre war dieſe Anklage geweſen. Rur eins verſtand ich nicht: er betonte die innere Einheit der Partei mit derſelben Schärfe, wie Bebel ſie geleugnet hatte. Wie konnte er nur?! Wären all die Wutausbrüche dieſes Harteitages möglich geweſen, wenn eine innere Einheit beſtanden hätte? Sie waren doch nichts anderes als Symptome der Zerriſſenheit. Aber die Reviſioniſten ſchienen ſich das Wort gegeben zu haben, Vollmars An⸗ ſicht nicht nur zu teilen, ſondern zu unterſtreichen. Die⸗ ſelben Männer, die ſtändig und, wie mir ſchien, mit Recht dieſe und jene Programmforderungen der Sozialdemo⸗ kratie kritiſierten und einer Umänderung für bedürftig hielten, erklärten plötzlich, daß prinzipielle Gegenſätze nicht vorhanden ſeien. War das Feigheit oder nur Schwäche? — Schwäche, die in ihren Folgen viel gefährlicher iſt als ſie? Und ich befand mich plötzlich 513 in Übereinſtimmung mit einem der ſchroffſten Radikalen in der Partei: „Das iſt ja der Jammer des deutſchen Reviſionismus, daß er nie mit einem beſtimmten Pro⸗ gramm hervorkommt,“ ſagte Kautsky, nachdem er verſucht hatte, den auch ſeiner Anſicht nach vorhandenen Gegen⸗ ſatz als den zwiſchen der Zuſammenbruchs⸗ und der Evolutionstheorie zu kennzeichnen; „die einen erwarten die Befreiung von der ſozialen Revolution, die anderen von der allmählichen Entwicklung.“ Mein Mann ſchrieb mir noch einmal: „Für die Partei wird dieſe traurige Tagung mit ihren zahlloſen Hinter⸗ gründen von Gemeinheit, Klatſch und Verhetzung ſchließlich noch zum guten Ende führen. Der Reſolution des Parteivorſtandes zur Frage der Taktik ſind ihre ſchärfſten Spitzen, auf denen wir geſpießt werden ſollten, genommen worden, und ihre einmütige Annahme ſcheint danach geſichert, was den Frieden in der Partei wieder herſtellen wird.“ Ich antwortete umgehend: „Ich verſtehe Dich und die anderen nicht. Selbſt wenn die Reſolution ihrem Wortlaut nach annehmbar wäre, ſo iſt ſie es ihrem Sinn nach nicht, und Euer Ja bedeutet keinen Frieden, ſondern Unterwerfung. Ich bedaure, bei der Abſtim⸗ mung nicht zugegen zu ſein. Ich würde, — und wenn ich die einzige bliebe, — laut und deutlich Rein ſagen.“ Als ich den Wortlaut der Reſolution zu Geſicht be⸗ kam, wurde mir die Haltung der Reviſioniſten vollends unverſtändlich. Wie viele unter ihnen hatten dem Ein⸗ tritt des Sozialdemokraten Millerand in das franzöſiſche Miniſterium zugeſtimmt, hatten eine allmähliche Erobe⸗ rung der Regierungsgewalt überall für möglich, ja für Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 33 514 wahrſcheinlich erklärt, und jetzt beugten ſie ſich einer Reſolution, in der es hieß: Die Sozialdemokratie kann einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Geſellſchaft nicht erſtreben. Wie viele ver⸗ urteilten laut und leiſe die lediglich negierende Haltung der Partei gegenüber der Kolonialpolitik, und jetzt ver⸗ pflichteten ſie ſich ſelbſt zum „energiſchen Kampf“ gegen ſie. Aber daß dreihundert ja ſagten, traf mich immer noch nicht ſo tief, als daß Heinrich unter ihnen war. Mein Kind lag noch immer. Den Geneſenden zu beſchäftigen, koſtete faſt noch mehr Zeit, als den Kranken zu pflegen. Herriſch ver⸗ langte der kleine Tyrann immer wieder nach Mama, wenn Berta mich ablöſen wollte. Aber meine Gedanken waren doch wieder frei, und wenn er zur Ruhe ge⸗ bracht worden war, konnte ich, wenn auch mit mattem Blick und müden Händen, in den Trümmern meines Lebens ſuchen, was zu neuem Aufbau noch ſtark genug war. Und ich fand eine unerſchütterte Grundmauer: meine politiſche Überzeugung! Vor der Partei konnte ein Bebel mich diskreditieren, konnte mir die Arbeit in ihren Reihen kraft ſeines Bannfluchs unmöglich machen. Aber erſchöpfte ſich denn der Sozialismus in der Partei? Mein Verſtand war befriedigt, und doch blieb es ſo kalt, ſo leer in mir. Ich ſah mich ſuchend um, — war die Wärme und die Farbe aus meinem Leben gewichen? Ach, im Garten meiner Liebe waren alle Blumen ge⸗ knickt! Hatte der eine rohe Griff meines Gatten ſo viel vernichten können? Oder war es nur ein letzter Herbſt⸗ 515 ſturm geweſen, der die ſchon lange heimlich welken endgültig von den Stielen riß? Eines Abends, ganz plötzlich, öffnete ſich die Türe, und Heinrich ſtand vor mir. Wie ſah er aus! Aſch⸗ fahl, die Augen tief in den Höhlen, dunkel umſchattet, die ganze Geſtalt gebeugt. „Heinz!“ ſchrie ich auf und ſchlang die Arme um ihn. „Wenn du mich nur noch liebſt — du,“ flüſterte er und bedeckte mein Antlitz mit Küſſen. „Ich fürchtete mich vor der Heimkehr, weil ich dachte, ich könnte auch dich verloren haben, — aber nun iſt alles gut, — nun mögen ſie mich ſteinigen. Ich fühle nichts, nichts als Seligkeit, weil deine Liebe mich unverwundbar macht! Mir ſtürzten die Tränen aus den Augen, — Tränen der Reue, des Schmerzes. Er ſollte nicht umſonſt an meine Liebe geglaubt haben. War es nicht Liebe, die wieder erwachte, da er ſo zerſchlagen vor mir ſtand? Ich erfuhr allmählich, was geſchehen war. Artikel, Erklärungen, Briefe legte er mir vor, voll wütender Angriffe auf ihn, den „Urheber des Dresdener Partei⸗ tages“, den „geiſtigen Vater eines nie dageweſenen Parteiſkandals“, voll niedriger perſönlicher Verleum⸗ dungen. Selbſt in unſerem Leben wühlten fremde Hände, und unter ihrem Griff wurde auch das Reinſte ſchmutzig. Es war ein grauer Herbſtabend mit tiefhängenden Wolken und langen Schatten in den Zimmern. Ich kauerte in der Ecke des Sofas, unfähig, mich zu rühren, wie zerprügelt. Heinrich ging auf und nieder, raſtlos, — hie und da griff er mit der Hand nach ſeinem Kopf, als ob er ſich vergewiſſern müſſe, daß er noch lebe. „Nach meiner erſten Rede ſchon ſagte mir Victor 33* 516 Geier: „Das iſt politiſcher Selbſtmord“. Als ich dann Bebel antworten wollte, wie es nach ſeinem Angriff allein richtig geweſen wäre,“ — ſo hatte mich Heinrich doch verteidigen wollen! — „da haben ſie mich alle be⸗ arbeitet, haben im Ramen des Parteiintereſſes an mich appelliert, und ich war ſo töricht, durch all die wider⸗ wärtigen Szenen ſo erſchöpft, daß ich mich wirklich unterwarf. Was nützte es?! Richts! Der Skandal nahm ſeinen Fortgang. Und auf der Strecke bleibe ſchließlich ich allein!“ Einige Tage ſpäter kam Geier zu uns. Die erſte Rummer der Reuen Geſellſchaft war eben in hundert⸗ tauſend Exemplaren verbreitet worden. „Ich muß mit Ihnen reden, Genoſſin Brandt,“ ſagte er nach einer raſchen Begrüßung. „Sie haben ſich, fern von Dresden, hoffentlich ſo viel kühle Überlegung bewahrt, um eher Vernunft anzunehmen als Ihr Mann.“ Und dann ſetzte er mir auseinander, was ſeiner Mei⸗ nung nach geſchehen müſſe. Zunächſt habe ſich Heinrich dem Schiedsſpruch eines Parteigerichts zu unterwerfen. „Vielleicht einem ſo objektiven Richter wie Bebel —, warf ich bitter ein. „Stehen Sie erſt einmal am Ende der Laufbahn und müſſen zuſehen, wie andere den ganzen Gewinn Ihrer Lebensarbeit in Frage ziehen!“ rief Geier heftig, um ſich gleich darauf wieder zur Ruhe zu zwingen. „Ohne eine Rüge wegen ſeiner Dresdener Rede wird es natürlich nicht abgehen,“ fuhr er fort, „im übrigen aber, dafür lege ich jetzt ſchon meine Hand ins Feuer, werden ſich alle Verleumdungen als ſolche erweiſen, und 517 Heinrich wird nachher eine geſichertere Stellung haben als zuvor.“ „Du weißt, daß ich die Einſetzung eines Schieds⸗ gerichts in meinem Wahlkreis bereits ſelbſt veranlaßt habe,“ unterbrach ihn mein Mann, „wozu alſo das Ge⸗ rede?! Komm lieber gleich zur Sache! „Wie du willſt,“ antwortete Geier ruhig und wandte ſich wieder mir zu. „Er hat Sie, wie es ſcheint, von meiner anderen Forderung noch nicht unterrichtet: das Erſcheinen der Neuen Geſellſchaft einzuſtellen.“ Ich fuhr auf: „In dieſem Augenblick ſollen wir unſere einzige Waffe von uns werfen?! „Eine nette Waffe!“ höhnte Geier. „Solange das Dresdener Spektakelſtück noch in aller Munde iſt, werden vielleicht ein paar Dutzend Leute euer Blatt kaufen. Aber über kurz oder lang bleibt euch von der Waffe nichrs mehr als eine zerbrochene Klinge.“ „Wir haben ſchon ein kleines Vermögen in die Sache hineingeſteckt —,“ murmelte ich mit gepreßter Stimme. „Kann mir's denken,“ meinte Geier und kräuſelte ſpöttiſch die Lippen; „vorſichtige Geſchäftsleute ſeid Ihr offenbar nicht. Aber ſo rettet wenigſtens, was zu retten iſt!“ Heinrichs Geſicht hatte ſich mehr und mehr gerötet. Jetzt blieb er dicht vor Geier ſtehen. „Du benutzt unſere Rotlage, um die Partei von einem reviſioniſtiſchen Blatt zu befreien,“ ziſchte er ihn an. Mit einer heftigen Bewegung ſprang Geier vom Stuhl und hieb mit der Fauſt auf den Tiſch: „Ich komme nach Berlin gereiſt, um euch einen Freundſchafts⸗ dienſt zu erweiſen, und du begegneſt mir ſo —. Stürze 518 dich denn meinetwegen kopfüber in dein Verderben —“ Und hinaus war er. Wir gingen tagelang ſchweigſam nebeneinander her. Inzwiſchen fanden überall Parteiverſammlungen ſtatt, die ſich mit den Dresdener Ereigniſſen und ihren Folgen beſchäftigten. In den Angriffen auf die Reviſioniſten, ganz beſonders auf meinen Mann, übertrafen ſie noch den Parteitag. Und ſtets wurde vor der Zeitſchrift gewarnt, mit der wir uns „auf Koſten der Partei“ be⸗ reichern wollten. Es gab keinen Ausweg mehr, als ſie zunächſt aufzugeben. Wir hatten die Mittel nicht, um ſie gegen die herrſchende Stimmung in der Partei durch⸗ zuſetzen. „Alle freiheitlichen Elemente hatten ſich am 16. Juni um Ihre Fahnen geſchart,“ ſchrieb mir Romberg, „weil ſie, von den bürgerlichen Parteien im Stiche gelaſſen, bei der Sozialdemokratie den Schutz der Geiſtesfreiheit, den Hort des Kulturfortſchritts zu finden glaubten. Dresden hat dieſen Wahn zerſtört, hat gezeigt, daß der Dogmatismus, die Verfolgungsſucht Andersdenkender, kurz die ganze Seelenverfaſſung der Inquiſitoren, nir⸗ gends in ſo kraſſer Form zu finden iſt, als bei den privilegierten Menſchheitsbefreiern. Wir ſind nun wieder vogelfrei. Und Sie?!“ 519 In der Nacht, nachdem unſere zweite und letzte Nummer erſchienen war und wir wieder ſchlaf⸗ los den huſchenden Wolken draußen und der wachſenden Mondſichel zuſahen, ſagte Heinrich zu mir: „Was meinſt du, wenn ich ginge? Zuerſt verſtand ich ihn nicht, — dann aber packte ich mit aller Kraft ſeine beiden Hände und ſah ihm mit ſtummem Entſetzen in das blaſſe Geſicht. „Ich warnte dich ſchon einmal, — vor Jahren,“ fuhr er leiſe und langſam fort. „Ich bringe Allen Unglück⸗ — dir, — der Partei. Mir ſcheint, ich habe hier nichts mehr zu tun.“ Ich ſtammelte in heller Angſt tauſend Liebesworte, ich ſchmiegte mich an ihn, als ob ihm aus meiner Lebenswärme Lebensmut zuſtrömen könnte. Aber er blieb ernſt und feſt und wußte immer neue Gründe nicht nur für die Berechtigung, ſondern für die Rotwendigkeit ſeiner Abſicht vorzubringen. Rach alter Gewohnheit pochte morgens unſer Bub an die Türe und ſprang herein, ohne unſere Aufforde⸗ rung abzuwarten. Es war das erſtemal nach ſeiner Krankheit, daß er ſo früh ſchon aufſtehen durfte. Er kletterte eilig auf Heinrichs Bett und ſah ihn an, halb überraſcht, halb erſchrocken. Mit jenem rätſelvollen Scharfblick des Kindes ſchien er das Fremde, Dunkle erkannt zu haben, das von der Seele ſeines Vaters Be⸗ ſitz ergriffen hatte. Er legte ihm das Händchen auf den Kopf; „ſo hat Mama auch gemacht, wie ich krank war,“ erzählte er wichtig, und dann küßte und ſtreichelte 520 er „den lieben, guten Papa“, bis ſich doch noch ein Lächeln um deſſen feſtgeſchloſſene Lippen ſtahl. „Haſt du wirklich hier nichts mehr zu tun?!“ fragte ich leiſe, als der Kleine wieder davongelaufen war. „Soll dein Sohn einmal von dir glauben müſſen, daß du dich feige davonſtahlſt?! Er drückte mir die Hand, feſt und lang. Ich wußte: wenn die Geſpenſter der Racht auch nicht auf immer gebannt waren, ſo würden ſie doch keine Macht mehr gewinnen über ihn. Die Schiedsgerichts⸗Verhandlungen zogen ſich wochenlang hin. Es war eine ſeeliſche Folter für meinen Mann, und wenn er nach Hauſe kam, gab ich mir alle Mühe, ihn nicht merken zu laſſen, wie ich ſelber litt. Draußen entwickelte ſich wieder in der alten Weiſe der politiſche Kampf: Radikale und Reviſioniſten arbei⸗ teten ſcheinbar einmütig zuſammen. Es galt diesmal den Landtagswahlen. Mich rief niemand zu Hilfe. Zu keiner der zahlloſen Verſammlungen forderte man mich auf. Ich war die Gezeichnete. Und nirgends ſchien eine Lücke entſtanden, weil ich fehlte. Ich war wie die Welle, die im Meere aufſteigt und zurückſinkt, ohne eine Spur zu hinterlaſſen. Zuweilen trafen wir mit unſeren politiſchen Freunden zuſammen, — zufällig nur, denn die Reviſioniſten ſchienen ſich nach Dresden noch mehr aus dem Wege zu gehen, als vorher. Einmal kamen wir in eine ernſtere Unter⸗ 521 haltung, und ich verurteilte unumwunden ihre Annahme der Dresdener Reſolution. „Mir iſt es ſogar fraglich,“ ſagte ich, „ob ihre Ab⸗ lehnung nicht von einem gemeinſamen Austritt aus der Partei hätte begleitet werden müſſen.“ Aber ich ſtieß auf allgemeinen Widerſpruch. „Damit hätten die Radikalen erreicht, was ſie wollten, rief der eine. „Wegen einiger Gegenſätze in taktiſchen Fragen werden wir doch die Partei nicht im Stiche laſſen,“ ſagte der andere. „Es wäre nichts als Fahnenflucht,“ erklärte einer der Gewerkſchafter. „Und wir würden zurückbleiben, als Offiziere ohne Armee,“ meinte mein Mann. Ich ließ mich nicht über⸗ zeugen. „Sie haben trotz allem Bekenntnis zum hiſtoriſchen Materialismus aus der Geſchichte nicht allzu viel ge⸗ lernt,“ entgegnete ich. „Roch immer iſt die Entwick⸗ lung die geweſen, daß eine große Bewegung aus ſich heraus neue Bewegungen zeugt, deren Träger zu⸗ nächſt nichts ſind als ein paar Vorläufer, als Offi⸗ ziere ohne Armee. Und was nun gar die Gegenſätze betrifft, ſo glauben Sie doch nicht ernſthaft an ihre Ge⸗ ringfügigkeit.“ „Nein,“ antwortete einer der anderen, „aber ich glaube, und habe nach unſerer bisherigen Entwicklung ein Recht dazu, daß unſere Ideen ſich im Proletariat von unten herauf durchſetzen. Wir ſchließen Lohntarif⸗Verträge mit den Unternehmern, und niemand zeiht uns deshalb eines Vertuſchens der Klaſſengegenſätze; wir arbeiten in 522 den Gemeinden, in den Landtagen, und keiner wagt uns deshalb wegen des Paktierens mit der bürgerlichen Geſellſchaft anzuklagen. Unſere Genoſſenſchaften fangen an, wie unſere Gewerkſchaften zu einer wirtſchaftlichen Macht zu werden, und kein Radikalinski har uns noch vorgehalten, daß das gegen die Zuſammenbruchstheorie verſtößt und wir damit bis zum großen Kladderadatſch warten müßten.“ Ich ſchwieg. Der Mann der praktiſchen Arbeit mochte gegenüber meinen unklaren Theorien doch wohl recht haben. Kurz vor Weihnachten legte das Schiedsgericht von Frankfurt⸗Lebus dem Parteitag des Kreiſes die Reſultate ſeiner Unterſuchungen vor, und die Genoſſen erteilten ihren Abgeordneten daraufhin ein⸗ ſtimmig das Vertrauensvotum. „Und du freuſt dich gar nicht?!“ ſagte mein Mann, als er nachts aus Platkow zurückkam, wo die Verſamm⸗ lung ſtattgefunden hatte. „Gewiß freue ich mich, — aber im Grunde iſt doch das alles ſelbſtverſtändlich und macht das Geſchehene nicht ungeſchehen,“ antwortete ich und dachte an die Zeitſchrift, mit der wir unſere Aufgabe, wie mir ſchien, geopfert hatten, an die ungeſühnte Kränkung, die noch immer wie eine ſchwärende Wunde an mir fraß, an das verſtümmelte, beſchmutzte Bild der Partei, das einſt in ſo leuchtenden reinen Farben vor mir geſtanden hatte, an die große Flamme meiner Liebesleidenſchaft, die über dem Aſchenhaufen nur noch leiſe glimmte. Aus meines Mannes Wuhlkreis wurde ich wieder zu 523 Vorträgen aufgefordert. Seltſam genug: es gab noch Genoſſen, die mir vertrauten, obwohl der erſte unter ihnen mich für ehrlos erklärt hatte! In dieſen Kreiſen ſchien das Verſtändnis für eine Empfindung zu fehlen, die eine Reminiſzenz an meine ariſtokratiſche Herkunft ſein mochte, und offenbar zu jenen „Eierſchalen der Vergangen⸗ heit“ gehörte, über die in der Partei ſo oft geſpottet wurde. Aber wenn auch die anderen alle darüber hin⸗ wegſehen konnten, ich konnte es nicht. Ich lehnte ab. Meine Zurückhaltung wurde falſch gedeutet. Meine Bemerkung über den Austritt aus der Partei mochte irgendwie durchgeſickert ſein. Ich ſah, daß ich die Stel⸗ lung meines Mannes, die trotz des Vertrauensvotums eine ſchwierige geblieben war, noch mehr erſchwerte. Und ich hatte mir vorgenommen, ihm nach wie vor ein treuer Kamerad zu bleiben. „Sie können wieder über mich verfügen,“ ſchrieb ich nach Frankfurt und ſtürzte mich in die Arbeit, von der ich hoffte, daß ſie ſich als Morphium für die Schmerzen meiner Seele erweiſen würde. Und ſo lange ich am Schreibtiſch über den Zeitungen und Broſchüren ſaß, hielt ſie, was ich von ihr erwartet hatte. Die Ereigniſſe ſchienen mit beſonderem Eifer dafür zu ſorgen, daß wir nicht im Bruder⸗ zwiſt aufgehen konnten. Der Rieſenſtreik der Textilarbeiter von Crimmitſchau, die nun ſchon ſeit Wochen mit einer Ausdauer ohnegleichen um den Zehn⸗ ſtundentag kämpften und dem lockenden Gold der Unter⸗ nehmer ebenſo ſtandhielten wie den Verfolgungen der 524 Polizei, ließ uns fühlen, daß wir gegen den Feind ſo einig waren wie immer. Und die ruſſiſche Revolution, die wie ein vom Sturm gepeitſchter Brand von einem Ende des Rieſenreichs zum anderen überſprang, entzün⸗ dete in uns allen eine Hoffnung, als ginge der Stern der Menſchheitserlöſung nun wirklich im Oſten auf. Daß Preußen⸗Deutſchland ſich zum Schleppenträger des Zarismus erniedrigte, daß ruſſiſche Poliziſten im Verein mit den unſeren die ruſſiſchen Gäſte der Hauptſtadt ver⸗ folgen konnten, daß ein Miniſter die Reichstagstribüne benutzte, um die ruſſiſchen Studenten der Berliner Uni⸗ verſität ſamt und ſonders als Anarchiſten zu verdäch⸗ tigen und ihre weiblichen Kollegen der Unſittlichkeit zu zeihen, daß der Reichskanzler von ihnen als von „Schnorrern und Verſchwörern“ ſprach, — das löſte einen Schrei der Entrüſtung aus. Die Partei ſtand wieder auf dem Poſten als die einzige, die leiden⸗ ſchaftlichen Proteſt erhob. Und wenn die politiſchen Ereigniſſe nicht auszureichen ſchienen, um das Be⸗ wußtſein ihrer Zuſammengehörigkeit in den Genoſſen aufs neue zu feſtigen, ſo ſorgten unſere Gegner dafür. Sie ſchufen den Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie, aber die Kette, die ſie ſchmiedeten, um uns damit zu feſſeln, verband uns nur. Ich ſah das alles. Ich ſchöpfte Hoffnung daraus nicht nur für den Kampf nach außen, ſondern auch für die innere Entwicklung, die um ſo kräftiger zu ſein pflegt, je unbeachteter ſie iſt. Aber als ich zum erſtenmal wieder in Frankfurt auf die Rednertribüne trat und all die vielen Augen ſich auf mich richteten, da verſagte meine Kraft. Das Blut 525 brannte mir in den Wangen; — ſahen die Menſchen mir den Schlag nicht an, den ich empfangen hatte?! Und ich fühlte feindſelige Blicke, ſpöttiſches Lächeln, ich ſprach wie gegen ein Tor von Erz. Meine Zuhörer blieben kalt. „Was fehlte dir nur?“ fragte Heinrich mich kopf⸗ ſchüttelnd. Ich gab eine ausweichende Antwort. Roch ein paarmal machte ich ähnliche Verſuche. Von nervöſer Aufregung geſchüttelt, die mir ſonſt fremd ge⸗ weſen war, trat ich ſchon vor die Verſammlung. Und dann ſprach ich, daß ich mich ſelbſt nicht wieder erkannte. Laß mich eine Zeitlang irgendwo zur Ruhe kom⸗ men,“ bat ich eines Tages, mit den Tränen kämpfend, meinen Mann, der in mich drang, ihm die Urſache meiner tiefen Verſtimmung anzuver⸗ trauen. „Das alles war ein wenig viel für mich . .. Er ſtimmte mir ohne Beſinnen zu. „Wenn es nichts weiter iſt, als daß du Ruhe brauchſt!“ ſagte er auf⸗ atmend und entwarf mir die ſchönſten Reiſepläne. „Ich würde dir den Weg auf den Mond bahnen wollen, wenn ich ſicher wäre, daß meine Alix wieder geſund und froh würde.“ Und in alter Zärtlichkeit zog er mich an ſich. Doch ich wollte weder auf den Mond, noch nach Italien, noch an die See. „Ich möchte nach Grainau —,“ bat ich zaghaft, denn ich wußte, es regte ſich immer eine leiſe Eiferſucht in ihm, wenn die Sehnſucht mich dorthin trieb, wo ſo viele Erinnerungen geweckt wurden. „Ilſe weiß von Tante 526 Klotilde, daß ſie dieſen Sommer in Augsburg bleibt, — die Bahn iſt alſo frei, und ein Zimmer find' ich ſchon irgendwo für mich und den Kleinen.“ „Der Bub ſoll mit?“ fragte er mißbilligend. „Dann haſt du ja keine Stunde Ruhe! „— Ich hätte keine, wenn er nicht bei mir wäre,, antwortete ich. Eine Woche ſpäter fuhren wir den Bergen entgegen. Ich biß mir die Lippen wund, um die Tränen zu unter⸗ drücken, als ich im blauen Dunſt der Ferne die erſten weißen Spitzen aufſteigen ſah. Wie hatte ich ſo lange leben können ohne ſie! Es war früh im Jahr. In Garmiſch fingen ſie gerade an, die Betten zu lüften und die Fenſter weit aufzu⸗ reißen. Vier Wochen noch, dann kamen erſt die Fremden. Jetzt war's ſo ſtill! Kein Radler, kein Wanderer be⸗ gegnete uns auf dem Wege nach Grainau. Die Wieſen ſtanden voll bunter Frühlingsblumen, voll goldgrüner Spitzen die Bäume, und aus dem Walde kam der erſte ſüße Maiblumenduft. Im Dorf, hinter dem Kirchlein, wo der Weg empor zum Eibſee führt, ſtand ein neues blitzblankes Haus mit einer großen himmelblauen Madonna in der Mauer⸗ niſche. Der Hof vom Bärenbauern ſah daneben ganz alt und griesgrämig aus. „Bä⸗cke⸗rei,“ buchſtabierte mein Junge, der auf ſeine Leſekünſte ſehr ſtolz war; „hurra! — da gibt's immerzu weiße Brötchen,“ rief er und machte einen Luftſprung — Semmeln waren ſein Leibgericht, „— dahin ziehen wir! Und ſchon lief er am Gartenzaun entlang, mit dem großen ſchwarzen Hund dahinter um die Wette. In 527 der Tür erſchien der Meiſter, dicht hinter ſeinem breiten Rücken lugte neugierig der kleine Lehrling hervor, beide mehlbeſtaubt, und an ihnen vorbei trat grüßend, den gewichtigen Schlüſſelbund über der weißen Schürze, die blonde Hausfrau. Eben erſt hatten ſie das Haus ge⸗ baut, erzählte ſie lebhaft, als wir die blankgeſcheuerte Treppe hinaufſtiegen, und ſchon hätten ſie die Kund⸗ ſchaft der ganzen Gegend. An der „feinen“ Wohnung im erſten Stock gingen wir vorüber, trotz der neuen ſtädtiſchen Möbel, die ſie uns anpries. „Hier droben in den Stuben ſteht halt nur der alte Bauernkram,“ meinte ſie entſchuldigend und ſtieß die Türe auf. Ein blauer Schrank mit roten Herzen dar⸗ auf, eine alte Pendeluhr mit blumenbeſtreutem Ziffer⸗ blatt und einem kreuztragenden Chriſtus darüber, eine breite gewichtige Truhe voll bunter Heiligenbilder lachten uns an, wie die Wieſen draußen, ſo farbenfroh. Einem Vogelneſt ähnlich hing ein kleiner Balkon vor der Glas⸗ tür, und durch die Fenſter guckte der Waxenſtein mit ſeinem faltigen Felſengeſicht. „Da bleiben wir,“ ſagte ich, und mein Junge lief durchs Haus in den Garten, und den Hügel hinauf zum Wald und wieder hinunter auf die Wieſe, als müſſe er von allem ringsum Beſitz ergreifen. Wie gut es war, wieder ſchlafen zu können und die müden Augen in lauter Grün und Blau geſund zu baden! Von den Bauern im Dorf erkannte mich keiner. Rur der Sepp, mein alter Spielkamerad, rückte mit einem flüchtigen Aufblitzen des Erkennens in den Augen an ſeinem verblichenen grünen Hut. Morgens, während mein Junge ſich unten am See aus Moos und Steinen 528 einen kunſtvollen Hafen baute, ſaß ich auf der alten Bank, dem Roſenhaus gegenüber, das ſich mit ſeinen geſchloſſenen Läden und blumenloſen Altanen ſtill und verzaubert im grünen Waſſer ſpiegelte. Alle Roſenbüſche vor der Terraſſe waren fort. „Letzten Herbſt hat die alte Frau Baronin ſie aus⸗ graben laſſen,“ erzählte meine Hausfrau. „Sie wird wohl nimmer wiederkommen,“ fügte ſie hinzu. „Warum nicht?!“ fragte ich erſtaunt. „Schon wie ſie wegfuhr, war ſie nicht zum Erkennen. Auch ſo arg brummig und bös. Der alte Doktor von Garmiſch meint, ſie macht's nimmer lang.“ Ich erſchrak. Von ihrer Krankheit wußte ich, aber nicht, daß es ſo ſchlimm um ſie ſtand. „Das Fräulein von Kleve iſt allweil um ſie, Tag und Racht,“ berichtete die kleine blonde Frau weiter, die froh war, wenn ſie ſchwatzen konnte, „aber die Thereſ“, die alte Köchin, hat mir kurz vor der Abreiſ noch erzählt, daß die Frau Baronin Herzweh hat nach einer anderen,“¹ — dabei traf mich ein neugierig⸗forſchender Blick — „einer, die ſich grad ſo ſchreibt, wie Sie —“ Ich antwortete nicht . . . Mit meiner Ruhe war es wieder vorbei. Alles wurde lebendig, was unter dieſen Buchen, an dieſem See, angeſichts dieſer Berge an Haß und Liebe, an Sehnſucht und Verzweiflung, an Tren⸗ nungsweh und Zukunftshoffnung geweint und gejauchzt, geſeufzt und gelächelt hatte. Ich war nie mehr allein, und es war nie mehr ſtill um mich. Wo ich ging und ſtand, — meine ganze Vergangenheit umringte mich, und wenn ich ſchlafen wollte, flüſterte es mir ins Ohr: anklagend, höhnend, drohend. 529 Eines Vormittags, — ich ſaß wieder am alten Platz, mit dem Buch im Schoß und ſah zu dem toten Haus hinüber, — kam der Bub vom Bärenbauern mir nach⸗ gelaufen: „2 Depeſchen wär da für Sie —“ Ich riß ſie ihm aus der Hand, ſie beſtätigte nur, was ich erwartet hatte: „Baronin Artern heute morgen verſchieden. Ihr ſofortiges Kommen erwünſcht.“ Wir reiſten noch am ſelben Tage nach Augsburg. Mich erfüllte nur ein Gefühl: daß ich ihr viel zu ver⸗ danken hatte und ſie im Kummer um mich ge⸗ ſtorben war. In voller Sommerpracht blühte der Garten um das ſchöne Haus. Weinend empfing mich die Thereſ“. „Warum ſind's bloß nit a Wochen früher gekommen —, ſagte ſie immer wieder. Ich vertraute meinen Sohn ihrem Schutz. „Du herzig's Buberl,“ ſchluchzte ſie, „wenn die Frau Baronin nur dich gekannt hätt“!“ Ich fing an zu begreifen, und jetzt erſt fiel mir ein, daß der Tod dieſer Frau meines Sohnes ganze Zukunft ſichern ſollte. Einen Augenblick lang fröſtelte mich. Aber nein: wie konnt' ich nur zweifeln, — auch die alte Thereſ⸗ ſah in ihrer Liebe zu mir nur Geſpenſter. Meinem Vater hatte die Tote ihr Wort verpfändet. Ich wandte mich zur Treppe. „Gnä' Frau wollen doch nicht —,“ rief die Thereſ und griff nach meinem Arm. „Selbſtverſtändlich,“ antwortete ich und nahm den Strauß friſcher Maiglöckchen vom Grainauer Wald aus ihrer Hülle. Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 34 530 „Sie ſind alle oben, — die Herren Leutnants und das Fräulein,“ flüſterte ſie ängſtlich. Ich warf den Kopf zurück und richtete mich gerade auf. „Hier bin ich zu Hauſe geweſen, nicht ſie,“ ſagte ich laut und ſchritt die Stufen empor. Hinter der Türe des Eßzimmers hörte ich Stimmengewirr. „Sie wird nicht kommen —,“ ſagte einer. Ich trat ein. Wie vor einer Geiſtererſcheinung ſprangen ſie von den Stühlen, meine Vettern und Baſen, die ſich hier häuslich niedergelaſſen hatten. Ich ging ohne Gruß an ihnen vorüber, durch die Flucht der Zimmer mit ihren koſtbaren Teppichen und ſeidenen Möbeln, die mir alle ſo lebendig ſchienen, ſo vollgeſogen von Vergangenheit. Im Muſikſaal, vor der letzten Türe zögerte ich. Mir klang in den Ohren, was die Tote vor Jahrzehnten aus dieſem Flügel hervorgezaubert hatte. Ich war ein Kind geweſen damals; die Töne waren an mir vorbei⸗ gerauſcht; jetzt erſt verſtand ich ſie: wieviel Leidenſchaft, wieviel ungeſtillte Sehnſucht hatte das Herz der Frau bewegt, die nun auf immer verſtummt war. Sie lag aufgebahrt, vom betäubenden Duft unzähliger Blumen umgeben, auf ihrem Lager. Ich ſtand wie er⸗ ſtarrt. Ich konnte nicht in die Kniee ſinken und nicht den Blick losreißen von ihr: das war ſie doch gar nicht, — das war eine Fremde! Rie hatte ich um ihren Mund dieſen grauſamen Zug geſehen und auf ihrer Stirn dieſe vielen finſteren Falten. Die ich gekannt hatte, die mich liebte, war eine andere geweſen. Ich hielt den Strauß Maiglöckchen noch in der Hand, als ich das Haus verließ. Wir geleiteten ſie zu Grabe. All jene alten augs⸗ 531 burger Familien mit den berühmten Namen und unbe⸗ rühmten Rachkommen folgten ihrem Sarge. Aber vor der dunkeln Pforte des Erbbegräbniſſes der Artern weinten von allen, die es umgaben, nur zwei: die alte Thereſ' und ich. Und von denen, die mir einſt nahe geſtanden hatten, grüßte mich nur einer: mein alter Lehrer, der Pfarrer. Er beſuchte mich am Rachmittag im Hotel, und er⸗ zählte mir von ſeinem letzten Zuſammenſein mit der Ver⸗ ſtorbenen. Vor kaum zwei Monaten war es geweſen; ſie hatte ihn zu ſich bitten laſſen, um von mir zu ſprechen. „Sie hat Ihretwegen mehr gelitten, als ſie ſich merken ließ,“ ſagte er. „Meinen Sie?!“ fragte ich zweifelnd und dachte an das fremde Geſicht, das ich auf dem Totenbett geſehen hatte. „Ich bin deſſen ſicher,“ antwortete er; „ſie wird es Ihnen auch noch beweiſen,“ fügte er bedeutungsvoll hinzu. Dann kam ihr Bankier, um mir über den Zeitpunkt der Teſtamentseröffnung Mitteilung zu machen. „Frau Baronin hat mich ausdrücklich beauftragt, Sie, als ihre Haupterbin, um Ihre Anweſenheit zu erſuchen,“ erklärte er. Etwas wie Freude begann heimlich von meinem Herzen Beſitz zu ergreifen, und Dankbarkeit löſchte alle Erinne⸗ rung an die grauſamen Züge der Toten aus. Sie hatte mir, da ſie lebte, oft bitter weh getan, und nun nahm ſie die ſchwere Sorgenlaſt des Lebens auf einmal von mir! Es kränkte mich, daß die Thereſ“ mich ſo mitleidig anſah. „Ich weiß, was ich weiß —,“ ſagte ſie, „die da oben —“ und ſie ballte die Fauſt nach dem Zimmer, wo die Kleves mit dem Teſtamentsvollſtrecker verhandelten, „— waren 34* 532 immer bei ihr, — ich hab' oft genug gehört, wie ſie von Alix Brandt erzählten — Acht Tage ſpäter verſammelten ſich die Erben zur Teſtamentseröffnung im Gerichtsgebäude. Ein nüchterner Raum mit kahlen Wänden. Kaſtanienbäume vor den Fenſtern, durch die kein Sonnenſtrahl drang. An den Hulten der grauköpfige Richter, der krumme Schreiber. Auf den ſteifen Stühlen wir alle in ſchwarzen Kleidern. Zwei Schriftſtücke aus verſchiedenen Zeiten wurden ver⸗ leſen. Das erſte entſprach der Mitteilung ihres Bankiers. Das zweite, — ſie hatte es ſechs Wochen vor ihrem Tode auf dem Krankenbett geſchrieben, — enthielt nur ein paar Zeilen: „Hiermit enterbe ich meine Richte, Frau Alix Brandt, geborene von Kleve, weil ſie in Wort und Schrift der Umſturzpartei dient.“ Es wurde ganz ſtill im Zimmer. Die Köpfe all derer, die neben mir ſaßen, ſenkten ſich; mich aber überkam ein Gefühl des Triumphes. Mit feſter Hand ſetzte ich als Erſte meinen Namen unter das Protokoll und ver⸗ ließ das Zimmer, an den anderen vorbeigehend, die ſcheu zur Seite wichen, erhobenen Hauptes. Jetzt war meiner Überzeugung auch das letzte zum Opfer gefallen. Die Schmach von Dresden war aus⸗ gewiſcht. Das Schickſal ſelbſt zwang mich auf meine eigenen Füße. Run war ich ſtark genug, allein zu gehen. 533 Fünfzehntes Kapitel Draußen auf dem Aſphalt brannte die Sommer⸗ ſonne. Ein Geruch von Pech und Staub er⸗ füllte die gewitterſchwere Luft. In dem dunkelſten Winkel einer jener öden Straßen Berlins, die keine anderen Farben haben als die grellbunten der Firmenſchilder, die kein neugierig flanierendes Publikum kennen, weil ihnen die Anziehungskraft glänzender Schau⸗ fenſter fehlt, hatte der Sommer ſein ganzes Füllhorn ausgeſchüttet: Ein enger Hof war zum Blumenteppich geworden, eine graue Eingangshalle zum Laubengang. Und öffnete ſich die Doppeltür des hohen Gebäudes da⸗ hinter, ſo ſchlug Sommerblumenduft dem Eintretenden entgegen. War er von der nüchternen Straße in einen Palaſt geraten? Zwiſchen blühenden Büſchen ſtanden weiße Bänke, auf den Tiſchchen davor rote Roſen in Gläſern von geſchliffenem Kriſtall. Eine Flucht fürſt⸗ licher Räume ſchloß ſich daran, mit weichen Teppichen auf dem Eſtrich und Gobelins an den Wänden und tiefen Seſſeln vor den Kaminen. Frauenbildniſſe hingen in den langen Galerien daneben; ein Raſcheln und Kniſtern von Frauenkleidern, ein Wiſpern und Flüſtern von Frauenlippen war darin. In den großen Sälen ſaßen dicht gedrängt von früh bis ſpät lauter Frauen 534 und lauſchten mit ſehnſüchtigen Augen und heißen Wangen den Rednerinnen, die ihnen vom Kampf und Sieg, vom Wünſchen und Hoffen ihres Geſchlechts erzählten. Das Weltparlament der Frauen tagte hier. Wäh⸗ rend acht Tagen wurde in vier Sektionen zugleich ver⸗ handelt. Kunſt und Wiſſenſchaft, Erziehung und Unter⸗ richt, Recht und Sitte — nicht ein Gebiet, das das Leben des Weibes berührt, blieb unerörtert. Die Großen ſprachen und die Kleinen, die Vorſichtigen und die Drauf⸗ gänger, die Weiten und die Engen. Es war eine Revue der Frauenbeſtrebungen, ein neutraler Boden für alle Richtungen, eine freie Bahn, um einander kennen zu lernen. Rur die Sozialdemokratie Deutſchlands hatte ſich ſelbſt ausgeſchloſſen, obwohl die Leitung des Kon⸗ greſſes ihr alle Referate über die Arbeiterinnenfrage hatte überlaſſen wollen und ihr damit die Gelegenheit geboten worden wäre, das Elend der Maſſen zu ſchil⸗ dern, das ſonſt in dieſe Säle keinen Eingang fand, und die Lehren des Sozialismus zu verkünden, die die Hun⸗ derte und Tauſende, die hierher kamen, nur in den Zerr⸗ bildern ſeiner Gegner geſehen hatten. Vor acht Jahren hatte ich mich dieſem Beſchluß ge⸗ fügt: die chriſtliche Idee der notwendigen Einheit von Glaubensdienſt und Selbſtaufopferung, die ich durch ein Leben der Selbſtbehauptung glaubte überwunden zu haben, hatte in dem Augenblick wieder von mir Beſitz ergriffen, wo ich mich der Sozialdemokratie anſchloß. Die „Sache“ war die myſtiſche Macht geweſen, die über mir geſtanden hatte. Sie war bei mir, wie bei Hundert⸗ tauſenden meiner Genoſſen, — als wolle Gott, der von uns verlaſſene, ſich an uns rächen, — an ſeine Stelle 535 getreten. Run aber war der Bann gebrochen. Daß ich den zur Hochburg der Frauen verwandelten Muſik⸗ palaſt Berlins betrat, war ein erſtes Zeichen innerer Befreiung. Ich ſprach überall, wo die Intereſſen der Arbeiterinnen zur Debatte ſtanden. Und allmählich ſtrömten die Frauen mir nach, wenn ich von einem Saal zum anderen ging, und manche Diskuſſion, manche perſönliche Unterhaltung bewies mir beſſer als Beifallsſalven, die oft nur der Freude an der Senſation gelten mochten, daß der Samen des Sozialismus auf guten Boden gefallen war. Ge⸗ wiß, ſolche Wirkungen laſſen ſich nicht meſſen, ſie kommen nicht in den Zahlen der Partei⸗ oder Gewerk⸗ ſchaftsmitglieder zu ſichtbarem Ausdruck, aber auch ſie rufen in Haus und Schule, in Geſellſchaft und Staat jene Kräfte hervor, die von innen heraus an der all⸗ mählichen Umwandlung der Geiſtesrichtung der Men⸗ ſchen tätig ſind. Während ich hin und herging und dieſe und jene hörte, ſah ich wie groß die Wandlung ſchon war, die die Frauenbewegung im Laufe des letzten Jahrzehnts durchgemacht hatte. Damals hatten ſie ſich vor mir gefürchtet, als ich in ihrem Kreiſe der Sozialdemokratie Erwähnung tat, heute ſtimmten die meiſten von ihnen in ihren weſent⸗ lichen Gegenwartsforderungen mit denen der Partei überein. Damals war es innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung eine vereinzelte Tat geweſen, als ich das Frauenſtimmrecht in öffentlicher Verſammlung for⸗ derte, heute wurde in den Mauern Berlins der Bund für Frauenſtimmrecht gegründet. So ging es doch vor⸗ wärts, auch da, wo meine Parteigenoſſen nichts als 536 Stillſtand ſahen, nichts anderes bemerken wollten, weil ſie meinten, den dunkeln Hintergrund einer einheitlichen Reaktion nötig zu haben, um ſich ſelbſt in um ſo hellerem Licht zu ſehen, ſtatt auch aus leiſen Tönen den Sieges⸗ marſch des Sozialismus herauszuhören. Mein Mann hatte ein wenig ſpöttiſch den Mund verzogen, — zu einem wirklichen Lächeln kam es bei ihm kaum mehr, — als ich an dem Kongreß teilnahm. „Du biſt ein Trotzkopf,“ hatte er geſagt; „du über⸗ ſiehſt in dem Eifer, mit dem du dich dem Beſchluß der Genoſſinnen entgegenſtemmſt, die Folgen, die ſolch eine Handlungsweiſe für dich haben kann. Man wird dich vollends boykottieren.“ Ich zuckte die Achſeln. „Sollteſt du wirklich ſchon ſo weit über den Dingen ſtehen?!“ fragte er zweifelnd. Ich wandte mich ab. Er ſollte nicht ſehen, daß ich ſchwächer war, als ich mich zeigte. Als ich ſichtlich erfriſcht aus den Verhandlungen nach Hauſe kam, meinte er unmutig: „Vor acht Jahren ge⸗ ſielſt du mir beſſer als jetzt, wo du dich freuſt, weil dieſelben Leute dir Beifall klatſchen, die damals ſittlich entrüſtet waren — Ich unterbrach ihn heftig: „Wie kannſt du mich ſo mißverſtehen! — Gewiß, ich bin nicht von Stein, ich freue mich, wenn ich höre, wie die Ideen meiner „Frauen⸗ frage“ Verbreitung gefunden haben, ich freue mich, daß die Mutterſchaftsverſicherung, daß ſelbſt die Haus⸗ haltungs⸗Genoſſenſchaft aus dem Stadium des Bewitzelns in das ernſter Erörterung getreten iſt, und ich leugne auch gar nicht, daß Anerkennung mir wohl tut, als 537 tröpfle mir jemand ein ſchmerzſtillendes Mittel in eine unheilbare Wunde, — aber das Alles iſt doch nicht die Urſache meiner Befriedigung. Mein Glaube an die Entwicklung im Sinne des Sozialismus iſt das einzig Feſte, was mir noch nach all dem Zuſammenbruch ge⸗ blieben iſt. Wenn ich nur das Geringſte entdecke, was ihn zu ſtützen, zu kräftigen vermag, ſo macht mich das ſtärker.“ „Du biſt doch noch ſehr jung und ſehr beſcheiden!“ warf Heinrich ein. Ich unterdrückte einen Seufzer. Seine moroſe Stimmung war imſtande, jede Spur er⸗ wachter Freudigkeit wieder zu zerſtören, wie der Fluß, wenn er im Frühjahr aus ſeinen Ufern tritt, mit öder weiter Waſſerfläche die blühenden Wieſen bedeckt. Ich fühlte, wie auch meine Arbeitskraft darunter litt, wie Gedanke und Gefühl erſtarrten, ſobald ſie in die eiſige Atmoſphäre ſeiner Deprimiertheit gerieten. Leiſe, unmerklich zunächſt und doch von Tag zu Tag mehr, löſte ich mich von ihm. Das Problem der Ehe wuchs, eine üppige Schlingpflanze, und drohte zu über⸗ wuchern, was noch an Liebe zu blühen verlangte. Für die Frauenbewegung war der Kongreß neuer Wind in die Segel geweſen. Alle Fragen, die ſie umfaßte, ſtanden wieder im Mittelpunkt der öffentlichen Diskuſſion. Das Für und Wider wurde leidenſchaftlich erörtert, und in der konſervativen kirch⸗ lichen Preſſe erhoben ſich lauter als früher die Stimmen derer, die mit dem Feldgeſchrei: Erhaltung der Ehe und der Familie! den Emanzipationsbeſtrebungen des weib⸗ 538 lichen Geſchlechts gegenübertraten. In einer Verſamm⸗ lung, die von einem der bürgerlichen Frauenvereine einberufen worden war, ſollte dieſen Angriffen begegnet werden. Ich ging hin. Mehr aus Reugierde, und weil es mich beluſtigte, daß lauter eheloſe alte Mädchen ſich für berufen hielten, über dieſe Probleme zu urteilen, als in der Abſicht ſelbſt zu ſprechen. Die Referentin verteidigte zuerſt die Frauenbewegung als die Begründerin eines neuen, ſchöneren, feſteren Ehe⸗ und Familienlebens: „Gerade der Bund zwiſchen zwei gleichen, geiſtig und ſittlich gereiften Menſchen iſt der glücklichſte, dauerndſte, ſagte ſie. „Der Mann wird in der Frau nicht mehr nur die Geliebte, die Mutter ſeiner Kinder ſehen, ſon⸗ dern eine Kameradin, die ſeine Intereſſen teilt und fördert. Das Familienleben wird ſich dadurch erneuern, denn der Mann braucht nicht mehr außerhalb ſeines Hauſes geiſtiger Anregung, geiſtigem Austauſch nachzu⸗ gehen . . . Mich reizte der ſalbungsvolle Ton, mit dem ſie ſprach und die Art, wie ſie die Wogen der Frauenbewegung durch das Ol unbeweisbarer Prophezeiungen zu beſänf⸗ tigen ſuchte. Ich meldete mich zum Wort. „All Ihre ſchönen Argumente,“ rief ich aus, „be⸗ ruhen auf einem Trugſchluß: der Inſtinkt der Sinne iſt doch nicht identiſch mit dem geiſtigen Verſtändnis! Richts gibt die Gewähr dafür, daß zwei geiſtig reiche Indivi⸗ dualitäten, die einander in heißer Liebe begehren, nun auch mit all den feinen Regungen ihres Seelen⸗ und Geiſteslebens zuſammenſtimmen, Regungen, die um ſo differenzierter ſind, je höher entwickelt der Einzelne 539 iſt. Und wer vermag zu ſagen, ob nicht trotz geiſtiger Übereinſtimmung die Liebe erkaltet oder ſich auf einen anderen Gegenſtand richtet? Denn auch die Liebes⸗ gefühle und das Liebesbegehren iſt vielgeſtaltiger, diffe⸗ renzierter geworden und nicht mehr ſo leicht und ſo un⸗ bedingt zu befriedigen . .. Rein, meine Damen, laſſen Sie ſich nicht einlullen durch falſche Prophezeiungen, ſammeln Sie vielmehr Ihre Kräfte durch die klare Er⸗ kenntnis neuer Probleme. Mit dem durch die Angſt um die Gefährdung alten geliebten Beſitztums geſchärften Spürſinn des Feindes haben die Gegner bald emp⸗ funden, was ihnen droht: Je mehr ſich das Weib zur ſelbſtändigen Perſönlichkeit entwickelt, mit eigenen An⸗ ſichten, Urteilen und Lebenszielen, deſto mehr iſt die alte Form der Ehe bedroht. Ihr Glück beruhte nicht auf Gleichheit, ſondern auf Unterordnung, nicht auf Arbeitsgemeinſchaft, ſondern auf Arbeitsteilung. Für den Mann war die Ehe von einſt, an der Seite einer von den Kämpfen der Zeit unberührten, nur der Sorge des Hauſes lebenden Gattin, der Hafen der Ruhe. Heute findet er daheim neben der ihm geiſtig eben⸗ bürtigen Frau dieſelbe Nervoſität, dasſelbe geiſtig an⸗ geſpannte Leben wie draußen. Für die Frau war er das einzige Symbol alles äußeren Lebens, allein von ihm empfing ſie gläubig die Botſchaften der Welt, die Anſichten und Urteile über ſie. Jetzt kennt ſie das Leben aus eigener Anſchauung, ſie denkt ſelbſtändig, ſie überſieht ihn vielfach; ſie findet in ihm ſo wenig den Schöpfer ihres inneren Lebens, als er in ihr die Quelle der Ruhe und des Behagens findet. Was früher einte: das Zuſammenleben, kann heute ſchärfer trennen, als 540 jede äußere Trennung es vermag . .. Es kommt aber auch gar nicht darauf an, daß wir mit heißem Be⸗ mühen die Ehe retten; mag ſie an der Entwicklung zerſchellen, wie manche andere Lebensform, wenn nur der Kern erhalten bleibt: die Liebe.“ Man hatte mir mit ſteigender Erregung zugehört. Ich ſah, wie eine Frau nach der anderen ſich mit hoch⸗ rotem Geſicht zum Worte meldete. Sie überfielen mich förmlich. Als eine Vertreterin der freien Liebe, eine mit deren Ideen ihre Beſtrebungen nicht das mindeſte zu tun hätten, griffen ſie mich an. „Ihre Verteidigung nützt Ihnen nichts,“ antwortete ich nochmals. „Die erſten Träger einer Entwicklung ſind nur in ſeltenen Fällen zugleich die Propheten ihrer letzten Konſequenzen geweſen. Als Luther ſeine 93 Theſen an die Schloßkirche zu Wittenberg ſchlug, glaubte er, die Zyklopenmauer der katholiſchen Kirche, die hier und da abzubröckeln begann, feſter aufzubauen. Als Montesquieu ſeinen „Esprit des lois“ und Rouſſeau ſeinen „Emile“ ſchrieb, glaubten ſie einige dunkle Ge⸗ biete des Staats und der Geſellſchaft aufzuhellen. Keiner von ihnen wußte, daß ſie die Brandfackel in das ganze Gebäude warfen. Auch Sie propagieren Reformen und werden zu Trägern der Revolution .. Als ich geendet hatte, kämpfte lautes Ziſchen mit vereinzeltem Beifall; als ich aber den Saal verließ, leuchteten mir aus jungen Geſichtern dankerfüllte Blicke entgegen; es war nicht nur mein eigenes Erleben ge⸗ weſen, das ich in Worte gefaßt hatte. An der Türe traf ich meinen Mann, der mir, ohne daß ich es wußte, gefolgt war. Ich errötete unwillkürlich. 541 „War das ein Bekenntnis?“ fragte er. Ich nickte. „Wollen wir nicht auch unſere Liebe retten?“ fuhr er leiſe fort und zog meinen Arm durch den ſeinen. Mir wurde warm ums Herz: wie gut er war! Ein tiefes Schuldbewußtſein bemächtigte ſich meiner: Waren es nicht im Grunde lächerliche Kleinigkeiten, die uns von⸗ einander entfernten, war es nicht frevelhaft, aus ſelb⸗ ſtiſchen Motiven den großen Schatz der Liebe aufs Spiel zu ſetzen? Ein böſer Zauber hatte ihn in die Tiefe verſenkt, war er es nicht wert, daß ich ihn durch meine Hingabe erlöſte? Ich wußte, was meinen Mann bedrückte, aber ich hatte es bisher nicht ſehen wollen. Je mehr er litt, deſto ſchweigſamer wurde er; nur an den gefurchten Zügen, an den finſteren Blicken, und hie und da an einem hingeworfenen Wort erkannte ich, daß er ſich in ſelbſtquäleriſchen Vorwürfen verzehrte. Die Schatten des Dresdener Kongreſſes ſielen noch breit über den Weg der Partei, — er fühlte ſich mitſchuldig daran. Und er hatte in einem Moment fortgeworfen, wodurch er der Partei wieder hätte helfen können, die Schatten zu bannen: die Reue Geſellſchaft. „Das Aufgeben der Zeitſchrift war heller Wahnſinn, ſagte er zuweilen. Aber war nicht der Verkauf des Archivs ſchon Wahnſinn geweſen? Und ich hatte ihn darin beſtärkt, ich war mitſchuldig, wenn er Schiff⸗ bruch litt! Und in dieſem Augenblick hatte ich ihn im Stiche laſſen wollen! Hatte mich bitter gekränkt gefühlt, weil er ſeine Stimmung nicht beherrſchte, weil er es an Liebesbeweiſen fehlen ließ! Ich wußte auch, was ihm helfen würde. Oft genug 542 ſprach er davon: die Reue Geſellſchaft wollte er wieder erſcheinen laſſen. Aber wenn er mich dabei fragend anſah, ſo ſchwieg ich, und ein heftiges Wort ſchwebte mir jedesmal auf der Zunge. Richtete er eine direkte Frage an mich, ſo äußerte ich rückſichtslos meinen Widerſpruch. „Richt drei Monate würden wir mit dem bißchen, was wir aus dem Zuſammenbruch gerettet haben, die Zeitſchrift halten können,“ ſagte ich, „und ich habe ſchon zu viel an Sorgen ertragen, um ſehenden Auges dem vollſtändigen Ruin entgegenzugehen. Wenn Graf Bülow im Reichstag über den Dres⸗ dener „Jungbrunnen“ höhnte, wenn jedes ernſte Wort unſerer Fraktionsredner im Ge⸗ lächter der bürgerlichen Parteien erſtickte und die Kraft un⸗ ſerer 81 Abgeordneten lahmgelegt blieb ſeit Dresden, ſo waren das nicht vereinzelte Erſcheinungen, ſondern Symp⸗ tome der allgemeinen Stimmung der Partei gegenüber. Und ein Wochenblatt ſollte imſtande ſein, ſie zu zerſtreuen? Immer deutlicher rückte alles ab von uns, was uns nahegeſtanden hatte. Roch kam ich zuweilen in Künſtler⸗ und Literatenkreiſe, aber ich fühlte ſogar ein perſön⸗ liches Sichzurückziehen. Das Intereſſe wandte ſich augen⸗ ſcheinlich ganz anderen Gebieten zu. Die l'art pour T'art⸗Stimmung breitete ſich aus. Mit dem Verſchwinden der Arme⸗Leute⸗Bilder und Dramen verſchwand die op⸗ poſitionelle Geſinnung. Dichter und Maler, die noch vor kurzem wenigſtens durch lange Haare, Samtjacken und fliegende Krawatten den Bohemien markiert hatten, 543 exzellierten jetzt in tadellos weltmänniſchen Allüren und beurteilten den lieben Rächſten nach ſeinem Schneider. Wie vor wenigen Jahren noch der Weg ins Volk die Parole der künſtleriſch⸗literariſchen Jugend geweſen war, ſo wurde jetzt die Vornehmheit Trumpf. Richt jene echte der Bewegung und Geſinnung, die der Gefahr des Kopiertwerdens nicht ausgeſetzt iſt, ſondern die müde der Dekadenz, die ſich jeder aneignen kann, deſſen Finger genügend lang, deſſen Geſtalt genügend ſchmal und deſſen Charakter genügend biegſam iſt. „Und von dieſem dürren Boden glaubſt du ernten zu können?!“ fragte ich meinen Mann. „Rein,“ entgegnete er, „aber ich bin optimiſtiſch ge⸗ nug, um auch ihn für bearbeitungsfähig zu halten. Wir widerſprachen einander immer. Nur wenn die Ereigniſſe in der Sozialdemokratie die feindliche Hal⸗ tung gegen die Reviſioniſten gar zu deutlich hervortreten ließen, kam es vor, daß er ſelber ſagte: „Es iſt doch vielleicht noch zu früh! Jeder geringfügige Anlaß genügte, um in der Partei den heftigſten Streit hervorzurufen. So war einem der in die Dresdener Skandale verwickelten Reviſioniſten die Kandidatur eines ſächſiſchen Wahlkreiſes angeboten worden. Alle höheren Parteiinſtanzen erklärten ſich dagegen; die Vernichtung der bisher geltenden Auto⸗ nomie der Wahlkreiſe war die Folge, und nun entſpann ſich eine leidenſchaftlich erregte Diskuſſion in der Preſſe, die auch in Volksverſammlungen ihr Echo fand. „Die Minderheit hat ſich der Mehrheit zu fügen, hieß es kategoriſch auf Seite der Radikalen. „Die Sozialdemokratie hat jede Art von Macht⸗ 544 entfaltung, die die Minderheit in ihrer Exiſtenz bedroht, zu bekämpfen, alſo zu allererſt die in den eigenen Reihen. Es iſt Deſpotie und nicht Demokratie, wenn die Rechte der Minderheit ſchutzlos ſind,“ lautete die Antwort auf Seite der Reviſioniſten. In einem anderen Fall vertrat ein Parteigenoſſe in bezug auf die Zollfragen theoretiſch von den Anſichten der Partei abweichende Meinungen. Er wurde einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, und ſein Ausſchluß aus der Partei war die Forderung vieler. Wortglaube, nicht Geiſtesglaube war für die Dogmatiker Vorausſetzung der Parteizugehörigkeit. Ich hörte überall dieſelbe Diſſonanz heraus, die in mir tönte: Selbſtbehauptung gegen Selbſthingabe, — Individualismus gegen Sozialismus, — dieſelbe Diſſo⸗ nanz, die dem Dresdener Konzert zugrundegelegen und keine Auflöſung gefunden hatte. Ob mein Mann und mit ihm ſeine politiſchen Freunde wohl im Rechte waren, wenn ſie behaupteten, daß die Einheit in der praktiſchen Tagespolitik über dieſe inneren Gegenſätze hinweghelfen würde? Wenn ich meine Zweifel äußerte, ſo war es Rein⸗ hard vor allem, der ſie auf Grund ſeiner Erfahrungen zu entkräften ſuchte. „Sie ſollten bei uns in den Gewerkſchaften lernen,“ ſagte er; „da beſteht dieſe Einheit tatſächlich und iſt die Grundlage unſeres wachſenden Einfluſſes geworden. Ich erinnerte mich dann der Zeiten, wo er unter den Politikern der radikalſten einer geweſen war, und ich konnte mich der Empfindung des Bedauerns nicht er⸗ wehren: damals durchglühten die Ideale des Sozialis⸗ 545 mus ſeine Reden, heute ſchien nicht nur ſein Handeln, ſondern auch ſein Denken den Horizont des Auges nicht mehr zu überſchreiten. Arbeiterrechte und Freiheiten rang er mit eiſerner Energie dem Unternehmertum ab und richtete den Blick bei jedem Schritt vorwärts kon⸗ ſequent nur auf den nächſten Schritt. Darin lag viel⸗ leicht ſeine Kraft. Aber die Stimmung praktiſcher Rüchternheit, die ihn beherrſchte, war nicht die Atmo⸗ ſphäre, in der die umfaſſenden Ideen der Menſchheits⸗ befreiung ſich entfalten. Mein Mann, der gerade in dieſer Richtung auf die Forderungen des Tages das Heilmittel für die inneren Schäden der Partei zu finden glaubte, beſchäftigte ſich viel mit den Gewerkſchaften. „Das ſind die Kerntruppen,“ meinte er, „ihre Wünſche und Bedürfniſſe müſſen wir kennen, wenn wir einmal mit unſerer Zeitſchrift wirken wollen.“ Wir beſuchten ihre Verſammlungen. Ruhige Arbeit herrſchte hier. Mit tiefgründiger Kenntnis wurden ſo⸗ zialpolitiſche Fragen behandelt, beſonders die des Heim⸗ arbeiterſchutzes, die damals im Mittelpunkt des Inter⸗ eſſes ſtanden. Es war bezeichnend für den Geiſt der Gewerkſchaftsbewegung geweſen, daß faſt zu gleicher Zeit, wo die Einladung zum Frauenkongreß von den Sozialdemokratinnen abgelehnt worden war, die General⸗ kommiſſion der Gewerkſchaften den Heimarbeiterſchutz⸗ Kongreß einberufen und die Intereſſenten aus bürger⸗ lichen Kreiſen zur Teilnahme aufgefordert hatte. Aber wenn die bewußte Beſchränkung der Bewegung auf der einen Seite einen erſtaunlichen Grad von Wiſſen, von Energie, von Zielſicherheit zeitigte, ſo ent⸗ Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 35 546 wickelte ſich auf der anderen Seite eine gewiſſe Engig⸗ keit, ein Organiſationsegoismus, der vom Standesdünkel alter Zeiten nicht zu weit entfernt war. Ich agitierte ſelbſt für die Gewerkſchaften; ich verfocht in Verſamm⸗ lungen die Forderungen zum Heimarbeiterſchutz, die wir im Kongreß aufgeſtellt hatten, ich wußte, wie notwendig das alles war, aber ich hätte darin nicht aufzugehen vermocht, und es ſchien mir nicht unbedenklich, daß ſo viele tüchtige Kräfte, von der politiſchen Bewegung angewidert, mehr und mehr darin aufgingen. Tönte nicht der ſtarke Pulsſchlag der Zeit nur gedämpft hier⸗ her, wo ſich Kräfte und Gedanken im engen Kreis der Organiſationsarbeit, der Sozialreform bewegten? Lagen hier nicht die Keime einer gefährlichen Entwicklung von Egoismus gegen Sozialismus? Allmählich war's, als öffneten ſich mir immer neue Tore mit weiten Ausblicken auf unbekannte Gebiete der Arbeiterbewegung. Eine Schulvorlage, die von der preußiſchen Regierung ſchon lange in Ausſicht geſtellt war und auf Einführung konfeſſioneller Schulen hin⸗ auslief, rief in der Preſſe und in Verſammlungen eine lebhafte Kontroverſe über Erziehungsfragen hervor. Der bloße ſelbſtverſtändliche Proteſt dagegen, die bloße For⸗ derung der Trennung von Schule und Kirche genügte nicht mehr. Wer ſich aus Arbeiterkreiſen an den De⸗ batten beteiligte, der hatte ſich auch mit den Details der Frage beſchäftigt, und ein Verlangen nach weiterer Aufklärung wurde laut. In einer kleinen Verſamm⸗ lung vor den Toren Berlins hörte ich einen alten Ar⸗ beiter von Peſtalozzi ſprechen. Er batte ihn nicht nur geleſen, ſondern in ſich aufgenommen und ſchilderte die 547 Arbeitsſchule der Zukunft, die an Stelle der „Hauk⸗ ſchule“ der Gegenwart treten würde, mit demſelben Enthuſiasmus, wie ein anderer ſich über den Zukunfts⸗ ſtaat verbreitet haben würde. Auf ſolche und ähnliche Erfahrungen hin wagte ich es, die „pädagogiſche Pro⸗ vinz“, Goethes Erziehungsutopie, zum Gegenſtand eines Vortrags zu machen. Ein Rieſenauditorium, das nur aus Arbeitern beſtand, folgte mit geſpannter Aufmerk⸗ ſamkeit allem, was ich ſagte, und in der Diskuſſion zeigte ſich nicht nur, daß ich verſtanden worden war, ſondern auch wie viele ihren Goethe geleſen hatten. Jetzt fing ich an, mit erwachtem Intereſſe den nicht politiſchen Verſammlungen nachzugehen, und ich entdeckte mit wachſendem Staunen ſuchende Menſchen, nicht nur fordernde. Wo religiöſe, wo philoſophiſche Fragen an⸗ geſchnitten wurden, war das Intereſſe am ſtärkſten. Jener brutale philoſophiſche Materialismus, der alles leugnete, was ſich nicht mit Händen greifen ließ, und für die Maſſe der Sozialdemokraten um ſo mehr an die Stelle kirchlich⸗dogmatiſchen Glaubens getreten war, als ſie ihn in naheliegender Begriffsverwirrung mit dem Grundprinzip des Marxismus, dem hiſtoriſchen Materialismus, zuſammengeworfen hatten, beherrſchte nicht mehr ſo uneingeſchränkt wie früher die Gemüter. Der Unglaube, der geblieben war und neben alles Un⸗ abweisbare ſein Fragezeichen aufrichtete, ſchien erfüllt von Sehnſucht und Heimweh. Junge und alte Männer begegneten mir, die in ihrer freien Zeit verſchlangen, was ihnen an philoſophiſchen Schriften erreichbar war: neben Kant und Schopen⸗ hauer das ſeichteſte Gewäſch ſogenannter Popularphilo⸗ 35* 548 ſophie, neben Dietzgen, dem Parteiphiloſophen, allerhand theoſophiſche, ſelbſt ſpiritiſtiſche Schriften. In der Qual, mit der ſie immer wieder verſuchten, die geiſtige Ver⸗ nachläſſigung ihrer Jugendjahre zu überwinden, die Grundlagen des Denkens und Wiſſens, die ihnen fehlten, nachzuholen, lag eine größere Tragik als in der leib⸗ lichen Rot. „Wir ſind alle gute Sozialdemokraten,“ ſagte mir einmal ein älterer Mann, der es vom einfachen Ar⸗ beiter zum einflußreichen Gewerkſchaftsbeamten gebracht hatte, „und der Sozialismus iſt das, was uns zu⸗ ſammengeſchweißt hat, uns im Kampf gegen die Feinde unüberwindbar macht; aber nun will doch jeder auch etwas für ſich ſein.“ Das war der Wunſch nach Perſönlichkeit, der ſich regte, die Reaktion gegen die geiſtige Rivellierung, die die Stärke und die Schwäche des Sozialismus war. Und alles Wünſchen und Suchen ging in die Irre. Riemand antwortete darauf, niemand ſprang hinzu, um Taumelnde zu halten, Blinde zu führen. Eintönig, wie die Zukunftsprophezeiungen der erſten Chriſten, klang ihnen aus dem Munde ihrer Führer immer dieſelbe Formel entgegen: „Die Überwindung der kapitaliſtiſchen Geſellſchafts⸗ ordnung durch den Klaſſenkampf bringt allen Erlöſung. Sie fühlten mehr, als daß es ihnen deutlich zum Be⸗ wußtſein kam: Über die Befreiung von Rot und Elend hinaus muß es ein perſönliches Ziel geben, für das die Erreichung dieſes erſten, roheſten nichts als der Aus⸗ gangspunkt iſt. Würden ſie im Suchen danach nicht auf Abwege geraten, ſich nicht entfernen vom Wege, 549 der notwendig zuerſt zu jener erſten Etappe führen mußte? In Rußland warf die Revolution ihre Brandfacke! in Städte und Dörfer. Die Blüte der Jugend, die geiſtige Elite des Landes trugen die Fahne voraus, und die ſchwerfällige Maſſe des Rieſenvolkes geriet in eine ungeheure Bewegung. Selbſt die Bauern in ihren einſamen Steppen grüßten das Licht, das ſie flammen ſahen, als ihren Befreier. Hunderte ſielen, Hunderte verſchwanden im grauſigen Dunkel ruſſiſcher Zitadellen, Hunderte wurden in Ketten in die Bergwerke Sibiriens verſchleppt, aber Tauſende füllten die Lücken wieder aus, die ihr Verſchwinden geriſſen hatte. Die Zeit forderte Helden, und ſie wuchſen empor; das Leben galt ihnen nichts mehr, wo der Tod die Saat der Frei⸗ heit war. Das große Reich, der Hort der europäiſchen Reaktion, ſchien in ſeinen Grundveſten erſchüttert. Vor Arbeitern und Bauern, vor Studenten und Frauen ſtreckte der Abſolutismus die Waffen. Wir ſahen, wie der Himmel über der Grenze ſich rötete. Und vielen, auf deren Seelen der häßliche Parteizank laſtete, die ſich ernüchtert fühlten durch den langen ſtaubigen Weg, den ſie an Stelle des Schlachtfeldes gefunden hatten, wurde der Glanz zu einem Hoffnungsſchimmer. Von der Weltenwende der ruſſiſchen Revolution, von dem Zuſammenbruch des Zarismus ſprachen pro⸗ phetiſch die Redner in unſeren politiſchen Verſamm⸗ lungen. „Wir leben in den Tagen der glorreichen ruſſiſchen 550 Revolution —,“ damit wurden die Rörgler und Zweifler niedergeſchlagen. „Sehen Sie nicht, daß die Zeit gekommen iſt, die Marx vorausſah, wo die Evolution in die Revolution umſchlägt —? Daran entflammte ſich die Begeiſterung der Maſſen. Meine Empfindung, meine Phantaſie war auf ihrer Seite, meine Hoffnung entzündete ſich daran. Oft, wenn ich als Kind am Weihnachtsabend erwartungsvoll im dunkeln Zimmer ſaß, hatte der Lichtſtrahl, der aus dem Raum daneben, wo die Mutter den Baum putzte, durch das Schlüſſelloch drang, mir die ganze Seele erhellt und alle Angſt vor der Finſternis um mich vertrieben. So war mir jetzt zumut: es drang ein Lichtſtrahl in das Dunkel. Roch kannte ich ſeine Quelle nicht; nur daß er da war, bannte die Furcht. Heinrich hatte recht: es gab für uns nur eine Auf⸗ gabe: die Reue Geſellſchaft wieder ins Leben zu rufen, durch ſie zuſammenzufaſſen, was in der Arbeiterbewegung nach allen Richtungen auseinanderzufließen drohte: den geiſtigen Hunger der Maſſen, die praktiſche Arbeit der Ge⸗ werkſchaften und Genoſſenſchaften, die Schwungkraft der kämpfenden Partei. Und wie ſie auf dem Wege zu einer neuen tieferen Einheit Richtung geben ſollte, ſo ſollte ſie im Kreiſe der intellektuellen Jugend dem Sozialismus An⸗ hänger werben. Wir bedurften dieſer Jugend, das lehrte uns Rußland, das predigten uns die ſtummen Lippen all der Suchenden, die der geiſtigen Führer entbehrten. 55I „Die Wiſſenſchaft und die Arbeiter“, — ein Kind dieſes Bundes war der Sozialismus geweſen, ihn zu zerſtören und zu verleugnen war der eigentliche Partei⸗ verrat. Run war es nicht mein Mann, nun war ich es, die zuerſt wieder von unſerer Zeitſchrift ſprach. Und was ich ſo lange entbehrt hatte, geſchah: Heinrichs ver⸗ düſterte Züge erleuchteten ſich wie von innen heraus. Jetzt endlich kamen die Stunden innerer Gemeinſchaft zurück, und im Überſchwang der Freude glaubte ich das Mittel wieder gefunden, das auch die klaffenden Wunden unſerer Ehe ſchließen würde. In gemeinſamer Arbeit, mit demſelben großen Ziel vor Augen würden wir enger, unauflöslicher zuſammenwachſen. Ein Umſtand half uns, mit etwas größerer Zuverſicht an die Arbeit zu gehen. Meine Schweſter, eine der ſechs Erben der verſtorbenen Tante, hatte, empört über die mir widerfahrene Ungerechtigkeit, verſucht, die An⸗ nullierung des letzten Teſtaments, das meine Enterbung ausſprach, durchzuſetzen. Und als die Verwandten ein⸗ mütig erklärt hatten, den letzten Willen der Toten re⸗ ſpektieren zu müſſen, tat ſie allein, was ſie von den anderen verlangt hatte, und verzichtete in Anerkennung meines Anſpruchs auf den ſechſten Teil ihres Erbes zu meinen Gunſten. Es war zunächſt nur wenig, was ich bekam, — der größte Teil des Vermögens lag in Grund⸗ ſtücken feſt, — aber für uns, die wir von Anfang an mit einer ſo geringen Summe rechnen mußten, daß kaum ein anderer daraufhin den Mut gehabt hätte, eine Zeitſchrift zu gründen, war es eine willkommene Hilfe. Rur ganz flüchtig dachte ich daran, die paar 552 tauſend Mark für meinen Jungen feſtlegen zu wollen, — ich errötete dabei über mich ſelbſt. Drüben, im Oſten, opferten ſie ihr Leben ihrer Sache, und ich könnte mit dem lumpigen Gelde knauſern! Es war ein frohes Arbeiten damals. Wir fanden Mitarbeiter im eigenen Lager, die unſere Ideen teilten, wir fanden aber auch Künſtler und Schriftſteller, die nicht abgeſtempelte Genoſſen waren und mit Freuden die Gelegenheit ergriffen, einmal zum Volk zu ſprechen. Und zuerſt leuchteten uns überall die aus den ſchwarzen Schornſteinen glutrot aufſteigenden Flammen der Reuen Geſellſchaft entgegen. Daß innerhalb der Parteiorganiſationen ſchon gegen uns gehetzt, vor einem Abonnement unſerer Zeitſchrift gewarnt wurde, daß uns die Genoſſen wieder als „Ge⸗ ſchäftsſozialiſten“ öffentlich an den Pranger ſtellten, — dafür hatten wir nur ein Achſelzucken. Sie glaubten, wir wollten wühlen, kritiſieren; ſie würden ſich bald eines Beſſeren belehren laſſen, denn wir dachten nur daran, aufzubauen. Am Himmel der Zeit ſtiegen Sturm⸗ wolken auf, und wer wetterkundig war, der ſah da⸗ hinter erfriſchte Luft, zu neuem Segen durchtränkte Erde. Der Strom der ruſſiſchen Revolution, der drüben alles mit ſich riß, ſchien zuerſt an Deutſchland vorüber⸗ zubrauſen, als wäre die Grenze ein Felſengebirge. All⸗ mählich aber begannen ſeine Fluten Tunnel zu bohren, und die deutſche Reaktion warf angſtvoll Wälle auf. In den Einzelſtaaten kam es zu Wahlrechtsverſchlech⸗ 553 terungen, und die Angriffe auf das allgemeine Reichs⸗ tagswahlrecht wurden lauter. Unter dem Deckmantel der ſcheinbar harmloſen Schulvorlage ging der preu⸗ ßiſche Landtag darauf aus, mit den Seelen der Kinder die Zukunft dem Fortſchritt zu entwinden. Doch das Proletariat lernte von den ruſſiſchen Freiheitskämpfern. Zum erſtenmal in Deutſchland eroberten ſich die Ar⸗ beiter die Straße zu gewaltigen Maſſendemonſtrationen. In Leipzig, in Dresden, in Chemnitz durchzogen Tau⸗ ſende und Abertauſende, dem Polizeiaufgebot trotzend, die Stadt. Und wenn ſie auch der Hartnäckigkeit der Regierung nichts abzutrotzen vermochten, ſie fühlten ſich nicht geſchlagen, denn die Siege jenſeits der Grenzen ſtärkten immer wieder ihren Mut: in dunkeln Maſſen, dicht gedrängt, mit einem Schweigen, das mehr als drohende Rufe von finſterer Entſchloſſenheit zeugte, war die wiener Partei vor dem Parlament aufmarſchiert, während in ganz Öſterreich die Arbeit ruhte, und er⸗ oberte im gleichen Augenblick eine Wahlreform, die vor wenigen Wochen noch von der Regierung abgelehnt worden war. Und angeſichts der blutgetränkten Straßen Petersburgs, der rauchenden Trümmer baltiſcher Schlöſſer verſprach der ruſſiſche Zar dem Volke die Verfaſſung. Jetzt galt es auch in Preußen, gegen die Hochburg der Reaktion Sturm zu laufen: gegen den Landtag. Wir ſchürten in unſerer Zeitſchrift mit allen Mitteln den Brand. „Trotz aller Anerkennung des ſtark pulſierenden Lebens, das in den Spalten der Reuen Geſellſchaft herrſcht,“ ſchrieb mir Romberg damals, „bleibt Ihre Schornſtein⸗ zeitung mir unſympathiſch, — jetzt vollends, wo ich mit 554 aufrichtiger Trauer ſehe, daß Sie jene Vornehmheit preisgeben, deren Aufrechterhaltung durch alle Fährniſſe proletariſcher Verſuchung mir bisher ſo bewundernswert erſchien. Den ganzen giftigen Zorn des Renegaten ſchütten Sie über Ihre eigenen Klaſſengenoſſen, die Junker, aus.“ „Über Ihren Geſchmack ſtreite ich nicht mit Ihnen, antwortete ich, „er führt uns, fürchte ich, weit vonein⸗ ander. Aber mir die Preisgabe der Vornehmheit vor⸗ zuwerfen, dazu haben Sie kein Recht. Gerade weil ich Ariſtokratin war und blieb, weiß ich zu ſcheiden zwiſchen dem Adligen und dem Junker. Die Hutten und Ber⸗ lichingen, die Mirabeau und Lafayette, die Struve und Krapotkin, — das waren Ariſtokraten, das heißt freie Herren, keine Fürſtenknechte, keine Sklaven des Her⸗ kommens. Ich bin ſtolz, zu ihnen zu gehören und werde, wie ſie, bis zum letzten Atemzug gegen die Junker, das heißt die Dienſtmannen, kämpfen. Im Abgeordnetenhauſe erklärte Graf Roon: „Wenn jemals die Regierung daran denken ſollte, uns in Preußen die geheime Wahl zuzumuten, ſo würden wir zur ſchärfſten Oppoſition übergehen.“ „Auf das nachdrücklichſte lege ich dagegen Verwah⸗ rung ein, daß das allgemeine geheime Wahlrecht als Wahlrecht der Zukunft hingeſtellt wird,“ ſekundierte ihm Herr von Manteuffel. Hüben und drüben ſchloſſen ſich die Reihen der Kämpfer. Sollte die Schlacht ſchon be⸗ vorſtehen? In den Köpfen der Parteigenoſſen ſpukte dieſe Frage. der die andere auf dem Fuße folgte: wie bereiten wir uns vor? Das Mittel immer wiederholter Arbeits⸗ 555 einſtellungen hatte ſich in Rußland als das eindrucks⸗ vollſte erwieſen. Es wurde nun auch in der deutichen Hartei erörtert. Es trennte die Geiſter nach einem Schema, auf das die Bezeichnung Reviſioniſten und Radikale nicht mehr paſſen wollte. Mein Temperament riß mich rückhaltlos auf die Seite derer, die den Maſſen⸗ ſtreik verteidigten; mein Mann ſtand im entgegengeſetz⸗ ten Lager, wo die Gewerkſchafter ſich vereinigt hatten. Auch die Anſichten unſerer Mitarbeiter gingen aus⸗ einander. „Glauben Sie, es läßt ſich beſchließen, übermorgen nachmittag um vier in den Maſſenſtreik einzutreten? höhnte Reinhard. „Revolutionen ſind keine Paraden, die vorher einexerziert werden.“ „Aber die Truppen müſſen dafür vorbereitet ſein wie für die Kriege,“ entgegnete einer unſerer Mit⸗ arbeiter; „wir müſſen den Gedanken in die Köpfe häm⸗ mern, damit er zur rechten Zeit zur Tat reift.“ „Von unſeren drei Millionen Wählern ſind nur vier⸗ malhunderttauſend politiſch organiſiert, und von zwölf Millionen Arbeitern nur anderthalb Millionen gewerk⸗ ſchaftlich!“ rief Reinhard aus. „Mir ſcheint, wir müſſen zuerſt die Köpfe haben, ehe wir daran denken können, eine Idee in ſie hineinzuhämmern.“ Das Feuer meiner Begeiſterung verflog angeſichts des neu entfachten theoretiſchen Streites, der bei uns Deut⸗ ſchen ſo oft an Stelle des Handelns tritt. Die Demon⸗ ſtrationen gegen den preußiſchen Landtag beſchränkten ſich auf ein paar große Verſammlungen, denen erſt das Aufgebot von Polizei und Militär Bedeutung verlieh. Die Schulvorlage wurde angenommen. Graf Bülows 556 Politik der Ablenkung des Volksintereſſes bewährte ſich wieder einmal: die Blicke aller derer, die nicht zu un⸗ ſeren Kerntruppen gehörten, richteten ſich wie hypnoti⸗ ſiert auf die internationalen Verwickelungen. Von der feindſeligen Verſtimmung ſprach der Reichskanzler, als die neue Flottenvorlage dem Reichstag zuging: „Deutſch⸗ land muß ſtark genug ſein, ſich im Rotfall allein be⸗ haupten zu können! Von dem Ernſt der Zeit, von der Rotwendigkeit, eine ſtets ſchlagbereite Armee zu haben, ſprach der Kaiſer. So wurde gegen die revolutionäre die patriotiſche Stim⸗ mung ausgeſpielt. Wir hatten gearbeitet, den Blick krampfhaft vorwärts gerichtet, beſinnungslos. Wir hatten unſer Programm erfüllt, waren jeder tieferen Volksregung nachgegangen; es hatte an aufrichtiger Anerkennung nicht gefehlt, und trotz allen lauten und leiſen Wühlens gegen uns war in kurzer Zeit ein Stamm von Leſern gewonnen werden. Aber die Koſten der Zeitſchrift überſtiegen bei weitem die Einnahmen. Wir konnten nicht länger die Augen da⸗ vor verſchließen, daß unſere Mittel auf einen winzigen Reſt zuſammengeſchmolzen waren. „Drei Jahre müſſen Sie aushalten können, dann haben Sie ſich durchgeſetzt,“ ſagte uns ein treuer Ge⸗ noſſe, der zugleich ein guter Geſchäftsmann war. „Drei Jahre!“ wiederholte ich in Gedanken. „Wo wir kein Vierteljahr mehr geſichert ſind! „Wir dürfen die Flinte nicht ins Korn werfen, heute 557 weniger als je,“ erklärte mein Mann; „denn jetzt ſchä⸗ digen wir dadurch die Sache.“ Die Furcht flüſterte mir zu: „Gib auf, ſolang es noch Zeit iſt.“ „Heinrich ertrüge es nicht,“ antwortete die Stimme meines Herzens. Um jene Zeit kam meine Schweſter nach Ber⸗ lin zurück. Sie war in einem Sanato⸗ rium geweſen und hatte dann eine lange Seereiſe gemacht. „Run bin ich heil und geſund,“ damit trat ſie wieder vor mich hin, „und jetzt komme ich zu dir und will arbeiten.“ Mit ungläubigem Lächeln ſah ich ſie an. „Meinſt du etwa, ich hielte auf die Dauer ſolch zweck⸗ loſes Leben aus?“ ſchmollte ſie, weil ich ſie nicht ernſt nehmen wollte. „Im Sanatorium war einer mein Tiſchnachbar, der ein heimlicher Genoſſe iſt,“ fuhr ſie zu plaudern fort. „Er holte nach, was du zu tun verſäumteſt; gab mir Bücher und Zeitungen und klärte mich auf. Ich bin überzeugte Sozialdemokratin.“ „Aber Ilſe!“ lachte ich. „Du?! Die Aſthetin?! Du mit deinem Grauen vor dem Pöbel?! Run wurde ſie wirklich böſe. „Iſt es ſo unwahr⸗ ſcheinlich, daß man ſich entwickelt? — Biſt du vielleicht als Genoſſin auf die Welt gekommen?! — Ich bildete mir ein, dir mit dieſer Rachricht eine beſondere Freude zu machen, und nun glaubſt du mir nicht! Aber ich 558 werde dir beweiſen, wie ernſt ich es meine: noch heute will ich mich dem Vertrauensmann meines Wahlkreiſes vorſtellen, ich werde ſogar Flugblätter austragen, wenn er mich brauchen kann.“ Ich war noch ganz benommen von der erſtaunlichen Wandlung meiner Schweſter, als Heinrich ſie begrüßte. Er fand ſich raſcher in die veränderte Situation. „Da hätten wir ja eine neue Mitarbeiterin,“ ſagte er lebhaft. „Ja, — ob ich aber ſchreiben kann?!“ meinte ſie zögernd. „Sind nicht alle ihre Briefe druckreifes Manuſkript? wandte er ſich an mich. „Und prädeſtiniert ſie nicht ihre ganze Vergangenheit, gerade das wichtige, noch ſo ſehr vernachläſſigte Gebiet der künſtleriſchen Volkserziehung zu dem ihren zu machen? Alles Fremde, das ſeit Jahren zwiſchen uns geſtanden hatte, war jetzt vergeſſen. Die kleine Ilſe war wieder mein Kind, wie einſt, da ſie nichts ſo gerne hörte wie meine Geſchichten, mit nichts ſpielen mochte als mit den Spielen, die ich erfand. Ich ſtreckte ihr beide Hände entgegen: „Du brauchſt keine Flugblätter auszutragen, um zu beweiſen, daß du zu uns gehörſt. In der Partei iſt viel Raum für Kräfte wie die deinen.“ Am Abend ſah ich an Heinrichs grübleriſchem Ge⸗ ſichtsausdruck, daß irgendein Gedanke ihn beſchäftigte. Er ging ſchweigſam im Zimmer auf und nieder. End⸗ lich blieb er vor mir ſtehen: „Was meinſt du, wenn wir Ilſe aufforderten, ſich an der Reuen Geſellſchaft mit einem Kapital zu beteiligens 559 Ich hob die Hände, als gelte es einer Gefahr zu begegnen. „Um Gottes willen nicht!“ rief ich aus. „Du ſcheinſt deiner Schweſter wenig zuzutrauen, entgegnete er ſtirnrunzelnd. „Daß wir alles aufs Spiel ſetzen, iſt dir ſelbſtverſtändlich; daß Ilſe einen Bruchteil ihres Vermögens opfern ſoll, kommt dir unmöglich vor. Und doch könnte das ihr geben, was ihr fehlt: einen ernſten Lebensinhalt, einen Antrieb zur Arbeit, die mehr iſt als Laune und Spielerei.“ Ich widerſprach auf das heftigſte: „Was wir tun und laſſen, iſt unſere Sache, aber die Verantwortung für Ilſe dürfen wir nicht auf uns nehmen. Riemals ertrüg' ich's, ſie in unſeren Ruin hineinzuziehen! Heinrich brauſte auf. „Wie kannſt du von Ruin ſprechen, wo uns nichts fehlt als die Mittel, noch einige Zeit auszuhalten, — wo wir in zwei, drei Jahren über das ſchlimmſte hinaus ſein werden! Haſt du ſo gar keinen Glauben an die eigene Sache? „Ich habe ihn, Heinz, ich hab ihn gewiß —,“ meine Hände preßten ſich flehend ineinander, „— aber lieber will ich mir die Finger blutig ſchreiben, lieber will ich von Ort zu Ort gehen, um die Mittel für die Neue Geſellſchaft zuſammenzubringen, als daß ich mich an Ilſe wende.“ Mit gerunzelten Brauen ſah Heinrich mich an. „Ich finde deinen Standpunkt kleinlich, — deiner und deiner Schweſter unwürdig. Sie wird ſich freuen, mit einem Teil ihres Überfluſſes etwas Rützliches leiſten zu können.“ Aber ich ließ mich nicht überzeugen. „Laß uns we⸗ nigſtens noch verſuchen, ob ſich nicht auf anderem Wege 560 Hilfe ſchaffen läßt,“ bat ich. Heinrich ſchwieg, ſicht⸗ lich verletzt. Alle Schritte, die er in den nächſten Wochen unter⸗ nahm, waren umſonſt. Immer näher rückte die Zeit, die uns vor die letzte Entſcheidung ſtellte. Mich ſchauderte im Gedanken daran. ¹. Als ich ihn eines Abends wieder von einer vergeb⸗ lichen Reiſe zurückkehren ſah, — ſo müde, ſo ge⸗ brochen, da hielt es mich nicht länger: „Geh zu Ilſe, ſagte ich. War es der Leichtſinn der Jugend, war es die Überzeugungskraft der Reife, die Ilſe ohne einen Augenblick des Überlegens dem Vorſchlag Heinrichs entſprechend handeln ließ? Wie kam es nur, daß in dem Augenblick, wo ſie ſich nicht nur im Denken, ſondern auch im Handeln mit mir vereinte, ein kalter Reif auf die kaum wieder entfaltete Blume meiner Schweſterliebe fiel? Irgendeine Feſſel, die die freie Bewegung meiner Glieder hemmte, wurde ſchmerz⸗ haft angezogen. Eine Unraſt der Arbeit packte mich, die mich jede ruhige Stunde als Unterlaſſungsſünde empfinden ließ. Selbſt in den Augenblicken, wo die Sache, der ich diente, mich ganz zu packen ſchien, fiel mir ein, daß ich arbeiten mußte, um das Geld meiner Schweſter nicht zu verlieren. Daß die Arbeitsgemeinſchaft mit meinem Mann unſere L ebe zueinander feſtigen ſollte, — daran dachte ich kaum 561 mehr. Kam mir in heißen Rächten nach gehetzten Tagen die Erinnerung daran, ſo grauſte mich's. Ich ſaß meinem Mann gegenüber, tagaus, tagein, über Manuſkripte und Korrekturen gebeugt. Ich hatte keine Gedanken mehr, mich für den Geliebten zu ſchmücken, keine Zeit mehr für das ſüße Spiel der Liebe, für Suchen und Finden, Zurückſtoßen und Wiedererobern. Nur für mein Kind ſtahl ich mir morgens und abends noch eine Stunde; aus der Friſche ſeines Denkens und Fühlens floß mir der Tropfen Lebensfreude, den ich brauchte, um weiter ſchaffen zu können. Meinen kleinen Haushalt überließ ich nun ſchon lange der Berta. Zuweilen wunderte ich mich wohl, daß er bei ſeiner Einfachheit ſo koſtſpielig war. Aber jede Spur von Mißtrauen lag mir fern. Opferte die Berta uns nicht ihre ganze Arbeitskraft? War ſie es nicht, die unter Hinweis auf die entſtehenden Koſten jede fremde Hilfe ablehnte und alles allein beſorgte? Eines Tages ſah ich ein goldenes Armband auf ihrem Rähtiſch liegen. „Mein Onkel hat es mir zum Ge⸗ burtstag geſchenkt,“ ſagte ſie. Bald darauf brachte die Portierfrau, als ſie abweſend war, ein Paket für „Fräulein Berta“, die Uhrkette ſei darin, die ſie ſich durch ſie habe beſorgen laſſen, fügte ſie erklärend hinzu. Ich wurde ſtutzig und ließ mich in ein Geſpräch mit ihr ein. „Auch das Armband hat mein Mann beſorgt,“ ſchwatzte ſie, „es koſtete nur ſechzig Mark. Und Fräu⸗ lein Berta kann ſich wohl mal was ſelber gönnen, nachdem ſie immer das viele Geld nach Hauſe ſchickt.“ Rach Hauſe?! dachte ich verblüfft, ihr Vater war Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 36 562 doch, wie ſie oft genug erzählt hatte, in behäbiger Lage. Run verfolgte ich erſt aufmerkſam ihr Tun und Laſſen. Im Lauf einer Woche hatte ich alle Be⸗ weiſe in der Hand: ſeit Jahren war ich von ihr be⸗ trogen worden. Im erſten Gefühl der Empörung wollte ich ihre Unterſchlagungen zur Anzeige bringen. Aber dann ſchämte ich mich. War ich nicht die Schuldige geweſen? Ich, die ich dem einfachen Bauernmädchen eine Freiheit gelaſſen, eine Selbſtändigkeit aufgebürdet hatte, der ſie geiſtig und moraliſch nicht gewachſen war; ich, die ich ſie aus Dankbarkeit mit Geſchenken über⸗ häuft hatte, die ihre Eitelkeit, ihre Habſucht erwecken mußten? Sie war für die Lebensſphäre, in die ſie zurücktreten mußte, bei mir und durch mich verdorben worden. Ich entließ ſie; ich bekannte meinem Mann meine Schuld. Von nun an mußte ich mich um die täglichen Sorgen des Haushalts kümmern, mußte vor allem die Zeit erübrigen, um mit meinem Buben ins Freie zu gehen. Ich war viel zu ängſtlich, um ihn ſich ſelbſt zu überlaſſen. Wie müde fühlte ich mich, wenn ich abends ſchlafen ging! Wie zerſchlagen, wenn ich morgens erwachte! Wie lange noch würde ich aus⸗ halten können?! Und mehr denn je verlangte unſere Arbeit die ganze Rervenkraft, die volle Anſpannung des Willens. Ein neuer Parteiſkandal forderte gebieteriſch unſere Stellung⸗ nahme. Die Auseinanderſetzungen über den Maſſen⸗ ſtreik hatten in einem Teil unſerer Tagespreſſe wieder die Formen perſönlichen Gezänks, gegenſeitiger Ver⸗ dächtigungen angenommen. Zur Empörung der radi⸗ 563 kalen Berliner vertrat das Zentralorgan der Partei den Standpunkt der Gewerkſchaften, und obwohl der Jenaer Parteitag eine wenigſtens äußere Verſtändigung zwiſchen beiden Richtungen herbeiführte und auch die Preßfehde zu ſchlichten ſchien, ließ ſich Groll und Mißtrauen nicht durch Reſolutionen beſeitigen. Trotz aller gegenſeitigen Verſicherungen blieb die Mehrheit der Vorwärts⸗Redak⸗ tion, die ihre Anſichten weder dem Votum der Maſſe unterwerfen, noch ſich zu einem Inquiſitions⸗Tribunal hergeben wollte, des Reviſionismus verdächtig. Kaum war der Parteitag vorüber, als der Parteivorſtand mit den Berlinern in Verhandlungen eintrat, deren Reſultat die Entlaſſung und der Erſatz eines oder mehrerer Re⸗ dakteure und die Reugeſtaltung der Mitarbeiterſchaft über den Kopf der Redaktion hinweg ſein ſollte. Hinter verſchloſſenen Türen, mit ſtrengſtem Schweigegebot für die Teilnehmer und — unter Ausſchluß der Angeklagten ging das alles vor ſich. Ein Fehmgericht nach dem⸗ ſelben Prinzip wie das, dem ich einmal ſeitens der Frauen unterworfen worden war. Wo war hier die Gleichheit, wo die Brüderlichkeit?! Als die Redaktion trotz aller Vorſichtsmaßregeln von den Vorgängen er⸗ fuhr und der Parteivorſtand ihren Proteſt gegen ein allen Grundſätzen der Demokratie hohnſprechendes Ver⸗ halten ſchroff zurückwies, handelte ſie, wie organiſierte Arbeiter handeln, wenn der Unternehmer ihre Kame⸗ raden ohne ſie zu hören mit Ausſperrung bedroht: ſie erklärte ſich in ihrer Mehrheit ſolidariſch, reichte ihre Entlaſſung ein und begründete ihre Handlungsweiſe vor der Offentlichkeit. Mit gezückten Schwertern ſtan⸗ den einander nun wieder zwei Richtungen in der Partei 36* 564 gegenüber. Aber die Maſſe vertrat nicht die Prinzipien der Demokratie, ſondern die der Deſpotie. „Wie können wir noch mit freier Stirn unſere Ideale gegenüber der Willkürherrſchaft monarchiſchen Abſolu⸗ tismus verteidigen,“ ſchrieben wir in der Reuen Ge⸗ ſellſchaft, „wie können wir die Selbſtherrlichkeit des Unternehmertums, ſeinen rückſichtsloſen Herrenſtandpunkt gegenüber dem Arbeiter angreifen, wenn der Gegner uns mit den eigenen Waffen zu ſchlagen vermag? Wie können wir an den endlichen Sieg unſerer Sache glauben und uns unterfangen, andere davon überzeugen zu wollen, wenn die Anſichten einzelner, — hier des Parteivor⸗ ſtands, ganz beſonders die Bebels, — zum Kredo er⸗ hoben werden und jeder Andersgläubige der Ketzerei beſchuldigt wird, — ungehört, wie bei den Hexenpro⸗ zeſſen? . . . Die Redakteure haben ihre Schuldigkeit ge⸗ tan, tun wir die unſere! . . . Wie der Stein, der in den Teich geworfen wird, nicht nur weite und immer weitere Kreiſe zieht, ſon⸗ dern auch den Grund aufwühlt, ſodaß dieſer plötzlich in das klare Waſſer ſchwarz und ſchlammig empor⸗ ſteigt, ſo war es hier. Man hatte vergeſſen, den Grund zu ſäubern und auszumauern, ehe der friſche Quell des Sozialismus hineingeleitet wurde. Die Moral der bürgerlichen Geſellſchaft, die ihr das Chriſten⸗ tum mit Feuer und Schwert und Verfolgung ein⸗ geimpft hatte, beherrſchte alles menſchliche Denken und Fühlen. „Beſſer unrecht leiden, als unrecht tun,“ predigten ſalbungsvoll unſere Parteiblätter; alſo ſich beugen, ſich der Macht unterwerfen, Demut und Unterwürfigkeit für 565 der Tugenden größte erklären, — konnte, durfte das die Ethik des Sozialismus bleiben? Ich empfand das alles nur dumpf, wie einen Traum; ich hatte keine Zeit, Gedanken zu formen; ich hatte auch keine Kraft. Sonderbar, wie elend ich mich fühlte. Als ſtünde mir eine große Krankheit bevor. Ich ballte die Hände, ſodaß die Rägel mich in der Handfläche ſchmerzten: ich durfte nicht krank werden. Oft wenn ich mit meinem Sohn durch die Straßen ging, überfiel mich ein Schwindel. Dann lehnte ich mich an irgend eine Mauer, und er blieb vor mir ſtehen, die großen ernſten Augen ängſtlich auf mich gerichtet. Und wenn ich abends mit irgend einer notwendigen Räharbeit bei ihm war, und er mir mit all dem überzeugten Pathos des Kindes vorlas, — Märchen und Gedichte, die feierlichſten am liebſten, — dann brauſte es mir vor den Ohren, ſodaß ich kaum ſeine Stimme noch hörte. Was war das nur? Meinem Mann verſchwieg ich meinen Zuſtand. Mein Junge war mein Vertrauter und mein Verbündeter zu⸗ gleich. Er hatte mir verſprechen müſſen, dem Vater nichts zu ſagen. „Papachen hat ſoviel Arger, er ſoll ſich nicht auch noch um mich Sorge machen!“ — Und dies erſte Zeichen eines freundſchaftlichen Vertrauens ſeiner Mutter hatte ihn ſichtlich reifer gemacht. Aber dann kam ein grauer Tag; der Regen klatſchte unaufhörlich an die Scheiben; um meinen Kopf lag es wie ein Band von Eiſen. Plötzlich aber mußte ich vom Stuhle ſpringen, auf dem ich zuſammengekauert geſeſſen 566 hatte; ein Gedanke traf mich, blendend wie ein Blitz. Wie hatte ich nur ſo lange fragen können, was mir fehlte: ich war guter Hoffnung. „Guter“ Hoffnung?! Sehnſüchtig hatte ich mir oft noch ein Kind gewünſcht, hatte, wenn ich meinen Buben anſah, es faſt als ein Raturgebot empfunden, mehr ſeinesgleichen zu gebären. Und jetzt? Wie anders fühlte ich mich, als da ich ihn unter dem Herzen trug: ſchwach, ſchwermütig, arbeits⸗ unfähig. Und ich mußte doch arbeiten! Seit wir in dem letzten Parteikampf ſo energiſch die Rechte der Minderheit vertreten hatten, regnete es An⸗ griffe auf das „parteiſchädigende Treiben der Reuen Geſellſchaft“. Auf weſſen Tiſch die rotleuchtende Flammen⸗ ſchrift unſeres Blattes entdeckt wurde, der erſchien ſchon verdächtig. Wenn meine Schweſter kam, wurde mir heiß und kalt. Etwas wie Schuldbewußtſein machte mich ihr gegenüber immer ſcheuer. Wir mußten uns durchſetzen, — um jeden Preis! — Und ich biß die Zähne zu⸗ ſammen und trug ſchweigend meine Qual, bis ich nicht mehr konnte. Meine Arztin machte ein ernſtes Geſicht: „Sie müſſen ſich vollkommen ruhig halten, ſich vor jeder Aufregung hüten,“ ſagte ſie mit ſcharfer Betonung. Ich verzog den Mund zu einem Lächeln und ging heim, als ſchleppte ich eine Zentnerlaſt mit mir. Und wenn ich mich in irgend einen Erdenwinkel hätte ver⸗ kriechen können, ſie würde weiter drückend auf mir liegen. Wen einmal die Sorge umſtrickt, den hält ſie feſt. Eine krankhafte Angſt bemächtigte ſich meiner. Ich fürchtete mich vor dem keimenden Leben in mir wie 567 vor einem Mörder. Ich malte mir in dunkeln Racht⸗ ſtunden den Augenblick ſchreckhaft aus, wo der Ruin vor der Türe ſtand. Und dann brach ich zuſammen. Ehe das Kind in meinem Schoß Leben geweſen war, ſtarb es. Wäh⸗ rend der langen dunkeln Stunden, die ich nun re⸗ gungslos auf dem Rücken lag, richtete das Ungeborene zwei ſtarre Augen auf mich, anklagend, richtend. Und ich beweinte es, als hätte es ſchon in meinen Armen gelegen. Als ich wieder aufſtehen durfte, nahm ich aus meiner Großmutter Zeichenmappe ein kleines, in zarten Farben gemaltes Bild: ein Köpfchen mit weißen Roſen bekränzt, — ihr jüngſtes Kind, das geſtorben war, ehe ſeine Lippen das erſte „Mutter“ zu lallen vermochten. Ich ſtellte es auf den Schreibtiſch vor mich hin. Es ſollte mich zu jeder Stunde daran erinnern, daß mein Kind zum Opfer gefallen war. Ich erholte mich ſchwer. Mir fehlte der Wille zur Kraft. Eines Abends ſaß ich mit meinem Sohne zuſammen unter der grünumſchirmten Lampe. Er war in das Buch vertieft, das aufgeſchlagen vor ihm auf dem Tiſche lag. „Das mußt du hören, Mama,“ rief er aus; ſeine Augen glänzten vor Entzücken. „Run geht in grauer Frühe Der ſcharfe Märzenwind, Und meiner Qual und Mühe Ein neuer Tag beginnt . . .“ las er. In den Stuhl zurückgelehnt, hörte ich ihm zu. 568 „Kein Dräuen ſoll mir beugen Den hochgemuten Sinn; Ausduldend will ich zeugen, Von welchem Stamm ich bin Ich richtete mich auf. „Ausduldend will ich zeugen, von welchem Stamm ich bin,“ wiederholte ich leiſe, nahm meines Kindes Kopf zwiſchen beide Hände und küßte ihn auf die Stirn. Es war ein Gelöbnis. 569 Sechzehntes Kapitel Wie die Haſen auf der Treibjagd werden die Revolutionäre von den Soldaten zuſammen⸗ geſchoſſen,“ — „fünfzehntauſend Gefallene bedecken Straßen und Barrikaden —,“ ſo meldete der Telegraph aus Moskau; „die Regierung hat uns be⸗ trogen! Der Zar hat ſein Verſprechen gebrochen! Die Knute der Koſaken herrſcht wieder über uns,“¹ — ſo klangen die Verzweiflungsſchreie der Freiheitskämpfer über die Grenze. Und ſchwer und dumpf grüßten die Glocken das Jahr 1006. Auf den eroberten Gebieten des Abſolutismus hatten unſere ruſſiſchen Brüder ihre Siegeszeichen aufgepflanzt, und an ihnen waren die üppigen Ranken unſerer Hoff⸗ nung wuchernd emporgewachſen. Jetzt lagen ſie am Boden. Die Soldaten der Reaktion traten darauf. Und doch bedurften wir in dem Kampf, den wir führten, der Siegeszuverſicht. Ein rocher de bronce war Preußen noch immer, dem er galt, denn als die Frage der Abänderung des Drei⸗ klaſſenwahlrechts im Landtag endlich zur Beſprechung kam, da erklärte die Regierung: das Reichstagswahl⸗ 570 recht iſt unannehmbar, und fügte der Abſage durch den Mund des Miniſters von Bethmann Hollweg die ver⸗ ſteckte Drohung hinzu: „das Gefühl der Unluſt beſteht ja auch im Reiche, wo wir noch dieſes angeblich ideale Wahlrecht beſitzen.“ Roch! — Wir hatten achtzig Ab⸗ geordnete im Parlament, und doch würde Preußens Re⸗ aktion ſie mit einer Handbewegung beiſeite ſchieben. Es klang wie ein Hohn unſerer Ohnmacht, wenn der Kanzler die Machtmittel des Staats für ausreichend erklärte, um „Pöbelexzeſſe zu verhindern.“ Er hatte recht. Es kam zu keinen Exzeſſen. Die Einführung des Zolltarifs ſtand vor der Türe. Mit neuen Steuern und Abgaben drohte eine Reichsfinanzreform. Im Hinter⸗ grund lauerte das Raubtier des Kriegs, und die Diplo⸗ maten, die mondelang in Algeciras beiſammenſaßen, um es in Ketten zu legen, ſchienen es ſtatt deſſen groß zu füttern. Für neue Kriegsſchiffe agitierten die Regie⸗ rungsparteien und malten den Weltbrand glutrot auf die leere Leinwand der Zukunft. Aber das Volk hörte gleichgültig zu, als ginge es das alles nichts an. Wo es im Laufe der letzten Jahre bei Nachwahlen zum Reichstag um ſein Verdikt gefragt worden war, hatte es Junkern und Junkergenoſſen das Feld überlaſſen. „Mir iſt eine kleine Schar überzeugter Genoſſen lieber, als eine große Menge unſicherer Mitläufer, hatte Bebel wiederholt geſagt. Das ſollte ein Troſt ſein und war bei Licht beſehen nur die Konſtatierung einer Tatſache, denn der Zuzug aus bürgerlichen Kreiſen 571 hatte ſich verlaufen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlich⸗ keit, — das war der Trunk geweſen, an dem ſich deutſche Träumer von jeher berauſcht hatten. Diesmal war er von der Sozialdemokratie kredenzt worden. Als ſie aber erwachten und die Welt noch immer nicht ihren Dichteridealen entſprach, und die Genoſſen die Ritter vom heiligen Gral nicht waren, die ſie in ihnen ge⸗ ſehen hatten, da verſanken ſie wieder in politiſche Gleich⸗ gültigkeit. In die Maienpracht junger Hoffnungen war der Reif der Enttäuſchung gefallen. Es ſchien faſt, als ob alle Knoſpen daran ſterben ſollten. An jenem „roten Sonntag“, der in ganz Preußen der Demonſtration gegen das Dreiklaſſenwahlrecht ge⸗ widmet war, ſprach ich in einem kleinen Fabrikort Brandenburgs. Es war ein trüber Abend; der Saal lag abſeits zwiſchen hohen Mauern in einem feuchten Grunde. Mein Appell an die Begeiſterung, an die Widerſtandskraft verhallte wirkungslos. Und es war nicht nur meine Schuld, daß das Feuer nicht brennen wollte. Regenſchauer hatten das Holz naß gemacht, ſo daß es nur kniſterte. Wir proteſtierten gemeinſam gegen die preußiſche und gegen die ruſſiſche Reaktion, aber mir ſchien, als ſtünde hinter dieſem Proteſt nicht der Wille zur Tat, ſondern ein reſigniertes Gefühl der Ohnmacht. 572 Die Neue Geſellſchaft führte die Sprache der Kraft. War ſie nicht mehr die der Maſſen, daß ſie ſie nicht hören wollten? Frühling und Sommer zogen an unſeren Fenſtern vorbei. Wir ſaßen gebückt am Schreibtiſch und wagten nicht, einander in das Antlitz zu ſchauen. Zuweilen war mir wie einem, der in eine Hütte mit blinden Scheiben geſperrt iſt und nichts ſieht als den Staub und die Dürftigkeit der nächſten Rähe. Dann durſtete ich ſo ſehr nach Luft und Sonne, daß ich jeden Hauch, der durch die Türe drang, jeden Strahl, der ſich hinein verirrte, wie einen Boten der Erlöſung begrüßte. Meine Schweſter hatte ſich verlobt. „Jetzt erſt weiß ich, was Liebe iſt,“ hatte ſie mir mit glühenden Wangen und heißen Augen zugeflüſtert. Das Leben war ihr viel ſchuldig geblieben, darum glaubte ich freudig daran, und ihr Glück ließ mich ihr gegen⸗ über freier atmen, darum unterdrückte ich jeden Zweifel. Sie führte uns ihren Verlobten zu, einen jungen Arzt, hinter deſſen auffallender Schweigſamkeit ich den Menſchen zu ſehen mich zwang, den ſie lieben konnte. Sie heirateten bald. Auf den Höhen der Schwäbiſchen Alb übernahm er die Leitung eines Sanatoriums. Sie ſchrieb Briefe, die ein einziger Jubel waren, und ſandte Bilder mit Bergen und Wäldern und weiten Blicken über friedliche Täler. Aber es ſiel auf meine Seele nur wie ein Sonnenſtrahl aus dem Gewölk, das ſich danach nur noch dichter und dunkler zuſammenzog. 573 Um jene Zeit erging von einem aus den An⸗ hängern der verſchiedenſten Parteien beſtehen⸗ den engliſchen Komitee, dem unter anderen auch eine große Zahl engliſcher Parlamentsmitglieder angehörte, an die Zeitungen aller deutſchen Parteien die Einladung zu einem Beſuch nach England. An⸗ geſichts der gewiſſenloſen Hetze und der Kriegstreiberei höfiſch⸗militäriſcher Kreiſe und ihrer Werkzeuge in der Preſſe ſollte dieſe Veranſtaltung dazu dienen, die wahre Geſinnung des engliſchen Volkes kennen zu lernen und die freundſchaftlichen Beziehungen der beiden Länder wieder fördern zu helfen. Keir Hardie, der Führer der engliſchen Arbeiterpartei, hatte die Einladung mit unter⸗ zeichnet. Auch bei der Redaktion der Reuen Geſell⸗ ſchaft lief ſie ein, von einem Brief meines alten Freundes Stead begleitet, der die Hoffnung ausſprach, wir würden ihr Folge leiſten. England! Wieviel Erinnerungen wurden in mir wach! Es war mir das Sprungbrett des neuen Lebens geweſen. Vielleicht, daß es mich nun aus ſeinem La⸗ byrinth wieder ins Freie zu führen vermöchte! Meine Hoffnung ſah einen Weg aus der Rot und der Enge heraus, — und wenn's nur ein flüchtiges Aufatmen wäre in freier Luft! Mein Mann legte die Einladung beiſeite wie etwas ſelbſtverſtändlich Abgetanes. „Meinſt du nicht, daß ich ſie annehmen könnte, — in unſerem Ramen,“ fragte ich zögernd. „Ich möchte fort, — hinaus, ein einziges Mal nur!“ — Er ſah verwundert von der Arbeit auf. „Wenn dir 574 ſoviel daran liegt, bedarf es gar nicht der tragiſchen Gebärde!“ antwortete er ruhig. Run erſchien mir mein Wunſch doch im Lichte ſträf⸗ licher Vergnügungsſucht. Ich mußte mich und ihn be⸗ ruhigen, der nicht anders denken mochte: „Ich werde Berichte ſchreiben, — neue Beziehungen anknüpfen. Vielleicht verſchaffe ich mir ſogar bei der Gelegenheit die Korreſpondenz für ein engliſches Blatt.“ Der Gedanke beſonders elektriſierte mich: das wäre doch eine Sicherheit, wenn die Neue Geſellſchaft zu⸗ ſammenbräche. Kurz vor meiner Abreiſe beſuchte uns Reinhard. „Ich leſe Ihren Ramen unter denen der Journaliſten, die nach England fahren,“ begann er erregt. „Gewiß,“ entgegnete ich, „und was haben Sie da⸗ gegen? Keine der berühmten bindenden Parteitagsreſo⸗ lutionen hindert mich daran! „Aber Ihr Gefühl müßte es tun,“ brach er los: „wollen Sie ſich denn gewaltſam jeden Vertrauens be⸗ rauben?! Kein Genoſſe wird es begreifen, daß Sie mit einer Reihe unſerer ärgſten Gegner gemeinſame Sache machen! „Schlimm genug, wenn dem wirklich ſo ſein ſollte!⸗ rief ich aus. „Haben wir nicht auf dem Heimarbeiter⸗ ſchutzkongreß mit Gegnern zuſammen gearbeitet, tun wir es nicht dauernd im Parlament? Und mir ſollte es ver⸗ dacht werden, wenn ich mich an einer Reiſe beteilige, deren Zweck durchaus im Intereſſe der Partei liegt? Wir Mitreiſenden ſollen uns doch nicht untereinander verbrüdern; uns wird nichts als die Gelegenheit ge⸗ boten, es mit aufrichtigen Friedensfreunden in England zu tun.“ 575 „Das mag alles ſo ſein, wie Sie ſagen,“ antwortete er, „trotzdem dürfen Sie — gerade Sie, deren Stellung doch ſchon ſchwierig genug iſt — nicht als einzelne der Empfindung der Maſſen entgegenhandeln.“ Ich warf den Kopf zurück. Jetzt erſt wußte ich, daß dieſe Reiſe nicht nur meine perſönliche Angelegenheit war. „Ich verſtehe Ihre gute Abſicht,“ ſagte ich, „aber wenn etwas mich in meinem Vorhaben noch beſtärken könnte, ſo ſind es die Gründe, durch die Sie mich da⸗ von abbringen wollen. Richts iſt mir von jeher ſo ver⸗ ächtlich geweſen wie Lakaiengeſinnung, gleichgültig ob ſie vor dem einzelnen oder vor der Maſſe zum Ausdruck kommt —“. „Ich mute Ihnen doch nicht Lakaiengeſinnung zul“ unterbrach er mich heftig. „Was iſt es anderes, wenn Sie verlangen, ich ſollte mich der Empfindung der Maſſe beugen, nicht weil ſie die rechte, ſondern weil ſie die herrſchende iſt?! Wir kommen nie vom Fleck, wenn wir unſere beſſere Ein⸗ ſicht nicht zur Geltung bringen; wir erziehen dadurch im Volk nur einen noch beſchränkteren, noch deſpotiſcheren Herrſcher, als unſere Fürſten es ſind.“ „Im Grunde bin ich ja Ihrer Meinung,“ lenkte er ein; „es handelt ſich doch in dieſem Fall nur um eine kleine Konzeſſion, für die Sie größere Werte eintauſchen werden.“ Ich lachte ſpöttiſch auf: „Meinen Sie?! Man wird mir nicht mehr vertrauen und mich nicht weniger ver⸗ leumden, wenn ich auf die Reiſe verzichte. Aber man wird wiſſen, daß ich kein Zeug zum Demagogen habe, wenn ich auf meinen Entſchluß beharre, — auch jetzt, wo mir die Folgen klar ſind. 576 Reinhard verabſchiedete ſich kühl und fremd. Er war einer der Beſten und Selbſtändigſten unter den Genoſſen. „Ich fürchte, wir haben ihn verloren,“ ſagte mein Mann. Ich unterdrückte einen ſchweren Seufzer. Mitte Juni reiſten wir ab. Schon im Zuge, der uns nach Bremerhaven führte, freute ich mich der Gegenwart Theodor Barths; — ein freier Menſch und ein Gentleman, alſo einer der Sel⸗ tenen, mit denen ſich über alle trennenden Schranken der Politik verkehren läßt. Auf dem Schiff fanden ſich die übrigen Reiſegefährten ein: neunundvierzig Jour⸗ naliſten, unter denen ich die einzige Frau war. Ich empfand, wie meine Anweſenheit ſie beunruhigte. Sollten ſie mich als Dame oder als Sozialdemokratin behandeln? Sie entſchloſſen ſich in der Mehrzahl, ihrer politiſchen Geſinnung auch auf dem neutralen Boden unſeres Dampfers unverfälſchten Ausdruck zu geben. Offenbar ſtörte es ſie nur, daß ich ihnen durch mein Benehmen keinen beſſeren Anlaß dazu bot. Ich kümmerte mich wenig um ſie; mit durſtigen Zügen atmete ich die friſche Salzluft ein, und mit jeder Meile, die wir uns von der Küſte entfernten, ſiel mehr und mehr von mir ab, was laſtend und quälend mein Herz bedrückte. Ich ſtand lange am Zwiſchendeck, wo ſie bei⸗ einander hockten, all die Männer, Frauen und Kinder, die das Vaterland ausgeſtoßen hatte. In dem Antlitz der meiſten blitzte etwas wie Zukunftshoffnung auf. Faſt dünkte es mich beneidenswert: das alte Leben hinter 577 ſich zu laſſen und nur mit dem leichten Bündel unter dem Arm einem neuen entgegen zu gehen. In London hatte Beerbohm Tree in ſeinem Theater für die deutſchen Gäſte den erſten Empfang bereitet. Ich ging nicht hin; unſere heimiſche Bühnenkunſt hat uns den Geſchmack für ein Komödiantentum verdorben, das vielleicht vor fünfzig Jahren auch bei uns noch das herrſchende war. Ich erwartete ſtatt deſſen Stratfords Beſuch. „Wiſſen Sie noch, wie wir damals voneinander gingen?“ fragte er nach der erſten Begrüßung. Ich nickte lächelnd: „Ein Mann, wie Sie, gehört der Sache des Sozialismus, ſagte ich Ihnen.“ „Wären nur nicht der Feſſeln ſo viele, antwortete ich, und Sie riefen mir zu: „wir werden ſie beide zer⸗ brechen müſſen“ — nun haben wir ſie zerbrochen! Überraſcht ſah ich ihn an. „Ich kandidiere als Vertreter der Arbeiterpartei für das Parlament,“ fügte er mit einem Aufleuchten in den hellen Augen hinzu. Ich drückte ihm die Hand. Er ſchien einen Ausdruck größerer Freude erwartet zu haben.. „Haben Sie das Kettenbrechen bereut?! fragte er zweifelnd. „Rein, lieber Freund,“ antwortete ich mit ſtarker Betonung, „nein! Ich erinnerte mich nur der wunden Hände, die es koſtet.“ Am nächſten Morgen ſprach ich John Burns auf der Themſeterraſſe des Parlaments. Mir ſchien, als ſei es geſtern geweſen, daß er mir auf den Marmortiſch die Si⸗ tuation der deutſchen Sozialdemokratie aufgezeichnet hatte. Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 37 578 „Habe ich nicht recht behalten?“ fragte er im Laufe des Geſprächs. „Richt ganz,“ entgegnete ich; „der Druck von außen preßt uns zwar zuſammen, aber er hindert nicht nur die Wirkung über ſeinen Ring hinaus, er trägt auch dazu bei, daß wir unſere Kräfte im gegenſeitigen Klein⸗ krieg verzetteln.“ „Sie übertreiben,“ meinte er leichthin. „Jeder Kampf iſt Leben und weckt Leben! Sie ſind wie der Akteur auf der Bühne, der das Ganze nicht überſehen kann, während wir, die Zuſchauer, von fern mit unſerem Opernglas Handlung und Szenerien begreifen. Der deutſche Reviſionismus ſiegt nicht nur, — er hat ſchon geſiegt.“ Ich lächelte ein wenig von oben herab zu ſeinen apodiktiſchen Sätzen und lenkte die Unterhaltung auf ſein eigenes Wirken. „Ich bin nach wie vor Sozialiſt, gerade weil mich keine Arbeit ſchreckt, wenn es gilt, meiner Überzeugung auch nur einen Fuß breit Boden zu gewinnen,“ ſagte er, „ich ſcheue nichts, wenn der Preis dafür mehr Macht iſt. Wer immer nur zuſchaut und ſchimpft und kriti⸗ ſiert und dazwiſchen moraliſche Bomben wirft, iſt in meinen Augen Anarchiſt.“ Einer der deutſchen Englandfahrer näherte ſich in reſpektvoller Haltung. Unſer langes Geſpräch ſetzte ihn offenbar in Erſtaunen. Er wartete darauf, vorgeſtellt zu werden. Und erſt jetzt fiel mir ein: der John Burns von heute war ja Miniſter! Der Gaſtfreundſchaft, mit der uns die Engländer empfingen, entzog ich mich von da an nur ſelten. Ich 579 hatte meine leiſe Freude an den verblüfften Geſichtern meiner Reiſegefährten, die allmählich einſahen, daß im Lande alter Kultur nur die Erziehung, nicht aber die politiſche Stellung des Einzelnen geſellſchaftliche Unter⸗ ſchiede herbeiführt, und ich merkte erſt jetzt, wo ich ein⸗ mal wieder als Gleiche von Gleichen behandelt wurde, wieviel ich entbehrt hatte. Eines Vormittags beſichtigten wir den Tower. Schon als ich aus dem Hotel trat, war mir aufgefallen, daß die photographiſchen Kameras der engliſchen Reporter ſich plötzlich auf mich richteten. Auf dem Wege kam Bernard Shaw mir entgegen und reichte mir mit einem ſarkaſtiſchen: „Da haben Sie wieder einmal ein unverfälſchtes Zeugnis der deutſchen Sozialdemokratie,“ ein engliſches Morgenblatt. Es enthielt ein Telegramm aus Berlin: „Der „Vor⸗ wärts“ beſchuldigt Frau Alix Brandt, die einzige Ver⸗ treterin der ſozialdemokratiſchen Preſſe bei der England⸗ reiſe deutſcher Journaliſten, des Parteiverrats und kün⸗ digt ihr an, daß ſie ihres unbotmäßigen Verhaltens wegen zur Rechenſchaft gezogen werden würde. Ich ballte das Blatt Papier heftig zuſammen und ſchleuderte es zu Boden. „Das glaube ich nicht,“ ſtieß ich zornig hervor. Shaw lachte: „Und doch iſt nichts gewiſſer, weil nichts folgerichtiger iſt! Die deutſche Partei iſt von nichts freier als von — Freiheit. Sie iſt die konſer⸗ vativſte, die reſpektabelſte, die moraliſchſte und die bür⸗ gerlichſte Partei Europas. Sie iſt keine rohe Partei der Tat, ſondern eine Kanzel, von der herab Männer mit alten Ideen eindrucksvolle Moralpredigten halten. 37* 580 Mit Millionen von Stimmen zu ihrer Verfügung, wider⸗ ſteht ſie den Lockungen des Ehrgeizes und denen realer Vorteile, die ein öffentliches Amt mit ſich bringt, und bezeichnet denjenigen, der ſich von den Freuden tugend⸗ hafter Entrüſtung zu den Arbeiten praktiſcher Verwal⸗ tung wendet oder auch nur an einer allgemeinen Ver⸗ anſtaltung in öffentlichem Intereſſe teilnimmt, als einen Abtrünnigen und Verräter. Freiheit vom Dogmen⸗ glauben iſt eines der Grundprinzipien des echten So⸗ zialismus, — die Deutſchen ſind dogmatiſcher als die Kirchenväter. Der Wille zur Macht iſt ein anderes, — die Deutſchen machen den Willen zur Phraſe daraus. Die Herrſchaft des Geiſtes iſt ein letztes, im Gegenſatz zur Herrſchaft des Kapitals, — die Deutſchen ſtellen das auf den Kopf und verlangen die Unterwerfung unter die Herrſchaft der Maſſe.“ Ich hatte ſeinen raſchen Redefluß, den der Zorn dik⸗ tierte, nicht unterbrochen. Ich hörte den gleichen Ton heraus wie bei den Worten von Burns, und in mir begann eine Saite, die ſchon lange leiſe tönte, lebhaft mitzuſchwingen. Roch am ſelben Abend bekam ich einen Brief von Keir Hardie. „. . Ich bin ganz außerſtande, zu begreifen, welchen der Grund ſein konnte, Ihre Teilnahme an der Eng⸗ landreiſe zu verurteilen,“ hieß es darin. „Es iſt für uns Sozialiſten in England eine ſelbſtverſtändliche Ge⸗ wohnheit, gelegentlich mit Richtſozialiſten zuſammen⸗ zugehen, wenn es im Intereſſe der Förderung einer großen und guten Sache gelegen iſt. Unſere Erfahrung hat uns bewieſen, daß der Sozialismus dadurch nur 581 geſtärkt werden kann. Ich will damit nicht behaupten, daß unſere deutſchen Genoſſen unſerem Beiſpiel un⸗ bedingt folgen müßten, aber im vorliegenden Fall bleibt ihre Haltung Ihnen gegenüber mir vollſtändig unver⸗ ſtändlich . . . Ich ſtand nun plötzlich im Mittelpunkt des Intereſſes und wurde von Interviewern belagert, die von der ganzen Sache keine andere Auffaſſung hatten, als daß die große deutſche Arbeiterpartei ſich dadurch dem Ge⸗ lächter der Welt ausgeſetzt habe. Und ich gab ihnen ſtets die gleiche Antwort: „Die Sozialdemokratie, der ich ſtolz bin anzugehören, hat mit den Quertreibereien einzelner von preußiſchem Polizeigeiſt durchſeuchter Ge⸗ noſſen nichts zu tun.“ Als aber mein Mann mir die Zeitungen ſchickte, — nicht nur den „Vorwärts“, ſon⸗ dern eine ganze Anzahl anderer Parteiblätter, — da ſchämte ich mich und ging den Interviewern ſo weit als möglich aus dem Wege, um nicht reden zu müſſen. Und doch war es weniger die beleidigende Form der Angriffe, die mich verletzte, als die Gehäſſigkeit, die dabei zum Ausdruck kam. Wie ſtark mußte ſie ſein, um alle Klugheit, alle Rückſicht auf das An⸗ ſehen der Partei beiſeite zu ſchieben? Oder gab es etwas Lächerlicheres, als meine Reiſe, — gleichgültig, ob man ſie verurteilte oder nicht, — zu einem Parteiſkandal aufzubauſchen? Nur eine tiefe, innere Krankheit konnte ſolche Symptome zeitigen. Ich kämpfte noch mit mir, ob es nicht meiner unwürdig wäre, mich gegen Aus⸗ brüche der Pöbelgeſinnung zu verteidigen, als ich die Antwort erhielt, die mein Mann der Parteipreſſe hatte zugehen laſſen. Das waren Rutenſtreiche, — es blieb 582 mir nichts zu ſagen übrig. Seltſam nur, daß die Ritter⸗ lichkeit, mit der er für mich eintrat, eine alte Wunde aufs neue bluten machte, ſtatt ſie zu ſchließen. Der Schatten, der ſich mir über Englands ſchöne Sommertage breitete, wich nicht mehr. Ich hatte immer gegen Maſſen⸗Muſeumsführungen, gegen Geſellſchaftsreiſen und dergleichen eine aus⸗ geſprochene Abneigung gehabt. Wem Kunſt und Ratur mehr ſein ſoll als ein Geſprächsthema, der muß ihnen Auge in Auge ſtill und allein gegenüberſtehen. Und wer vor den Heiligtümern der Menſchheit ſeine Andacht verrichten will, der kann es nur in Gegenwart derer, die ſeine Rächſten ſind. Wir traten zuſammen an Shakeſpeares Grab, — es war wie ein Sakrileg. Wir kamen in ſein Geburts⸗ haus und in die blumenumrankte, ſtrohgedeckte Hütte ſeiner Liebſten, — aber Shakeſpeares Geiſt floh vor uns. Wir kamen nach Cambridge, jener alten Univerſität, die ſich den Typus der mittelalterlichen Kloſterſtadt noch erhalten hat. Wer ihre Säulenhallen um alte Gärten allein betreten könnte, dem müßten die Bäume in den Weiſen derer rauſchen und flüſtern, die hier dichteten: eines Marlowe, Milton, Byron. Und wer ſich ſtill an einen alten Pfeiler lehnen und in die dämmernden Bogengänge blicken dürfte, dem würde aus dunkel ge⸗ ſchnitzten Pforten Erasmus von Rotterdam entgegen⸗ treten, und Cromwell, und Rewton. Wir ſahen nur freundliche Profeſſoren und Photo⸗ graphen und hörten Reden und Tellergeklapper. 583 Als die Mehrzahl der Geladenen England wieder verlaſſen hatte, ſprach ich meinen Freund Stead, der als Reiſemarſchall der Gäſte unaufhörlich in Anſpruch genommen geweſen war, zum erſtenmal allein. „Ihnen geht es gut,“ ſagte er, als wir einander in ſeinem Heim gegenüber ſaßen. „Woher wiſſen Sie das?“ fragte ich mit einem bitteren Gefühl im Herzen. „Sollten Sie etwa noch den alten Glücksbegriffen huldigen?“ fragte er dagegen. „Jeder hat ſeine perſönlichen,“ antwortete ich aus⸗ weichend. „Und ſollte nur einen haben, aus dem ſich alle anderen entwickeln: leiſtungsfähig zu ſein,“ ergänzte er. War ich ſchon ſo alt, daß er mir ſolch einen Glücks⸗ begriff zumutete, der mir nur mit äußerſter Selbſt⸗ verleugnung Hand in Hand zu gehen ſchien? „Sie mißverſtehen mich,“ meinte er. „Ich begreife darunter die ſtärkſte Selbſtbehauptung: die Entwicklung aller Fähigkeiten zum äußerſten Maß ihrer Leiſtungs⸗ kraft . . .“ Wir wurden unterbrochen; es war gut ſo, denn um ſo ſtärker prägten ſich mir ſeine Worte ein. Run blieb mir noch übrig, ehe ich heimfuhr, zu erreichen, was ich mir vorgenommen hatte. Ich verhandelte mit verſchiedenen Redaktionen wegen der Übernahme einer deutſchen Korreſpondenz. In den Briefen meines Mannes ſpürte ich immer deutlicher den ſchweren Atem der Sorgen. Um irgend eine ihrer Laſten erleichtert, mußte ich nach Hauſe kommen. Aber ſo oft ich auch durch die glutheißen Straßen Londons 584 von einem Bureau zum anderen ging, meine Abreiſe immer wieder aufſchiebend, weil eine neue leiſe Hoff⸗ nung mich feſthielt, das Ergebnis blieb ein negatives. Inzwiſchen war auch die bürgerliche Preſſe Deutſchlands meiner Reiſe wegen über mich hergefallen, — die vereinzelten Stimmen der Verteidigung waren im Chor der Schreier verhallt, — das mochte die höflich ablehnende Haltung mit verurſachen. Ich mußte mich entſchließen, mit leeren Händen zurückzukehren. Rur einer Einladung wollte ich noch Folge leiſten. In Warwick, einem Städtchen am Avon, das von den dicken Türmen einer uralten Burg überragt wird, fand eines jener hiſtoriſchen Feſtſpiele ſtatt, an denen ſich alljähr⸗ lich in den verſchiedenen Gegenden Englands die ganze Bevölkerung beteiligt. Ich fuhr hin und ſah im Park des Schloſſes die Darſtellung jenes glanzumfloſſenen Teiles der engliſchen Geſchichte, von dem ſeine Mauern noch erzählen. Auf der weiten, von mächtigen Bäumen zu beiden Seiten abgeſchloſſenen Raſenfläche, mit dem Fluß in der Mitte, der zwiſchen blühenden Roſenbüſchen und hängenden Weiden lautlos vorüberzieht, und dem Hintergrund einer ſanft verſchwimmenden Hügelland⸗ ſchaft zogen Jahrhunderte vorüber. Und zuletzt ver⸗ einigten ſich noch einmal zweitauſend Menſchen zu Fuß und zu Pferde in den Rüſtungen und Gewändern aller Zeiten. Run kommt die Schlußapotheoſe, dachte ich, mit der Büſte des Königs und einem „Rule Britannia aus allen Kehlen. Ich erhob mich, um zu gehen. Aber da ſah ich, wie die Ritter und Edeldamen, die Fürſten und Könige langſam und leiſe hinter Bäumen und Büſchen verſchwanden. Rur einer blieb zurück, 585 allein, weltbeherrſchend, als wäre die jahrhundertelange Entwicklung nur notwendig geweſen, um dieſen einen hervorzubringen, der größer iſt als alle: William Shake⸗ ſpeare. Der Wille zur Macht, — die höchſtmögliche Entwicklung der Perſönlichkeit als Ziel des einzelnen, — der Übermenſch als Ziel der Menſchheit —: zu einem einzigen vollen Akkord ver⸗ einigten ſich plötzlich die Klänge, die mir diesmal in England entgegengetönt hatten. Mein Herz ſchlug zum Zerſpringen wie das eines Gefangenen, dem die Ketten vom Fuße gelöſt werden und die Pforten ſich öffnen zur freien Wanderſchaft. Er ſieht nichts wieder als die alte vertraute Welt ſeiner Jugend, und doch erſcheint ſie ihm wie ein Wunder ſo neu. Ein halbes Kind war ich geweſen, als ich aus Rietzſches Fröhlicher Wiſſen⸗ ſchaft den erſten Ruf perſönlicher Befreiung vernahm: „Das Leben ſagt: Folge mir nicht nach; ſondern dir! ſondern dir!“ — Galt nicht derſelbe Ruf heute der Menſchheit? Am letzten Tage meines londoner Aufenthalts traf ich auf der Straße eine Kapitänin der Heilsarmee, die mich herzlich begrüßte. „Sie kennen mich wohl nicht mehr?“ fragte ſie lächelnd; „aber der Racht in Whitechapel vor elf Jahren erinnern Sie ſich gewiß.“ Im Augenblick ſah ich das Weib wieder vor mir, 586 die, von den Gefährten ihres Jammers umringt, im Schmutz der Gaſſe geboren hatte. Ich ſtreckte meiner einſtigen Führerin erſchüttert die Hand entgegen. „Sie würden mir heute, nach all den Reformen des Grafſchaftsrats, nichts Ahnliches zeigen können,“ ſagte ich. „Man hat aufgeräumt, — gewiß,“ antwortete ſie ruhig, „und an Stelle mancher elenden Häuſer neue ge⸗ baut, aber das Elend iſt immer dasſelbe. Die einen ſterben, andere wandern zu . .“ „Entſetzlich!“ rief ich aus. „Wie können Sie das nur ertragen?! Erſcheint Ihnen nicht Ihre ganze Arbeit hoffnungslos?! Sie lächelte freundlich: „Ich habe viele Seelen ge⸗ wonnen, denen für allen Erdenjammer der Himmel offen ſteht.“ Roch nie war mir der Chriſtenglaube ſo grauſam er⸗ ſchienen als in dieſem Augenblick. Wie eine Zyklopen⸗ mauer richtete er ſich auf zwiſchen den Menſchen und ihrer Erlöſung. Ich verabſchiedete mich raſch. Den vollen Akkord, den ich eben noch vernommen hatte, durchtönte eine ſchrille Diſſonanz. Ich war der ſchaffende Künſtler nicht, der die einheitliche Löſung hätte finden können. Als ich aber dann heimwärts fuhr, beherrſchte mich nicht mehr jene niederdrückende Empfindung, mit leeren Händen zu kommen. 587 Mein Mann empfing mich mit wehmütiger Zärt⸗ lichkeit, ſodaß ich ihm angſtvoll forſchend ins Auge ſah. „Es iſt nichts, Kind, nichts! wehrte er in nervöſer Erregung ab. „Ich bin nur ab⸗ geſpannt, — nur müde.“ Aber allmählich erfuhr ich doch, was geſchehen war: eine Gruppe von Parteige⸗ noſſen ſeines Wahlkreiſes forderte von ihm die Rieder⸗ legung ſeines Mandats, weil — ich mich an der Eng⸗ landreiſe beteiligt hatte, und ein außerordentlicher Kreis⸗ tag ſollte darüber entſcheiden. Glühende Sommerhitze brütete über der Mark; an den Bäumen in den Straßen hingen die Blätter ſchon gelb und tot; kein Lüftchen rührte ſich, und doch um⸗ gaben dichte Staubwolken den Wagen, der uns von Guſow nach Platkow führte. In dem kleinen Saal herrſchte unerträgliche Schwüle. Er war ſchon gefüllt, als wir kamen: von lauter ſchweigenden Menſchen mit harten Zügen und finſteren Blicken. Unſere alten Kampf⸗ gefährten rührten kaum an die Mütze bei unſerem Ein⸗ tritt. Einen Augenblick lang umklammerte ich den Arm meines Mannes, — außer ihm hatte ich hier keinen Freund mehr. Die Anklage wurde verleſen. Es war die Sprache des „Vorwärts“, den ſie führte. „Das hat Berlin diktiert!“ rief Heinrich. Die Falten auf der Stirn unſerer Richter vertieften ſich. Mein Mann antwortete zuerſt. Er erinnerte daran, wie häufig ſchon hervorragende Parteigenoſſen ſich mit politiſchen Gegnern zu gemeinſamer Arbeit vereinigt hätten, wie es auch an Beiſpielen für das harmloſere Zuſammenſein zu geſelligen Zwecken nicht gefehlt habe. 588 Und als einer wütend dazwiſchen ſchrie: „Die Monarchen⸗ toaſte!“ erklärte er, daß die Teilnahme an dieſer Form internationaler Höflichkeit um ſo weniger als eine Ver⸗ leugnung der republikaniſchen Geſinnung angeſehen werden könne, nachdem wir uns den viel ernſteren Treu⸗ eiden der Landtagsabgeordneten unterwerfen müßten. Als er geendet hatte, hoben ſich ein paar Hände zu ſchüchternem Applaus; die Mehrzahl der Genoſſen aber verharrte weiter in finſterem Schweigen. Die nach ihm ſprachen, hatten ihre Reden alle auf einen Ton ge⸗ ſtimmt: daß die Partei durch uns geſchädigt worden ſei. „Für uns jibt's nur ein rechts und links,“ rief der Maurer Merten; „die Akademiker, die nich Fleiſch ſind von unſerem Fleiſch, die zieht's eben immer wieder zu den Bourgeois. Ich aber ſage Euch, Jenoſſen“ dabei hieb er mit der breiten Fauſt auf den Tiſch — „ſowas dürfen wir uns nich länger jefallen laſſen, am wenigſten von unſerem Abgeordneten. Was wäre ver⸗ loren, wenn die Jenoſſin Brandt nich nach England je⸗ fahren wäre?! Es wäre ooch noch ſo! Ru aber, wo ſie hinfuhr, ſehen wir, daß ſie kein proletariſches Be⸗ wußtſein hat; daß ſie den Klaſſenkampf in Harmonie⸗ duſelei verwandeln möchte und ſtatt gegen die Gegner neben uns zu ſtehen mit ihnen bei Schampagner un Braten techtelmechtelt . . . „Bravo, Bravo“ — klang es von allen Seiten, wäh⸗ rend mein Mann wütend vom Stuhl ſprang und ein „Unverſchämt!“ zwiſchen den Zähnen hervorſtieß. Mich packte ein jäher Schreck, als habe ſich plötzlich vor mir die Erde geſpalten: ſtanden wir allein auf der einen Seite und jenſeits die ſelbſterwählten Gefährten?! 589 „Die Genoſſin Brandt hat das Wort,“ hörte ich wie von weit her ſagen. Ich ſammelte mich raſch. Aller Augen ſah ich auf mich gerichtet. „Mein Vorredner,“ begann ich, „hat einen konſe⸗ quenten Standpunkt vertreten, er hätte nur hinzufügen müſſen, warum bei uns zum Verbrechen geſtempelt wird, was anderen kein Härchen krümmte: wir ſind des Re⸗ viſionismus verdächtig. Das Schauſpiel, das Sie hier aufführen, wäre noch kläglicher, als es ſo wie ſo ſchon iſt, wenn nicht im Hintergrund tiefere Differenzen ſchliefen. Sie ſtehen auf dem Boden des Klaſſen⸗ kampfes, — wir auch; Sie haſſen die kapitaliſtiſche Wirtſchaftsordnung, — wir auch. Aber ihrer ſelbſt un⸗ bewußt, führen Sie den Klaſſenkampf im Sinne des Krieges; Sie wollen den Gegner niederzwingen, Sie wollen ſein Land erobern. Sie, die Sie ſeit Jahr⸗ tauſenden die Laſtträger der Menſchheit ſind, würden es ſchon als gerecht empfinden, wenn nur die Rollen der Unterdrücker und Unterdrückten vertauſcht würden. Sie ſehen in jedem Vertreter der herrſchenden Geſell⸗ ſchaft einen Feind, weil Sie ihm als die Abhängigen, Unfreien gegenüberſtehen, weil Sie ihm ſchon das bloße Sattſein neiden müſſen. Wir können Ihren von der Bitterkeit des eigenen Herzens genährten Haß nicht mit⸗ fühlen, denn nicht perſönliches Leiden machte uns zu Ihren Genoſſen. Uns iſt das Ziel des Kampfes nicht die veränderte Herrſchaft von Menſchen über Menſchen, ſondern die uneingeſchränkte Herrſchaft der Menſchheit über die Natur. Die Erde wollen wir erobern, um gleiche Entwicklungsbedingungen für alle zu ſchaffen, nicht Feindesland, das Unterworfene beackern ſollen . ..“ 590 Ein unwilliges Gemurmel erhob ſich. Im Saal fing es an zu dämmern. Ich unterſchied nur noch die Zu⸗ nächſtſitzenden. Sonſt war alles eine ſchwarze Maſſe, aus der nur hie und da ein kahler, breiter Schädel, ein weißer Bart, der glühende Punkt einer Zigarre her⸗ ausleuchtete. „Die Diktatur des Proletariats!“ klang es mit tiefer Stimme drohend aus dem dunkelſten Winkel. Die Jakobiner! antwortete es in meinem Innern. Ich fühlte, die Luft war geladen mit Sprengſtoff gegen mich. Den Faden meiner Rede hatte ich verloren, und un⸗ ſicher und leiſe fuhr ich fort: „Ich habe Schulter an Schulter mit Ihnen gekämpft, — was bedeutet das gegenüber der Tatſache, daß ich mit politiſchen Gegnern auf demſelben Schiff nach England fuhr! Wir haben zuſammen dieſen Wahlkreis erobert, und in jener Racht, da die alte rote Fahne als Zeichen des Sieges über uns flatterte, hat uns ein ſtarkes Gefühl, wie ich glaubte, auf immer verbunden, — aber was bedeutet das gegen⸗ über dem Verbrechen der Kaiſertoaſte! Der Zweck der Reiſe war nichts anderes, als was im Intereſſe des Sozialismus gelegen iſt, — was bedeutet das gegenüber der Sünde, mit Richtſozialiſten an einem Tiſche geſeſſen zu haben! Dafür iſt's nicht genug, daß unſere Preſſe mich beſchimpfte, wie kein bürgerliches Blatt jemals zu⸗ vor, — nein, es muß auch noch ein Exempel ſtatuiert werden: der Genoſſe Brandt muß fallen! . .. Richt um unſertwillen, denn nicht wir ſind die Unterlegenen, wenn Sie den vorliegenden Antrag annehmen, ſondern im In⸗ tereſſe der Partei erwarte ich von Ihnen ſeine Ableh⸗ nung. Leiſten Sie ihm Folge, ſo enthüllen Sie eine 591 ſchwärende Wunde, und das in einem Augenblick, wo die bürgerliche Welt gierig darauf wartet, uns bei einer Schwäche ertappen zu können . . . Keine Hand rührte ſich. Die Petroleumlampe, die von einem roten Papierſchirm umgeben, von der Decke herabhing, flammte auf und warf ein unſicher flackern⸗ des Licht über heiße Geſichter. Mein Mann ſprach noch einmal, — kalt, zornig. „Ich verlange nicht nur, daß Sie den Antrag ablehnen, ſondern daß Sie ihn zurückziehen,“ ſagte er. Der Geruch der qualmenden Lampe machte mich ſchwindeln. Während der Pauſe, die die Genoſſen zur internen Beratung anberaumt hatten, verließen wir den Saal. Draußen empfing uns die ſtille, mondhelle Racht. Das Armenhaus gegenüber warf einen breiten, ſchwarzen Schatten auf den Sand. „Der Antrag, den Genoſſen Brandt zur Riederlegung ſeines Mandats zu veranlaſſen, iſt zurückgezogen,“ er⸗ klärte der Vorſitzende, als wir wieder eintraten. Die Verſammlung ging ruhig auseinander. Wir ver⸗ abſchiedeten uns mit einem förmlichen Gruß. Auf un⸗ ſerem Wege nach der Station geleitete uns niemand. Kaum waren wir ein paar Tage lang in unſere Ar⸗ beit wieder vertieft, als ich erfuhr, daß die Berliner Parteileitung mich aus der offiziellen Rednerliſte der Partei geſtrichen habe. Ich legte Proteſt ein und ver⸗ langte, gehört zu werden. Man lud mich vor. Rings um den Saal ſaßen die Männer, in der Mitte an einer langen Tafel die Frauen, Wanda Orbin an ihrer Spitze. Sie waren meine Ankläger geweſen. Martha Bartels war 592 der Staatsanwalt. Sie zählte alle meine Sünden auf, von einer Agitationsreiſe an, die ich vor vier Jahren hatte abſagen müſſen, bis zur England⸗ fahrt. Aber auch meine Verteidigung war eine An⸗ klage: ich verſchwieg nichts. Mitten in meiner Rede erhob ſich Wanda Orbin ungeſtüm von ihrem Platz; ich ſah, wie ein Zittern ihren Körper durchlief, wie der Zorn ihre Züge verzerrte. Im nächſten Augenblick ſtand ſie vor mir und erhob die Fauſt, — einer der zunächſt ſitzenden Genoſſen ſprang dazwiſchen. „So diskutieren wir nicht!“ rief er empört. Der Beſchluß, meinen Ramen von der Rednerliſte zu entfernen, wurde aufgehoben. Das Verhalten Wanda Orbins mochte die Genoſſen ſtutzig gemacht haben. Trotzdem war mein Sieg nur ein ſcheinbarer; in ſeinen Folgen blieb der Beſchluß beſtehen. Eine tiefe Riedergeſchlagenheit bemächtigte ſich meiner. Jeder Kampf um Ideen wirkt erfriſchend, ſelbſt wenn er mit den ſchärfſten Waffen geführt wird. Aber was ich erlebte, war ſo eng, ſo klein, hinterließ einen ſo arm, mit einem ſo bitteren Geſchmack auf der Zunge. Richt Gewitterſchwüle war's, die laſtend auf mir ruhte und die Hoffnung auf Blitz und Wolkenbruch weckt, ſondern feuchtwarmer Rebel, ganz dichter, undurchdringlicher. Und er umſchlang mit ſeinen langen Armen, die ſich nicht greifen, noch weniger zurückſtoßen laſſen, die ganze Partei. 593 Unter dem Zeichen der ſiegreichen ruſſiſchen Re⸗ volution hatte der Jenaer Parteitag ge⸗ ſtanden, eine tiefe Erregung, die nach Taten ſchrie, hatte ſich aller bemächtigt; die Reſolution zum Maſſenſtreik hatte angeſichts dieſer Stimmung, ſo vor⸗ ſichtig ſie gefaßt war, wie eine Fanfare geklungen. Und nun war der Rauſch vorüber; die Ernüchterung allein blieb. In kleinlichem Hader, in gegenſeitigen Vorwürfen machte ſie ſich Luft. Mit ſteigendem Mißbehagen empfanden die Rur⸗ Politiker den leiſen Hohn, mit dem die Gewerkſchafter ihnen begegneten. Sie hatten von jeher dem Theore⸗ tiſieren über den Maſſenſtreik ſkeptiſch gegenübergeſtanden, und auf ihrem Kongreß in Köln ſprachen ſie ſich rück⸗ haltlos aus; von der Unfruchtbarkeit der Partei, von dem ſtagnierenden Sumpf der gegenwärtigen Situation, von der kläglichen Lage, in die wir durch die wirkungs⸗ los verpuffte Landtagswahldemonſtration gekommen ſeien, von dem Mißverhältnis zwiſchen Worten und Taten war viel die Rede. Richt ohne berechtigten Stolz wieſen ſie darauf hin, daß die anderthalb Millionen gewerk⸗ ſchaftlich Organiſierter eine ſtärkere Macht repräſen⸗ tierten als die viermalhunderttauſend Mitglieder der ſozialdemokratiſchen Wahlvereine. „Ich habe die Möglichkeit einer Spaltung der Partei immer weit von mir gewieſen,“ ſagte einer der gewerk⸗ ſchaftlichen Führer; „aber wenn die Dinge ſich weiter entwickeln wie jetzt, dann reißt uns, weiß Gott, die Geduld! Die Radikalen, die, wenn man den Firnis abkratzt, nichts ſind als gewöhnliche Spießer, bilden Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 38 594 ſich ein, wir tanzen nach ihrer Pfeife, bloß weil ſie ſo laut iſt. Sie ſollen ſich wundern! Auf dem Parteitag zu Mannheim kam es zu einem Duell zwiſchen Bebel und Legien. Keiner war un⸗ beſtrittener Sieger, Wunden trugen beide davon, die ſogenannte Einigungsreſolution war nichts als ein Pflaſter. Und die ſchweren Rebelſchwaden ſenkten ſich tiefer. Plötzlich aber erhob ſich ein Sturm, den kein Wetter⸗ kundiger vorausgeſehen hatte: die Regierung forderte einen Rachtragsetat für den Krieg gegen die Hereros, der im Verhältnis zu den Millionen, die die Reichs⸗ tagsmehrheit bisher für die Kolonien bewilligt hatte, eine Lappalie war. Von den Rednern des Zentrums und der Sozialdemokratie wurde dabei die ganze Kolo⸗ nialpolitik mit ihren Gewaltmaßregeln, ihren Grauſam⸗ keiten aufgerollt, und zu allgemeiner Überraſchung wurde der Kredit für Südweſt⸗Afrika abgelehnt. Das erſchien der Regierung als der geeignete Moment, dem Volke durch die Tat zu beweiſen, daß der Konſtitutionalismus in Deutſchland nur auf dem Papiere ſteht: nicht der Kanzler und die Miniſter danken ab, wenn die Volks⸗ vertreter ſie desavouieren, ſondern die Volksvertreter werden mit einem Fußtritt hinausgeworfen, wenn ſie das perſönliche Regiment nicht jaſagend anerkennen. Wir erfuhren die Rachricht der Reichstagsauflöſung, als wir mit Romberg im Kaffee des Kaiſerhofs ſaßen. Und hier, wo eine Anzahl der politiſchen Bericht⸗ erſtatter größerer Zeitungen zu verkehren pflegten, rief ſie einen Aufruhr hervor, wie ihn Berlin ſonſt nicht kannte. 595 „Eine unglaubliche Dummheit der Regierung!“ rief der eine ſtirnrunzelnd, der andere frohlockend. „Run geht's in den Kampf —“ Ich mußte an mich halten, um es nicht jubelnd herauszuſtoßen. Ich ſah wieder entwölkten Himmel, weiten Horizont. „Wenn die Partei ſich ſelbſt zerfleiſcht, ſo iſt noch immer die Regierung zugeſprungen, um die Wunden zu heilen,“ ſagte mein Mann. Romberg zuckte die Achſeln: „Die Kolonialfrage als Wahlparole?! Ich fürchte, Sie täuſchen ſich über ihre Bedeutung. Der Winter war ungewöhnlich hart damals. Gerade die Rot, die ihn zum Gefolge hat. macht ihn zu unſerem Agitator, dachte ich. Alle unſere Gegner, an ihrer Spitze der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie und der Flottenverein, rüſteten ſich bis an die Zähne wider uns. Ich war überzeugt: das ſteigere nur unſere Kampfluſt und feſtige unſere Einigkeit wieder. Fürſt Bülow ſelbſt trat auf das Schlachtfeld und rief die ſtaatserhaltenden Kräfte gegen die Sozialdemokratie auf. Dieſes Eingreifen des höchſten Staatsbeamten wird ſelbſt unſere lauen Anhänger zu hellem Zorn entflammen, — deſſen war ich gewiß. Und der Kampf begann. Über knirſchenden Schnee flog der Schlitten, der mich von einem Dorf zum an⸗ deren trug. Oft beſtieg ich ihn, glühheiß von der eben gehaltenen Rede, und die Luft, die mir den Atem am Munde gefrieren ließ, ſchien mir eine Wohltat. In den niedrigen Sälen fanden ſich die Menſchen ein wie ſonſt, aber der Sturm, der in den Schornſteinen heulte, 38* 596 der Schnee, der in dichten Flocken gegen die Fenſter flog, trieb ihnen kühle Schauer über den Rücken. Je näher der Tag der Entſcheidung rückte, deſto ſieberhafter arbeiteten wir. Den Huſten, der mir des Rachts den Körper erſchütterte, ſuchte ich zu erſticken, meine Stimme, die verſagen wollte, zwang ich unter meinen Willen. Wir glaubten an den Sieg. Und in Augenblicken ſelbſtvergeſſener Hoffnung, wo die böſen Geiſter der Sorge vor unſerer Zuverſicht die Flucht er⸗ griffen, wo alle Furcht ſich verkroch wie Schakale vor der aufgehenden Sonne, da fühlte ich, wie mein Herz heiß wurde und der Aberglaube Gewalt über mich bekam: von der Entſcheidung hängt auch unſere Zu⸗ kunft ab. Wieder, wie vor vier Jahren, ſaßen wir am Abend der Wahl im Gewerkſchaftshaus zu Frankfurt. Und wieder hatte die Gärtners⸗ frau den Korb voll roter Relken neben ſich, und die Fahne lehnte eingerollt an der Wand. Aber die Ge⸗ noſſen, die ſich allmählich hereindrängten, machten ernſte Geſichter, und die Boten, die kamen, brachten lauter Hiobspoſten. Kein Ort, ohne einen Rückgang unſerer Stimmen! Dazwiſchen die Depeſchen aus anderen Kreiſen: Verluſt um Verluſt. Roch ehe die letzten Rachrichten gekommen waren, leerte ſich die Straße unter unſeren Fenſtern, und aus dem Saal ſchlich ſich leiſe einer nach dem anderen. Es ſchlug Mitternacht, — die Relken welkten ſchon im Korbe. Wir waren nur noch ein Häuf⸗ 597 lein in dem großen öden Raum, — wir wollten uns nichts erſparen: die Schlacht war endgültig verloren. Wenige Tage ſpäter — in der Racht nach den Stich⸗ wahlen — gingen wir durch die Straßen Berlins: da kamen ſie in langen Zügen, unſere Überwinder — kein Polizeiſäbel, kein Schutzmannskordon hielt ſie auf. Vor dem Königsſchloß ſammelten ſie ſich in ſchwarzen Maſſen. „Heil dir im Siegerkranz —“ brauſend ſtiegen die Töne durch die klare Winterluft zu dem hellen Fenſter em⸗ por, an dem der ſich zeigte, der heute in Wahrheit der Sieger war: der Kaiſer. 598 Siebzehntes Kapitel Vor einem halben Menſchenalter war's. Ich ſtand allein auf Bergesſpitze im Gewitterſturm. Dicht über mir hingen die Wolken, aus denen das Waſſer brauſend in die Tiefe ſchoß, unter mir ballten ſie ſich zuſammen und verdeckten jeden Ausblick auf ſtille Dörfer und freundliche Heimſtätten. Der Donner rollte; die Berge antworteten ihm, — ein Ge⸗ lächter der Rieſen über das kleine Menſchengeſchlecht. Jeder Blitz öffnete die Wolkenwand; das Himmels⸗ gewölbe dahinter ſtand in Flammen. Ich aber konnte nicht vor, — nicht zurück. Ich mußte mich dem Wetter preisgeben, — — und ich fürchtete mich — — Wir lagen nächtelang wach. Jeder tat, als ſchliefe er, aus Schonung für den an⸗ deren. Unſere Arbeit lähmte Hoffnungs⸗ loſigkett. Wir lächelten, als wären wir froh, um dem anderen nicht wehe zu tun. „Ilſe meldet ſich an —,“ ſagte Heinrich, als er eines Morgens die Poſt durchſah. „Jetzt?!“ rief ich erſchrocken. Sie kam ſchon am 599 nächſten Tage, hatte einen ſeltſam verängſtigten Zug im Geſicht und ein erzwungen leichtſinniges Lächeln um die Lippen. „Ich muß einmal wieder Großſtadtluft atmen,“ meinte ſie; „die Stille bei uns iſt oft ſchaurig.“ Mir ſchien, als zittere ſie dabei. Von nun an war der Telegraphenbote unſer häufigſter Gaſt. Zuerſt glaubte ich, ihres Mannes beſorgte, ſehnſüchtige Liebe käme in dieſem Depeſchenwechſel zum Ausdruck. Warum hatte ſie denn nur jedesmal rote Augen, wenn ein Telegramm gekommen war? Da, eines Morgens, ſtürmte einer in unſer Zimmer, die Haare zerzauſt, die Augen rot unterlaufen, — der Gatte meiner Schweſter. Vor ſeinen Verfolgern ſollten wir ihn ſchützen, ſchrie er verzweifelt und barg den dunkeln Kopf in Ilſens Schoß, die mit erloſchenem Blick auf ihn niederſah, die kleinen ſchwachen Hände auf ſeinem Haar. Roch am ſelben Tage kam er ins Irrenhaus. Er war tobſüchtig. Dann brach auch Ilſe zuſammen; aber ſie weinte nicht, ſie ſprach nicht über ihr Schickſal, ſie war nur wie erſtarrt. Auch als ſich herausſtellte, daß ein großer Teil ihres Vermögens am Sanatorium ihres Mannes verloren gegangen war, zuckte ſie nur die Achſeln. Um ſo furchtbarer traf es uns. Bisher wäre der Verluſt des Geldes, mit dem ſie ſich an der Reuen Ge⸗ ſellſchaft beteiligt hatte, keine ernſte Frage für ſie ge⸗ weſen. Jetzt war ſie es. Hatte ich vor ihrem Kommen geglaubt, zuſammenzubrechen, jetzt kam mir die Kraft zurück, eine des Fiebers. „Wir müſſen aushalten, Heinz, wir müſſen!“ ſagte 600 ich, und wenn eine ſeiner vielen Bemühungen, Hilfe zu ſchaffen, wieder vergeblich geweſen war, ſo trieb ich ihn zu immer neuen Verſuchen an. Und hie und da glückten ſie. Für ein paar Monate konnten wir weiter ſchaffen, konnten leben. Aber jedesmal, wenn wir Hoffnung ſchöpften, erſchien ſicherlich irgendein Hetzartikel in der Harteipreſſe gegen uns, oder in den Wahlvereinen wurden wir von radikalen Genoſſen einer neuen Ketzerei beſchuldigt, oder der alte Vorwurf des Geſchäftsſozia⸗ lismus wurde laut. Wir ſpürten das alles an der Ab⸗ nahme der Abonnenten. Wie kann ich Geld ſchaffen, — wie?! Die Frage beherrſchte meine Gedanken immer mehr. Ein „freier“ Schriftſteller war ich, — einer von den Tauſenden, die ausziehen, ihre Feder zu führen wie ein Schwert. Aber die Rot heftet ſich an ihre Füße, zuerſt ein Zwerg, und dann ein Rieſe, der ſie in ſeine Dienſte zwingt. „Lieber ſterben!“ ſtöhnte ich. Doch dann ſah ich mein Kind, — wie es blaß war, welch forſchende Augen es auf mich richtete! Ich riß es in meine Arme: „Unter jedes Joch beuge ich meinen Racken für dich, dachte ich verzweifelt. Ich beſchloß, Vorträge zu halten gegen Entree. Das war nichts Erniedrigendes. Jeder Dozent an der Uni⸗ verſität bekommt ein Honorar für die wiſſenſchaftlichen Erkenntniſſe, die er den Hörern vermittelt. Trotzdem widerſtrebte es mir. Ein Gefühl grenzenloſer Scham trieb mir den Angſtſchweiß jedesmal auf die Stirn, wenn ich die Rednertribüne betrat. Ich hatte immer einen vollen Saal. Ich „zog“, — ich war eine Sen⸗ 601 ſation. Wie ein gezähmter Löwe im Zirkus. Gegen ein paar Mark Eintritt konnte ſich nun die beſte Ge⸗ ſellſchaft, ohne ſich etwas zu vergeben, die berüchtigte Sozialdemokratin anſehen, — mit dem Opernglas ſogar. Meine Zuhörer trugen rauſchende Kleider und viele Brillanten an den weißen Händen, mit denen ſie Bei⸗ fall klatſchten, um zu erzwingen, daß ich mich vor ihnen verbeugte. „Unglaublich von einer Genoſſin, in dieſem gold⸗ ſtrotzenden Saal zu reden und ſich von dieſem Publikum bezahlen zu laſſen —,“ ſagte eine Beſucherin, als ich gerade an ihr vorüber ins Freie trat. Ich preßte die Lippen zuſammen, um nicht heftig aufzufahren —. Sobald ich ſprach, erſchrak ich vor der Stimme, die nicht mehr die meine war. Im letzten Wahlkampf hatte ſie ihren Klang verloren, war heiſer und rauh geworden. Und ich hatte ſie geliebt, weil ſie meine Worte ſo leicht und willig bis in jeden Winkel trug. Doch: — was bedeutete das jetzt?! Es war mehr ver⸗ loren gegangen als der helle Ton meiner Stimme. Ich fing an zu reiſen; von einer Stadt in die andere. Zuweilen auf die Einladung irgendeines literariſchen Vereines hin. In Hannover ſagte mir der Vorſitzende: „Richt wahr, Sie richten ſich darauf ein, daß Offi⸗ ziere unter unſeren Mitgliedern ſind.“ In Köln hieß es: „Wir rechnen darauf, daß Sie auf unſere jungen Mädchen Rückſicht nehmen.“ Hätte ich ihnen doch den Rücken kehren können! Wenn ich nach Hauſe kam, umklammerte mich mein Sohn mit überſtrömender Zärtlichkeit. Wie ich ihm fehlte! Niemand hatte Zeit für ihn! Und doch be⸗ 602 durfte er immer mehr der Freundſchaft der Eltern! Über hundert Rätſelfragen des Daſeins begann er in ſeinen vielen einſamen Stunden nachzugrübeln. Und ſeine Phantaſie, deren üppige Ranken ohne Stütze blieben, ohne die Hand des Gärtners, der ſie zur rechten Zeit zu beſchneiden verſteht, überwucherten ſein Gefühl. Er fürchtete ſich oft vor ſeinen eigenen Träumen, ſo daß ich ihn des Rachts zu mir betten mußte. „Du verzärtelſt den Jungen —,“ ſagte Heinrich dann ärgerlich. Und für übertriebene Sentimentalität hielt er es, wenn ich von der Atmoſphäre des Unglücks ſprach, die ſichtlich auf des Kindes Seele laſtete. So lernte ich ſchweigen, auch über das, was mir am tiefſten das Herz bewegte. Und in ſehr dunkeln Stunden be⸗ mächtigte ſich meiner ein fremdes, böſes Gefühl. Dann häufte ich auf meinen Mann alle Schuld. In ſolch einer Stimmung traf mich Romberg. Er war voll aufrichtiger Teilnahme. „Lange halte ich es nicht mehr aus,“ ſagte ich, den Kopf in den Händen vergraben. Er ſollte nicht ſehen, daß meine Kraft nicht einmal mehr ausreichte, um die Tränen zurückzuhalten. „Ich wüßte eine Hilfe,“ begann er dann langſam, „eine, durch die Sie frei würden und ſorgenlos.“ Ich hob den Kopf; alles Blut ſtrömte mir zum Herzen. Eine Hilfe! Er zögerte. Dann ſah er mich an mit einem feſten warmen Blick, der die Freund⸗ ſchaft langer Jahre in ſich ſchloß und ſagte, jedes Wort betonend: „Trennen Sie ſich von Ihrem Mann. 6o3 Als Minuten vergingen, ohne daß ich antwortete, er⸗ hob er ſich. „Zürnen Sie mir?“ fragte er. „Rein,“ antwortete ich, ihm die Hand entgegen⸗ ſtreckend. Dann überliefs mich kalt. Auch jetzt lag die ſeine ſchlaff und kraftlos zwiſchen meinen Fingern. Ich überlegte ſeinen Rat und erſchrak nicht einmal vor der kühlen Ruhe, mit der ich es zu tun vermochte. Er hatte recht: allein mit meinem Sohn, der Laſt der Zeitſchrift ledig, die das meiſte verſchlang, was ich ver⸗ diente, würde ich, wenn auch noch ſo beſcheiden, von meiner Arbeit leben können. Und ich wäre frei, — frei! Unwillkürlich ſtreckte ich die Arme weit aus, als gelte es, die Welt zu umfaſſen. Aber dann ſah ich ihn: meinen Mann, meinen Kampfgefährten, meinen Leidensgenoſſen, — den Vater meines Kindes! Ich fing an, ihn zu beobachten. Wie er leiden mußte! Und wie er mich liebte! Er brachte mir täglich ein paar Blumen mit, und wenn es nur wenige Veilchen waren. Das ſchlimmſte ſuchte er mir aus dem Wege zu räumen, ſo lange es ging. Er hatte eine ritterliche, zurückhaltende Zärt⸗ lichkeit für mich. Und mein Junge hing an dem Vater. „Ich kann nicht, lieber Freund,“ ſagte ich mit einem wehen Lächeln, als Romberg wiederkam. Er runzelte die Stirn und wandte ſich ab. Ich legte ihm die Hand auf den Arm. „Sie müſſen verſuchen, mich zu verſtehen, Sie vor allem!“ bat ich.. „Haben Sie mich nicht ſelbſt ver⸗ ſpottet, als ich einmal die freie Liebe predigte, weil 604 ich überzeugt war, das Eheproblem dadurch löſen zu können? Heute weiß ich, daß der Zettel auf dem Standesamt nicht die ſtärkſte Feſſel iſt, die ſie unfrei macht. Ich habe Frauen geſehen, die ſich voll Idealismus dem Mann ihrer Wahl vermählten, ohne ihren Bund nach außen ſanktionieren zu laſſen. Rach kurzer Zeit ſind ſie bedauernswertere Sklavinnen geworden als die ſtaatlich abgeſtempelten Ehefrauen. Ihre und ihres Kindes Exiſtenz war von ihrem Manne abhängig, und jeden Tag konnte er ſie verlaſſen! Darum klammerten ſie ſich an ihn, unterwarfen ſich ihm, er⸗ trugen ſeine Brutalität, ſeine Launen, ſeine Treuloſig⸗ keiten. Ich erkannte, daß die wirtſchaftliche Selbſtändig⸗ keit der Frau die Vorausſetzung des freien Liebesbundes ſein muß . .“ „Run — und ſind Sie etwa wirtſchaftlich abhängig?! Sie, mit Ihrer Begabung, Ihrer Arbeitskraft?“ unter⸗ brach er mich heftig. „Rein, gewiß nicht,“ entgegnete ich; „dieſe Feſſel trag“ ich nicht mehr, und keine Frau brauchte ihre Menſchenwürde von ihr erdroſſeln zu laſſen, wenn ſie arbeiten gelernt hat. Aber es gibt andere Feſſeln, — zart und weich wie Seide, — die unzerreißbar ſind. Mein Sohn liebt ſeinen Vater. Wie kann ich ſein Kinderherz verwunden, ſolch einen Zwieſpalt in ſeine Seele tragen?!“ „Ein Kind überwindet raſch,“ antwortete Romberg mit einer wegwerfenden Handbewegung. Ich verſtummte. Er, der mir ſo nahe geweſen war, rückte plötzlich weit, weit von mir ab. Ihm von Hein⸗ richs Liebe, von ſeinem Unglück und den anderen für 605 mich unzerreißbaren Feſſeln zu reden, wäre mir wie eine Preisgabe vorgekommen. Und doch: irgend etwas mußte geſchehen. „Bald, — bald reiſe ich nicht mehr fort ohne dich,“ hatte ich immer wieder beim Abſchiednehmen mein Kind getröſtet. „Wann bleibſt du wieder bei mir, Mamachen?“ fragte es, und jedesmal wurde der Ausdruck ſeines Geſichtchens quälender. Meine nächſte Vortragsreiſe führte mich nach Leipzig. Dort wohnte einer jener ſtillen Ge⸗ noſſen, der für den Reviſionismus eine offene Hand zu haben pflegte. Als mein Mann ſich im In⸗ tereſſe der Reuen Geſellſchaft einmal ſchriftlich an ihn gewandt hatte, war ſeine Antwort ein unfreundliches glattes Rein geweſen. Trotzdem hoffte ich noch auf die Wirkung einer perſönlichen Unterredung. Es galt einen letzten verzweifelten Verſuch. Ich werde die Reiſe nie vergeſſen, nie den Augenblick, wo ich, zitternd vor Scham und Angſt, in des reichen Mannes Zimmer trat. Er mochte ahnen, daß ich als Bittende kam. Es dauerte Sekunden, ehe er mich zum Sitzen nötigte. Vielleicht würde er es gar nicht getan haben, wenn er nicht geſehen hätte, daß mir die Kniee bebten. Ich hatte einen Mantel an. Während der Zeit, die ich. bei ihm war, nahm er ihn mir nicht ab. Er ließ mich reden, ohne eine Miene zu ver⸗ ziehen. Und dann ſprach er — langſam, jedes Wort betonend, ſodaß es mir weh tat, wie lauter Schläge: 606 „Ihr Mann iſt ein guter Redakteur; das hat er am Archiv bewieſen. Aber er iſt ein ſchlechter Geſchäfts⸗ mann, ſonſt hätte er das proſperierende Archiv, das ihm eine ſichere und angeſehene Stellung bot, nicht hin⸗ gegeben, um ein ausſichtsloſes Unternehmen zu beginnen. Ich mag nicht Waſſer in ein hohles Faß ſchöpfen.“ „Und doch erkannten Sie, wie ich hörte, ſelber an, daß die neue Aufgabe, die er ſich ſtellte, wichtig, ja notwendig war,“ wandte ich ein. „Ja. Für einen Mann, der ausreichende Mittel hat, um die Sache durchzuführen.“ Damit erhob er ſich. Ich war entlaſſen. Mir klebte die Zunge am Gaumen. Run war der Moment, der einzige, der mir noch blieb. Ich war ja nicht gekommen, um einen Rechtsanſpruch durch⸗ zuſetzen, — ich mußte bitten — bitten. Ich fühlte die Tränen der Aufregung mir heiß die Augen füllen. Rur nicht weinen, — jetzt nicht weinen, dachte ich und biß die Zähne aufeinander. Da aber ſah ich plötzlich mein Kind vor mir — ganz deutlich: mit dem ernſten Blick und der ſehnſüchtigen Frage auf den Lippen. Mein Kind! Glühende Schweißtropfen bedeckten meine Stirn, der Atem ſtockte. Mit einer raſchen Bewegung warf ich den ſchweren Mantel von mir und riß das Fenſter rückſichtslos weit auf. Ein konvulſiviſches Schluchzen, deſſen ich nicht Herr werden konnte, erſchütterte meinen Körper. Dann wandte ich mich um und hob den Mantel von der Erde auf. „So will ich gehen —,“ kam es tonlos über meine Lippen, — ich konnte nicht bitten, ich konnte nicht! „Setzen Sie ſich!“ — Es war wie ein Kommando. Die Er⸗ ſchöpfung, nicht der Gehorſam zwang mich, ihm zu folgen. 607 „Ich werde Ihnen helfen, — Ihnen perſönlich, dieſes eine Mal . Ich kehrte zum Hotel zurück. Plötzlich fiel mir ein, daß ich die kühle Hand mit meinen Fingern dankend umſchloſſen hatte. Die Hand des Mannes, vor dem ich mich ſo erniedrigt hatte! Und nun ging es zu Ende. Unweigerlich. Trotz⸗ dem ich noch hergab, was ich eben empfangen hatte. Ein einziges Mal noch ſtieg unſere Hoff⸗ nung hoch auf, wie eine Leuchtkugel. Heinrich erhielt von einem, der helfen konnte, ein feſtes Verſprechen. Er ſchloß darauf hin aufs neue mit dem Drucker ab und mit dem Papierlieferanten. — Aber die Leuchtkugel zer⸗ platzte, und es wurde ganz, ganz dunkel. Ich verlangte Klarheit von meinem Mann, — rück⸗ haltloſe. Er gab ſie mir mit einer Ruhe, von der ich glaubte, daß ſie eine erzwungene ſei: Alles war verloren. Da wir den Konkurs vermeiden wollten, blieb uns eine Schuldenlaſt, an der wir Jahre zu tragen haben würden. Um die allernächſten Zahlungen leiſten und ſelbſt leben zu können, gab es nur einen Ausweg. „Wir verpfänden unſere Möbel —,“ ſagte Heinrich, mit einem Ton, als ſpräche er von dem Gleichgültigſten von der Welt. Bisher hatte ich zuſammengekauert auf dem großen Stuhl geſeſſen, der mir immer wie etwas Lebendiges ge⸗ weſen war, weil ſeine Lehne den müden Kopf ſtützte, ſeine Arme ſich ſchützend an mich ſchmiegten. Jetzt fuhr ich auf. „Das Letzte ſoll ich hergeben?! 6o8 Und du meinſt, ich täte das ſo kaltblütig wie du es aus⸗ ſprichſt?!“ rief ich, vor Entrüſtung am ganzen Körper zitternd. „Das hier iſt der Reſt Heimat, den ich habe. Faſt jedes Stück erinnert mich an den Vater, — die Großmutter, — an Georg, an meine Jugend —“ Tränen erſtickten meine Stimme. Mein Mann maß mich mit einem kühl⸗erſtaunten Blick. „Stellung, Vermögen, Familie, — alles haſt du geopfert ohne ein Wort der Klage, und nun jammerſt du um dieſen Trödel,“ ſagte er kopfſchüttelnd. Mein Verſtand gab ihm recht, aber mein Herz blutete, als wäre ihm die ſchwerſte Wunde geſchlagen worden. In der Racht darauf öffnete ſich die Tür zu meines Sohnes Zimmer, er ſtürzte auf mich zu, umſchlang meinen Hals und ſchluchzte verzweifelt: „Warum weinſt du nur ſo? Warum weinſt du nur ſo?! In dieſem Augenblick wußte ich, daß ich ein Opfer bringen mußte wie keines zuvor. Ich weinte nicht mehr. Ich war ganz ſtill und ganz entſchloſſen. „Otto darf den Zuſammenbruch nicht mit erleben,“ ſagte ich zu meinem Mann. „Schon jetzt iſt er wie vergiftet, — gar kein Kind mehr — Ich erwartete eine heftige Szene. Statt deſſen erhellten ſich Heinrichs Züge. „Run biſt du wieder meine tapfere Alix,“ — damit drückte er mir die Hand, ſe herzlich wie ſeit Monden nicht — „natür⸗ lich iſt das für alle Teile das Beſte. Wir beide bauen ungehindert ein neues Leben auf, und er wird irgend⸗ wo auf dem Land wieder ein ſtarker, froher Junge ... Ich hörte ſeine Stimme nur noch wie ein fernes Brauſen. So nahm er auf, wovon ich nie geſunden 609 würde: — faſt froh! Ich ſtarrte ihn an; die ſchreckliche Erregung verzerrte mir ſein Bild, als hätte ich ihn noch nie geſehen. Mit dieſem Mann hatte ich mein Leben verknüpft, — und eben noch den Gedanken an eine Trennung weit, weit von mir gewieſen?! Mir ſchien, als wäre die Trennung vollzogen, lange ſchon, ſonſt hätte er in dieſer Stunde, da mein ganzes Leben zuſammen⸗ brach, ſo nicht zu mir ſprechen können, — ſo nicht! Ich ſchrieb an einen Freund Egidys, den ich ſeit der Zeit, da ich ihn in deſſen Hauſe traf, hie und da wiedergeſehen hatte. So ſelten das ge⸗ weſen war, mit einem Gefühl warmer gegenſeitiger An⸗ teilnahme waren wir uns immer begegnet. Jetzt leitete er eine Schule hoch oben im Thüringer Wald. Ich ſprach ihm rückhaltlos von der Lage, in der wir uns befanden. „Mein Sohn leidet darunter, halb unbewußt, und ich will ihm das Schlimmſte erſparen, will ſeine Jugend nicht hineinreißen in den Strudel unſeres künf⸗ tigen Lebens. Sie ſehen, es iſt ein Freundſchaftsopfer das ich von Ihnen erwarte —,“ hier zitterte mir die Hand und verſagte den Dienſt. Er antwortete umgehend, mit einem zarten Takt, der mir wohltat: „Ihr Sohn ſoll uns von Herzen will⸗ kommen ſein. Und kein drückendes Gefühl darf Ihnen daraus entſpringen. Überlaſſen Sie ruhig der Zukunft die materielle Seite der Sache. Da er Ihr Kind iſt, wird er unſerer Schule mehr geben, als er erhält und ſich durch Gold aufwiegen läßt . . . Zu Oſtern wollte ich ihn hinbringen, aber ich verſchob Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 39 610 es von Tag zu Tag, mit ihm davon zu ſprechen; er war ſo glücklich, daß ich auf einmal immer bei ihm war, mit ihm ſpielte, mit ihm ſpazieren ging, ihm Geſchichten erzählte wie in der ſchönen alten Zeit. Indeſſen erſchien die letzte Rummer der Reuen Geſellſchaft, mit einem kurzen Abſchiedswort an die Leſer. Keiner von unſeren Geſinnungs⸗ genoſſen hatte ein Wort des Bedauerns dafür, niemand von denen, für deren Überzeugung ſie gekämpft hatte, ohne ſich durch gehäſſige Angriffe und gemeine Ver⸗ leumdungen vom Wege ablenken zu laſſen, der ihr als der rechte erſchien, kümmerte ſich um uns. Keinem konnte es ein Geheimnis ſein, daß wir alles verloren hatten, aber kaum ein einziger hatte auch nur eine teil⸗ nehmende Frage danach. Wir waren abgetan, — fertig. Die Genoſſen gingen über uns hinweg wie die Sol⸗ daten im Krieg über die gefallenen Kameraden auf dem Schlachtfeld. Damals hatte ich dafür nur eine verächtliche Ge⸗ bärde. Große Schmerzen ſind ein Palliativmittel gegen die kleinen. Rur eins erfüllte mich mit tiefer Bitterkeit: daß auch Romberg nicht wiederkam. Er hatte eine Aus⸗ einanderſetzung mit meinem Mann gehabt, bei der ſeine lange im ſtillen herrſchende Feindſchaft gegen ihn zu offenem Ausbruch gekommen war. Ich erfuhr nicht viel davon. Aber um mich mochte ſich's ge⸗ handelt haben und darum, daß Romberg meinem Mann vorwarf, unſer Unglück verſchuldet zu haben, und dieſer 6II ſich jede Einmiſchung in unſer Tun und Laſſen verbat. War das Grund genug, um mich gerade jetzt im Stich zu laſſen? Und an ſeine aufrichtige Freundſchaft hatte ich geglaubt! Ein Oſtermorgen war es, hell und leuchtend. Ein Auferſtehungsfeſt, das die geflügelten Muſi⸗ kanten der Ratur mit hundertſtimmigem Ge⸗ ſang begrüßten. Mit lauter luſtigen goldgelben Flecken bedeckte die Sonne den Erdboden unter den Kiefer⸗ ſtämmen. Wir gingen durch den Grunewald nach Schildhorn, mein Sohn und ich. Wie er ſich freute! Jedes armſelige Blümlein, das der karge Sand hervor⸗ ſprießen ließ, bewunderte er. Und die Luft, die ein Odem erwachenden Lebens war, ſog er ein mit tiefen durſtigen Zügen. „Ich haſſe die Stadt,“ ſagte er mit der ganzen Energie ſeiner zehn Jahre. „Warum können wir nicht auf dem Lande leben?“ Das war der rechte Augenblick, um ihm von Walters⸗ hof zu ſprechen, der Schule im Thüringer Wald. Mit ſtockender Stimme begann ich, und erzählte von dem freien Leben dort und den vielen Kindern. Seine Augen glänzten. „Das denke ich mir rieſig fein!“ rief er. „Möchteſt du am Ende gar ſelber hingehen?“ fragte ich zögernd. Er machte einen Luftſprung: „Natürlich! Aus der ſcheußlichen Stadt heraus auf die Berge, — was gibt es Schöneres! 39* 612 Ich hätte mich freuen müſſen, — aber die Tränen traten mir in die Augen. So würde ihm der Abſchied nicht allzu ſchwer werden! Ein paar Tage ſpäter reiſten wir ab. Er war wie umgewandelt; in leuchtenden Farben malte er ſich das Leben aus, das ſeiner war⸗ tete. Zuweilen ſchien er zu ſtutzen, wenn er mich anſah. „Und du beſuchſt mich oft, ſehr oft, nicht wahr, Mamachen? Und zu den Ferien komme ich immer nach Haus?“ ſagte er dann, im Gefühl, mich tröſten zu müſſen. Von der Station fuhren wir mit dem Wagen berg⸗ auf durch dichte Tannenwälder. Mein Sohn verſtummte und ſchmiegte ſich an mich. Ob ihn nun der Abſchieds⸗ ſchmerz packen würde? Das Herz klopfte mir erwartungs⸗ voll. „Ein bißchen geniere ich mich doch vor den fremden Jungens,“ meinte er. Oben auf der Hochebene, wo der Wind über freie Felder ſtrich und mit den kleinen runden Frühlings⸗ wölkchen ſpielte wie ein Kind mit dem Fangball, ver⸗ lor er ſeine ſcheue Stimmung wieder. „Wie wunder — wunderſchön das iſt,“ ſagte er mit einem Blick in die Ferne. In ſtiller großer Einſamkeit reihte ſich Berg an Berg; die kleinen grauen Menſchenwohnungen verſchwanden in den tiefen Tälern. Der Direktor begrüßte uns wie vertraute Freunde. Die Schüler betrachteten aus gemeſſener Entfernung 613 den Ankömmling. Er umfaßte wie ſchutzſuchend meine Hand. Jetzt, — jetzt wird er bei mir zu bleiben verlangen! — Da trat ein brauner Burſche aus der Schar. „Sieh mal die Wieſe dort,“ ſagte er zu meinem Jungen und wies auf den gelbblühenden Abhang, der ſich hinter dem Hauſe in die Tiefe ſenkte; „willſt du da hinunter mit mir um die Wette laufen? Und im ſelben Augenblick, — kaum daß er Zeit gefunden hatte, mir Mantel und Mütze zuzuwerfen, — flog er mit ihm davon. Wie heller Sonnenſchein tanzten ihm die blonden Locken um den Kopf. Ich ſtarrte ihnen nach. Mir gingen dabei die Augen über. Hinter den Fichtenſtämmen, — weit, weit im Tal, er⸗ loſchen ſie. „Er wird ſich raſch zu Hauſe fühlen,“ ſagte der Di⸗ rektor. Er wird ſich raſch zu Hauſe fühlen —! Ich verließ Waltershof ſchon am nächſten Morgen. Jede Stunde, die ich blieb, kam wie ein verſchlagener Räuber und ſtahl mir ſtückweiſe mein Liebſtes. Ehe ich in den Wagen ſtieg, umarmte mich mein Sohn mit ſtürmiſcher Heftigkeit. Run endlich wird es ihn übermannen —! Ich preßte ihn an mich, ich hielt ihn feſt. Dieſer Schoß hat dich geboren, an dieſem Herzen wuchſeſt du empor, — ſchrie es in mir, — nur ein Wort der Liebe ſag mir, ein Wort der Sehnſucht, und ich verteidige deinen Beſitz gegen Hölle und Himmel! Aber er ſchwieg. Seine Augen blieben hell. Ringsum ſtanden die Lehrer und die Schüler —. Ich nahm ſeinen Kopf zwiſchen meine Hände und küßte ihn. Ich 614 grüßte noch einmal lächelnd nach rechts und links. Dann zogen die Pferde an — Damals, vor einem halben Menſchenalter, als ich im Gewitterſturm auf dem Berge ſtand, dem Wetter preisgegeben, fürchtete ich den od. Was hätte ich jetzt noch fürchten könnens 615 Achtzehntes Kapitel In Schleier aus durchſichtigem Silber gewoben hüllte ſich der blaue Frühlingshimmel. Milde E lächelnd glänzte ſein großes Sonnenauge. Und die kleinen weißen Wolken ſtanden ganz ſtill wie er⸗ wartungsvoll ſtaunende Kinder, ehe der Vorhang vor dem Märchenſpiel aufgeht. Die Luft ſtreichelte mit weichen Händen die Erde, als wäre ſie ſehr, ſehr krank. Jetzt trugen ſie den letzten Hausrat aus der alten Wohnung. Der große gelbe Wagen vor der Tür war⸗ tete darauf, ihn in die neue hinüberzufahren. Ich ſah mich um in den leeren Räumen: auf dem Boden lag Papier und Stroh und Scherben, in den Winkeln Staub in großen grauen Flocken. Zögernd, als hielte eine unſichtbare Hand mich zurück, öffnete ich die Tür zu meines Sohnes Zimmer. Von ſeinen un⸗ ruhigen Füßchen war die Diele zertreten. Dunkel zeich⸗ nete ſich der Platz am Boden ab, wo ſein Bett ge⸗ ſtanden hatte; — wie oft, ſeitdem er fort war, hatte ich den Kopf in die leeren Kiſſen vergraben — Eine Hand berührte meine Schulter. „Komm, Alix,“ ſagte Heinrichs weiche, tiefe Stimme hinter mir. Auf ſeinen Arm geſtützt, mit tief gebeugtem 616 Racken ging ich die Treppen hinab. Auf der Straße verſagte mir der Atem; mein Begleiter hatte einen ſo raſchen, elaſtiſchen Schritt, daß ich ihm nicht zu folgen vermochte. Er trug auch den Kopf ganz hoch, wie einer, der noch als Eroberer ins Leben tritt. Und waren wir nicht Geſchlagene?! Ich hatte meinen Ge⸗ danken laut werden laſſen. Heinrich blieb ſtehen. „Haſt du die Waffen geſtreckt?!“ fragte er ſtirn⸗ runzelnd mit ſcharfer Betonung. „Ich nicht! Was uns nicht umbringt, das macht uns ſtärker.“ Ich ſenkte den Kopf noch tiefer; eine jähe Röte ſchoß mir in die Schläfen. Er hatte die Türe zu unſerer neuen Wohnung mit Blumen bekränzen laſſen. Daß ich ſie nicht abriß, ge⸗ ſchah nur, um ihm nicht wehe zu tun. Drinnen emp⸗ fingen uns ſchon die ſtummen vertrauten Gefährten unſeres Lebens. Aber an dem großen Schreibtiſch ſtand jetzt nur noch ein Stuhl. Ich hatte ein eigenes kleines Zimmer. „Das iſt der erſte Schritt zur Ehetrennung,“ lächelte mein Mann, mit einem Blick auf mich, in dem eine ernſte Frage lag. Ich blieb ihm die Antwort ſchuldig. „Freuſt du dich denn gar nicht, daß all der Kram dir nun doch erhalten blieb?!“ ſagte er nach einer Pauſe in einem erzwungen leichten Ton. „Wie haſt du darum gezittert, du armer Angſthaſe du!“ Und wieder ſtieg mir das Blut ins Geſicht. Ich ſchämte mich, daß ich ſo hatte empfinden können. „Dem, der mir dazu verhalf, werde ich immer dank⸗ bar ſein,“ ſagte ich leiſe, — es war keiner der alten Freunde, keiner der offiziellen Vertreter der „Brüder⸗ 617 lichkeit“ geweſen! — „Aber mehr darum, weil ich doch noch einen Menſchen mit warmem Herzen gefunden habe, als um der Stühle und Schränke und Kiſten und Kaſten willen . . Heinrich drückte mir die Hand. Dann nahm er eine der letzten Rummern der Reuen Geſellſchaft aus dem Bücherſchrank. „„Solchen Menſchen, welche mich etwas angehen, wünſche ich Leiden, Verlaſſenheit, Mißhandlung, Ent⸗ würdigung, — ich wünſche, daß ihnen das Elend der Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige wünſche, was heute beweiſen kann, ob Einer Wert hat, oder nicht, — daß er ſtandhält . .““ las er. „Dieſe Worte Rietzſches habe ich abgedruckt, weil ſie meine eigene tiefe Überzeugung ausſprechen.“ Seine Kraft verletzte mich faſt. Ich wollte nicht überwinden. Es kam mir wie ein Verrat an meinem Kinde vor, wenn auch mich ein Gefühl ergriff, als ginge ich geſtärkt einem neuen Leben entgegen. Ich pflegte mein Leid mit ſelbſtquäleriſcher Wolluſt. Ich liebte es. Aber — ſeltſam —: Je länger es neben mir her⸗ ging, deſto mehr wandelte ſich ſein gräßliches Meduſen⸗ haupt in das ſtille, ernſte Antlitz eines Freundes. Es nahm mich bei der Hand und führte mich langſam, Schritt vor Schritt, — mein Herz ertrug es nicht anders, — einen hohen Berg hinauf. Und von da oben ſah ich in das Tal meines Lebens. Ich erkannte ſeine großen Umriſſe und geraden Linien, aber all die Hinder⸗ niſſe auf den Wegen — den Unrat auf den Straßen — ſah ich nicht mehr. 618 Eines Tages trat mein Mann mit einem großen Strauß duftender Roſen in mein Zimmer. „Zum Zeichen, daß ich dir wieder Blumen bringen kann,“ ſagte er lächelnd. Run erfuhr ich erſt von ſeiner Arbeit, von den Plänen, die ihrer Ver⸗ wirklichung entgegengingen, — rein geſchäftlichen Unter⸗ nehmungen, denen er neben ſeiner literariſchen Tätig⸗ keit all ſeine Kräfte widmete, ohne ſich eine Stunde der Ruhe, eine Pauſe der Erholung zu gönnen, — nur das eine Ziel im Auge: die drückenden Schulden zu zahlen, uns eine Exiſtenz zu gründen und — er ſprach es ſo leiſe aus, als ob er ſich ſcheue, daran zu rühren — „dir dein Kind zurückzugeben.“ „Heinz!“ rief ich, — die Tränen ſtürzten mir aus den Augen, — ich griff nach ſeinen beiden Händen und drückte ſie zwiſchen den meinen. „Was meinſt du, wenn du den Buben holen gingſt?! Und vorſichtig, als wäre ich etwas ſehr Zerbrechliches, zog ſein Arm mich an ſich. Ich fuhr ſchon am nächſten Morgen nach Walters⸗ hof. Wie langſam ſchlich der Zug durch die blühende Sommerpracht, wie endlos hielt er ſich an all den vielen Stationen auf! Endlich, endlich kam ich an. Droben auf der Höhe, wo jetzt das Korn in hohen Garben ſtand und alle Ahren grüßten und nickten, als wützten ſie um mein Glück, kam mir mein Junge ent⸗ gegengelaufen — — Wie groß und wie braun, und wie ſtark und wie froh er war! Sonderbar, daß irgend etwas dabei mich ſchmerzte. Er küßte und herzte mich immer wieder, — 619 aber nicht mit dem Bedürfnis nach Schutz, nach An⸗ lehnung, wie die kleinen Kinder, wenn ſie ſich an die Mutter ſchmiegen. Ich ſah ihn dann im Kreiſe der Kameraden auf der grünen Wieſe, im Tannenwald: wie er ſeine Kräfte an den ihren maß. Ich dachte an unſere Straße, unſere enge Wohnung; — ich wagte noch nicht, ihm zu ſagen, warum ich gekommen war. Und als ich am nächſten Vormittag dem Unter⸗ richt beiwohnte, in Klaſſen, wo kaum mehr als zehn Kinder beieinanderſaßen und der Lehrer imſtande war, ſich mit jedem einzelnen zu beſchäftigen, auf ſeine In⸗ tereſſen und Fähigkeiten einzugehen, — da dachte ich an die überfüllten ſtädtiſchen Gymnaſien mit all ihrem Gefolge von Krankheit und Laſter und Stumpfſinn; ihre unglückſeligen Opfer fielen mir ein, die den Martern des Geiſtes und Körpers den Tod vorzogen. Mich ſchauderte: hatte ich ein Recht, über mein Kind zu ver⸗ fügen nach meinem Gefallen? Kein Zweifel: ſein In⸗ ſtinkt hatte für Freiheit und Ratur entſchieden. „Ich komme morgen nach Haus, und komme — allein,“ ſchrieb ich an meinen Mann. „Otto iſt ein ſelbſtändiger Menſch geworden, und ich habe hier ge⸗ lernt, was keine pädagogiſche Buchweisheit mir hätte beibringen können: daß auch die Kinder ſich ſelbſt ge⸗ hören, nicht uns; daß die Kindheit einen Wert an ſich hat. Es mußte ſo ſein, wie es iſt. Wenn unſer Sohn ſtark genug iſt, um auch neben uns ein Eigener zu bleiben, wird er vielleicht freiwillig zurückkehren . .. Ich ſchreibe das Alles ſo hin, und die Worte ſehen aus, als koſteten ſie mich nichts. Ich glaube, ich brauche Dir nicht erſt zu ſagen, was ich überwinden mußte. Es 62o wird noch lange dauern, bis ich von meiner Mutter⸗ liebe abgeſtreift haben werde, was jeder Liebe eigen⸗ tümlich iſt: den Willen zum Beſitz. Seitdem Du mich fühlen ließeſt, daß auch Du unſer Kind entbehrſt, weiß ich: Du wirſt Geduld mit mir haben.“ Jetzt erſt wurde ich mir der ganzen Leere meines Lebens bewußt: war ich ſchon ſo alt, um nur noch in philoſophiſcher Ruhe ſeine Reſultate zu ziehen? Um ab⸗ ſeits zu ſtehen wie Zuſchauer am Schlachtfeld? AIs mir von ſeiten der Gewerkſchaften die Aufforde⸗ rungzuging, einigeausſchließlich Bildungszwecken dienende Vorträge im internen Kreiſe organiſierter Arbeiter zu übernehmen, ergriff ich die Gelegenheit, von der ich glaubte, daß ſie mir wenigſtens eine befriedigende Tätigkeit eröffnen würde. Seit dem Jahre 1906 hatten die Partei und die Gewerkſchaften, einem Beſchluß des Mannheimer Parteitags folgend, den Bildungsbeſtre⸗ bungen tatkräftigeres Intereſſe zugewandt. Außer der Partei⸗ und Gewerkſchaftsſchule in Berlin und ähn⸗ lichen Einrichtungen in den größeren Provinzſtädten, wo eine beſchränkte Zahl ausgewählter Schüler ſyſte⸗ matiſchen hiſtoriſchen und nationalökonomiſchen Kurſen regelmäßig folgte, wurden Referate gehalten, die Allen zugänglich waren, die ihre Mitgliedſchaft zu einer Ar⸗ beiterorganiſation nachweiſen konnten. Die Lehrer der Parteiſchule waren Radikale ſtrengſter Obſervanz. Sie ſprachen von „bürgerlicher“ Wiſſenſchaft, „bürgerlicher Kunſt, zu der die vom Zukunftsſtaat zu erwartenden in ſcharfem Gegenſatz ſtünden. Sie waren Geiſt vom Geiſt 621 des preußiſchen Kultusminiſters, der einen Privatdozenten abgeſetzt hatte, weil er Sozialdemokrat war. In ihrem Kreiſe waren die kühnen Sätze gefallen, daß die Philo⸗ ſophie eine ideologiſche Begleiterſcheinung der Klaſſen⸗ kämpfe und ihre Geſchichte eine Geſchichte bürgerlichen Denkens ſei. Die Gewerkſchaften ſtanden zu ihnen in einem leiſen aber darum nicht weniger ſtarken Gegenſatz, der auch in der Wahl ihrer Referenten zum Ausdruck kam. Schon als ich zum erſtenmal ſprach, — vor einer Zuhörerſchaft von ein paar hundert Arbeiterinnen, — wurde mir er⸗ zählt, wie empört die führenden Genoſſinnen ſeien, daß man mich dazu aufgefordert habe. Durch Fragen, durch Bitten um Ratſchläge für ihre ſelbſtändige Fortbildung, durch Bücher, die ich auslieh, und die mir perſönlich zurückgebracht wurden, kam ich in Berührung mit Männern und Frauen, die noch nicht zu den „gehobenen Exiſtenzen“ gehörten. In der Rüchtern⸗ heit des Alltagslebens, fern der Begeiſterung, die Feſte und Kämpfe entzünden, lernte ich ihr Leben, ihr Denken und Fühlen kennen. Es ſtand faſt ausnahmslos unter dem Zeichen der Unzufriedenheit, des Mangels an einem Inhalt, der über die Miſere des Daſeins hinaus ſtark und hoffnungsfroh macht. Eine gewiſſe ſeeliſche Leere kam vielen zum Bewußtſein, etwa wie ein Gefühl dauernden Frierens. Die Ideale des Sozialismus hatten, da ihre Verwirklichung ſo fern gerückt war, für das perſönliche Leben viel von ihrem Feuer verloren. Aber gerade in der zum Ausdruck kommenden Unzu⸗ friedenheit mit den äußeren Erfolgen und den inneren Werten der Partei lag eine ſtarke latente Kraft, die 622 bereit war, jeden Augenblick alles Laſtende, Hindernde fortzuſchieben, wenn nur irgendwo der Weg ins Freie ſich zeigte. Rach einer meiner Verſammlungen begrüßte mich Reinhard. Er war zuerſt ein wenig verlegen, als ich aber harmlos und freundlich blieb, taute er auf. Ich erzählte ihm von meinen Beobachtungen. „Ich bilde mir natürlich nicht ein, daß ſie maßgebend ſind, aber ich halte ſie doch für Symptome.“ Er gab mir recht. „Wir befinden uns zweifellos in einer inneren Kriſis,“ ſagte er, „die ſich immer wieder nach außen bemerkbar macht. Jetzt beginnt der Zank ſchon wieder. Diesmal um die Frage der Budget⸗ bewilligung. Sobald wir verſuchen durch eine Politik, die immer mehr oder weniger auf Konzeſſionen beruht, Schritte nach vorwärts zu tun, Vorteile oder Einfluß zu gewinnen, kommen die anderen und ſchwenken mit Geſchrei die angeblich von uns verratene Fahne des Prinzips. Ich möchte wiſſen, was geſchehen ſoll, wenn wir einmal in den Parlamenten eine Vertretung haben, mit der gerechnet werden muß? Ob wir dann das prinzipienfeſte Reinſagen unſeren Wählern gegenüber verantworten können? — Ich ſehe ſchwarz in die Zu⸗ kunft, Genoſſin Brandt, ſehr ſchwarz! Ich fürchte, wenn erſt einmal unſere Alten tot ſind, dann fällt die Partei auseinander.“ „Und wäre das wirklich ſo fürchterlich?“ wandte ich ein. Er fuhr auf. Seine Augen blitzten mich an wie früher. „Genoſſin Brandt!“ rief er entrüſtet. „Sollten die Leute recht haben, die von Ihnen behaupten, daß Sie nicht mehr die unfere ſinds! 623 „So —,“ ſagte ich gedehnt, „das alſo erzählt man von mir?! Und Ihnen erſcheint es möglich, weil ich eine Spaltung der Partei nicht für den ſchrecklichſten der Schrecken halte?! Es zeugt für ein ſehr geringes Ver⸗ trauen in die Rotwendigkeit der Entwicklung zum So⸗ zialismus, wenn wir annehmen wollten, daß ſolch ein Ereignis einen mehr als vorübergehenden Rachteil nach ſich zöge. Unſer Ziel bleibt doch unverändert dasſelbe, in wie viel Heerſcharen wir ihm auch entgegenmarſchieren! Reinhards Geſicht färbte ſich dunkelrot. „Sie ſcheinen ja ein ſolches Unglück faſt zu wünſchen!“ ſagte er mit verbiſſenem Grimm. „ Davon bin ich ebenſoweit entfernt wie Sie,“ antwortete ich. „Ich ſuche nur, Sie und mich von der Angſt davor zu befreien. Dabei frage ich mich, ob es nicht viel korrumpierender für den einzelnen und lähmender für die Aktion der Maſſe iſt, wenn immer wieder um der äußeren Einheit willen Reſolutionen angenommen werden, die für ſehr viele nur auf dem Papiere ſtehen, und das Erfurter Programm krampfhaft aufrecht erhalten wird, obwohl immer weitere Kreiſe von Genoſſen ganze Sätze daraus für unrichtig halten. Die Radikalen, die in der Form des Ausſchluſſes aus der Partei eigentlich nichts anderes wollen als eine Spaleung, gehen dabei von einer ganz richtigen Emp⸗ findung aus: daß die innere Einheit die Vorausſetzung der äußeren ſein muß. Rur daß ſie wie Kurpfuſcher an den Symptomen herumkurieren. „Und Sie wüßten ein Mittel, die Krankheit zu heilen?“ Dabei ſah Reinhard mich an, als erwartete er eine Offenbarung von mir. 624 Ich lachte. „Wenn ich ein Mittel wüßte, glauben Sie, ich hätte es nicht ſchon längſt auf allen Gaſſen ausgeſchrien?! Rur einen Weg dahin glaube ich zu wiſſen. Die Übel, unter denen wir leiden, laſſen ſich alle auf eine Urſache zurückführen: die fehlende richtige Grundlage unſerer Bewegung. Was bisher als ſolche galt, hat ſich zu einem Teil als falſch oder nicht aus⸗ reichend erwieſen.“ Er machte ein enttäuſchtes Geſicht: „Alſo ein neues Programm! Wenn es weiter nichts iſt! „Ich las geſtern in einem Brief von Hegel einen Satz, der ſich mir ins Gedächtnis geprägt hat,“ fuhr ich fort, „„die theoretiſche Arbeit bringt mehr in der Welt zuſtande als die praktiſche; iſt das Reich der Vorſtellung revolutioniert, ſo hält die Wirklichkeit nicht ſtand“. Ge⸗ rade wir Reviſioniſten haben dieſe tiefe Wahrheit faſt vergeſſen. Sie auch, wie ich ſehe. Und doch glaube ich, hätten wir ein Programm, das alle inzwiſchen zweifelhaft gewordenen Theorien beiſeite ließe, alle prak⸗ tiſchen Forderungen den Entſcheidungen des Tages an⸗ heimgäbe und nur den Ausgangspunkt feſtſtellte, — den Klaſſenkampf, — und das Ziel, — die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln; wir würden weniger zerrüttende Kämpfe in unſeren Reihen haben, und Millionen Außenſtehender würden nicht Mitläufer, ſondern Parteigenoſſen werden.“ „Ich wundere mich, daß Sie bei Ihrem gründlichen Aufräumen den Klaſſenkampf nicht auch zum Fenſter hinauswerfen,“ ſpottete Reinhard mit einem Anflug von Arger. „Sie ſind hellſehend, lieber Genoſſe,“ entgegnete ich, 625 „denn die Form, in die er vor einem halben Jahr⸗ hundert gezwängt wurde, iſt freilich unbrauchbar ge⸗ worden. Leute wie ich zum Beiſpiel haben keinen Platz in ihr. Man redet uns ein, und wir glaubten es, daß wir aus reinem ſelbſtloſen Edelmut in die Partei eintraten; wir blieben infolgedeſſen, als nicht recht dazu gehörig, unſichere Kantoniſten in den Augen der ge⸗ borenen Klaſſenkämpfer. Ich bin inzwiſchen ſchon für mich allein von dem Kothurn dieſes Edelmuts herab⸗ geſtiegen und habe gefunden, daß ich mit demſelben Recht wie der Arbeiter im Klaſſenkampf ſtehe. War ich nicht, mittellos, auf meine Arbeit angewieſen? War ich nicht abhängig von meiner Familie, alſo unfrei? Der hungernde Arbeiter ſucht freilich in erſter Linie Brot; aber das könnte ihm auch eine vernünftige bürger⸗ liche Sozialreform ſicherſtellen. Er iſt Sozialdemokrat, weil er mehr will: Freiheit. Genau dasſelbe, wonach ich verlangte, als es mich in die Partei trieb; genau dasſelbe, wonach Hunderttauſende ſich ſehnen, — lauter Abhängige, — lauter geborene Klaſſenkämpfer, die die Partei mit ihrem engen: „die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter ſelbſt ſein“, mit der „Diktatur des Proletariats“ als notwendiges Befreiungs⸗ mittel zurückſtößt, im beſten Falle nur duldet .. Wir waren vor der Tür meiner Wohnung ange⸗ kommen. „Selbſt wenn Sie recht hätten, — was ich nicht weiß —,“ ſagte Reinhard; „die radikale Tradition iſt viel zu ſtark innerhalb der Arbeiterſchaft, als daß ſolch eine Programmänderung möglich wäre. Mir ſcheint auch, es würde immer noch etwas fehlen —“ Braun, Memoiren einer Sozialiſtin I7 40 626 Ich nickte. „Es fehlt noch immer etwas, — ja —,“ meinte ich nachdenklich. Dann trennten wir uns. Als mein Vortragskurſus zu Ende war, bekam ich keine Aufforderungen mehr. An meinen Zuhörern lag das nicht; ihr regelmäßiges Er⸗ ſcheinen, ihr wachſendes Intereſſe zeugte dafür. Aber der Einfluß der Zionswächter des Radikalismus war ſtärker als ſie. „Run haben ſie dich wieder an der Arbeit verhindert, ſagte mein Mann ärgerlich. „Es iſt vielleicht für mich das beſte,“ meinte ich. „Zu⸗ viel Zweifelfragen ſind in mir wach geworden. Jahre⸗ lang hat das Fieber der Tagesforderungen ſie immer wieder unterdrückt. Jeder denkende Menſch ſollte eigent⸗ lich die Möglichkeit haben, ſich hie und da von der Welt zurückziehen zu können, um zu ſich ſelbſt zu kommen. Trappiſtenklöſter für Ungläubige, — das wäre eine er⸗ löſende Einrichtung.“ „Möchteſt du den Schleier nehmen?!“ fragte er, — etwas wie Beſorgnis ſprach ſich in ſeiner Frage aus. „Für ein paar Monate, ja!“ entgegnete ich. „Um als ein ſtarkes und frohes Weltkind zurückzukehren.“ Aber wenn ich ihn anſah, ſchämte ich mich, ſolche Wünſche zu haben. Er war abgeſpannt und müde. Er bedurfte mehr als ich einer Zeit der Ruhe. So wenig er von ſich ſelber ſprach, ich erfuhr doch, daß das Mißlingen ſich mit grauſamer Hartnäckigkeit an ſeine Ferſen heftete. Die Sorgen, die er hatte von unſerer Türe fern⸗ 627 halten wollen, krochen durch die Fenſter herein; aber wenn ich ſah, wie er ruhig blieb, wie neue Hinderniſſe nur immer neue Widerſtände in ihm entwickelten, dann überkam mich das Bedürfnis, mich an ihn zu ſchmiegen, ganz dicht, geſchloſſenen Auges, voll tiefen Vertrauens .. Im Herbſt begann ich meine Vortragsreiſen wieder. Ich mußte Geld verdienen. Und was dies Publikum ver⸗ langte: ein wenig Anregung, ein wenig Senſation, war ich fähig zu geben. Es wurde mir diesmal leichter als ſonſt. Viele Menſchen kreuzten meinen Weg, und was mir bei den Proletariern begegnet war, das fand ich in anderer Form wieder: wer nicht im Genußleben ertrank oder im Kampf ums Daſein zerrieben wurde, den be⸗ herrſchte ein Gefühl brennender Unzufriedenheit, ein un⸗ beſtimmtes Suchen. Es war die Zeit, wo Fürſt Bülow, in der Hoffnung auf dieſe Weiſe die Steuerforderungen der Regierung durchzuſetzen, die unnatürliche Verbindung zwiſchen Libe⸗ ralen und Konſervativen herbeigeführt hatte. Wer noch vom echten Liberalismus einen Blutstropfen in ſich fühlte, mußte ſich dieſer Paarung ſchämen. Die beſten Elemente des Bürgertums waren politiſch obdachlos. Ihr ſteuerloſes Schiff näherte ſich unwill⸗ kürlich wieder der Flut des Sozialismus. „Den Kulturwert der Arbeiterbewegung erkennt wohl jeder von uns an,“ ſagte mir ein junger Gelehrter in einer kleinen Univerſitätsſtadt. „Und daß ihr ökono⸗ miſches Streben zugleich ein ſittliches iſt, wird kein ob⸗ jektiv Denkender beſtreiten. Sie iſt im Kampf gegen die Reaktion auch die Hoffnung derer, die nur zuſehen müſſen. 40* 628 Der Kreis der modernen Snobiſten, die aus der Er⸗ kenntnis der Rotwendigkeit ſauberer Wäſche und reiner Rägel eine Weltanſchauung konſtruiert und Rombergs Ausſpruch, daß Bildung und Politik unvereinbare Be⸗ griffe wären, zu dem ihren gemacht hatten, ſchrumpfte ſichtlich zuſammen. Und auch auf anderen Gebieten geiſtiger Intereſſen wuchs die Innerlichkeit, der Ernſt. Aus einer Spielerei müßiger Stunden wurde die Kunſt zu einer Angelegen⸗ heit perſönlichen Lebens, — eine Kunſt, die von den Göttern und Madonnen zur Erde herabgeſtiegen war, die den charakteriſtiſchen Stempel innerer Rotwendigkeit allem aufprägte, — vom geringfügigſten Gebrauchs⸗ gegenſtand bis zum hamburger Bismarckdenkmal. Aus einer Tradition, deren man ſich nur an jedem Feiertag erinnerte, wurde die Religion zu einer die Gemüter er⸗ regenden Bewegung; daneben drängten pädagogiſche und ſexuelle Probleme ſich mehr und mehr in den Vorder⸗ grund, und neben den alten Werten der Schule, der Ehe, der Familie, erſchienen wie aus Flammen gebildet rieſengroße Fragezeichen. Als eine reaktionäre Maſſe wurde die Bourgeoiſie nach altem Rezept von der Partei bezeichnet. Die Wirklichkeit ſtrafte ſie Lügen. Was ich ſah, war wie ein Strom, deſſen Waſſermaſſen der alten Dämme zu ſpotten ſchienen und ſich nun wahllos, ziellos ausbreiteten. Es fehlte nur das neue Bett, um ihre große Kraft zu vereinen und nutzbar zu machen. Ich fühlte, wie ich froh wurde angeſichts der neuen Erkenntnis, wie meine Hoffnung ihre Flügel regte und 629 Überzeugungen, die im Sturm der Zweifel geſchwankt hatten, nur noch tiefere Wurzeln ſchlugen. Aber es war, als ſtünde unſer Leben unter einem böſen Zauber: Sahen junge Triebe der Freude mit einem hellen Frühlingslächeln aus dem Erdboden her⸗ vor, ſo praſſelten Hagelkörner vom Himmel und ſchlugen ſie grauſam nieder. Mitten in einer Vortragsreiſe verſagte meine Stimme völlig. Was die Arzte ſchon lange vorausgeſagt hatten, geſchah: von einer Tätigkeit wie der bisherigen konnte keine Rede ſein. Was nun? Ich ſaß vor meinem Schreib⸗ tiſch, — einem ganz alten aus hellem Birnbaumholz mit ſchwarzen Säulchen, der früher irgendwo in einem Winkel geſtanden hatte, — und lehnte mich müde in den tiefen Stuhl zu⸗ rück. Großmutters Stuhl! Mir war, als ſähe ich ſie vor mir: das ſchmale, dunkle Geſicht mit den großen Augen, und einem Lächeln um die feinen Lippen, das über alles Erdenleid zu triumphieren ſchien. Viel, viel zu früh hatte ich ſie verloren! Plötzlich fielen mir die Papiere ein, die ich von ihr beſaß: Briefe, Tagebuch⸗ notizen, Stammbücher. Sie hatte ſie mir hinterlaſſen, mir allein. Als ob ſie mir ſich ſelbſt habe ſchenken wollen. Ich ſuchte ſie hervor und las und las. Aus den vergilbten Blättern duftete der Frühling berauſchend, und die Sonne ſchien bis tief hinein in das winter⸗ ſtarre Herz, und aus ſchweren dunkeln Wolken ſtrömte 63o warmer Regen, ſegenſpendender. Und eine weiche Hand ſtreichelte mich, als wäre auch ich krank, ſehr krank. Ihr Leben war voll ſtiller Kämpfe geweſen, und aus einem jeden war ſie ſtärker hervorgegangen. Es hatte ihr den Geliebten ihrer Jugend, hatte ihr Freunde und Kinder geraubt, und ihr Herz war bei jedem Verluſt nur reicher geworden an Kraft und Liebe. Dann war ſie einſam zurückgeblieben, zwiſchen lauter Fremden, und war doch nicht bitter geworden, und verſtand auch den Fernſten und den Armſten. Rur eins überwand ſie nie: das unverſchuldete Elend in der Welt —. Ich ging jeder Regung ihrer Seele, jeder Spur ihres Daſeins nach. Dabei entdeckte ich ein Gewebe feiner Fäden, das ſich von ihr bis zu mir herüberſpann, eine ununterbrochene Folge von Urſache und Wirkung, eine eherne Geſetzmäßigkeit. Run ſchrieb ich das Buch von ihr, weil ich es ſchreiben mußte. Von früh bis ſpät arbeitete ich. Es war da⸗ bei ſehr ſtill um mich und in mir. Nur wenn ein Brief von meinem Kinde kam, — einer jener kurzen, frohen, lebenſprühenden Zeichen ſeiner Jugendkraft, — nahmen meine Gedanken eine andere Richtung an. Aber ſie trieben mir nicht mehr die Tränen in die Augen: denn mein Sohn lebte, mein Sohn blieb mir nah, aud wenn er fern war. Meiner Großmutter Kinder waren ihr fern geweſen, wenn ſie ſie mit Händen hatte greifen, mit Augen hatte ſehen können. Und auch daran war ſie nicht zugrunde gegangen. Sie hatte ſtandgehalten. Ich ſchrieb wie im Fieber. Die Arbeit war wie eine Wünſchelrute. Sie ſchloß in meinem Innern lauter verſchüttete Quellen auf. 63I Von dem glühenden Abendhimmel der klaſſiſchen Pe⸗ riode Weimars war der Großmutter Jugend umſtrahlt geweſen; die geiſtigen Heroen des neunzehnten Jahr⸗ hunderts hatten auf ihren Lebensweg breite Schatten geworfen. Je deutlicher mir der geiſtige Werdegang der Vergangenheit entgegentrat, zu deſto klareren Bil⸗ dern ſchoben ſich die ſcheinbar wirr durcheinander⸗ laufenden Zeichen der Gegenwart zuſammen. Unter dem Geſetz dieſes großen Entwicklungsprozeſſes ſtand auch ihr Leben; das gab ihm ſeine Bedeutung, ſo eng, ſo ſtill es an ſich auch geweſen war. Mein Buch erſchien. Und plötzlich ſchien die Groß⸗ mutter nicht nur für mich lebendig geworden. Sie ſtand da, mitten in der Welt und redete mit den Menſchen. Selbſt aus den verſtimmten Inſtrumenten der Seelen lockte ſie wie einſt Melodien hervor. Viele kamen und dankten mir, als ob ich ſie geſchaffen hätte! Rur in der Parteipreſſe gab es Leute, die mich be⸗ ſchimpften; es war in dem Buch auch von Fürſten und Ariſtokraten die Rede, die keine Schufte waren. Als ich es las und mein Herz dabei nicht einmal ſchneller klopfte, erſchrak ich: Sollte ich ſo ſtumpf geworden ſein? Oder ſtand ich den alten Genoſſen ſo fern? Erſt all⸗ mählich fing ich an, mich ſelbſt zu verſtehen. „Geht es dir ſo nahe, daß du nicht darüber zu ſprechen vermagſt?“ fragte mich mein Mann. „Es ärgert mich nicht einmal,“ antwortete ich. Sein Geſicht leuchtete auf: „So ſtehſt du endlich über den Dingen und werteſt die Menſchen, wie ſie es ver⸗ dienen.“ „Du verſtehſt mich nicht ganz,“ wandte ich ein. „Richt 632 nur weil ich weiß, daß ſie mir in Wahrheit nichts an⸗ haben können, gräme ich mich nicht mehr über Urteile wie dieſe, ſondern weil ich ſie verſtehe —“ Er ſah mich ungläubig lächelnd an. „Ja, ich verſtehe ſie,“ wiederholte ich. „Uns trennt ein unüberbrückbarer Abgrund: der der inneren Kultur. Wie die Genoſſinnen ſich ſtändig über mein Außeres ärgerten, — weil ich eben anders war als ſie, — ſo muß der Durchſchnitt der Genoſſen an meinem Weſen Anſtoß nehmen.“ „Hm —,“ machte mein Mann, „das klingt —““ „Sehr hochmütig,“ vollendete ich. „Ganz gewiß! Und doch iſt es weit von jedem Hochmut entfernt. Was ich wurde, bin ich anderen ſchuldig: Richt nur meinen Vorfahren, ſondern auch den vielen Tauſenden, die deren geſicherte Exiſtenz, deren geiſtige Entwicklung durch ihr ſklaviſches Arbeitsleben erſt möglich machten. „Folgerſt du nun aus deiner Behauptung, daß Menſchen wie du ſich von der Partei fern halten müßten? Daß alſo der Satz: „Die Befreiung der Arbeiterklaſſe kann nur ein Werk der Arbeiterklaſſe ſelbſt ſein“ im Sinne der radikalſten Genoſſen, die heute jeden Überläufer zurückweiſen möchten, aufgefaßt werden darf?“ fragte Heinrich intereſſiert. „Damit würde ich mich ſelbſt negieren,“ rief ich leb⸗ haft. „Ich folgere zunächſt etwas rein Perſönliches: daß ich den Genoſſen unrecht tat, wenn ich ihnen ihre Feind⸗ ſeligkeit zum Vorwurf machte; daß es himmelblauer, allen realen Erfahrungen ſpottender Idealismus war, wenn ich von ihnen Anerkennung, Verſtändnis, Anteil⸗ nahme erwartete. Sind ſie uns denn in ihrer Maſſe 633 perſönlich anziehend? Stören uns nicht ſchon eine Menge bloßer Außerlichkeiten? Verſtehen wir ſie denn ſo gut? „Du vergißt, wie mir ſcheint,“ warf Heinrich ein, „daß eine Reihe Akademiker ganz im Proletariat auf⸗ ging „Ich glaube es nicht, ſo demagogiſch ſie ſich auch ge⸗ bärden mögen, um den Anſchein zu erwecken, es wäre ſo,“ entgegnete ich. „Wenn ihre Kultur nicht nur Tünche iſt, ſo rächt ſich ihre Heuchelei in ſtillen Stunden bitter an ihnen. Weißt du —,“ fügte ich langſam hin⸗ zu, „ſobald ich mir Wanda Orbins früh gealterte, durch⸗ furchte Züge vergegenwärtige, bin ich gewiß, daß ſie empfindlich darunter leidet - Heinrich runzelte die Stirn: „Du gehſt denn doch ein wenig weit in deinem Mitgefühl. Willſt du vielleicht auch ihr Verhalten gegen dich beſchönigen? „Beſchönigen — nein; erklären — ja! Sie muß herrſchen, um die Preisgabe der inneren Freiheit er⸗ tragen zu können. Infolgedeſſen beſeitigt ſie jeden, der ihr im Wege ſteht, — ganz abgeſehen davon, daß ich ihrem fanatiſchen Radikalismus als Schädling erſcheinen mußte!“ „Das Endreſultat deiner Erwägungen,“ ſagte mein Mann mit einem leiſen Spott im Ton der Stimme, „iſt demnach ein erhaben chriſtliches: Liebet eure Feinde, ſegnet, die euch fluchen- Ich hob abwehrend beide Hände. „Rein, nein, nein!“ rief ich aus und ſtand auf, um mit raſchen Schritten im Takt meines Herzſchlages auf und ab zu gehen. „Vom Chriſtentum bin ich weiter entfernt denn je. Die tief eingewurzelte chriſtliche Auffaſſungsweiſe iſt 634 es ja, die uns zu ſo falſcher Stellungnahme getrieben hat. Da iſt zunächſt die chriſtliche Idee der Selbſtaufopfe⸗ rung. Keiner von uns Überläufern, mich ſelbſt einge⸗ ſchloſſen, hat ſich nicht zuweilen mit einer Art pfäffiſcher Selbſtzufriedenheit an ſeinem eigenen Opfermut berauſcht, hat ſich nicht innerlich vorgerechnet, was er alles um der Sache willen aufgab, hat ſich nicht das Leben in dem Gefühl verbittert, daß die Genoſſen dieſes Opfer nicht zu würdigen verſtehn. Wenn ich ſchon als Kind außer⸗ ſtande war, den Opfertod Chriſti als ſolchen zu emp⸗ finden, — nicht nur, weil er als Gottesſohn die Gewiß⸗ heit ewigen Lebens beſaß, ſondern weil es mir nicht ſo heldenhaft erſchien, in der Ekſtaſe des Glaubens für die Erlöſung der ganzen Menſchheit zu ſterben, — ſo weiß ich jetzt, daß unſer Opfer gar kein Opfer iſt, ſondern im Gegenteil Selbſtbehauptung. Es wäre ein Opfer geweſen, — und eine Sünde wider den Geiſt wie jedes „Opfer“, — wenn ich mich nicht zum Sozia⸗ lismus bekannt hätte. Seiner Überzeugung nicht folgen, die Stimmen ſeines Innern nicht hören wollen, — das allein ſind Opferungen; die ſie bringen, ſind arme Lebensſchwache. Auch ich habe mich ſolcher Sünden ſchuldig gemacht: als ich mich einmal Wanda Orbin unterwarf, als ich Forderungen meines Geiſtes und Herzens zum Schweigen brachte.“ „Auch des Herzens?“ unterbrach mich mein Mann. „Weißt du nicht mehr, — damals, — als meine Sehnſucht nach dir rief — und ich ſie unterdrückte! Er nickte mit geſenktem Kopf. „Ich habe mir ſchweren Schaden getan,“ bekannte ich, als ſpräche ich tjetzt nur mit mir ſelber, „die Liebe iſt eine Quelle der 635 Kraft. Daß ſo viele Frauen ſo klein ſind und ſo arm⸗ ſelig, liegt wohl nur daran, daß ſie ſich ſelbſt verurteilen, daneben zu ſtehn, während die anderen die freien Glieder in ihrem brauſenden Strome baden.“ Heinrich ſah auf. Sein Blick forſchte in meinen Zügen. „Haſt du — noch andere Opfer gebracht? Herzensopfer — meine ich,“ fragte er langſam. Ich preßte die Handflächen krampfhaft aneinander. „Mein Kind —,“ kam es mühſam über meine Lippen. Wir ſchwiegen beide. Ich mußte mir ein paarmal mit der Hand über die Stirne ſtreichen; mit ſchweren, grauen Schwingen ſtrichen die Vögel meiner Schmerzen mir um das Haupt. „Ich habe dich aus deinem Gedankengang geriſſen, — verzeih!“ knüpfte Heinrich das Geſpräch nach einer langen Hauſe wieder an. „Von der chriſtlichen Idee der Selbſt⸗ aufopferung gingſt du aus —“ „Mit ihr haben wir nur immer uns ſelbſt irre ge⸗ führt,“ fuhr ich fort, „aber mit den anderen führen wir die Maſſen irre: mit der Gleichheit aller im Sinne gleichen Wertes und gleicher Entwicklungsfähigkeit, mit der Brüderlichkeit im Sinne gegenſeitigen Verſtändniſſes. Als ob die Ratur, die jeden Grashalm vom anderen unterſchied, den Menſchen nicht eine noch reichere Mannig⸗ faltigkeit ermöglichen ſollte; — als ob wahre Brüder⸗ lichkeit nicht immer ſeltener, dafür aber immer tiefer würde, je mehr wir uns entwickeln! Natürliche Schranken reſpektieren, ſtatt ſie niederzureißen, — Diſtanzen aner⸗ kennen, ſtatt ſie mit Phraſen zu überbrücken, — kurz, im Sinne der Entwicklung handeln, die ſtets vom Einförmigen zum Vielfachen ſchreitet, — das wäre unſere Aufgabe! 636 Statt deſſen ziehen wir unter der Maske der Brüder⸗ lichkeit den Dünkel groß, rotten die Ehrfurcht vor den Heroen des Geiſtes aus, ſo daß ſchlietzlich jeder Hans Narr einen Goethe Bruder nennt. Von dem Drei⸗ geſtirn der Forderungen, das die Revolution vom Chriſten⸗ tum übernahm und der Sozialismus von beiden, wird nur eins übrig bleiben: die Freiheit! Es wurde wieder ſekundenlang ſtill zwiſchen uns. „Vielleicht begegnen wir einander allmählich in unſeren Gedankengängen und könnten dann wenigſtens noch zu jener ſeltenen Brüderlichkeit gelangen —,“ ſagte Hein⸗ rich ſchließlich. Mit einer raſchen Bewegung näherte ich mich ihm und legte den Arm um ſeinen Hals. Der Klang ſeiner Stimme tat mir zu weh. Er löſte ſich ſanft aus der Umſchlingung. „Richt ſo, Alix —,“ ſagte er leiſe; „weißt du noch, wie du einmal zu mir ſagteſt: der Stunde ſollten wir warten, der wir gehorchen müſſen?! — Ich fürchte, ſie iſt noch fern —!“ Und in ruhigem Geſprächston fuhr er fort: „Du wirſt dich dar⸗ über in keiner Täuſchung befinden: Alles, was du ſagteſt, iſt für die heutige Sozialdemokratie Ketzerei.“ Ich nickte. „Noch kennt ſie niemand als du. Aber ſollten die loſen Gedanken ſich zur Kette zuſammenſchieben, ſo werde ich den Schatz nicht in meine Truhe legen. „Auch wenn ſie dich bezichtigen, falſches Gold zu fabrizieren?! Ich warf den Kopf zurück. Ein heißes Gefühl der Kampfluſt ſtrömte mir durch die Adern und bewies mir, daß ich lebte. „Auch dann! 637 Das Erbe meiner Großmutter befreite mich von einem gut Teil äußerer Sorgen. Und jetzt erſt, da die Rot, dieſer Sklavenhalter, nicht mehr hinter mir ſtand, fühlte ich alle Striemen, mit denen ihre Peitſchenſchläge meinen Körper gezeichnet hatten. Ich ſah die Bläſſe meiner Wangen, die Falten um meinen Mund, die müden Augen. Und doch wollte ich nicht alt ſein, denn noch lag ein Leben vor mir, und ich wollte nicht häßlich ſein, denn eine tiefe, tiefe Sehnſucht trieb mir heißes Blut durch die Adern. Ich ging in ein Sanatorium in die Rähe von Dresden, um geſund zu werden. Unter dem Menſchenſchwarm aus der alten und neuen Welt, der ſich dort ein Stell⸗ dichein zu geben ſchien, traf ich auch einen Be⸗ kannten: Heſſenſtein. Meinen alten Tänzer, einen der glänzendſten Kavaliere der Weſtfäliſchen Geſellſchaft, hätte ich in dem grauhaarigen Mann mit dem gebeugten Rücken kaum wiedererkannt. „Merkwürdig,“ ſagte er nach der erſten Begrüßung, „Sie ſind immer noch Alix von Kleve! — Eben las ich Ihr Buch. Daraus erfuhr ich, daß Sie auch in⸗ nerlich noch Alix von Kleve ſind, oder — beſſer geſagt — daß Sie heimkehrten.“ „Wie meinen Sie das?“ fragte ich lächelnd. „Ich brauchte nicht heimzukehren, denn ich war immer bei mir!“ „Auch als Sie noch zu den Singer, Stadthagen, Luxemburg, und wie die Zierden der Partei alle heißen mögen, gehörten?! „Ich war und bin Sozialdemokratin, — damit gehöre 638 ich meiner Überzeugung, nicht den Menſchen,“ antwortete ich merklich kühler werdend. „Wie, Sie ſind nicht aus der Partei ausgetreten und konnten dies ſchreiben —.“ er zog das Buch von der Großmutter aus der Taſche, „— das Werk eines voll⸗ endeten Ariſtokraten —. „Sie haben einmal andere Anſichten gehabt, Herr von. Heſſenſtein,“ unterbrach ich ihn. „Wer von uns hätte nicht törichten Träumen nach⸗ gehangen?!“ meinte er. Wir ſahen einander oft, und es tat mir wohl, einem teilnehmenden Menſchen von meinem Leben zu erzählen. An einem kühlen Herbſttag, — dem letzten vor meiner Abreiſe, wanderten wir auf die Heide hinaus. „Ich liebe ſie,“ ſagte Heſſenſtein, „ſie geht mit ſo ſtiller Würde dem Winter entgegen, ohne ſich durch überflüſſige Stürme über die Hoffnungsloſigkeit der Situation auf⸗ zuregen.“ „Run weiß ich endlich, warum ich ſie nicht liebe, antwortete ich; „dieſe Ergebung in das Schickſal wird mir immer fremd ſein. Ich würde mich an den Sommer klammern, wenn es Winter werden wollte.“ Er ſah mich kopfſchüttelnd an: „Nach all Ihren Er⸗ fahrungen dieſe Lebenskraft?! Rachdem all Ihre Opfer nutzlos waren?!. Ich ſchwieg betroffen ſtill. Die Frage, ob ich genutzt hatte oder nicht, hatte ich mir ſelbſt nie geſtellt. Ich überlegte: all die Reformen, für die ich in hartem Kampf gegen die Genoſſen eingetreten war, kamen mir jetzt, aus der Vogelperſpektive, nicht mehr ſo welt⸗ erſchütternd vor. Aber immerhin; ſie hatten ſich durch⸗ 639 geſetzt. Die Dienſtbotenbewegung war im Gang, die Mutterſchaftsverſicherung war zur Forderung der Partei geworden; die Haushaltungsgenoſſenſchaft ſtand wenig⸗ ſtens auf dem Diskuſſionsprogramm; ſelbſt jene Zentral⸗ ſtelle der Arbeiterinnenbewegung, deren Forderung mir faſt den Hals gekoſtet hatte, war vor ein paar Jahren geſchaffen worden und funktionierte vortrefflich. Und wie viele mochte ich dem Sozialismus gewonnen haben? Ich ſah wieder glänzende Augen auf mich gerichtet, fühlte den Druck ſchwieliger Hände, hörte den Sieges⸗ jubel mich umbrauſen —. „Nein,“ ſagte ich hell und laut, „meine Arbeit iſt nicht nutzlos geweſen! Es gibt kein Wort, das nicht die Luft in Schwingung verſetzt, keinen Gedanken, der ſich nicht weiterpflanzt! — Und daß ich in der Par⸗ tei aushalte?! Meinen Sie denn, es würde an meiner Überzeugung irgend etwas geändert werden, wenn ich ihr nicht offiziell angehörte, oder wenn ſie, — was ich nicht für unmöglich halte, — mich noch einmal gehen hieße? Gewiß, ich zweifle an der Rich⸗ tigkeit mancher ihrer Programmforderungen, ich halte ihre Taktik ſehr oft für falſch, ich ſehe, daß ſie von hundert Schönheitsfehlern behaftet iſt, — aber all das vermag die Hauptſache nicht zu erſchüttern. Der Sozialismus iſt das einzige Mittel, um die Menſchheit aus dem Zuſtand der Barbarei auf die erſte Stufe der Kultur zu erheben — Er legte beſchwichtigend ſeine ſchmale, blaugeäderte Hand auf die meine. „Sie ſind in keiner Volksver⸗ ſammlung,“ ſagte er; „ſie brauchen nicht ſo ſtarke Farben aufzutragen —“ 640 „Ich trage ſie nicht auf. Ich ſpreche in ruhigſter überlegung,“ fuhr ich fort. „Oder iſt es etwa keine Barbarei, daß die überwiegende Maſſe der Menſchheit, daß Millionen, viele Millionen, von Kindheit an bis zum Greiſenalter zu härteſtem Frondienſt verurteilt ſind, daß ſie von dem einzigen Sinn des Lebens, der Ent⸗ faltung der Perſönlichkeit zur höchſten Potenz ihrer Leiſtungs⸗ und Genußkraft, durch den Zufall der Geburt und des Beſitzes ausgeſchloſſen ſind?! Die Befreiung des Menſchen von den blinden Geſetzen des Schickſals, die vollkommene Unterſochung der Materie unter den Geiſt, — das iſt uns das Ziel; einer fernen Zukunft aber wird es zweifellos erſt als der Anfang der Menſchheits⸗ entwicklung erſcheinen.“ Mein Begleiter blieb ſtumm. Erſt als wir droben von der Heide in den herbſtbunten Wald ſchritten, ſprach er wieder. „Ich bewundere Ihren Glauben. Sollte wirklich die Vergeſellſchaftung der Produktionsmittel ſolchem Ziel entgegenführen?! Dann wäre es allerdings ſträflich, ſich ihrer Durchſetzung entgegenzuſtemmen! „Ich ſehe zunächſt kein anderes,“ antwortete ich. „Frei⸗ lich: ein aktuelles Problem iſt ſie nicht. Aber ſo etwas wie eine regulative Idee. Im übrigen: ich ſchwöre ja nicht darauf. Ich kann mir vorſtellen, daß ſie einmal durch andere Forderungen ergänzt werden müßte. Aber das Ziel iſt für mich unverrückbar.“ Wir näherten uns wieder dem Sanatorium. „Sie gehen nach Java zurück?“ fragte ich, ehe wir uns trennten. „Rein,“ entgegnete er. „Dreizehn Jahre habe ich da unten gelebt, — eine böſe Zahl! — Ich bin dabei ein reicher Mann geworden. Aber kein glücklicher. Jetzt 641 will ich —,“ er ſchürzte in bitterer Selbſtverhöhnung die Lippen, „— mein Leben als Europäer genießen. Sie ſehen: Ihre erſehnte Beherrſchung der Materie iſt keine zuverläſſige Grundlage des Glücks.“ „Glücklichſein — im Sinne der Befriedigung unſerer Triebe iſt doch auch nur ein Herdenideal. Weſſen Leben es ausfüllt, der iſt entweder ein Schwächling oder ein Greis —“ Er drückte mir die Hand. „Sie ſino eine merkwürdige Frau. Vielleicht komme ich nach Berlin und lerne auf meine alten Tage noch leben. Nur eins geben Sie mir bitte jetzt ſchon auf den Weg: Sind Sie ſo kalt, daß Sie das Glück ganz auszuſchalten vermögen, und — wenn nicht — was verſtehen Sie darunter?“ Ich atmete tief auf. Ich ſah mich an einem Tage wie dieſem mit dem Geliebten im Wald, — die Sehn⸗ ſucht packte mich, ſo heiß, ſo ſtark, daß ich erſchauerte. Aber dem fremden Mann, der erwartungsvoll vor mir ſtand, hätte ich nicht ſagen können, was mich bewegte. „Kampf, — Kraftentfaltung, — Widerſtände beſeitigen, — ſie aufſuchen, wenn ſie ſich nicht von ſelbſt ergeben, — darin kulminiert das Lebensgefühl der Starken,“ ſagte ich. Er verabſchiedete ſich. Ich ſah ihn im Hauſe ver⸗ ſchwinden, mit gebeugtem Rücken, ſehr müde. Auf der Heimfahrt klopfte mir das Herz unruhiger als ſonſt. Ich dachte an Heinrich. Seine Lebens⸗ auffaſſung war's, der ich Worte geliehen, an der ich mich ſelbſt zuerſt aufgerichtet hatte, und die nun. wie ein Fluidum in meine Seele geſtrömt war Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 41 642 Ein Gefühl tiefer Zuſammengehörigkeit überkam mich das ich noch nie empfunden hatte, — am wenigſten dann, als wir, an den gleichen Pflug geſpannt, unzer⸗ trennlich waren. Vielleicht, daß Freunde ſo miteinander leben und arbeiten können; — Liebende nicht, ſicher nicht! Aber ſind es nicht die beſten Ehen, die zur Freundſchaft werden? Oder iſt das nicht auch eine jener alle Ratürlichkeit knechtenden Anſchauungen, die wir armen Menſchenuns von der Moral des Chriſtentums einpauken ließen, einer Moral, für die die Sinne und die Sünde identiſch waren, der ihre Überwindung als der Tugend Krone erſchien?! Ehe iſt der Bund zweier Liebenden; wo ſie zur bloßen Freund⸗ ſchaft wurde, ſind die Sinne tot oder äugen ſehnſüchtig nach anderer Befriedigung. Die Ehe von einſt beruhte auf der Autorität des Mannes gegenüber der Frau, der Autorität der Eltern gegenüber den Kindern, — ein Staat im kleinen mit Herren und Knechten. Jetzt aber ſtehen Individuali⸗ täten einander gegenüber. Das Leben von einſt läßt ſich ihnen wohl noch aufzwingen, aber ſie zerbrechen daran. Zur Herdflamme wird die Liebe nicht mehr. Aber zum lodernden Opferbrand an den hohen Feſten des Lebens! Für die Liebe iſt der ſicherſte Tod die Unfreiheit. Sie wächſt mit dem Pathos der Diſtanz. Wie ein kleines Mädchen, das zum erſten Male liebt, wagte ich kaum mir ſelbſt zu geſtehen, was ich fühlte. Als mein Mann mich am Bahnhofe empfing und mir die Hand küßte, errötete ich. Und abends ertappte ich mich dabei, wie ich im Spiegel forſchend meine Züge muſterte und die Haare anders zu ſtecken verſuchte. — 643 Er war jetzt immer ſo förmlich, ſo ritterlich zu mir! Ob ich am Ende zu alt war: — Zweiundvierzig Jahre! In Paris hatte ich Frauen geſehen, die älter waren als ich und doch noch ſchön. Freilich: das Leben hatte mich gezeichnet! — Ganz heimlich — ich hätte mich ſonſt vor ihm zu ſehr geſchämt! — fing ich an, mich mehr zu pflegen als ſonſt, die Farbe meiner Kleider, die Form meiner Hüte ſorgfältiger auszuwählen. Ich ver⸗ ſchwendete faſt. Ganz, ganz in der Ferne ſah ich einen neuen Sommer voll Glanz und Glut. Roch lag er im Zauberſchlaf, tief unten in der winterſtarren Erde. Aber meine Sehnſucht trog mich nicht: er mußte kommen. 41* 644 Reunzehntes Kapitel In Eis gepanzert, einen langen Mantel von Schnee um die Schultern, trat das neue Jahr ſeine Herrſchaft an. Gleichgültig ſahen ſeine kalten Augen über die Menge hinweg, die jammernd die Arme zu ſeinem Thron erhob. Die Rot war groß. Brot und Fleiſch waren teuer, und für die Menſchenkraft, die ſich billig anbot, gab es keine Arbeit. Der Winter trieb die Arbeitsloſen in Scharen in die Wärmehallen; vom frühen Rachmittag an drängten ſich die Obdachſuchenden vor den Aſylen. Wer in ihre Rähe kam, den trafen Blicke, in denen der Haß gegen die Herrſchenden, der Groll mit dem Schickſal flammte. Das waren keine Almoſen heiſchen⸗ den Bettler mehr, keine in ein gottgewolltes Geſchick Ergebenen. Das Proletariat füllte den ganzen Winter über die Säle, um gegen eine Politik zu proteſtieren, die zwar mit den Inſignien des Konſtitutionalismus prunkte, aber nur ein Werkzeug des Abſolutismus war. Es wußte von den Millionen neuer Steuern, die drohten, es hatte erfahren, daß es gegen die geeinte Reaktion machtlos war, daß die eiſerne Hand Preußens auf ihm ruhte, wenn es ſich aufrichten wollte. Es erkannte, daß 645 es Mauern und Gräben zu bewältigen galt, ehe die feſte Burg, der Staat, ihm zufiele. Junker und Pfaffen hielten ſie beſetzt, bereit, nur über ihre Leichen den Weg frei zu geben. Der erſte Akt des Dramas begann. Vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin eine dicht⸗ gedrängte Menſchenmaſſe. Poliziſten zu Fuß und zu Pferd, den Revolver im gelben Gürtel, halten die Zufahrt frei. Und hinter ihnen ſtehen Tauſende, Männer, Frauen, Kinder. Sie warten. Sie beſetzen die Auffahrt des gegenüberliegenden Kunſtgewerbemuſeums. Sie halten Umſchau von oben. Und plötzlich biegt in ſcharfem Trabe eine Karoſſe um die Ecke der Prinz Albrechtſtraße. „Der Reichskanzler!“ gellt es laut. Die Menge flutet ihm entgegen, ihm nach, eine einzige dunkle Welle. Und brauſend tönt es um ihn: „Hoch das freie Wahlrecht!“ Dann wieder Stille. Sie wartet weiter. Und auf der Rednertribüne des Abgeordnetenhauſes erſcheint Fürſt Bülow zur Beantwortung des freiſinnigen Antrags: Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe für den preußiſchen Landtag. Mit untergeſchlagenen Armen, ruhig und ſelbſtbewußt, den harten Ausdruck geborener Herrſcher auf den Zügen, ſitzt die Mehrheit vor ihm. Sie weiß, was ſie zu erwarten hat; dieſer Mann iſt ein Erwählter des Kaiſers, nicht des Volkes, und der Kaiſer iſt der Ihre. „: . . Für die Königliche Staatsregierung ſteht es 646 nach wie vor feſt, daß die Übertragung des Reichstags⸗ wahlrechts auf Preußen dem Staatswohl nicht entſpricht und daher abzulehnen iſt. Auch kann die Königliche Staatsregierung die Erſetzung der öffentlichen Stimm⸗ abgabe durch die geheime nicht in Ausſicht ſtellen.“ Scharf, ohne die liebenswürdigen Floskeln des Welt⸗ mannes, ohne das verbindliche Lächeln des Diplomaten, klingt die Erklärung durch den Saal. Das Volk draußen wartet. Da nahen neue Schutz⸗ mannspatrouillen; hart ſchlägt ihr Tritt auf den Asphalt⸗ boden auf, Pferdehufe klappern dazwiſchen, — die Be⸗ gleitung zum Text des Kanzlerliedes. Das Volk zieht ſich zurück. Zwei Tage ſpäter. Ein heller Winterſonntag. Mittags Unter den Linden das gleiche Bild wie immer: flanierende Damen und Herren, Offiziere und Studenten, hinter den Spiegelſcheiben der Kaffees neugierige Sonntagsbummler. Wir gehen langſam dem Schloßplatz entgegen. Schutz⸗ leute erſcheinen. Aus allen Rebenſtraßen blitzen ihre Helmſpitzen auf. Im Zeughaus, vor dem Muſeum, am Dom und rings um das Schloß — lauter Pickelhauben. Mit klingendem Spiel zieht die Wache auf, bunt und glänzend, eine Augenweide für alle Farbenfrohen. An der Kreuzung der Friedrichſtraße ſtockt der Zug der Soldaten, ein anderer überſchreitet ſeinen Weg, ein einförmig dunkler: Arbeiter, die aus dem Innern der Stadt kommen, wo heute die Wahlrechtsverſammlungen 647 tagen. Schweigend zieht er vorüber. Es iſt, als ob er auf alle Geſichter ſeinen Schatten geworfen habe. Da — Signaltöne aus der Hupe. Die Spaziergänger ſtutzen; drei gelbe Automobile raſen vorbei, dem Schloſſe zu. Der Kaiſer. Kein Hurra, kein Gruß, alles bleibt ſtill, — wie benommen. Und plötzlich, als hätte die Erde ſie ausgeſpieen, wimmelt es auf der breiten Straße von Menſchen; im ſelben Augenblick bildet ſich vor dem Schloß eine Mauer von Poliziſtenleibern. Die Menge mißt ihre Gegner mit dem ſpöttiſchen Blick der Überlegenheit: Wenn wir wollten —! Aber ſie wollen nicht. Sie haben ſtärkere Mauern zu ſtürmen. Aus der Ferne klingen Töne, wie Donnerrollen. Sie ſchwellen an. Sie begleiten den gleichmäßigen Tritt Tauſender: — ſoweit das Auge die Friedrichſtraße hin⸗ unter gen Süden reicht — ein Meer von Menſchen. Es überflutet die Linden. Rechts und links weichen die Spaziergänger zurück. Roch nie hat die Allee der Fürſten⸗ triumphe ſolch einen Aufzug geſehen! Eine Schwadron Berittener ſprengt den Demonſtranten entgegen, mitten in ihren Zug hinein. Ein Aufkreiſchen ängſtlicher Weiber⸗ ſtimmen, — dann gewitterſchwangere Stille. Einſam liegt das Königsſchloß. Leer gefegt iſt der weite Raum ringsum. Schwer hängt die Kaiſerſtandarte in der unbewegten Luft. Hier hält das Leben ſeinen Atem an. Aber ringsum, von Rorden und Oſten, von Suden und Weſten, ſtrömen ſie jetzt herbei in hellen Scharen. Sie ſingen. Riemand hat den Taktſtock geſchwungen, ſie ſehen einander nicht einmal, und doch iſt es dasſelbe 648 Lied, das aus den Kehlen aller dringt, das die Baſtille geſtürmt hat und die Barrikaden: die Marſeillaiſe. Es ſchlägt gegen die Mauern der Kirchen und der Paläſte, — und ihr Echo muß es wiedergeben. Es brauſt ſieg⸗ haft hinweg über die Ketten der Hüter der Ordnung. Hoch über dem Königsſchloß fluten ſeine Töne zu⸗ ſammen, — es klingt wie das Klirren ſcharfer Klingen, — wie Wotans geſpenſtiſches Heer. Und nun hüllt der Abend die Stadt in ſeinen dunkeln Mantel. Der Geſang verſtummt. Das Pferdegetrappel der Poliziſten, das Geſchrei der Verfolgten tönt nur noch von weit her. Mir aber iſt, als ſähe ich in einen unermeßlichen Saal. An ſeinen Wänden prangen die Bilder ver⸗ floſſener Jahrhunderte: die Geſchichten von den Königen und den Kriegen; Marmorſtatuen ſtehen ringsum: Feld⸗ herrn und Fürſten, Prieſter und Propheten. In der Mitte aber auf goldenem Stuhl thront Er. Um das Haupt den Krönungsreif wie einen Heiligenſchein; die Finger der Linken um den Reichsapfel geſpannt, — die Weltenkugel; in der rechten das Zepter, — eine Peitſche, um Racken zu beugen, Widerſpenſtige zu zähmen; auf der Bruſt ein großes leuchtendes Kreuz. Ich ſtaune ihn an: Alles Vergangene lebt in ihm. Alles, was uns tot iſt, umgibt ihn. Gegen die Racht, die nur ſein Glanz erhellt, erſcheint das Licht des Tages grau und kalt. Er iſt kein einzelner. Er iſt die Welt, die wir über⸗ winden müſſen. 649 Eine kleine Gruppe von Parteigenoſſen fand ſich in einem Reſtaurant der Friedrichſtadt in der Nacht nach den Wahldemonſtrationen zufällig zuſammen. Die Erregung, die in allen noch nachzitterte, verſcheuchte jede Müdigkeit. Große Ereigniſſe löſen die Lippen. Auch die Kühlen waren warm geworden. Man diskutierte lebhaft: über die heutige Eroberung der Straße, über die künftige Entwickelung der Bewegung, über die Möglichkeit, in dieſem Augenblick, wo es ſich nicht um die Aufrichtung des Zukunftsſtaates, ſondern um die Riederwerfung der Junkerherrſchaft handelte, das liberale Bürgertum und alle Schmollenden, die un⸗ ſicher abſeits ſtanden, mobil zu machen. „Ein Rieſen⸗ kampf gegen die Reaktion, — das iſt's, was die ſtagnie⸗ renden Gewäſſer in Fluß bringen würde!“ ſagte einer. „Er würde die Geiſter ſcheiden, wie nichts zuvor — ergänzte enthuſiaſtiſch ein anderer. „Sie glauben wirklich, daß das Ziel des allgemeinen Wahlrechts für den preußiſchen Landtag ſolch welt⸗ bewegende Kräfte entfeſſeln könnte?“ fragte ich. Mein Spott rötete die Geſichter der Begeiſterten noch mehr. „Und gerade Sie waren vor einer Stunde bis zur Stummheit ergriffen!“ meinte vorwurfsvoll mein Rachbar. „Ich bin es noch,“ antwortete ich; „mir war, als hätte ich wirklich den Flügelſchlag der neuen Zeit ge⸗ fühlt. Ich fürchte nur, ſie rauſcht an uns vorüber. „Das aber liegt doch an uns!“ rief über den Tiſch herüber ein junger Literat, der darauf brannte, ſich die politiſchen Sporen zu verdienen. „Wir müſſen ſie feſt⸗ 650 halten, wir müſſen das Eiſen ſchmieden, ſolange es warm iſt.“ „Womit, wenn ich fragen darf? Die Antworten ſchwirrten von allen Seiten durch⸗ einander: „Durch die Ausſicht auf eine wahrhaft liberal⸗ demokratiſche Ara,“ — „auf wirtſchaftliche Reformen großen Stils,“ — „Verminderung der Steuern,“ — „der Militärlaſten,“ — „Trennung von Kirche und Staat — „Lauter Einzelforderungen, die große, heute noch in⸗ differente Maſſen kaum begeiſtern, die heterogene. Ele⸗ mente nicht zuſammenſchweißen werden, die, vor allen Dingen, kein ſicher wirkendes Scheidewaſſer ſind,“ ſagte ich ruhig. „So nennen Sie es, wenn Sie es wiſſen! Ich ſah mich ſcheu im Kreiſe um. Sobald ein Ge⸗ ſpräch Fragen berührte, die mir ſehr nahe gingen, über⸗ kam mich oft eine gewiſſe verlegene Unbeholfenheit. „Stünde ich vor einer Volksverſammlung, ſo würde es mir leichter werden als vor all Ihren forſchenden, er⸗ wartungsvollen und — lächelnden Mienen,“ meinte ich. „So wollen wir ſtreng parlamentariſch verfahren, ſagte mein Rachbar ſichtlich beluſtigt; „wir ſind die letzten Gäſte, beherrſchen alſo im Moment die Situation. Silentium, meine Herren! Frau Alix Brandt hat das Wort.“ Ich ſah zu meinem Mann hinüber. Er nickte mir zu Ich klammerte meinen Blick an den ſeinen und erhob mich. Was mir dieſe Racht zum erſtenmal klar vor Augen geſtanden hatte, das ſollt' ich in Worte faſſen. — Mir war die Kehle wie zugeſchnürt. Und doch fühlte 651 ich, es mußte ſein. Richt um dieſer Tafelrunde willen, — ſondern meinetwegen. Der Gedanke zerflattert, wenn er nicht in die Form der Sprache gepreßt wird. „Mir ſcheint,“ begann ich zögernd, „daß es nicht ſo ſehr darauf ankommt, einzelne praktiſche Ziele zu ſetzen. Das haben die Parteien ſchon längſt getan und ſind über die Verſchiedenheit ihrer Einzelforderungen in Gruppen und Grüppchen auseinander gefallen. Alle großen entſcheidenden Weltbewegungen ſind von einem Geiſt getragen worden —“ „Und die materialiſtiſche Geſchichtsauffaſſung?!“ unterbrach mich ein Genoſſe. „Von einem Geiſt —,“ fuhr ich unbeirrt fort, „der ſich ſelbſtverſtändlich erſt aus den allgemeinen wirt⸗ ſchaftlichen und ſozialen Verhältniſſen heraus entwickeln konnte und immer erſt dann entſtand, wenn der Wider⸗ ſpruch der Gegenwart zur Vergangenheit überall ſchmerz⸗ haft fühlbar geworden war. Das gilt für das Chriſten⸗ tum, — den Muhamedanismus —“ „die Revolution, rief einer dazwiſchen. „ein,“ antwortete ich. „Es gibt Zeiten, in denen der Geiſt der Verneinung, wie ich ihn einmal nennen will, nicht zu reinem, vollem Ausdruck kommt, wo er nur beſchränkte Schichten des Volkes ergreift, — wie zur Zeit der Renaiſſance, der Revolution, — und wo er darum ſchließlich gezwungen wird, mit dem Geiſt der Vergangenheit zu paktieren. So baute die Renaiſſance chriſtliche Kirchen, und die Revolution übernahm die Phraſeologie des Chriſtentums. Auch wir verſuchen mit jener Geiſtesfaulheit, die ſich ſcheut, zu Ende zu denken, neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Ich erinnere an die Bemühungen, die Kirche zu moderniſieren, an 652 das Beſtreben, in der Partei die Ethik Kants für den Sozialismus in Anſpruch zu nehmen.“ Hier unterbrach mich mein Rachbar, ein begeiſterter Kantianer, und vergaß im Eifer des Widerſpruches die von ihm ſelbſt gewollte parlamentariſche Ordnung. „Der kategoriſche Imperativ, von ſeiner tranſzenden⸗ talen Herkunft losgelöſt, iſt tatſächlich der dirigierende Geiſt, auf den Sie offenbar hinauswollen,“ rief er. „Das beſtreite ich. Schon weil er ſich von dieſer tranſzendentalen Herkunft nicht loslöſen läßt, weil er Geiſt vom Geiſt des Chriſtentums iſt, weil wir auf Grund unſerer Kenntnis der hiſtoriſchen Entwicklung und Umwandlung ſittlicher Ideale wiſſen, daß es ein allgemein gleiches, verpflichtendes Sittengeſetz nicht gibt, weil nicht einmal zwiſchen Einzelindividualitäten eine Aquivalenz der Handlungen beſteht —“ „Ich höre Alix Brandt, und es iſt Friedrich Rietzſche! ſpottete jemand. Die anderen lächelten vielſagend. „Sie haben mir vorgegriffen,“ entgegnete ich ruhig. „Ich hätte den Ramen des Mannes genannt, der zwar nicht der Erlöſer, wohl aber ſein Prophet ſein kann. „Aber, Genoſſin Brandt, Sie verirren ſich,“ hörte ich entrüſtet rufen; „wie vermögen Sie Ihre ſozial⸗ demokratiſche Geſinnung mit dem Rachbeten Rietzſcheſcher Lehren zu vereinigen?! Denken Sie doch an ſeine Ver⸗ götterung der „Herrenmenſchen“, an ſeine Verhöhnung jedes „Sklavenaufſtands“! „Dieſen Einwand mußte ich erwarten. Ich erinnere Sie demgegenüber zunächſt nur daran, daß es derſelbe Rietzſche war, der anerkannte, daß die einzelne ſtarke Individualität am leichteſten in einer demokratiſchen Ge⸗ 653 ſellſchaft ſich erhalten und entwickeln könne. Aber dieſe Idee iſt zwiſchen uns, wie ich glaube, ſchon ſo ſehr zum unbeſtreitbaren Gemeinplatz geworden, daß ich nicht weiter darauf einzugehen brauche. Ratürlich gebe ich den Rietzſche preis, der unſere große ſoziale Bewegung weder kannte, noch kennen wollte. Und ich kann das um ſo leichter, weil er unbewußt ſelbſt im Fluſſe dieſer Bewegung ſchwamm, weil er dem Sozialismus das gab, was wir brauchen: eine ethiſche Grundlage.“ Von allen Seiten wurde mir heftig widerſprochen, aber jetzt, da ich mir ſelbſt immer klarer wurde, ſtörte mich das nicht mehr. „Alle ſeine großen Ideen leben in uns: der Trieb zur Perſönlichkeit, die Umwertung aller Werte, das Ja⸗ ſagen zum Leben, der Wille zur Macht. Wir brauchen die blitzenden Waffen aus ſeiner Rüſtkammer nur zu nehmen, — und wir ſollten es tun. Mit dem Ziel des größten Glücks der größten Anzahl, — an das ich glaubte, wie Sie alle, — ſchaffen wir eine Geſellſchaft behäbiger Kleinbürger .. Und ſpüren Sie den Geiſt der Verneinung nicht in allem, was heute lebenskräftig iſt und vorwärts will? Kunſt und Literatur, Wiſſenſchaft und Politik ſetzen ihr Rein der Vergangenheit entgegen, die noch Gegenwart ſein will. Was ihr Tugend war, — Unterwürfigkeit, Demut, Ergebung in das Schickſal, Ungehorſam gegen ſich ſelbſt, wenn der Gehorſam gegen Obere es fordert, — erſcheint uns mindeſtens als Schwäche, wenn nicht als Unrecht. Der Glaube an die gott⸗ gewollten Zuſtände von Armut und Reichtum, von Herr⸗ ſchaft und Dienſtbarkeit iſt weit über die Kreiſe der Partei hinaus zerſtört. Und mit alledem, das wir un⸗ 654 bewußt und bewußt von uns geworfen haben, panzert ſich der Rieſe der Reaktion. Vor neunzehnhundert Jahren unterwarf die Moral des Chriſtentums die heid⸗ niſche Welt. Vergebens hat die Renaiſſance und die Revolution ſich gegen ſie empört, — die Zeit war noch nicht reif. Heute aber iſt ſie es; der Sozialismus hat ihr den Boden bereitet. Wäre ihre Fahne voll entfaltet, ſo würden ſich vor ihr die Feigen von den Mutigen, die Schwachen von den Starken ſondern, und alles würde ihr zuſtrömen, was jungen Geiſtes iſt, was Zu⸗ kunft in ſich hat. Den Weg zu unſerem Ziel finden wir nur, wenn die Idee der ethiſchen Revolution der Idee der ökonomiſchen Umwälzung Flügel verleiht . .. Die Türe ging auf. Ein verſchlafener Kellner muſterte mißmutig die ſeßhaften Gäſte. Ich erwachte wie aus einem Traum. Die anderen blieben ſtumm. Ob aus überraſchung, aus Empörung, aus Müdigkeit? „Ich möchte heim,“ ſagte ich leiſe zu meinem Mann. Wir gingen allein und ſchweigſam nach Hauſe. Ich hörte danach, daß man mich verſpottete: Die Sozialdemokratin und Verkünderin der „Herrenmoral“! Mir ſchien, als gingen mir die Genoſſen noch mehr als ſonſt aus dem Wege. Aber es kränkte mich nicht. Ein feuchter Märzwind ſtrich durch die Straßen. Die Bäume und Büſche zitterten in ſeiner Um⸗ armung, denn er flüſterte ihnen vom Frühling die frohe Botſchaft zu. Auch um meine Stirne wehte ſein weicher Atem. Hatte ich nicht geglaubt, daß ich den Lenz wie alte Leute grüßen würde: verſunken in Erinnerungen? — 655 Ich ſaß am Fenſter und las meines Sohnes Briefe. Seit einiger Zeit ſchrieb er mir oft: Seiten und Seiten voller Fragen und erregter Geſtändniſſe. Zum erſtenmal ſtand ſein junger Geiſt in offenem Kampf mit der Mehr⸗ heit und den Autoritäten. Und er unterwarf ſich nicht. Er war mein Kind. Roch immer hatte ich mich geſcheut, Heinrich zu zeigen, was er ſchrieb. Wir waren früher heftig an⸗ einander geraten, weil ich ſchon des kleinen Kindes Selbſtändigkeit reſpektierte. Und jetzt hatte ich mehr zu fürchten als nur den väterlichen Zorn. Ein Prüfſtein würde es ſein auch für unſere Beziehungen. Ich liebte meinen Mann. Viel mehr, viel tiefer als zu jener Zeit, da ich mich ihm zuerſt verband. Denn damals kannte ich ihn nicht. Aber meine Liebe war zu groß, um Unterwerfung ertragen zu können. Wenn er das Kind nicht verſtand, ſo würde er auch mich nicht verſtehen. Wieder aneinander gebunden ſein, ſo daß jeder ſelb⸗ ſtändige Schritt des einen den anderen ins Fleiſch ſchneiden muß; die Blume der Liebe, die nichts als der Perſönlichkeit reichſte Entfaltung iſt, abpflücken, nur damit ſie die Bruſt des anderen ſchmückt, zu frühem Welken verurteilt, — das vermochte ich nicht mehr — Es läutete draußen, lang und heftig. Ich ſprang auf, beide Hände auf das wild klopfende Herz gepreßt. Wer lärmte zu früher Morgenſtunde ſo ungeduldig an der Türe? Wer?! Schon ſprang ſie auf, und ins Zimmer flog es herein wie ein Wirbelwind, und zwei Arme umſchlangen mich, und ein glühendes Geſicht mit zwei glänzenden Augen hob ſich zu mir empor. „Mein Kind! Mein Kind!“ — — 656 Der Ruckſack flog im Bogen von den Schultern. „Davon⸗ gelaufen bin ich — bei Racht und Rebel, — ich hielt's nicht länger aus,“ ſprudelte es hervor, atemlos, trium⸗ phierend. Ich hörte kaum, was er ſprach, ich ſah nur, daß er da war, wirklich da war! Ein feſter Tritt auf dem Flur weckte mich aus meiner Verſunkenheit. „Der Vater!“ rief ich angſtvoll und legte wie ſchützend den Arm um meinen Sohn. Der aber riß ſich los, lachte mich an und lief mit einem: „Ich fürchte mich nicht!“ dem Kommenden entgegen. Ich ſtand wie angewurzelt. Ich hörte einen Wort⸗ wechſel, dann ein langes, ernſtes Geſpräch. Frage und Antwort. Hand in Hand kamen ſie zu mir ins Zimmer. „Run werden wir den Schlingel doch wohl behalten müſſen,“ lächelte mein Mann, „und heute ſoll für uns drei ein Feiertag ſein.“ Wir gingen durch den Wald nach Paulsborn. Die Kiefern ſtanden ſchwarz gegen den hellen Himmel, und lichtgrün ſchmiegten ſich die Büſche ihnen zu Füßen. Auf dem See tanzten die Sonnenſtrahlen. Und weit voraus ſprang unſer Sohn. „Weißt du noch?!“ ſagte Heinrich. „Ich weiß! Damals ſchüttelte der Sturm die Bäume. Mich fror, und du ſchlugſt deinen Mantel um mich „Und habe dich doch nicht ſchützen können - „Ich danke es dir, denn dadurch wurde ich ſtark. „So ſtark, daß du allein zu gehen vermagſt —,“ ſeine Stimme ſchwankte dabei. Mich traf's wie blendendes Licht, — ich ſah auf dem Waſſer nichts mehr als die goldene, ſchimmernde Sonnenſtraße. 657 „Damals warnte ich dich vor mir,“ fuhr er fort. „Ich aber ließ dich nicht —“ „Und heute?! —“ „Du ſiehſt: ich gehe auf eigenen Füßen, aber neben dir —““ Wo die dunkle Allee ſich der weiten, ſonnenbeglänzten Wieſe öffnet, tauchte die ſchlanke Geſtalt unſeres Sohnes auf. Er hielt einen Zweig jungen Grüns in der hoch⸗ gehobenen Hand. Der wehte über ihm wie eine Fahne. Und dann kam das Leben wieder und der All⸗ tag, und ſein Pfad blieb rauh. Aber ich hatte hn freiwillig gewählt, und meines Herzens Glut ſchützte mich vor dem Froſt. Er blieb einſam. Aber ich wußte vorher: wer eigene Wege ſucht, findet wenig Gefährten. Und über das Donnern der Sturz⸗ bäche hinweg flog ſiegreich hin und her der Gruß der Liebe. Einmal, als der Föhn mich umheulte und die Steine meine Füße verwundeten, ſah ich forſchend zurück. Und ich erkannte, daß ich nicht irre gegangen war. Braun, Memoiren einer Sozialiſtin II 42 Früher iſt erſchienen Lily Braun Memoiren einer Sozialiſtin Lehrjahre Roman — 55. Tauſend Umfang 657 Seiten 80 Geheftet 6 Mark, in Leinen gebunden 9 Mark Voſſiſche Zeitung, Berlin: Eine vornehme Frau hat ein vornehmes Buch geſchrieben. Ein Buch autobiographiſchen Charakters mit dem Untertitel: „Lehr⸗ jahre“, der die Vermutung nahelegt, dieſen Lehrjahren würden Wander⸗ und Meiſterjahre folgen. Und obwohl Frau Lily Braun ſechshundert Druckſeiten ge⸗ braucht hat, um uns mit der Entwicklung erſten Werdens vertraut zu machen, würden wir den etwaigen Blättern. auf denen die Geſchichte ihres Reifens und die Lettern ihrer endgültigen Erkenntniſſe verzeichnet ſtünden, mit ungemindertem Intereſſe und mit jener aufrichtigen Hochachtung begegnen, die jedem Menſchengeiſt gebührt, der „ſtrebend ſich bemütt“. veſter Lioyd, Budapeſt: Das Buch, das ſie uns gegeben, trügt durch ſeinen Titel. Man könnte meinen, es iſt ein Propagandawerk für eine Partei. Das wäre ein Irrtum. Es iſt ein Propagandawerk für den Fortſchritt des Geiſtes und des öffentlichen Lebens, ein Werk der Erleuchtung und Begeiſterung, wert geleſen zu werden von jedem Menſchen, der unſere Zeit erfaßt. Es iſt ein Buch, das die kleinlichen Kämpfe des Tages überdauern und noch ſpäteren Geſchlechtern zur Er⸗ bauung dienen wird. Berliner Tageblatt: In der Offenheit, mit der ſie ſchreibt, kann man das Buch nur mit Rouſſeaus Bekenntniſſen vergleichen und beſſer als aus vielen an⸗ deren Schriften lernt man hier treibende Kräfte unſerer Zeit verſtehen . . Berner Bund: In dieſem Idealismus ruht der ethiſche Wert des Buches. Daß man der guten inneren Stimme gehorche, daß man ſich ſelbſt Treue halte, die eigene Seele nicht verwüſten laſſe, das iſt die ernſte Mahnung, welche Lily Braun durch ihr Buch an die Mitmenſchen und vor allem an ihre Geſchlechtsgenoſſinnen richtet. Und weil ſie dies nicht predigend tut, ſondern erzählend, weit ſie einfach das Beiſpiel eines Mädchenlebens gibt, in dem allmählich der ideale Sinn alle Hem⸗ mungen überwand und ſich zu tätiger Anteilnayme an großen Lebensaufgaben durch⸗ ſetzte, darum erhält dieſe Mahnung eine gewiſſermaßen ſuggeſtive Stärke. Frankfurter Zeitung: Frau Braun nennt ihre Memoiren einen Roman. Aber es iſt ein ſehr durchſichtiger Roman, und wer einige Kenntnis der Perſonen hat, der weiß. daß ſich das Romanhafte dieſes Buches darauf beſchränkt, die Perſonen, die darin auftreten, mit fingierten Namen zu bezeichnen. Das Buch gibt ein Stück aus dem Roman wieder, den man das Leben nennt, und was es zeigt, das iſt ein intereſſantes Kulturbild und ein intereſſantes Geſtändnis. Volksſtimme, Frankfurt a. M.: Hoch über den Stürmen der Leidenſchaften und ſozialen Gegenſätze, die durch dieſe Lebenserinnerungen einer weiblichen Glut⸗ natur toben, klingt aber, wie die vox celesta: „Gebt endlich dem unterdrückten und verquälten Weibe ſein Menſchenrecht,, ſich frei auszuleben in menſchlicher Ge⸗ meinſchaft.“ Dieſer Klang, der über dem Buche ſchwebt, iſt, wenn man ſo will. das eigentliche Sozialiſtiſche an ihm. Albert Langen, Verlag, München Lily Braun Lebensſucher Roman. 47. Auflage Geheftet 5 Mark, in Leinen gebunden 7.50 Mark Berliner Volkszeitung: In einem Roman großen Stils hat Lily Braun dieſer ſchickſalsſchweren Zeit ihren Tribut gezollt. Er zeigt alle Eigenarten der Verfaſſerin, die wir ſeit langem von ihr ſchätzen: ein ſtarkes, leidenſchaftliches Erfaſſen des Problems, eine farbenreiche, prächtige Sprache, ein Sichvertiefen, ein Er⸗ ſchöpfen in der Behandlung. . . . Berliner Tageblatt: Die Dichterin Lily Braun ſchuf ein ge⸗ ſtaltenreiches Kunſtwerk, aus dem ihre herzhafte Freude an Ratur, Schönheit und Kunſt ſich immer wieder frohgemut und gewinnend aufſchwingt. Höchſte Höhen der Geſtaltungskunſt erreicht ſie in der wuchtigen Schilderung der Schattenſeiten des Berliner Geſellſchaftslebens und in der liebevollen Ausmalung des ſonnigen, blütenreichen und kunſtverklärten Florenz. . . Die Liebesbriefe der Marquiſe Roman. 33. Auflage Geheftet 6 Mark, in Leinen gebunden 8.50 Mark Peſter Lloyd, Budapeſt: Nur höchſte dichteriſche Geſtaltungs⸗ kraft konnte dieſe Briefe formen, die uns hundertfach glauben machen, ſie hätten einmal gelebt, geatmet; in ihnen pocht der wechſelnde Herzſchlag der Prinzen und Grafen, Beaumarchais', des Kardinals Prinzen Louis Rohan und der dunkel⸗finſtere Sinn des kleinen buckligen Revolutionärs Lucien Gaillard. Voſſiſche Zeitung, Berlin: Lily Braun hat uns in den „Liebesbriefen der Marquiſe“ ein Werk geſchenkt, das „mit Be⸗ deutung auch gefällig ſei“. D. h. es iſt ſehr gefällig. Aber es iſt auch ſehr bedeutend. Denn außer dem von ſeinem Stoffkreis gebotenen, aus ſeinem Stil natürlich erwachſenden Charme be⸗ ſitzt es geiſtige Eigenſchaften, die es zu einem kulturhiſtoriſchen Werk erſten Ranges ſtempeln. Albert Langen, Verlag in München Druck von Heſſe 6 Becker in Leivzig Einband von E. A. Enders in Leipzig 23. April 1969 9. Nov 1999 SBB 112<142820719010