Lily Braun Lebensſucher Roman Verlag Albert Langen, München C 9046 Yx44316a Dubl. zu Dd 350d R Lebensſucher Roman von Lily Braun Amt für Volksbildung Kulturamt Bad Kösen 220 R68 Einundzwanzigſtes bis achtundzwanzigſtes Tauſend SOZIALVERSICHERUNG ANSTALT DES ÖFFENTLICHEN RECHTS LANDESGESCHÄFTSSTELLE SACHSEN-ANHALT KURHEIM ERNST THÄLMANN BAD KÖSEN; R.-BREITSCHEID-Str. 2. RUF 248 Albert Langen, München Copyright 1915 by Albert Langen, Munich DEUTSCHE STAATS-BIBLIOTHEK *BERLIN* L 170 Inhalt Seite Erſtes Kapitel Wie Konrad Hochſeß zuerſt das Leben ſuchte . . . . . 7 Zweites Kapitel Von der Fahrt in die Freiheit. . . . . . . . . . . 32 Drittes Kapitel Vom Suchen nach Erkenntnis, und von der kleinen Gina Vollendung. . . . . . . . . . 65 Viertes Kapitel Vom großen Hoffen ohne Ziel. . . . . . . . . . . 105 Fünftes Kapitel Von Konrads Höllenfahrt und den Geißeln der Berolina. 148 Sechſtes Kapitel Vom Suchen nach der neuen Religion. . . . . . . . 194 Siebentes Kapitel Von Konrads Pilgerfahrt und den Wundern der heiligen Fiorenza. . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Achtes Kapitel Wie Konrad das Glück und das Ziel zu finden glaubte und wie es entſchwand . . . . . . . . . . . . . . 301 Reuntes Kapitel Vom großen Sterben . . . . . . . . . . . . . 347 Zehntes Kapitel Von der Auferweckung . . . . . . . . . . . . . 369 Elftes Kapitel Wie Konrad Hochſeß das Leben fand . . . . . . . . 415 Erſtes Kapitel Wie Konrad Hochſeß zuerſt das Leben ſuchte, und was er fand Es gibt Jahre, in denen der Frühling nicht fröhlich iſt; die wenigen Blumen, die er über die Wieſen ſtreut, ſind blaß und welken raſch; nur zögernd, faſt als fürchteten ſie ſich, kriechen die jungen Blätter an den Bäumen aus der braunen Hülle; das dürr raſchelnde Herbſtlaub im Walde wird kaum jemals ganz von einem friſchen Moos⸗ teppich verdrängt, und auch der klarſte, blaue Himmel trägt einen feinen grauen Schleier, wie die jungen Ron⸗ nen bei der letzten Weihe. Solch ein Frühling ſtrich mit ſeiner ſchlaffen weichen Luft über die Höhen des fränkiſchen Jura, ſpielte im Vorüberſtreifen flüchtig mit der zerbrochenen Aeolsharfe auf dem grauen Turm von Hochſeß, tanzte ein wenig über dem ausgetrockneten, zwiſchen Reſſeln träumenden Ziehbrunnen, um ſchließlich die ſchmale Wange und die blonden, glatten Haarſträhnen des ſchlanken Knaben ko⸗ ſend zu ſtreicheln, der auf der alten efeuumſponnenen Mauer ſaß und unbewegt in das Land hinausſtarrte. Weithin breitete es ſich aus vor ihm, von dem engen Tale an, das drunten ſchlief, eingewiegt vom Murmeln und Plätſchern des breiten Baches und dem Klappern der Waſſermühle, deren Räder er trieb. Blaſſe Wieſen ſchmiegten ſich ſehnſüchtig an den zärtlichen Freund, als erwarteten ſie von ſeiner Umarmung ihr buntes Blumen⸗ leben, und in zahlloſen Windungen umſchlang er ſie, als ob er zögere, ſich von ihnen zu trennen; Sträuche von wilden Roſen, Schlehen und Rotdorn, die zum 7 Himmel empor ihre Aſtchen ſtreckten, nach heißer Sonne verlangend, die ihre Blüten wecken ſollte, umkränzten ſie, ehe die Bergwände ſteil emporſtiegen. Buchen und Eichen, Tannen und Eſchen überzogen alle Hänge bis zum Gipfel hinauf. Ihre Stämme, vom ſilbernen Grau bis zum tiefſten Schwarz, ſtanden gegen den matten Himmel wie Marmorſäulen. Da und dort aber wich der Wald zurück; Felsmauern und Türme überragten ihn finſter drohend in wild⸗verwitterten Ge⸗ bilden. Zwiſchen ihnen, ſo hatte der Knabe einſt ge⸗ träumt, — und die Erinnerung daran zauberte ein ver⸗ lorenes Lächeln auf ſeine Züge, — hauſten die Götter und Helden der Vorzeit, und Sonntagskindern zeigten ſie ſich in Maiennächten. Sie zu ſuchen, war er ein⸗ mal heimlich ausgezogen, ein kleines Bübchen noch, dort⸗ hin, wo in gewaltigen Quadern, wie von Zyklopen er⸗ baut, die Rieſenburg ſilbern in der Sonne leuchtete. Sein Auge blieb an ihr haften: wie war damals ſein Atem geflogen im ſteilen wegloſen Anſtieg, wie hatte ſein Herz geklopft im Glauben an das Große, das ſeiner wartete. Und dann, — unwillkürlich hob er die geballte Fauſt wider die fernen Felſen —, dann, als das mächtige Tor ſich über ihm wölbte und ſiebernde Erwartung die Bruſt zu ſprengen drohte, hörte er Mädchenkichern und die dozierende Stimme des Lehrers, der die bunte Schar auf gebahnten Wegen emporgeführt hatte, ſah um den Rand des höchſten Felſens, der ihm als unnahbarer Wacht⸗ turm erſchienen war, ein ſchmächtiges Drahtgitterlein geſpannt, ſah ein Fähnchen hoch oben flattern, darunter eine Bank, mit hundert Namen bedeckt, — und in eine der ſchmalen Felſenhöhlen barg er ſeine Verzweiflung. Dort hatte er die Racht erwartet, ach, die götterloſe Racht!, war dann hinaufgeklettert, hatte die Fahnen⸗ ſtange mit Anſpannung all ſeiner von der Wut geſtei⸗ gerten Kräfte aus der Erde geriſſen und hinab geſchleu⸗ dert, hatte die wurmſtichige Bank zum Kippen gebracht 8 und ſich am Drahtgeländer die kleinen Hände blutig geriſſen. In Gedanken an die erſte, bitterſte Enttäu⸗ ſchung ſeiner Kindheit zog grauſamer Spott über ſich ſelbſt ſeine Mundwinkel abwärts, ſo daß er ſekundenlang ganz alt erſchien. Ein Blick in die ſonnenüberglänzte Ferne verklärte ſein Antlitz wieder. Er folgte dem Bach und dem ſich weiter und weiter dehnenden Tal, wo die Wieſen in buntgeſtreifte Felder ſich verwandelten, wo, in Obſtgärten gebettet, von Kaſtanien überragt, rotbedachte behäbige Dächer und alte kunſtvolle Fachwerkbauten mit ſpitzen Giebeln um ſchlankturmige Kirchen ſich ſcharten. Er ſah die Schlöſſer auf den Höhen, die dem toten Felſen gleich geweſen wären, wenn ihre Fenſter nicht in der Sonne wie lebendige Augen gefunkelt hätten. Und ganz, ganz fern im Rebelgrau, wie ein phantaſtiſches Traumgebilde, am Fluß gelagert, ſich mit Mauern und vielen Türmen zu den Hügeln emporſtreckend, lag ſie, die Stadt, — die großen, ſchwarzen Augen des Knaben verdunkelten ſich noch mehr, ſeine ſehr blaſſen Hände krampften ſich in⸗ einander, ſo daß die Fingerſpitzen ſich röteten, — die Stadt, deren ſtrahlender Glanz die Racht und ihre Ge⸗ ſpenſter beſiegte, deren brauſender, auf⸗ und abſchwel⸗ lender Ton die unheimlichen Stimmen der Stille ver⸗ ſchlang; die Stadt, über die der Dom, einer Königs⸗ feſte gleich, ſich erhob und tote Kaiſer in ſeinen hohen Hallen dem Raunen alter, in goldene Roben gehüllter Prieſter und dem hellen Geſang weißgekleideter Chor⸗ knaben lauſchten. An einem Pfeiler ſtand eine ſteinerne Madonna. Der Knabe faltete die Hände, ſeine Augen glänzten wie von innen erhellt. Heimlich dachte er an ſie und betete zu ihr, wenn ſie ihn Sonntags drunten im Dorf in die kahle lutheriſche Kirche führten. Und an einem anderen ſtand auf hohem Roß der gekrönte Ritter, deſſen Ramen er trug 9 „Konrad!“ rief eine Stimme, die klang, als klopfe jemand an ein zerſprungenes Glas, der Knabe hob ein wenig den Kopf, „der Lehrer“, dachte er und ſah wieder regungslos ſinnend ins Land hinaus. Vor dem dunklen Bilde des Ahnherrn droben im Saal hatte der Führer ſeiner Kind⸗ heit ihn heute feierlicher als ſonſt an das Heldenbeiſpiel dieſes Mannes mit dem großen ſchwarzen Kreuz auf dem weißen Mantel erinnert. Er reckte ſeine ſchlanke Ge⸗ ſtalt, als prüfe er ihre Muskeln: ein Ritter, wie jener, würde er ſein — wenn ſie nur erſt vor ihm ſtünden, die Feinde! „Konrad!“ rief es noch einmal; ſeltſam, wie die letzte Silbe in einem hohen Vogelton lange nachzitterte. Ein weiches Lächeln, wiſſend und gütig, faſt wie das eines reifen Mannes, überflog die Züge des Knaben und ſeine raſche Hhantaſie, für die eine Farbe, ein Ton genügte, um den Vorhang vor einer Welt der Märchen und Wun⸗ der emporſchnellen zu laſſen, zauberte ihm im gleichen Augenblick all die Bilder vor Augen, die jene Stimme, ſo lange er denken konnte, heraufbeſchworen hatte: weiße, von üppigen Roſen umſponnene Schlöſſer unter dunkel⸗ blauem Himmel, ſchwarzäugige Frauen in königlichen Sälen, eine Stadt von Paläſten, bewohnt von einem Volk der Medizeer, und ſeine heiße Sehnſucht ſpannte ihre Flügel weit — weit. Er glitt von der Mauer herunter. „Die Großmutter“, flüſterte er im Weitergehen. „Konrad!“ klang es zum dritten Male. Und wieder eine andere Stimme, wie das Meckern einer Ziege. Jetzt aber lachte der Gerufene hell auf und war mit ein paar Sätzen — die Muskeln der langen ſchlanken Beine ſpielten unter den dünnen Strümpfen, wie die eines Vollblutpferdes — unter den Kaſtanien, an denen die roten Blüten leuchteten, vor dem Haus. „Bin ich zu ſpät, Giovanni?“ Der Angeredete, ein ſpindeldürres Männchen, um deſſen krummgezogenen Kör⸗ 10 per die ausgewaſchene Sommerjacke in tauſend Falten ſchlotterte, meckerte fröhlich auf, ſeine Augen, winzige ſchwarze Kohlenpunkte im braungelben, verknitterten Per⸗ gament des Geſichts, umfaßten den Knaben mit einem Ausdruck leidenſchaftlicher Zärtlichkeit. „Tut nix, tut nix, bambino mio“, ſagte er und ſtrei⸗ chelte ſeinen Arm mit jener ſcheuen Bewegung, mit der der Sammler ſeinen koſtbarſten Schatz zu betaſten pflegt, „wir träumten einmal wieder? Konrad ſtreckte die Arme mit geſpreizten Fingern weit aus, als gelte es, die Welt zu umarmen. „Vom Frühling, nicht wahr?“ flüſterte der Alte mit einer vor Erregung vibrierenden Stimme, „von unſerem Frühling? Von heißer Sonne und roten Roſen? Von — daheim?! „Von daheim!“ wiederholte Konrad mit einem ver⸗ lorenen Blick. Dann ſtrich er ſich mit den langen ſchlanken Händen über die Stirn und lachte auf. „Rein, nein! Ich dachte nur an morgen. Dann bin ich fort, fort in der Stadt bei den vielen Buben, die alle jung ſind wie ich, mit denen ich toben kann und mich balgen, und tanzen und reiten und ſchwimmen. Wo ich nicht immer allein ſein werde wie hier zwiſchen lauter — lauter — Er ſtockte und ſenkte, übergoſſen von Schamröte, die Stirn. „Zwiſchen lauter Alten!“ ergänzte Giovanni; ſein Kopf nickte ruckweiſe, wie der einer Marionette, er zog das dünne Röckchen feſter um die Schultern, als fröre ihn. „In der Stadt hört freilich das Träumen auf. Da arbeiten ſie und ſchwitzen über den Büchern. Da ſind auch die Jungen alt.“ Auf dem Antlitz des Knaben erloſch die Freude; er warf einen ängſtlich fragenden, ſcheuen Blick auf den Gefährten, der mehr zu ſich ſelbſt, als zu ihm zu ſprechen ſchien. „Niente — niente bambino mio II — du wirſt frieren, noch mehr frieren wie hier, wirſt ſehen, wie ſie in den Straßen hin und her laufen, um warm zu werden; wie ſie alle ſuchen — und längſt vergeſſen haben, was ſie ſuchen. Rur Träume leben — Seine Stimme verlor ſich in ein heiſeres Flüſtern, und verklang wie ein ferne plätſchernder Bach. Über Konrads Züge flog ein halb ſelbſtbewußtes, halb mit⸗ leidiges Lächeln. „Einen Sack voll Träume, die ich erlebte, bringe ich dir mit, wenn ich heimkomme“, ſagte er überlaut mit ſeiner noch unſchön mutierenden Knabenſtimme, als wollte er durch den ſtarken Ton den Eindruck des gehörten Ge⸗ flüſters überwinden. Reckend zupfte er den in ſich Ver⸗ ſunkenen an den ſpärlichen Haarlöckchen; den Körper des Alten durchzuckte es. Er reckte ſich auf und ſtrich ſich, beglückt über dieſe Liebesbezeugung, über den ſpitzen Schädel. „Konrad!“ klang die weiche Frauenſtimme noch ein⸗ mal. Der Gerufene lief ihr entgegen. „Ein echter Savelli,“ murmelte Giovanni ſtolz, den ſchönen Knaben mit den Blicken zärtlich verfolgend, „ein echter —“ und er verſtummte jäh. Gerade hatte ein Sonnenſtrahl Konrads Haupt getroffen, die Haare blitzten goldig auf. „Zweierlei Blut — zweierlei Blut! — Das tut nicht gut — das tut nicht gut ziſchelte er kopfſchüttelnd. Seine Geſtalt knickte wie⸗ der zuſammen. Hinter dem Ziehbrunnen verſchwand er. Dann ächzte und knarrte noch von ferne die Turmtür. Auf der Terraſſe, wo in großen weißen Kübeln runde Lorbeerbäume ſtanden und ſehnſuchtkranke Glyzinien an der Hauswand mühſam emporkletterten, ſaß die Gräfin Savelli in viele weiche, bunte Kiſſen geſchmiegt, am Teetiſch. „Verzeih', Großmama —“ mit der Gebärde aufrichtiger 12 Hingabe beugte ſich der Knabe über die dargebotene Hand. Weiß und ſchmal und ſchmucklos, mit perlmutter⸗ glänzenden Rägeln an den ſpitzen Fingern ſtreckte ſie ſich ihm entgegen. „Wie ſchön ſie iſt!“ ſagte er erſtaunt, als ſähe er ſie zum erſtenmal und vergaß darüber den Kuß. Die alte Frau zog ihn an ſich, ſo daß der Duft ihrer weichen weißen Haare ihn umſchmeichelte. Dann warf ſie einen raſchen triumphierenden Blick auf den kleinen Kreis um ſich. Die beiden glattgeſcheitelten Damen neben ihr, die ſich glichen wie ein Ei dem an⸗ deren — ſie trugen ſogar dieſelben grauen, ſchwarz⸗ge⸗ tupften Satinkleider auf den dürren langen Geſtalten, dieſelben ſchwarzen Zwirnhandſchuhe über den mageren breitkuppigen Fingern — ſahen einander mit hochge⸗ zogenen Brauen an, der alte Schulmeiſter, der trotz des Jahrzehnts, das er hier oben verlebt hatte, nicht anders als auf der äußerſten Kante des Stuhles zu ſitzen ver⸗ mochte, lächelte pflichtſchuldigſt. „Unſere letzte Teeſtunde, Konrad“, hub die Gräfin an, und über ihre ſchwarzen noch immer lang umwimperten Augen legte es ſich wie ein Schleier. Dem Knaben ſtieg das Blut in die Schläfen: durfte er ſeiner Selig⸗ keit Ausdruck geben oder mußte er Abſchiedsſchmerz heucheln? „Dummer Junge,“ fuhr ſie mit erhobener Stimme fort, als empfände ſie ſeine Gedanken und ihre Augen blickten wieder klar, „ſind wir ſentimental wie die Deutſchen?“ Ihre Worte pfiffen wie ein Peitſchenhieb über den Köpfen der anderen; die beiden grauen Fräu⸗ lein ſenkten die hellen blonden Scheitel. „Er iſt und bleibt ein Hochſeß“, ſagte die eine von ihnen ſcharf, ohne den Blick zu erheben. Die Gräfin lachte, ein helles klingendes Mädchenlachen. „Kein Zweifel, Tante Ratalie, kein Zweifel!“ Und dann mit geſchürzten Lippen: „Sind wir nicht alle ſtolz auf die Miſchung?“ Ratalie räuſperte ſich vielſagend. Eliſe, 13 ihre Schweſter, ſetzte mit lauterem Geräuſch, als es der guten Form entſprochen hätte, ihre Taſſe auf den Tiſch. „Kommt er nicht in eine deutſche Penſion? Hat er nicht in unſerm lieben Habicht einen echten deutſchen Schulmeiſter gehabt?“ frug die Gräfin halb ſpöttiſch, halb gelangweilt, es war in den acht Jahren, ſeitdem ſie Konrads Erziehung allein zu leiten hatte, nicht das erſte Geſpräch der Art, „und zwei deutſche Tanten, die, wenn man's ihnen nicht auf das bloße Anſehen hin glauben würde, ihre Reinheit von jedem Tropfen welſchen Blutes bis ins zwölfte Jahrhundert hinein nachweiſen können!“ „Und — —“, Tante Eliſens Stimme zitterte. „Ich weiß — ich weiß,“ lachte die Gräfin, „und eine italieniſche Großmutter, die alles wieder verdirbt! „Rein, oh nein!“ widerſprach Ratalie mit betonter Höflichkeit, „aber einen italieniſchen Komödianten, der dem Jungen nichts als phantaſtiſche Geſchichten in den Kopf geſetzt hat und ſeine evangeliſche Seele mit Hei⸗ ligenlegenden vergiftet.“ Konrad wurde noch einen Schein blaſſer. Er warf einen heißen Blick voll Haß auf die grauen Tanten. Seiner Großmutter ſchöne Hände, die auf der Arm⸗ lehne ruhten, ſchloſſen und öffneten ſich abwechſelnd und ihre Fußſpitze ging im gleichen raſchen Takt auf und nieder. „Der arme Giovanni!“ Die Gräfin ſchien vollkommen ruhig, während ihr Blick ſich ganz in der Ferne verlor. „Vergeßt ihr immer wieder, daß er meiner Lavinia letzte Freude war? Unter den Kaſtanien lag ſie in Decken ge⸗ wickelt, ganz ausgeſtreckt, ſchon vom Tode gezeichnet und freute ſich doch wie ein Kind, als der gelbe Kaſten mit dem ſchwarzäugigen Volk in den Hof rumpelte. Die hellen Tränen liefen ihr über die blaſſen Wangen, als ſie unſere Lieder, unſere weichen ſehnſüchtigen Lieder ſangen! Was wißt Ihr davon, wie das unſereinem tut 14 — es ſind gar keine Töne, es ſind die Schläge unſeres Herzens, die Stimme unſeres Blutes! — Und die Tänze dann! Richt Euer ſtumpfſinniges Drehen mit geſenkten Lidern, ſondern ein Kampf zwiſchen Mann und Weib⸗ „Aber meine Beſte!“ tönten wie aus einem Munde die ſcharfen Stimmen der alten Fräuleins. „Ach ſo — das Kind!“ ſagte die Gräfin; der ſpöttiſche Ton, den ſie anſchlagen wollte, gelang ihr nicht. Sie erhob ſich raſch. „Gehen wir, es wird kühl. Aber ſchſon war der Knabe, der inzwiſchen unruhig hin und her gerückt war, aufgeſprungen und hatte ſich mit beiden Händen auf den Tiſch geſtützt, daß die Gläſer leiſe klirrten. „Jetzt — jetzt muß ich es ſagen“, brach es mit rauher Stimme tief aus ſeiner Bruſt hervor. „Konrad!“ mahnte der Lehrer; ein verweiſender Blick der Tanten traf ihn; nur die Großmutter ſchaute ihn an, eine große, heiße Erwartung in den Augen. Dann aber, als ſie ihn zittern ſah, legte ſie ihm mit raſch aufſteigender Angſt die Hand beruhigend auf den Arm. Seit der Arzt ihr geſagt hatte, daß des Enkels Herz ſchwach ſei, verdoppelte ſich ihre Sorge um ihn. „Ich muß es — weil ich morgen gehe. Weil ihr Giovanni nicht leiden könnt, weil — weil —“ ſeine Kna⸗ benſtimme überſchlug ſich, in den Schläfenadern pochte ſichtbar das Blut, während die Wangen nur um ſo tiefer erblaßten, „ich leide es nicht, daß ihr ihn höhnt und zankt. Mit ſeinen Späßen und Kunſtſtücken hat er die Mutter lachen gemacht. Ich hatte es nie, nie gehört. Ich horchte verwundert auf und ich lachte mit ihr; zum allererſtenmal lachte ich mit meiner Mutter! Dann brachte man ſie in ihr Zimmer hinauf, in ihr weißes, großes, kaltes Bett“, ein Schluchzen drohte ihm die Stimme zu erſticken, aber er bezwang ſich, „die Kunſt⸗ reiter zogen davon — nur Giovanni blieb. Er ſpannte ein Seil vom Turm über den Hof bis zum Torweg. 15 Da konnte die Mutter vom Bett aus ſehen, wenn er ſeine Sprünge machte, ſeine Geſichter ſchnitt. Wie ſie lachte; wie ſie froh ſein konnte! Der Vater —,“ ein harter Zug grub ſich mit tiefen Falten in das weiche Knabenantlitz — „der Vater war nicht da „Konrad, du verſündigſt dich —“ Tante Ratalie ſtand drohend dicht vor ihm. „Weil ich ſage, was ihr wißt, ſo gut wie ich: daß der Vater nicht da war, als — als —“, ſeine Stimme erſtickte in wildem Weinen. Gräfin Savelli zog ihn an ihr Herz. „Mio caro amore —“ ſie überſchüttete ihn mit Schmeichelnamen, aber ſein Kör⸗ per zuckte, von der Erregung geſchüttelt, in ihren Armen. „Guten Abend“, ſagten Eliſe und Ratalie und ver⸗ ſchwanden nach einigem geräuſchvollen Stühlerücken hinter der Glastür des Gartenſaales. „Guten Abend“, ſagte der Schulmeiſter; er hatte feuchte Augen und ſtrich mit einer bebenden Hand über ſeines Zöglings blondes Haupt. Run waren die beiden allein. Vom Tale her ſtiegen in feinen Schleiern die Rebel auf. Konrad warf einen zögernden Blick um ſich, um gleich darauf die großen angſtvoll aufgeriſſenen Augen fragend der Großmutter zuzuwenden. „Willſt du mir nicht ſagen — jetzt am letzten Abend ſagen — wie es kam, daß — daß er nicht da war? Die Gräfin richtete ſich gerade auf; in ihren Augen entzündete ſich ein grauſamer, gelber Funken, wie in der Pupille der Löwin, die, zum Sprunge bereit, vor dem Feinde ihrer Jungen auf der Lauer liegt. Sie ſprach, wie immer, wenn ſie mit dem Knaben allein war, ita⸗ lieniſch, aber ihre Stimme kam tief und rauh aus der Kehle, ſo daß die vollen Laute von den Zähnen, durch die ſie gepreßt wurden, zerriſſen ſchienen. „Drüben auf dem Eckartshof war er zur Jagd ge⸗ laden. „Bleibe bei mir, Manfredo — nur heute verlaß 16 mich nicht“, flehte Lavinia — ſie war an jenem Tage ſo weiß wie das Linnen, das ſie deckte, nur ihre Haare lagen um ſie wie ein ſchwerer, ſchwarzer Trauerſchleier — und ich ſah, daß dem Mann, der den ganzen Frülſ⸗ lingsduft der Erde mit ſich hineintrug, vor ihr grauſte. „Ich kann nicht', ſagte er gequält, küßte ihr flüchtig die kalte, kraftloſe Hand und ging. Sie aber lag von da an regungslos in den Kiſſen; die Tränentropfen allein, die unaufhaltſam unter den langen Wimpern ihrer ge⸗ ſchloſſenen Lider hervorquollen, bewieſen mir, daß ſie noch lebte. Giovanni ſpannte indeſſen ſein Seil vor ihren Fenſtern. Aber ſie ſah ſeine Sprünge und Grimaſſen nicht. Da begann er den Tanz mit Geſang zu begleiten, und ſie ſchlug die Augen groß auf. Welche Augen! Als laure der Tod in ihrer Tiefe! „Ich ſchickte nach dem Eckartshof. Aber ſie ſaßen an der Frühſtückstafel und ließen ſich nicht ſtören. Da ging ich ſelbſt. Und geradenwegs, an den verblüfften Dienern vorbei, in den Saal. Blond und weiß, mit Roſen auf den Lippen und den Wangen, ſaß die Hausfrau neben ihm. „Lavinia ſtirbt', rief ich in ihr Gelächter und wandte mich wieder zum Gehen. Ich ſah, wie das Blut, das eben noch von Lebensluſt gepeitſchte, aus den Geſichtern wich, und fühlte die Stille, die ich zurückließ. „Er folgte mir — langſam, widerwillig, er, der ſich einmal verzweifelnd mir zu Füßen gewunden hatte, als ich ihm Lavinia verſagte! „Wir ſtiegen ſtumm den Berg hinauf. Plötzlich aber ſchoß er an mir vorbei, der helle Schweiß ſtand ihm auf der Stirne, es war als jage ihn der Schrecken. Meine Hoffnung begleitete ſeinen Lauf. Erwachte nicht vielleicht mit der Liebe das Leben wieder?! „Ich betrat den Hof. Er war voller Menſchſen. Sie ſchwiegen alle, den entſetzten Blick auf einen Punkt ge⸗ heftet, da lag Giovanni unter dem Seil in ſeinem Blut. Lavinia aber war tot. Braun, Lebensſucher 2 17 Die Gräfin Savelli ſchwieg. Sie war nun ganz zu⸗ ſammengeſunken und ſal) ſehr klein und ſehr alt aus. Der Knabe zitterte, daß die Zähne ihm aufeinander ſchlugen. „Sieh dort hinaus!“ mahnte die Großmutter; ihre weiße, in die unbeſtimmte Ferne weiſende Hand ſchim⸗ merte wie von innen erleuchtet; „und nicht zurück! Dort ſuche das Leben!“ Am nächſten Morgen fuhr der alte, wappengeſchmückte Wagen den letzten Junker von Hochſeß zum Hoftor hin⸗ aus nach dem Bahnhof. Es regnete, ein lautloſer, gleich⸗ mäßiger Regen, von einem gleichmäßig weißgrauen Him⸗ mel herab. Unter der Haustür ſtanden die Tanten; in den mageren ſchwarzbehandſchuhten Händen hatten ſie weiße Tüchlein, die aber nicht recht wehen wollten, als ſie ſie hochhoben; der alte Lehrer ſtand hinter ihnen und ſchluchzte. Giovanni hatte ſich in ſein Turmzimmer ein⸗ geſchloſſen. Die Gräfin Savelli begleitete den Enkel in die Stadt und ging mit ihm hinauf in den Dom, um deſſen Säulen und Arkaden die Dämmerung ihren feinen Schleier wob. Sie ſprachen kein Wort miteinander; aber zu dem könig⸗ lichen Jüngling erhoben ſich zu gleicher Zeit ihre Blicke, den ein unbekannter Künſtler in Stein gemeißelt hatte, ein Vorbild reiner Ritterſchaft. Konrad war, als ſälſe er ſich ſelbſt im Spiegel und als lächle der Doppel⸗ gänger ihm freundlich zu. Stumm drückten Großmutter und Enkel einander die Hände. Dann gingen ſie. Und die Gräfin Savelli übergab ihn mit ein paar freundlich⸗kühlen Worten dem Gym⸗ naſialdirektor Profeſſor Traeger und ſeiner Ehefrau, deren behäbige Fülle und betonte Matronenhaftigkeit von ſeinen langen dürren Gliedern und ſorgfältig fri⸗ ſierten Haaren ſeltſam abſtachen. Die allzu tiefen und allzu häufigen Bücklinge, mit denen beide die Groß⸗ 18 mutter bewillkommneten und dann zur Türe geleiteten, als ſie ging, hatten Konrads Urteil über ſie unwider⸗ ruflich feſtgelegt. Das war ſeine erſte Enttäuſchung. Denn in ſeinen Träumen war ihm der Direktor als ein Mann von Würde erſchienen. An der Abendtafel ſah er die anderen Penſionäre zum erſtenmal. Sie kamen ihm klein und dürftig vor; der eine hatte zerbiſſene Rägel, der andere häßliche rote Pünktchen im Geſicht, der dritte kratzte ſich bei jedem Wort, das er ſprach, den dicken Schädel mit den gelben Borſtenhaaren, und alle miteinander überboten ſich in lächerlichen Dienſtleiſtungen gegenüber dem Ankömmling. Das war ſeine zweite Enttäuſchung. Rur der vierte Schüler — „ein „Judenjunge“!“ flüſterte ihm augenzwinkernd ſein Tiſchnachbar zu — hatte kaum einen Gruß für ihn. Damit gewann er ſein Intereſſe. Drei Jahre blieb Konrad Hochſeß in der Penſion. Als er zum erſtenmal zu den Ferien nach Hauſe kam, ſtürzten ihm bei Giovannis ängſtlich fragendem Blick die hellen Tränen aus den Augen. Der Groß⸗ mutter gegenüber lächelte er; nur als ihre Hand beim Willkommen koſend über ſeine Haare ſtrich, zuckte es ſchmerzlich um ſeine ſchmaler gewordenen Lippen. Eines Tages forderte ihn Giovanni mit einem geheimnisvollen Lächeln zu einem Spaziergang auf. Sie gingen weit durch den Park, bis er ſich im Walde verlor. Da lag ein haushoher Felsblock, deſſen Fuß von Brombeer⸗ ranken dicht umwuchert war. „Willſt du mich daran erinnern, daß ich einmal als kleiner Knirps da oben ſaß und verzweifelt heulte, weil ich nicht zurück konnte?“ lachte Konrad. „Damals wußte ich nicht, daß es ein unfehlbares Mittel gibt, um von allen Höhen hinunterzukommen: fallen!“ fügte er mit dunklerer Stimme hinzu. 2* 19 „Unſinn! Unſinn!“ antwortete fröhlich meckernd der Alte. „Wozu iſt denn der alte Seiltänzer da? Der holt noch immer den Buben herab oder hält den Sack auf, wenn er abſtürzt! Aber jetzt, jetzt heißt's kriechen — nicht klettern. Den Tanzſaal der Mondgeiſter hat der alte Giovanni für ſein Goldkind gefunden — den Tanzſaal der Mondgeiſter!“ Und er bog weit die ſtach⸗ ligen Ranken auseinander, hinter denen der Fels eine dunkle Spalte aufwies. „Eine Höhle!“ jauchzte Konrad, „eine Höhle, die keiner kennt!“ Eine Zauberwelt voll phantaſtiſcher Tropfſteingebilde öffnete ſich ihm, die des Alten Blendlaterne mit hin und her flackerndem Licht ſeltſam beleuchtete. Sie wurde von nun an der Schlupfwinkel ſeiner Träume, die ge⸗ heimnisvolle Erweckerin allen Frohſinns. Hohe gelbe Kerzen von Wachs, wie die Bauern ſie alljährlich in pſalmodierenden Prozeſſionen nach Vierzehnheiligen zu tragen pflegen, ſtellte Konrad hier unten auf; ein altes holzgeſchnitztes Heiligenbild, es mochte wohl eine Magda⸗ lena geweſen ſein — eine vor der Buße, denn die langen Haare deckten nur ſpärlich den jungen blühenden Mädchenkörper — das Giovanni in einem Bodenwinkel gefunden hatte, prangte in der großen Riſche hinter der einen gewaltigen Säule, die das ganze Gewölbe zu tragen ſchien. Ihr zu Füßen breitete ein ſchwarzes Bärenfell ſich aus, — Konrads Lager, wenn er all die ſchwülen Bücher mit den bunten Umſchlägen verſchlang, durch die ſeine Penſionskollegen die ſteife Zurückhaltung des hochmütigen Junkers endlich überwunden hatten. Um ihretwillen hatte er ſich ſogar herbeigelaſſen und war Arm in Arm mit dem, der ſich die Rägel biß, über den Grünen Markt gegangen; um ihretwillen hatte er mit dem häßlichen Dickſchädel auf der Altenburg Schmollis getrunken und die rothaarige Kellnerin unter dem Bei⸗ fallsgebrüll der anderen in den Arm gekniffen. 20 Als er das zweitemal den heimatlichen Boden betrat, hatte ſich eine feine Falte zwiſchen ſeinen Brauen ein⸗ gegraben. Walter Warburg, der „Judenjunge“, be⸗ gleitete ihn. Profeſſor Traeger hatte den jungen Mann als den klügſten und anſtändigſten unter ſeinen Schülern bezeichnet; daraufhin hatte die Gräfin Savelli, nicht ohne ſtarkes inneres Widerſtreben, dem Wunſche Kon⸗ rads, ihn mitzubringen, nachgegeben. Die beiden ſtrichen von früh bis ſpät über Berg und Tal; ſie ſuchten Steine und Pflanzen und Tiere und ſaßen an Regentagen unermüdlich über ihren Samm⸗ lungen. Für Giovanni, deſſen Haut nur noch wie ein zerknittertes Pergament in tauſend Falten über ſeinen Knochen hing, ſchien Konrad keine Zeit zu haben. Ein⸗ mal fing er den heißen Blick tückiſchen Haſſes auf, mit dem der Alte ſeinen Freund durchbohren zu wollen ſchien, als dieſer gerade, entzückt vom köſtlichen Fang, einen großen Trauermantel auf das Spannbrett ſpießte. Ein ſeltſames Gefühl, aus Scham und Zorn gemiſcht, zwang Konrad von nun an, dem greiſen Seiltänzer noch mehr aus dem Wege zu gehen. Es kam ſogar vor, daß er es wie eine Erleichterung empfand, wenn die Tanten ihm von Giovannis geſtörtem Geiſt allerlei Häßliches glauben machen wollten. Aber auch von der Großmutter zog er ſich mit auffälliger Abſicht zurück und behandelte ſie mit der fremden Höflichkeit eines wohl⸗ erzogenen jungen Mannes. Die Freunde ſchienen völlig ineinander aufzugehen und der anderen nicht zu be⸗ dürfen. Und doch hatte Konrad ein Geheimnis vor Walter: ſeine Höhle. Es kam vor, daß er nachts aus dem Schloſſe ſchlich, um bei Kerzenglanz vor der heiligen Magdalena mit ſich allein zu ſein. Rur zwei Augen, zu alt um des Schlafs noch viel zu bedürfen, kleine ſchwarze Augen verfolgten ihn; ſie ſahen, daß er keine Bücher mehr in ſein Verſteck trug, wohl aber eine kranke Sehn⸗ ſucht, die müde aus ſeinen umränderten Augen ſprach. 21 Der Kummer um des Enkels verändertes Weſen trieb die Gräfin Savelli bis in Giovannis Turmſtübchen. Erſchrocken bei dem ungewohnten Beſuch, ſprang er von ſeinem alten Lehnſtuhl auf, ſo daß ſelbſt die ſtillen kleinen Eulen auf der Stange über dem Ofen unruhig mit den Flügeln ſchlugen und die große gelbe Katze, die er getreten hatte, zu ſeinen Füßen kläglich aufſchrie. „Was iſt's nur mit dem Konrad, Giovanni?!“ und ſeufzend ſetzte ſie ſich auf den dreibeinigen Schemel, ohne zu bemerken, wie eifrig ihr der Alte den bequemen Seſſel anbot. „Frau Gräfin,“ ſtotterte er, die Finger verlegen an⸗ einander reibend, „der junge Herr Baron — unſer — unſer bambino —“ Er ſtockte, das gelbe Geſicht blut⸗ übergoſſen, um in einem gezwungenen geſchäftsmäßigen Ton, die Worte überſtürzend, wobei der charakteriſtiſche Kehllaut des Florentiner Dialekts, der die Gräfin von Anfang an ſo heimatlich berührt hatte, beſonders ſtark hervortrat, raſch fortzufahren: „Wenn Frau Gräfin viel⸗ leicht jetzt des Müllers Lieſe in Dienſt nehmen wollten, — ſie iſt ein hübſches Ding, und geſund, ganz geſund. Die Schweißtropfen ſtanden dem Alten auf der Stirn, wie nach ſchwerer Arbeit; er bückte ſich und las eine Feder vom Boden auf. Die Gräfin war aufgeſtanden, ſie atmete ſchwer. „So — ſo —“ ſagte ſie gedehnt, in Gedanken ver⸗ loren. Sie wußte es: das war der Brauch in Italien; wenn die Söhne mannbar wurden, ſorgten die Mütter für —. Sie ſchüttelte ſich. In ihrer Eltern altem Palaſt war es nicht anders geweſen; ſie erinnerte ſich der Marietta recht gut, des kleinen Küchenmädchens, die ihres Bruders Geliebte geworden war; eines ſchönen Tages war ſie plötzlich verſchwunden geweſen, um dann nach ein paar Monden als blühende Bauersfrau mit dem Säugling an der ſtraffen Bruſt, von dem ältlichen Gatten begleitet, der Mutter einen Dankbeſuch abzu⸗ 22 ſtatten. Der Bruder aber, der Giulio, war trotzdem — oder deshalb?! — ein Schürzenjäger geworden. Rein — nein! Riemals würde ſie mit eigener Hand ihren lieben Jungen, ihren Konrad in den Sumpf hinab⸗ ſtoßen! Und die Lieſe, das ſüße, junge Ding! War es wirklich jemals möglich geweſen, ein Weib zu opfern, um einem Mann über ein paar qualvolle Monde hin⸗ wegzuhelfen?! „Rein, Giovanni,“ erklärte die Gräfin beſtimmt, „das iſt des Landes hier nicht der Brauch!“ Und erhobenen Hauptes ſchritt ſie zur Tür hinaus. „Richt der Brauch — nicht der Brauch“, wiederholte der Alte kopfſchüttelnd. Als er wieder im Lehnſtuhl ſaß in der Dämmerung und die Augen der kleinen Eulen über dem Ofen zu glühen begannen, bewegten ſich ſeine Lippen noch lange in endloſem Selbſtgeſpräch: „Und hätt' ich ſelbſt eine Tochter — mit eigener Hand führte ich ſie ihm zu — ihm, Monna Lavinias Sohn.“ Am gleichen Abend, Konrad war eines verſtauchten Fußes wegen zu Hauſe geblieben, ſtürmte Walter in einer ihm ſonſt ganz fremden Erregung, die Treppen hinauf in ſein Zimmer. Atemlos ſchüttelte er den vollen Sammelſack auf dem Tiſch vor dem Freunde aus. Dann gab er ihm ſcherzend einen Schlag auf die Wange. „Duckmäuſer du, elender Heuchler!“ rief er lachend, „ſolch einen Schatz, eine Fundgrube koſtbarſter Dinge, deinem Intimus zu verſtecken!“ Er merkte im Eifer gar nicht, daß Konrads Augen größer wurden und ſeine Lippen zitterten. „Hier — das iſt unzweifelhaft ein Bärenknochen — ein einziger aus einem ganzen Haufen, den ich fand! Hier, ſieh nur dieſe Pfeilſpitze — wie ſcharf der Stein geſchliffen iſt! Und da —“ er hob mit beiden Händen ein großes Stück weißgrauen Tropf⸗ ſteins hoch empor — „welch unvergleichlicher Stalaktit! Ich habe ihn ſelbſt —“ Aber ſchon hatte ihn Konrad an den Armen gepackt, ſo daß der Stein mit dröhnen⸗ 23 dem Gepolter ſeinen Händen entſiel; glühende Augen funkelten wild dicht vor dem erblaßten Antlitz Walters. „Du — du haſt es gewagt,“ ſchrie eine rauhe fremde Stimme ihn an, „haſt meine Säulen zerſchlagen, biſt in deiner ekelhaften, ſchnüffelnden Reugier in mein Heilig⸗ tum eingedrungen? Jetzt, jetzt weiß ich, was für ein Teufel du biſt: ſetzſt Käfer in Spiritus und haſt nie einem Vogellied zugehört, klebſt mit genauſter Klaſſifi⸗ zierung Blumen in dein Herbarium und haſt den Wald niemals geſehen, ſuchſt Bärenknochen und entweihſt mein Letztes — das, wohin ich mich flüchtete mit meinen Träumen, meinem letzten bißchen Frommſein! Tempel⸗ ſchänder!“ Und er hob, ſeiner nicht mächtig, die Hand — Walter rührte ſich nicht; er ſah den Wütenden an, ſehr blaß, ſehr ruhig. Und die Hand, die ihn hatte ſchlagen wollen, fiel zurück. Walter ging, wortlos, zog leiſe die Türe ins Schloß, und ſchritt, eine Viertelſtunde ſpäter, den Ruckſack über den Schultern, über den Hof, den Berg hinab. Konrad ſah ihm nach, wie er auf der hellen Straße neben dem ſchimmernden Bach kräftig ausſchritt, ohne ſich auch nur ein einziges Mal umzuſehen. Ein nicht mehr zu unterdrückendes Schluchzen erſchütterte des Zurückge⸗ bliebenen ſchlanken Körper. Den Reſt der Ferien wurde er immer blaſſer, immer unzugänglicher. Seine Sammlungen warf er auf den Kehrichthaufen; vor den ſchmalen Höhleneingang ſpannte er ein dichtes Retz von Stacheldraht. Dann ſaß er in dem feuchten, ſonnenloſen Ahnenſaal, der von den vielen Folianten auf den braunen Regalen ſo ſeltſam nach Moder roch. Den Ordensritter mit dem weißen Mantel und dem großen ſchwarzen Kreuze darauf ſtarrte er mit brennenden Augen an. Warum bin ich nicht ſeines⸗ gleichen, dachte er ingrimmig, und hab' eine Fahne, der ich folgen, für die ich leben und ſterben kann? Jeden Kongoneger beneide ich um ſeinen Götzen! 24 Die Gräfin grämte ſich um ihn und ſcheute ſich doch durch ein unvorſichtiges Wort das leicht verletzbare Ge⸗ müt noch tiefer zu verwunden. Rur zuletzt vor ſeiner Abreiſe zog ſie ihn in ihr Zim⸗ mer — einen dunkel getäfelten Raum mit ſchweren alten Renaiſſancemöbeln und großen rotſamtenen Stühlen, wie Sitze für Könige oder Condottieri — und er träumte wieder zu ihren Füßen, wie einſt, wenn ſie dem atemlos Horchenden von der fernen ſonnigen Heimat und dem ſtolzen alten Palazzo der Savelli erzählte. „Was fehlt dir, Konrad? Sag' mir, was iſt's?“ frug ſie ihn. „Richts — nichts!“ und er wich ihren forſchenden Augen aus. „Du biſt der Alte nicht mehr! Ein hartes „Rein“ kam von ſeinen Lippen und er ſprang auf. „Da draußen, Großmutter, zieht man uns eine Haut nach der anderen ab, bis es auf unſerem Körper keine Stelle mehr gibt, die nicht jeder Luftzug mit Meſſerſchärfe ſchmerzhaft träfe.“ Und er ging mit großen Schritten hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten. Als die alten Füchſe das drittemal den ſchaukelnden Landauer mit dem jungen Gebieter darin den Schloß⸗ berg aufwärts zogen, ſtand die grade Falte tief einge⸗ meißelt wie eine Rarbe zwiſchen ſeinen Brauen. Die Großmutter war krank. Sehr weiß, ſehr durchſichtig ſaß ſie tagaus, tagein in ihrem roten hohen Seſſel; ſie war ſtets in ganz weiche, ſpinnwebdünne, ſchneeige Wollentücher gewickelt und leuchtete vor den finſteren Wänden und ſchwarzen Schränken, wie der irrende Schatten einer Ahnfrau nächtlicherweile in den dunklen Gängen alter Schlöſſer leuchten mochte. Aber ihr Geiſt lebte das intenſivſte Leben. Sie ſprach nur noch in knappen Worten, als hätte ſie zu langen Sätzen keine Zeit mehr. „Wir haben viel zu tun miteinander“, ſagte ſie ihrem 25 Enkel ſtatt jeder zärtlichen Begrüßung. Sie ließ ihm kaum Zeit ſich umzukleiden. Dann ſaß er ſtunden⸗ und tagelang vor ihr an dem großen, mit Papieren voll end⸗ loſer Zahlenreihen bedeckten Eichentiſch und hörte mit einem Staunen, das ſich immer mehr zur Bewunderung ſteigerte, von der Arbeit ihres Lebens. Aus tiefſter Zerrüttung hatte dieſe ſchöne Frau mit den weißen Händen, von der er, wenn ſie in ihren Ge⸗ mächern verborgen geblieben war, nichts anderes ge⸗ glaubt hatte, als daß ſie ſich in ihre geliebten Dichter vergrub oder ihren Körper pflegte, der nie eine Alters⸗ ſpur verriet, den großen Beſitz der Hochſeß zu neuer, ungeahnter Blüte emporgeführt. Dokumente um Do⸗ kumente legte ſie dem Enkel vor und erklärte ſie mit ſachlicher Kühle. Ein ſarkaſtiſches Lächeln kräuſelte nur einmal ihre Lippen, als auf die regelmäßigen Aus⸗ zahlungen an die Tanten die Rede kam. Sie blieben ſtets gleich niedrig trotz des wachſenden Reichtums. „Ratalie und Eliſe Hochſeß,“ ſagte ſie, „hüten ſeit fünf Jahrzehnten die hohen Traditionen dieſes Hauſes. Sie haben niemals ihre Kleider, niemals ihre Zimmer, niemals ihre Geſinnungen geändert. Sie werden dir die Wäſcheſchränke des Schloſſes, die ich ihrer Verwal⸗ tung überließ, in tadelloſer Ordnung, mit ſtets erneuten Häkelſpitzen geſchmückt, übergeben. Sie haben auch be⸗ reits, um dir alle Mühe zu ſparen, in der kleinen Hilde Rothauſen die Schloßfrau für dich ausgeſucht. Sie werden ſich zu ihren Vätern verſammeln ohne einen Flecken auf ihrer jungfräulichen Ehre, ohne eine Narbe auf ihren Herzen. Auch ohne eine Schwiele, die von harter Ackerarbeit zeugte, an ihren Händen. Von dem, was ich geſchaffen habe, ich, der ſie jedes Kleid heimlich als einen Raub an der Familie Hochſeß nachrechneten, wiſſen ſie nichts — brauchen ſie nichts zu wiſſen.“ Konrad nickte nur. Seit ſeiner Kindheit hatte ihn nichts ſo ſehr entſetzt, als die Fledermäuſe, die abends 26 lautlos den Turm umkreiſten und, wenn der Vollmond hell am Himmel ſtand, große ſchwarze Schatten warfen. In ſeinen Träumen vermiſchte ſich das Bild der Racht⸗ geſchöpfe mit dem der Tanten. Er ſpielte nie mit den Geſchenken, die von ihnen kamen. Und ſo verſtand er die Großmutter nicht nur, er dankte ihr für ihr Ver⸗ ſtändnis. Während ſeines Aufenthaltes erholte ſich die Gräfin Savelli zuſehends. Sie erſchien wieder wie einſt auf der Terraſſe unter den Lorbeerbäumen. Roch um einiges dürrer geworden und noch ſteifer im Rückgrat ſaßen die Tanten am Teetiſch, die ſchmalen Lippen feſt zuſammen⸗ gekniffen, — ein lebendiger Vorwurf. Von der Ein⸗ weihung Konrads in die Geſchäfte des Hauſes hatte man ihnen weder eine Mitteilung gemacht, noch waren ſie, wie es Familienrückſicht geboten hätte, zugezogen worden. Der alte Schulmeiſter, der auf dem Schloſſe das Gnadenbrot aß, erfuhr von dem Ereignis durch Konrads harmloſe Bemerkungen und erzählte es ihnen. Er war ein guter lutheriſcher Chriſt und hatte ſich ſeit ſeines Zöglings Fortzug den Fräuleins von Hochſeß, die allſonntäglich in der Dorfkirche ſaßen und jeden Karfreitag pünktlich zum Abendmahl gingen, auch nicht verſäumten, täglich in ihrem Wohnzimmer mit den blank geſcheuerten Dielen und der ſehr bunten Kopie der Sixtina an der Wand eine Andacht zu leſen, mehr und mehr angeſchloſſen und ſaß auch jetzt mit der Wahrung reſpekt⸗ vollen Abſtandes zwiſchen ihnen. „Es iſt Ihnen, Frau Gräfin, als einer Ausländerin wohl unbekannt geblieben,“ begann Natalie ſpitz, „daß es der Tradition fränkiſcher Adelsgeſchlechter wider⸗ ſpricht, einen Knaben von achtzehn Jahren in die Ge⸗ ſchäfte einzuführen.“ „Roch dazu ohne Beiſein der Schweſtern ſeines in Gott ruhenden Vaters“, ergänzte Eliſe. Hektiſche rote Flecke malten ſich dabei auf ihren ſpitzen Backenknochen. 27 Die Gräfin lehnte ſich noch tiefer, noch behaglicher in ihre Kiſſen zurück, und ließ ihre ſchwarzen Augen⸗ ſterne ſichtlich beluſtigt von einer zur anderen wandern. „Der „Knabe“, ſagte ſie und griff Konrad unter das Kinn, „ja, ſeht ihn nur genauer an: er könnte ſo bärtig ſein, wie ſeine Väter — iſt, ſo viel ich weiß, der Herr von Hochſeß und hat ein Recht auf die von mir vermittelten Kenntniſſe. Auch wollte ich, als „Aus⸗ länderin“, — es bedurfte Ihrer freundlichen Ermahnung nicht, um meine Erinnerung daran lebendig zu er⸗ halten, — nicht länger allein alle Verantwortung tragen. Es kann jeden Augenblick mit mir zu Ende gehen —“ Ein halb bedauerndes, halb überraſchtes „Oh“ der Schweſtern unterbrach ſie, während der Schulmeiſter ſein Geſicht in feierliche Falten legte. Die Gräfin hob ſpöttiſch abwehrend die Rechte. „Bitte, verſchwenden Sie ihre liebevolle Teilnahme nicht zu früh. Der Sommer und dieſe Jugend neben mir hielten mich noch einmal von der Italienreiſe zurück. „Von der Italienreiſe?!“ frug Konrad erſtaunt. „Ich möchte nicht gern im Ausland begraben ſein,“ antwortete ſie in faſt geſchäftsmäßigem Ton, „doch das nur nebenbei. Es hat keine aktuelle Bedeutung. Ich bin geſund. Ich habe mir ſelbſt ein Mittel verſchrieben, das mich dem lieben Familienkreiſe noch lange erhalten wird.“ „Darf man wiſſen —?“ Ratalie ſtellte die Frage, ohne die Augen von ihrer Häkelarbeit zu erheben; nur das leichte Zittern ihrer Finger verriet, daß eine Ahnung ſie folterte. „Man darf!“ Frohlockend, wie bei einer Siegesbot⸗ ſchaft klang die Stimme der Gräfin. „Wollen Sie mir folgen? Ich glaube, wir ſind alle ſehr lange nicht auf dem Turm geweſen!“ Damit erhob ſie ſich und ſchritt, auf den Arm des Enkels geſtützt, hoch aufgerichtet voraus. Auf ihr Klopfen öffnete Giovanni die immer noch 28 kreiſchende Pforte. Gegenüber dem hellen Tage draußen, erſchien hier alles in nächtiges Dunkel gehüllt. In engen Windungen ſtieg die Treppe empor. „Ich habe ſie gekehrt und das Geländer befeſtigt“, krächzte der Alte aus der Finſternis. „Führe uns!“ antwortete die Gräfin. Mit hart aufklappenden Sohlen, deren Ton vom Ge⸗ räuſch ſeines ſtöhnenden Atems begleitet wurde, ſtieg er voran. Das Seidenkleid der Gräfin rauſchte über die Steinflieſen, dahinter klang das aſthmatiſche Hüſteln der Fräuleins und des Schulmeiſters breiter ſchwerer Tritt. Rur Konrad ſchien unhörbar emporzuſteigen. Er ging auf den Fußſpitzen, dem Licht entgegen, das oben durch) die ſchmale offene Falltür ſchräg, wie mißgünſtig, herein⸗ brach. Unter den vorſpringenden Sparren und Balken hingen reihenweiſe die grauen Leiber zahlloſer Fleder⸗ mäuſe. In blendender Klarheit öffnete ſich oben der Himmel über den Kommenden. Von plötzlichem Schwindel er⸗ griffen, ſetzten ſich die Tanten mit dem Rücken gegen die blaue Ferne auf die oberſte der Stufen. Der Schul⸗ meiſter ſteckte nur den Kopf ins Freie hinaus. Giovanni ſtand dicht am Rande der Plattform; der Wind klebte ihm die Kleider um die Glieder und ſträubte ſeine grau⸗ grünen Haare rings um den Schädel. Die Gräfin lehnte die linke Hand nur leicht auf des Enkels Schulter. „Schwindelt dich?“ frug ſie lächelnd. Er reckte ſich in ſeiner ganzen, ſchlanken Größe kräftig empor. „Auf der Höhe — in der Sonne — vor ſolch einem Ausblick — wie ſollte mir ſchwindeln?“ ſagte er. „Gedachten Sie durch dieſen ſeltſamen Spaziergang nur Ihre Kräfte an den unſeren zu meſſen, um ſich des vollen Triumphs bewußt zu werden, Frau Gräfin?“ Ratalie knüpfte ſich bei der ſpitzen Frage das graue Wolltuch feſter um die fröſtelnden Schultern. 29 „Rein, meine Lieben“, antwortete die Angeredete freundlich. „Ich erbat Ihre Begleitung, um mir nicht wieder Ihren Tadel zuzuziehen, denn nur von hier aus kann ich Ihnen zeigen, — falls Sie die Güte hätten, auf einen Augenblick Umſchau zu halten —, um welch koſt⸗ baren Beſitz ich das Eigentum meines Enkels, Ihres Reffen, habe vergrößern dürfen. Sie von der Freude daran auszuſchließen, wäre bitteres Unrecht geweſen! Run ſtanden die beiden grauen Geſtalten eng anein⸗ ander gedrängt doch auf dem Turm, und in ihre farb⸗ loſen Augen ſtieg ein Funke von Reugier. „Siehſt du dort im Tal, dicht an der Grenze unſeres Waldes, das rote Dach mit den vier dünnen Türm⸗ chen an jeder Ecke?“ wandte ſich die Gräfin an Konrad, ohne die anderen von da ab noch der geringſten Be⸗ achtung zu würdigen. „Eckartshof“, antwortete Konrad und grub gleich darauf die Zähne heftig in die Unterlippe. „Eckartshof —“ Giovanni wiederholte es nähertretend. Er ſtreckte dabei die gelben Hände vor, ſie zu Krallen ſpreizend, als ob er das friedliche Bild da unten zwiſchen ihnen zermalmen wollte. „Von heute ab iſt es dein“, mit einem langgezogenen Vogelton tönte dies „dein“ der Gräfin Savelli in die Ferne. „Ah!“ ein tiefer Atemzug hob Konrads Bruſt. „Und der Freiherr? — Und die Baronin?“ ſtießen die Schweſtern mehr entſetzt als erfreut hervor. „Sind ruiniert! Er hat ſich zugrunde geſpielt und ge⸗ trunken. Ich kündigte ihm als Konrads Vormund das Darlehen ſeines Vaters.“ Das ſelige Lächeln, das der Gräfin Antlitz verklärte, ließ ſie um Jahrzehnte jünger erſcheinen. Sie legte den linken Arm um des Enkels Schultern und ihr heißer Atem umhüllte ihn ganz, wäh⸗ rend ſie ſich flüſternd zu ſeinem Ohre neigte. „Auf den Knien lag ſie vor mir, die weiße Schlange — auf den Knien! 30 In dieſem Augenblick nähſerte ſich ihnen Giovanni und zog in demütiger Gebärde die weiße Schleppe der Gräfin an ſeine Lippen. „Nun lächelt Madonna Lavinia,“ ſagte er verträumt. und all ſeine Falten ſchienen ſich zu glätten. Wortlos ſchlichen die Fräuleins die Wendeltreppe herab. Sie fürchteten ſich. Das war vor dem Examen Konrads letzter Beſuch in Hochſeß. 31 Zweites Kapite! Won der Fahrt in die Freiheit In der Bahnhofshalle von Bamberg brütete die Septemberſonne in breiten, heißen Strahlen. Sie ſchien die kurzen Minuten verzauberter Stille benutzen zu wollen, um jeden Reſt von Rauch herauszudrängen; ſie tanzte luſtig über alles Blanke und ließ ſelbſt auf den Steinplatten des Perrons Millionen winziger Sternchen ſtrahlen. Drei Männer traten hinaus; mit elaſtiſchem, raſchen Schritt der eine, ſo wie ſorgloſe Menſchen gehen, mit ſchweren an der Erde klebenden Sohlen der andere, wie ſolche, die unſichtbare Laſten tragen, und haſtig trippelnd der letzte, als wäre er ein Greis oder ein Kind. „Eine halbe Stunde zu früh! Verrückt!“ brummte der zweite, eine unterſetzte Geſtalt mit den typiſchen feinen Zügen des Semiten von alter Kultur. „Weiſe, ſehr weiſe, mein Freund!“ entgegnete lachend der erſte, ein hochgewachſener blonder Jüngling, der, gewohnt, ſich zu allen anderen niederbücken zu müſſen, die Schultern ein wenig nach vorn fallen ließ, „und zwar nach deiner eigenen Theorie, lieber Walter. Heißt es nicht, die Vorfreude auskoſten bis aufs letzte, wenn wir hier in ſteigender Erwartung die Minuten ver⸗ ſtreichen ſehen? Ein leiſe meckerndes Lachen antwortete ihm. Raſch wandte er ſich nach dem anderen Gefährten um. „Jetzt ſteht der Menſch wahrhaftig hinter mir wie eine Leibwache!“ rief er halb ärgerlich, halb beluſtigt. „Euer Gnaden haben geruht, mich als Kammerdiener 32 mitnehmen zu wollen“, antwortete der Alte mit einem tiefen Bückling, während ſeine ſchwarzen Auglein zärt⸗ lich zu ihm aufblinzelten. „Damit du vor der Welt ein Amt haſt, Giovanni, du weißt, ein Kerl ohne Titulatur hat keine Exiſtenz⸗ berechtigung! Aber unter uns“, und über des Jüng⸗ lings gebräuntes Antlitz huſchte ein weiches Kinder⸗ lächeln, „unter uns biſt du was du immer warſt: mein Freund.“ Der Alte drückte die dürren Hände flach an⸗ einander wie zu einem Gelöbnis. „Wollen wir nicht wenigſtens aus der Sonne gehen? ſagte Walter, noch immer voll Mißmut. „Freu' dich doch, daß ſie ſcheint! Sieh nur, wie ſie ſelbſt dieſen öden Bau in einen Märchenpalaſt ver⸗ wandelt!“ „Träumer!“ In dieſem Augenblick ſchien das Leben erwacht: Dort raſſelte ſchwerfällig ein langer Laſtzug vorüber, hier rangierte mit ſchrillem Pfeifen eine Lokomotive, drüben klingelte gellend der Telegraph, dazwiſchen ſauſte ein Expreßzug ſtolz durch die Halle, daß ſie bis in ihre Fundamente erbebte; das Alles kreiſchte und fauchte und dröhnte und ſchrie den Harrenden und Hin⸗ und Widerhaſtenden in gleichem Allegrotempo ſein Vorwärts— Vorwärts entgegen, während dunkle Rauchſchwaden alle Sonne verſchluckten. Es läutete. Um den langſam hereinſtampfenden Per⸗ ſonenzug drängten ſich die Landleute. Eine grauhaarige Alte, die ſchwer bepackte Kiepe auf dem krummen Rücken, keuchte im letzten Augenblick auf den Perron. „Mach raſch, Mutter“, rief ein junger Burſche ärgerlich aus dem Kupeefenſter. Konrad Hochſeß' Stirnadern ſchwollen. „Bande!“ knirſchte er zwiſchen den Zähnen und ſprang hilfreich zu, die Laſt der armen Frau mit beiden Händen ſtützend, als ſie die Stufen des Waggons emporſtieg. Braun, Lebensſucher 3 33 „Wirſt du nun einſehen, daß das weibliche Geſchlecht ſich in keinen einheitlichen Begriff zuſammenfaſſen läßt? ſagte Walter; „es gibt Damen und Laſtträgerinnen —. von alters her.“ „Glaubſt du, ich werde jemals eine Tatſache als be⸗ rechtigt anerkennen, nur weil ſie die ſogenannte Würde des Alters für ſich hat?“ brauſte Konrad heftig auf. „Die Würde des Alters! Ach!“ er ſchüttelte ſich wie im Ekel, „ich brauche bloß an unſeren Magiſter zu denken: er predigte uns mit eindringlicher Spekulation auf unſere Tränendrüſen Enthaltſamkeit und betrank ſich, daß ſeine arme Dicke ihn nächtlicherweile auf der Treppe aufleſen mußte! „Was ereiferſt du dich?! Seine Predigten waren nichts anderes als Schuldbekenntniſſe! „Ein Schwächling iſt noch ekelhafter als ein Heuchler.“ Es läutete abermals: der Eilzug. Hinter den Freunden klappten die Kupeetüren auf und zu. Da lief ein Mädchen mit langen wehenden Zöpfen und glühenden Wangen, ein kleines, von Seidenpapier umhülltes Paketchen in der ausgeſtreckten Hand, über den Bahnſteig. Sie ſuchte. Vergebens. Riemand ſah hinaus. Keiner ſchien für die Stadt, aus der der Zug ihn entführte, einen Ab⸗ ſchiedsblick zu haben. Rur hinter einem Fenſter tauchte etwas auf, wie eine Fratze: gelb, faltig, mit tief her⸗ untergezogenen Mundwinkeln, wie nur unauslöſchlicher Gram ſie zeichnet. Das Mädchen riß bei dieſem An⸗ blick entſetzt die hellen blauen Augen auf und ſtarrte noch auf denſelben Fleck, als der Zug ſich ſchon in Be⸗ wegung ſetzte; erſt der gelle Pfiff brachte ſie zu ſich. Und plötzlich ſchien ſie entdeckt zu haben, was ſie ſuchte: ein ſcharfgeſchnittenes Profil — ſchwarze, gerade ge⸗ zogene Augenbrauen, weiche rote Lippen — blonde Haare. Aber der Kopf, an dem ihre Blicke ſehn⸗ ſüchtig hingen, wandte ſich ihr nicht zu, obwohl ſie atem⸗ los neben dem ſchon raſcher fahrenden Zuge herlief. 34 Da warf ſie ihr Paketchen gegen das Fenſter: das Seidenpapier löſte ſich, eine blaſſe Roſe fiel unter die Räder. Walters dunkler Kopf bog ſich einen Augenblick lang hinaus. „Das Klärchen!“ ſagte er, zu dem Freunde gewandt. „Ich weiß“, ſtieß er zwiſchen den Zähnen hervor. „Und haſt keinen Gruß für ſie? Gabſt du nicht früher dein ganzes Taſchengeld für ihre Eitelkeit aus, machteſt Fenſterpromenaden und Liebesgedichte?! Der andere warf dem ſpottenden Freunde einen Blick zu, deſſen drohender Ausdruck zu dem Geſchehenen in keinem Verhältnis zu ſtehen ſchien. „Erinnere mich nicht. Du weißt ſo gut wie ich, daß ſie ſich an den Egon, den dummen Bengel, hängte - „Ganz einfach: weil er, der Durchgefallene, in Bam⸗ berg bleibt, und du nicht raſch genug den Ranzen packen konnteſt. Erwarteteſt du etwa ewige Treue von dem Mädchen, oder gedachteſt du, Konrad Freiherr von und zu Hochſeß, das Fräulein Klärchen Werber als dein ehe⸗ lich Gemahl heimzuführen?! Der junge Mann überhörte diesmal den Spott. „Ich hatte ſie lieb“, flüſterte er wie im Selbſtgeſpräch. „Wie oft wäre ich davongelaufen, aus Ekel über die Gemeinheit der Bengels um mich, aus Wut über den öden Stumpfſinn, den man uns als aller Weisheit letzten Schluß eintrichterte, aus Sehnſucht —, ich wußte ſelbſt nicht wonach! — wenn die Kleine nicht geweſen wäre. Kaum, daß ich ihr die Hand zu drücken wagte — Eſel, der ich war! — nur daß ſie in einer Stadt mit mir lebte, daß ich ſie hier und da ſehen, grüßen, ein paar Worte mit ihr wechſeln konnte, genügte mir. Er ſchwieg minutenlang, ein Lächeln um die Lippen, um dann, aufgerichtet, den Kopf dem Freunde abge⸗ wandt, als wäre er allein mit ſich, in ſteigender Er⸗ regung weiter zu reden. 3* 35 „Gib uns armen, hinausgeſtoßenen, mutterloſen Buben ſolch eine Liebe, gütiges Geſchick, laß uns ſolch einem ſüßen, zarten Ding begegnen, und es bedarf all eurer Strafpredigten nicht, liebwerte Prieſter und Profeſ⸗ ſoren! Wenn ich halbwegs gerade wuchs in dieſen Jah⸗ ren — dem Klärchen verdank' ich's. Richt, weil ſie mich mit guten Ratſchlägen fütterte — weiß Gott nicht! — nur weil ſie da war. Er ſetzte ſich wieder, die Ellbogen auf den Knien, das Kinn in die Hände gegraben, dem Freunde gerade ins Geſicht ſtarrend: „Und ſchließlich ſtieß ſie — ſie! — mich in den Schmutz, daß ich mich vor mir ſelber graue!“ Aufſtöhnend ſchlug er die Hände vor das Geſicht. „Konrad — Konrad!“ und der Freund ſuchte ver⸗ gebens, ſie zu löſen, um ihm ins Antlitz zu ſchauen, „wie kannſt du dem unſchuldigen Mädel daran die Schuld zuſchieben!“ Der junge Mann ſah auf, mit Augen, die erloſchen ſchienen. „Glaubſt du, ich wäre jemals mit den anderen gegangen, wenn ich ihrer ſicher geweſen wäre?! Ich wäre ſolch ein Schweinigel geweſen, unſere Liebe zu beſchmutzen?! Gelacht hätt' ich, wie bisher, triumphierend gelacht, wenn die Kameraden den „heiligen Konrad“ ge⸗ hänſelt hätten. „Früher oder ſpäter mußte es kommen“, meinte der andere zögernd, ohne aufzuſehen. „Es mußte — meinſt du?!“ Mit bitter geſchürzten Lippen ſah er auf. „Aus hygieniſchen Gründen wohl, wie die Gelehrten ſagen?! Neulich hat ſich einer das Leben genommen, als er von einer Dirne kam. Ich verſteh's! Nur daß ich auch dafür zu ſchwach bin. „Oder zu ſtark“, warf Walter mit Betonung ein. „Du glaubſt?!“ Konrad zuckte die Achſeln. „Pah! Schütteln wir's ab! Wie alles übrige! Jetzt geht's in ein neues Leben. 36 Und ſie ſchwiegen beide. Walter ſah zum Fenſter hinaus. „Die Türme des Doms!“ unterbrach er lebhaft die Stille. „Dort, ganz fern — zum letztenmal! So ſchau doch hinaus! „Nein“, ungewöhnlich hart kam es über die weichen Lippen, „denn nichts, aber auch gar nichts hat dieſe Stadt mir gegeben, was ſie nicht mit Wucherzinſen wieder genommen hätte, wenn es nicht dieſer erſte Tag reiner Freude iſt, und jener andere vielleicht vor drei Jahren, als ich ſie, alle Wunder von ihr erwartend, zuerſt betrat.“ „Und dankſt ihr doch ſo viel an Wiſſen und Werden — um mit unſerem würdigen Profeſſor zu ſprechen. Konrad lachte, aber es war ſein frohes Lachen nicht. „Ins Geſicht hätt' ich ihm ſpringen mögen, als er all ſein Pathos auf dieſe unvergleichliche Alliteration ver⸗ wendete. War nicht das Wiſſen, mit dem er und ſeines⸗ gleichen unſer Hirn belaſtete und unſer Herz einſchnürte, der mörderiſche Feind allen Werdens? Wie reich war ich, als ich zum erſtenmal, aller Andacht, alles Wunder⸗ glaubens voll, da droben vor dem Hochaltar ſtand, zu Füßen des ſteinernen Reiters, um deſſen ritterliches Haupt ich meine Märchenträume ſpann! Und jetzt- Er brach ab. Die Falte zwiſchen ſeinen Augenbrauen vertiefte ſich. „Jetzt,“ fiel Warburg ein, „jetzt hat man uns in die Welt und in die Freiheit entlaſſen, um das eigene Leben zu erkämpfen. „Mit der Reifeprüfung in der Taſche, und doch un⸗ reifer als je!“ ſpottete Konrad. Warburg nickte: „Selbſtverſtändlich. Denn jede Alters⸗ ſtufe hat ihre eigene Reife, die uns niemand fix und fertig mit auf den Weg geben kann. Oder haſt du er⸗ wartet, ſie würde dir ſauber verpackt und etikettiert, wie irgendein Apotheker⸗Elixier, mit auf den Weg gegeben ¹ werden?! 37 Konrads Stirn rötete ſich. „Wenn du's denn wiſſen willſt: ja! Ein Elixier — eins, das als Wärme durch die Adern rinnt, als Kraft die Muskeln ſchwellt, — das hab' ich, unbewußt vielleicht, erwartet. Richt gold⸗ vortäuſchendes, dreckiges Papiergeld, das nur den Hunger von alten Geizhälſen ſtillen kann. Freilich,“ fuhr er mit einem ſarkaſtiſchen Lächeln fort, „die meiſten unſerer lieben Kameraden, das ſtellten wir ja erſt neulich feſt, ſind alt geboren, darum konnte ihnen der Wuſt trockner naturwiſſenſchaftlicher Erkenntniſſe zur Weltanſchauung werden, darum geraten ſie in Ekſtaſe — Begeiſterung iſt ein viel zu edles Wort dafür! — über jede neueſte Luftſchiffkonſtruktion, verwechſeln ſtändig Technik mit Kultur, machen den Beruf zum letzten Lebensideal - „Und“, ergänzte Warburg, „ſind doch vielleicht be⸗ neidenswert um den feſten Boden unter den Füßen, das klare Ziel vor Augen. Konrad ſchüttelte heftig den Kopf. „Unſer alter Streit! Wozu ihn aufwärmen?! Du weißt: lieber verlier' ich mich in den Wolken und ſtürze zerſchmettert hinab, als daß ich jenen feſten Boden betrete, ſolch klares Ziel für das meine erkläre. Er lehnte ſich mit geſchloſſenen Lidern in die Kiſſen zurück. Beide ſchwiegen. Eintönig ratterte der Zug. Stunden vergingen. Es dämmerte ſchon, als der alte Giovanni vor der Tür auftauchte. „Friſche Orangen, ganz friſche Orangen, Herr Baron“, ſagte er und hielt dem jungen Mann ein Körbchen voll blutroter Früchte entgegen. Sie leuchteten förmlich. Konrad griff mit beiden Händen danach und hob ſie empor. „Sieh nur die Pracht!“ rief er ſtrahlend. „Die Äpfel der Heſperiden! Die ewige Jugend! Komm, Walter, laß uns wieder glauben, daß wir Götter ſind! Walter warf einen mißtrauiſchen Blick auf Giovanni. 38 „Wo der Kerl nur die wieder her hat?“ brummte er. Aber der Italiener war ebenſo leiſe verſchwunden, wie er gekommen war. Die Freunde hatten beſchloſſen, die erſte Racht ihres Berliner Aufenthalts in einem Hotel nahe am Bahnhof zuzubringen und ſich gleich am nächſten Morgen nach geeig⸗ neten Quartieren umzuſehen. Daß Konrad den Gedanken an eine gemeinſame Wohnung auch nicht einen Augenblick zu erwägen ſchien, hatte Walter gekränkt. Er war über⸗ empfindlich und um ſo mehr geneigt, eine abſichtliche Zu⸗ rückſetzung ſeiner Perſon anzunehmen, als er noch immer nicht zu glauben vermochte, daß Konrads Freundſchaft an ſeiner Abſtammung keinen Anſtoß nahm. Es erſchien ihm darum nunmehr als gewiß, daß die äußere Tren⸗ nung das erſte Zeichen der inneren ſei. Je näher ſie dem Ziele kamen, deſto mißmutiger und einſilbiger wurde er, während Konrad, ohne eine Ahnung von den Emp⸗ findungen des Gefährten, in wachſender Erregung von Fenſter zu Fenſter lief. Wie allmählich aus dem Dunkel der Racht die Lichter Berlins auftauchten, in glänzender Perſpektive ganze Straßenzüge da und dort ſich öffneten und der ſchwarze Himmel ſich allmählich mit einem roſigen Glanz überzog, als ſtrahle von den Häuſermaſſen zaubriſche Helle aus, da klopfte ſein Herz immer ungebärdiger. Weit, ſo weit, als wäre es ſeine eigene nicht, lag die Vergangenheit hinter ihm; dieſe Lichter leuchteten ſeiner Zukunft. Er ſprang als erſter aus dem Zuge und atmete die rauchgeſchwängerte Luft, die ihm entgegenſchlug, mit demſelben Entzücken, wie der Bergſteiger den reinen Hauch der Gipfel. Traumbefangen lief er die Bahn⸗ hofstreppen hinab, kaum bemerkend, daß der Freund alle praktiſchen Erforderniſſe der Ankunft für ihn er⸗ ledigt hatte. Sie ſtanden ſchon vor dem nahen Gaſt⸗ haus, als er zu ſich kam. 39 „In den Hühnerſtall?!“ lachte er, „und gleich jetzt? Haſt du wirklich in dieſem Augenblick nichts anderes zu denken! In dieſer Racht ſieht mich kein Hotel! Wir wollen frei ſein, Walter!“ „Morgen, wenn wir gegeſſen und geſchlafen haben, — du ſollteſt übrigens nicht vergeſſen, daß der Arzt dich vor Überanſtrengungen warnte. „Pedant! Du machſt dich zum Sklaven der Uhr, als gingen wir noch ins Gymnaſium, und willſt mich zum Sklaven einer dummen Muskel machen, die nicht ganz vorſchriftsmäßig funktioniert.“ „Ich bin müde, und das Herz iſt mehr als eine dumme Muskel.“ „So geh ſchlafen!“ lachte Konrad, „morgen früh weck ich dich, Philiſter!“ Und ſchon bog er mit großen, elaſti⸗ ſchen Schritten in die Königgrätzer Straße ein. Daß Giovanni ihm haſtig trippelnd folgte, während ſeine lebhaften ſchwarzen Auglein unruhig hin und her fuhren, ſchien er vergeſſen zu haben. Mitten auf dem Potsdamer Platz blieb er ſtehen. Um ihn brauſte die Weltſtadt. Eine endloſe Kette leuchtender Perlen, hingen die Bogenlampen der wie Sternzacken nach allen Rich⸗ tungen weiſenden Straßen am dunklen Himmel; unten flogen gelbe, braune und weiße Autos mit großen Licht⸗ augen vorüber; von den Höhen der Häuſer warfen glühende Schriften, bunte Pfeile, kreiſende Ringe ihre wechſelnden Farben auf das Gewühl der Wagen, der Pferde und Menſchen unter ihnen. Wie der Schwimmer, dem das Meer zum vertrau⸗ teſten Element geworden iſt, ſich jauchzend immer höheren Wogen entgegenwirft, ſo eilte Konrad leichtfüßig durch die abwechſelnd ſich ſtauenden und ſich vorwärts ſchie⸗ benden Maſſen, keines warnenden Zurufs achtend. Plötz⸗ lich aber ſah er auch ſeinen Schritt gehemmt, denn alles um ihn ſchien durch einen einzigen Wink des die Straße beherrſchenden Poliziſten gefeſſelt, und in den 40 leeren Raum vor ihm ergoß ſich, von der anderen Rich⸗ tung kommend, der Strom von Menſchen und Wagen. Schon ſuchte er, dem jede Unterordnung unter allgemeine Geſetze verhaßt war, ſich dem Zwang zu entziehen, als der ſchlanke, wie Firnſchnee ſchimmernde Leib eines Autos langſam und faſt unhörbar dicht an ihm vor⸗ überkam; zu gleicher Zeit flammte in ſeinem Innern das Licht auf und umſtrahlte ſchmeichelnd die üppige Geſtalt eines Weibes, das läſſig in den blauen Polſtern lehnte. Die Menſchen, die Wagen, die Pferde draußen ver⸗ ſchluckte die Racht. Rur ſie leuchtete: ihr Goldhaar und die Perlenſchnüre darin, die Haut ihres entblößten Halſes, das lockende, grünlich ſchillernde Augenpaar, der volle, ſehr rote Mund, der ſich über ſtarken wei⸗ ßen Zähnen lächelnd öffnete. Konrad ſtarrte ſie an, ſelbſtvergeſſen, — war ſie ein Fabelweſen? Dem Schoße der ſchillernden Stadt entſprungen? Im nächſten Augen⸗ blick erloſch das Licht, die Racht ſchlug ihren Mantel um ſie, mit einem langgezogenen Klageton, wie der Sturm, wenn er durch alte Kamine heult, glitt der weiße Wagen vorüber. Vorwärts ſchoben ſich alle Räder; um Konrad tobte aufs neue der Lärm der Stadt. Widerſtandslos ließ er ſich weiter treiben. Durch lange Straßen, an hellen großen Fenſtern vorbei, hinter denen dichtgedrängt an kleinen Tiſchen die Menſchen ſaßen. Sein Gang verlor an Elaſtizität, ſein Blick wurde nüchtern: dieſe bunten Reklamelichtbilder waren doch eigentlich ein dummer, kindiſcher Witz, und wie müde ſahen im Grunde die Menſchen aus; das Lächeln auf den Geſichtern der Damen, die ihm begegneten, war doch nur ein Grinſen. Ach, auch er war müde! Und irgend einen Ton hatte er im Ohr, der ihn ſtörte, den er los werden mußte: etwas wie einen unregel⸗ mäßigen und doch niemals ausſetzenden Schritt hinter ſich. Zuweilen hatte er ſich danach umgedreht, ſein Blick 41 war aber immer nur gleichgültigen, ausdrucksloſen Ge⸗ ſichtern begegnet. Er haſtete vorwärts. Durch eine lange Straße, die das Licht der großen Bogenlampen auf halber Höhe der Häuſer ganz zu verſchlucken ſchien, während der Menſchenſtrom unten ſchwarz dahinflutete, nur hie und da von den Lampen eines Reſtaurants grell erleuchtet, — ſo grell, daß auch die jüngſten Geſichter, die rotgeſchminkteſten Wangen von fahler Leichenfarbe überzogen waren. „Ich habe einen meiner ſchweren Träume“, dachte Konrad und ſtrich ſich mechaniſch mit der kalten Hand über die Stirn. Dann lachte er hell auf, ſo daß die neben ihm Schreitenden ihn ängſtlich anſahen. „Hunger, nichts als Hunger!“ und er bog mit raſchem Entſchluß in das nächſte Kaffeehaus ein, aus dem heitere Muſik und wirrer Stimmenlärm ihm entgegenklang. Wie gut es tat, ſtill zu ſitzen und bei Eſſen und Trinken zur Wirklichkeit zurückzukehren! Wohin hatten ſeine Träume ihn wieder einmal getrieben? Die Rixe in der blauen Woge — „eine geſchminkte Dirne“ würde Freund Walter geſagt haben. Sein ausdrucksvoller Mund zuckte ſchmerz⸗ haft. Herr Gott, wie allein er doch eigentlich war! Wo war einer, ein einziger, der ganz mit ihm gefühlt, ihn ganz verſtanden hätte?! Seine Schen vor dem Leben und ſeine große Sehnſucht nach ihm, ſein Wünſchen ins Weite und ſein Erſchrecken, wenn das Ferne nahe kam, ſein Liebesverlangen und ſeine raſche, gräßliche Ernüchterung! Was wird die große, fremde, in dieſem Augenblick von ihm faſt als feindſelig empfundene Stadt aus ihm machen? Er brachte ſich ihr dar; war er Marmor, für deſſen Geſtaltung der Künſtler ſchon lebte, oder ein Opfer, beſtimmt, auf den Altären fremder, wilder Götter zu bluten? Wer einen Menſchen hätte, nur einen einzigen Menſchen in dieſer Wirrnis! Einen Menſchen!! Wo war Giovanni?! Er erſchrak: hatte er den alten Mann, mit dem geheimnisvolle Fäden 42 des Erlebens, des Träumens und Erinnerns ihn ver⸗ knüpften, ſchon am erſten Abend im Gewühl verloren? Er ſah ſich ſuchend um; ſein Blick tauchte in zwei kleine ſchwarze Augenſterne, die mit einem Ausdruck mütter⸗ licher Liebe und ſklaviſcher Ergebenheit unverwandt, ohne die Lider zu bewegen, auf ihm ruhten. Er ſprang auf. „Giovanni — verzeih“, und beide Hände ſtreckte er ihm entgegen. Der lächelte nur. „Jetzt ſuchen wir uns eine Schlafſtelle“, damit ſchob er, des Tuſchelns ringsum nicht achtend, ſeinen Arm unter den des Alten. Sie traten ins Freie. Es war tief in der Racht. Und noch ratterten die Autos, rollten die Wagen, ſtrömten die Menſchen auf und ab. Gab es in dieſer Stadt keinen Schlummer? Ein paar Mädchen mit hoch geſchlitzten Kleidern und hauchdünnen Strümpfen, durch die das roſige Fleiſch leuchtete, ſtrichen dicht vorbei. „Haſt dir wohl den Urjroßvater als Jardedame mit⸗ jenommen?“ lachte die eine keck, das blitzende Gebiß eines jungen Raubtieres zeigend. „Du — die Blumenjule dort nimmt ihn dir jerne ab“, flüſterte die andere, die ſehr groß und gertenſchlank war, dicht an ſeinem Ohr; ihr Mantel ſchlug ſekunden⸗ lang auseinander, die weiße ſchimmernde Bruſt ent⸗ hüllend, aus der eine Woge ſtarken Duftes emporſtieg. In Konrads Schläfen pochte das Blut. Ein blutjunges, ſchmächtiges Ding, mit großen über⸗ nächtigen Augen, um die das Laſter ſchwere ſchwarze Ringe gezogen hatte, in einem ſchmalen Kindergeſichtchen, vertrat ihm den Weg, ſich wortlos anbietend. Er ſchob ſie beiſeite. „Ach, ſo einer ſind Sie — ſooo einer!“ knirſchte ſie rachſüchtig. Zwei junge Männer, noch ganz knaben⸗ haft, die Schirmmützen über das lockige Haar keck nach hinten geſchoben, drängten ſich dazwiſchen; ein 43 langer, vielſagender Blick aus vier Augen von unten 71 herauf ſtreifte Konrad, von einem gedehnten „na — —?! und einer Bewegung begleitet, die ihn beinahe zwang, mit der Fauſt in die frechen Geſichter zu fahren. Flu⸗ chend ſtob das Paar auseinander. Er haſtete weiter, ihm war, als müſſe er dumpfer, ſtickiger Luft entfliehen. Aber ſie folgte ihm: Die Reben⸗ ſtraßen, die Mietshäuſer, die Torbogen hauchten ſie aus; und alles, was ſich ſchämte und ängſtigte, kroch hervor: Kinder mit fahler, ſonnenentwöhnter Haut, Streichhölzer in den dünnen Händen, die ſie automatenhaft einem jeden entgegenhielten; alte Weiber, aus deren faltigem Antlitz rot umränderte, lidloſe Augen ſchauten. Von Ekel ge⸗ packt, gegen das vergebens ſein Mitleid kämpfte, machte Konrad einen weiten Bogen um ſie. Schon atmete er auf; hier endlich war die Straße breit und leer. Plötzlich aber ſtand eine neben ihm, groß und ſchatten⸗ haft, grau umhüllt. Trug ſie heimlich die Peitſche der Furien unter dem Tuche? Konrad drängte vorwärts. Der Alte dagegen — war es Reugierde, war's Erſchöp⸗ fung? — hielt ihn zurück. „Komm, Giovanni, komm!“ rief er ungeduldig und wollte an der Grauen vorüber, die ihn ſchaudern machte. Doch Giovanni hörte nicht; er ſtand jetzt dicht vor ihr. „So kriechen ſie auch daheim des nachts auf den Straßen“, flüſterte er und griff nach ſeinem Beutel. Da ſchlug die Graue das Tuch auseinander, ein win⸗ ziger Kopf, braunrot, verſchrumpft, wie das Greiſen⸗ haupt eines Erdgeiſtes, zeigte ſich; aus einem klaffenden Mund drang ein Gewimmer in ſchneidendem Falſett, aus ausdrucksloſen Augen ſtrömten Tränen, als ob der ganze winzige, elende Kinderkörper ſich auflöſen wollte in ihrer Flut. Giovannis Augen weiteten ſich; mit ver⸗ ſtörtem Blick ſtarrte er die Mutter an und den Säug⸗ ling, während ſeine Hand den Arm Konrads umkrampfte. 44 „So ſchlich die Mutter umher mit mir —“, kam es wie in verhaltenem Schluchzen aus ſeiner Kehle. Schon ſammelten ſich Vorübergehende um die Gruppe mit jener lüſternen Reugierde der Großſtädter, die für ihre ſchlaffen Rerven in jedem Ereignis eine aufpeit⸗ ſchende Senſation zu wittern pflegen. Aber ehe ſie noch Zeit hatten, ihrem Spott über das Schauſpiel verletzen⸗ den Ausdruck zu geben, hatte Konrad den Alten in den nächſten vorüberkommenden Wagen gezogen. Er brachte den ganz Verſtörten vorſorglich bis hinauf in ſein Hotelzimmer, und ſtand, von der Sorge um ihn erfüllt, noch minutenlang lauſchend an der Türe. „O madre mial“ murmelte leiſe weinend eine Greiſenſtimme, dann war es ſtill. Helle Herbſttage, die in Berlin wie junger Frühling wirken, ſo mild, ſo blütenreich ſind ſie, verſcheuchten alle Rachtgeſpenſter. Ihrer Klarheit ſchien nur das Wirk⸗ liche ſtand zu halten. Konrads Seele, die einem See geglichen hatte, deſſen Tiefe von jedem Luftzug aufge⸗ wühlt wurde, ſo daß die Bilder der Außenwelt ſich in ſeinen Wellen und Kreiſen und Strudeln nur verwiſcht und verzerrt wiedergaben, wurde mehr und mehr zu einem Spiegel, der alles ihm Begegnende ſcharf um⸗ riſſen zurückwarf. „Laß mich zunächſt nur ſehen, nichts als ſehen“, ſagte er zu Walter, der nun ſchon ſeit Wochen in Arbeit und Studium ſteckte und ihm ſeine Untätigkeit zum Vorwurf machte. „Du wirſt verliedern, wenn du dir kein Ziel ſteckſt, da das Leben dir leider keins aufzwingt“, antwortete der. „Im Augenblick weiß ich kein ſchöneres als glücklich ſein“, meinte Konrad. Sie ſaßen zuſammen vor einem Kaffeehaus des Weſtens und die Sonne tanzte in lauter goldenen Strahlen über die bunten Bäume, über den 45 blinkenden Aſphalt, über die vielfarbigen Kleider der vorüberwandernden Frauen. Und nun warf ſie einen Schatten über den weißen Tiſch, der in ſeiner plötzlichen Kühle an den Herbſt erinnerte. Zwei Menſchen, ein Mädchen und ein Mann waren herzugetreten, Walter begrüßend. Des Mädchens ernſte, ruhige Augen hatten ſich Konrad zugewandt. „Es gibt nur ein würdiges Ziel allen Strebens: glücklich machen“, ſagte ſie herb. Konrad erhob ſich, halb erſtaunt, halb verlegen. „Herr Pawlowitſch, Fräulein Gerſtenbergk — mein Freund, Baron Hochſeß“, ſtellte Walter Warburg vor. Sie kamen raſch ins Geſpräch. Das Mädchen hatte, mit einer gewiſſen Abſichtlichkeit, wie es ſchien, den Rücken der Straße zugewandt. „War es der Ausdruck einer Laune oder der einer Überzeugung, der Sie vom ſchönſten Ziel, dem Glücklich⸗ ſein, ſprechen ließ?“ begann ſie. Ihre Frage verletzte Konrad ebenſoſehr, wie ihre erſte Anrede. Wie kam dieſes fremde Mädchen dazu, alle Stufen und Stationen des Bekanntwerdens zu überſpringen, die ſolchen Unter⸗ haltungen vorangehen müßten? Dabei lag nichts Auf⸗ dringliches, nichts intim ſein Wollendes in ihrem Weſen. „Keines von beiden,“ entgegnete er zurückhaltend, „ſondern der eines momentanen Wohlbefindens.“ Eine leiſe Enttäuſchung malte ſich in ihren Zügen. Sie ant⸗ wortete nicht, ſondern ſah von nun an an ihm vorbei. „Ich würde den Ausſpruch des Herrn Barons als Überzeugung hochſchätzen und mit Ihrem Ziele für iden⸗ tiſch halten,“ meinte Pawlowitſch mit dem ſcharfen Akzent des Ruſſen, zu Elſe Gerſtenbergk gewandt „Ihr Glück⸗ lichſein iſt glücklich machen.“ „Unſer alter Streit,“ rief ſie lebhaft, „Sie wollen negieren, was groß und ſtark iſt: Aufopferung, Selbſt⸗ verleugnung, Hingabe. „Regieren — nein! Rur ihrer Erhabenheit entkleiden. In Elſes blaſſe Wangen ſtieg das Rot der Erregung. 46 „Wollen Sie vielleicht behaupten, daß die Jahre auf der Peter⸗Pauls⸗Feſtung, die Ihre Geſundheit unter⸗ gruben, daß der Aufenthalt Ihrer Freunde und einſtigen Kampfgefährten in Sibirien, daß der Tod von Tauſenden für die Sache der Freiheit nichts als Folgen egoiſtiſcher Handlungen ſind?! „Egoiſtiſch! Sie lieben es, Worte zu brauchen, deren Inhalte feſtſtehen, wie Bronzeguß in der Form, entgegnete mit einem faſt geringſchätzigen Achſelzucken Pawlowitſch, „wir ſollten andere ſuchen, ſolche, denen erſt der Inhalt Form zu verleihen vermag. Die beiden Freunde hatten zuhörend dabeigeſeſſen. „Sie gehen, wie mir ſcheint, Fräulein Gerſtenbergks Frage aus dem Wege“, warf Warburg dazwiſchen. Pawlowitſch ſah mit vielſagendem Blick ringsum; der enge Garten mit den dicht aneinander gerückten Tiſchen hatte ſich gefüllt; man berührte den Rachbarn mit Rücken und Ellenbogen. „Sie kennen das Sprichwort von den Perlen und den Säuen,“ ſpottete Elſe, „es gehört zu den wenigen Grundſätzen von Pawlowitſch.“ „Ich haſſe es“, ſiel Konrad mit ſo ſtarker Betonung ein, daß ſich aller Blicke ihm zuwandten. „Von Perlen verſtehen die Schweine nichts, was ſchadet es alſo den Perlen, wenn ſie vor ihre Füße fallen? Aber vielleicht wäre ein armer Dichter Hungers geſtorben, wenn er ſie nicht im Vorübergehen gefunden hätte? Wer nicht ver⸗ ſchwenden kann wie die Ratur, die Milliarden von Lebenskeimen verſtreut, damit hunderte aufgehen, der“, er ſtockte, es ſchien ihm unhöflich, ſeiner feindſeligen Stimmung gegen den Ruſſen Ausdruck zu geben. „Run?!“ lächelte Pawlowitſch ſarkaſtiſch, „Sie ſtrafen Ihre eigene Theorie Lügen, wenn Sie die letzte Ihrer Perlen verſchlucken. „— iſt ſelbſt ein Bettler“, vollendete Konrad ſcharf. Der Ruſſe maß ihn ſtatt aller Antwort von oben bis 47 unten und wandte ſich mit einer Wendung, die den Stuhl ins Wanken brachte, an Warburg. „Sie ſind ſtets der Klügere: Sie ſchweigen“, ſagte er. „Kommen Sie morgen abend in meine Vorleſung? Richt um ihrer ſelbſt willen. Ich ſpreche über deutſche Literatur. Eine alte Liebe; aus meiner Berliner Stu⸗ dentenzeit. Aber eigentlich eine Unverſchämtheit von einem Ausländer. Trotzdem wird Sie's intereſſieren. Wegen des Publikums. Ich habe ein paar klare Köpfe unter den Hörern. Arme Großſtadtjungens. Mit feſten Zielen, ohne Träume. Warburg nickte: „Gern. Jede neue Welt, die ſich eröffnet, iſt eine Bereicherung.. „Das hätten Sie nicht tun ſollen“, flüſterte Elſe in⸗ deſſen Konrad zu. „Er opferte alles ſeinen Idealen, und was er jetzt zuweilen ſagt, enthüllt nur ſein ver⸗ bittertes Gemüt. Gerade Ihnen könnte er vieles geben.“ Konrads Stirn rötete ſich. Er bereute ſeine Schroff⸗ heit. Mit welchem Recht hatte er ſich ein Urteil heraus⸗ genommen, er, der nichts, gar nichts war! „Wie meinen Sie das?“ frug er in aufrichtiger knaben⸗ hafter Beſcheidenheit. „Ich ſehe nur, daß Sie ſehr jung ſind“, antwortete ſie. „Und töricht und leer, wollen Sie ſagen. „Töricht — vielleicht! Aber wie einer, der nach Weis⸗ heit verlangt. Und leer wie einer, der ganz erfüllt ſein möchte.“ Die Worte fielen ruhig, faſt geſchäftsmäßig von des Mädchens blaſſen, ſchmalen Lippen und wirkten trotz⸗ dem auf Konrad wie ein plötzlich aufgeriſſener Fenſter⸗ laden auf die übernächtigen Augen des Kranken. Wer war ſie? Forſchend ſtrich ſein Blick an ihr entlang. Sie war nicht hübſch; klein, zart und olaß, und eine Kühle umgab ſie, die ſich abwehrend zwiſchen ſie und alle anderen ſchob. Ihre Hände aber, die übereinander⸗ gelegt auf der weißen Tiſchplatte lagen, ſchienen ihr 48 ganzes Weſen Lügen zu ſtrafen; an ihnen blieb Konrads Blick haften. Sehr weich und weiß waren ſie, wie knochen⸗ los; die Rägel an den ſpitzen Fingern ſo durchſichtig zart, wie ein Roſenblättchen im Spätherbſt — Hände, zum Streicheln geſchaffen. Empfanden ſie, wie ein Mädchen, das arglos ſeine Schönheit enthüllt und ſich plötzlich fremden Augen gegenüber ſieht, Konrads Stau⸗ nen? Sie glitten vom Tiſch und verſteckten ſich in nonnen⸗ grauen Kleiderfalten. Konrad ſah auf. „Erfüllt ſein, ſo erfüllt von einem einzigen großen Gedanken, einem einzigen beherrſchenden Gefühl, daß nichts anderes Platz hat daneben, daß es nur einen Weg, ein Ziel gibt — wie herrlich muß das ſein! ſagte er. Pawlowitſch, der kaum zugehört zu haben ſchien, wandte ſich ihm ebenſo raſch wieder zu, als er ſich abgewandt hatte. „Die größte Grauſamkeit iſt es. Selbſtmord. Rur ein hirnloſer Spieler ſetzt alles auf eine Karte.“ „Oder ein Held!“ rief Konrad lebhaft. Pawlowitſch ſchnitt eine Grimaſſe, wie einer, dem eine Mücke aufs Augenlid ſticht. „Held! Vermeiden wir doch die großen Worte! Übrigens: wenn Ihr „Held“ alles verliert?! 41 „En behält ſich ſelbſt und hat damit im Grunde nichts verloren.“ In Pawlowitſch' Augen blitzte es flüchtig auf. Er ſtreckte Konrad über dem Tiſch die Hand ent⸗ gegen. „Sie ſcheinen ja wer zu ſein,“ ſagte der Ruſſe, „nicht bloß ein Körnchen mehr, das unſere große Mühle in den allgemeinen Mehlbrei ſtampft. Aber was, zum Teufel, hat Sie in der Blüte Ihrer Jugend in dieſe Hölle verdammi?! ¹ „Die Sehnſucht nach dem Leben,“ entgegnete Konrad. Als ob er des Freundes pathetiſche Frage ins alltäg⸗ lich Verſtändliche überſetzen müßte, fügte Warburg hinzu: Braun, Lebensſucher 4 49 „Schon ſeit zwei Jahren waren wir entſchloſſen, ge⸗ meinſam in Berlin zu ſtudieren. Sie ahnen wohl kaum, wie ſchwer die Luft einer Stadt, wie Bamberg, auf jungen Köpfen laſten muß. „Einbildung, nichts als Einbildung!“ rief Pawlo⸗ witſch. „Bamberg, eine Stadt, bis zum Rande ge⸗ füllt mit Traditionen, voll ehrwürdiger Schönheit und Heimlichkeit, mit ſtillen Winkeln zum Träumen! Was für ein Kerl könnte aus einem Menſchen werden, der in ſolch einem Reſte wurzelt! Aber Berlin — die Groß⸗ ſtadt — der die jüngſten der Gelbſchnäbel jetzt ihre Maienlieder ſingen! Haben Sie einmal von der afri⸗ kaniſchen Zauberſchlange gehört? Sie rollt ihren gleißen⸗ den Leib in der Sonne zuſammen, wenn ſie Hunger hat, ſtreckt den zierlichen Kopf in die Höhe, läßt die großen funkelnden Augen rollen und das ſpitze feuerrote Züng⸗ lein ſpielen, während ihrem Körper ein berauſchender Duft entſtrömt, wie —“ In dieſem Augenblick ging draußen mit einem leichten Wiegen der üppigen Hüften eine Frau vorüber; ein weißer Seidenrock umſpannte eng ihre Formen, während der faltige ſchwarze Tüll, der darüber fiel, wie der Schleier der Türkin wirkte, der, ſtatt zu verhüllen, nur zum genaueren Sehen ver⸗ lockt. Pawlowitſch ſtockte ſekundenlang, zog den Hut ein wenig läſſig und lächelte ihr zu, um dann, während ſie ganz langſam weiterging, mit lauter Stimme fort⸗ zufahren: „Ein Duft, wie von der Haut eines ſehr reifen, ſehr üppigen Weibes. Alles Getier taumelt der Schlange, ſolange ſie hungert, von ſelber zu. Und Berlin hungert immer.“ Er ſchwieg, ſichtlich zerſtreut. Die Sonne hatte ſich geſenkt. Fröſtelnd, und um einen Schein blaſſer, erhob ſich Elſe. „Wir wollen gehen“, ſagte ſie. Keiner achtete darauf. Konrad ſtarrte mit großen Augen die Straße herunter: das weiße Auto, die Rixe mit den Perlen im Haar?! 50 Rein — nein! Wie konnte er die Schöne nur durch dieſen Vergleich beleidigen! Pawlowitſch ſtand auf. Elſe erhob ſich zu gleicher Zeit, als wäre das ſelbſtverſtändlich. „Kann ich Sie beide morgen abend erwarten?“ frug er, nun wieder ganz Herr ſeiner ſelbſt. „Gewerkſchafts⸗ haus. Kleiner Saal. Fragen Sie nur nach dem Vor⸗ tragskurs: Literaturgeſchichte.“ Die Freunde nickten zu⸗ ſtimmend. Am Ausgang — Konrad hielt die weiche Hand Elſens in der ſeinen — ſchien ſie zu zögern, den Mund zu einem Wort öffnen zu wollen. Es blieb unausge⸗ ſprochen. Als ſie gegangen waren, wandte ſich Konrad fragend an Warburg: „Wie ſtehen die zueinander? „Sie iſt, ſo ſagt man, ſeine Frau. Eine der vielen freien Ehen, die hier gang und gäbe ſind. Rur, daß für den weiblichen Teil, wie mir ſcheint,“ und er knipſte ſich nachdenklich ein paar Brotkrümchen vom Armel, „die Freiheit illuſoriſch iſt! In dieſem Augenblick betrat eine Gruppe junger Leute den Garten; ſie waren faſt alle im Tennisdreß, hatten ſchlanke, oft überſchlanke Geſtalten, bartloſe, gebräunte Geſichter. Einer, der ſtattlichſte von ihnen, fuchtelte mit dem Racket in der Luft herum, auf das voran⸗ ſchreitende Mädchen lebhaft einſprechend. Warburg zog vor der Räherkommenden den Hut. Im Kolleg des berühmten Mediziners war ſie ſeine Rachbarin. „Sie ſind es!“ rief ſie lebhaft, ihm die Hand kamerad⸗ ſchaftlich entgegenſtreckend. Sie ſtellte ihn ihren Be⸗ gleitern vor. „Mein Geſinnungsgenoſſe!“ fügte ſie triumphierend hinzu, um, zu Warburg gewendet, er⸗ klärend fortzufahren. „Eben haben ſie noch das Blaue vom Himmel herunter geredet, um mir zu beweiſen, daß Frauenſtudium ein Widerſpruch in ſich iſt. Ich bin ſchon ganz heiſer vor lauter Verteidigung, denn Männer 4* 51 müſſen, wenn ſie ſich mit unſereinem ſtreiten, mehr über⸗ ſchrien als überzeugt werden. Jetzt überlaſſe ich Ihnen die Waffen. Sie haben ſchon geſtern nach dem Kolleg bewieſen, daß Sie fechten können. Warburg fühlte ſich ſichtlich befangen, denn aller Augen ruhten nicht ohne leiſen Spott auf ihm. „Ich finde die Frage ſo einfach, daß ich ſie als ſolche gar nicht mehr anſehen kann“, ſagte er zögernd. „Wenn die Fraueu etwas leiſten, zund das haben ſie in der Medizin zum Beiſpiel ſchon bewieſen, ſo kann die Be⸗ rechtigung zum Studium ihnen nicht mehr abgeſprochen werden.“ Der, den die Studentin als Rolf Eulenburg vorge⸗ ſtellt hatte, lachte. „Sie machen ſich's leicht, mein Lieber! Ich werde nächſtens im Seminar nach Ihrem Beiſpiel die Theſe verfechten: weil die Weiber im Bergbau un⸗ zweifelhaft mal was geleiſtet haben, müſſen ſie wieder in die Erde kriechen. Rein — das iſt alles Blech fuhr er dann, ernſter werdend, fort, „fadenſcheinige Be⸗ weiſe. Sehen Sie ſich nur das Mädel an, teuerſter Frauenlob. Vor zwei Jahren ſprangen wir zuſammen als fidele Wandervögel über das Johannisfeuer: ich ein ſchlakſiger blaſſer Bengel, ſie eine rote Herzkirſche. Und jetzt?! Ich bin —“ er reckte die Arme, daß der breite Bruſt⸗ kaſten hervortrat und drehte den Kopf mit der gebräunten Stirne, den friſchen Lippen und hellen Augen ſieges⸗ bewußt nach allen Seiten, „ſie aber iſt kreideweiß, hat mit ihren zwanzig Jahren ſchon ſo'n Strich um den Mund, wie die Frauenrechtlerinnen, wenn ſie die Männer begeifern, und fängt an — nimm's mir nicht übel, Hed⸗ wig — dem ſchlakſigen Bengel von damals verdammt ähnlich zu ſehen.“ „Deine Beweiſe zeugen von echteſter Männerlogik, rief ſie mit blitzenden Augen, „wenn ich, wie du, die Hör⸗ ſäle nur von außen betrachten würde, meine Tage beim Reiten und Schwimmen, bei Tennis und Fußball ver⸗ 52 trödelte, dann wäre ich die zu einem bloßen Muskel⸗ menſchen paſſende Kuhmagd „Alſo: ein Weib“, warf Eulenburg heftig ein. „Dafür aber bedanken wir uns!“ klang ihre ſcharfe Entgegnung; „wir wollen erobern, was bisher euer all⸗ einiges Beſitztum war und was ihr gering ſchätzen lerntet, weil es euch niemand ſtreitig machte: das Reich der Wiſſenſchaft. Aus dem Überſchuß brachliegender geiſtiger Kraft heraus ringen wir um unſere Menſchwerdung. „Und wir?!“ der Mann und das Mädchen ſtanden ſich einen Augenblick lang wie zwei ſprungbereite Raub⸗ tiere gegenüber, „aus dem Überſchuß unſerer brach⸗ liegenden Körperkräfte um die unſere! Wir haben es ſatt, bloße Gehirnmenſchen zu ſein, das heißt: Väter von Trotteln.“ Hedwig Mendel wandte ſich ab, während Eulenburg, zu den anderen gewendet, ruhiger weiter ſprach: „Da habt ihr ihn wieder, den unheilvollen Gegen⸗ ſatz der Geſchlechter: während wir uns endlich unſerer Männlichkeit erinnern, werden die Weiber —“ Er voll⸗ endete nicht. „Es entwickelt ſich naturgemäß ein anderer, geiſtiger, in ſeiner Art ſchönerer Frauentypus“, ſagte Warburg, durch einen dankbaren Blick Hedwigs belohnt. „Waren Sie ſchon mal auf einem Frauenkongreß?! frug der ſtarrköpfige Widerſacher. Warburg ſchüttelte den Kopf. „Ra alſo!“ meinte der andere ſarkaſtiſch. „Sie reden wie'n Tauber vom Flötenſpiel“, ſekundierte ihm ein ſchmächtiger Jüngling, ſich mit den langen Fin⸗ gern, an denen die Rägel auffallend glänzten, durch die ſpärlichen blonden Haare fahrend. „Eine denkende Frauenſtirn wird faltig, ein Frauenmund, der doziert, wird herb.“ „Die Studentinnen, die ich bisher geſehen habe, be⸗ weiſen das Gegenteil“, erwiderte Warburg ſehr beſtimmt. „Glauben Sie denn, daß der Rorden ſeine Erfah⸗ rungen an Ort und Stelle geſammelt hätte? 53 „Der weiß nicht mal, wo die Univerſität iſt“, lachte es vielſtimmig durcheinander. Eine allgemeine Unter⸗ haltung entſpann ſich. Dieſen Augenblick ſchien Eulen⸗ burg erwartet zu haben. Er wandte ſich ganz dem Mädchen zu und beugte im Eifer der Rede den Oberkörper immer weiter vor, während ſeine Stimme zu einem Flüſtern herabſank. „Weißt du, woran du dich zur Mitſchuldigen machſt? An einer Sünde wider die Ratur, ſo einer, die nicht vergeben werden kann. Ihr wollt unſre Kameradinnen ſein, unſre Arbeitskollegen, — ſei's drum! Das gelingt vielleicht. Wir werden mit euch über Gott und Welt debattieren, euch unſre Seelenkämpfe anvertrauen — mit heißem Kopf, aber mit kaltem Herzen!“ Er ſah ſich um. Die anderen waren ſo vertieft im Geſpräch, daß ſie ſeiner kaum noch achteten. Er rückte ihr ganz nahe und ſchien ſie mit den Augen zu umfaſſen, „denn lieben, weißt du, lieben — in die Arme nehmen und küſſen und herzen, werden wir die anderen: die dummen, weichen, runden Mädels.“ Sie bog ſich mit einer energiſchen Gebärde weit zurück, ihre Augen funkelten: „Für dich und deinesgleichen magſt du recht haben,“ ſagte ſie hochmütig und ohne die Stimme zu ſenken, ſo daß die Tiſchgeſellſchaft unwill⸗ kürlich aufhorchte, „wer von uns würde euch aber auch eine Träne nachweinen.“ Und ſie wandte ſich, die Möglich⸗ keit einer Antwort abſchneidend, an Konrad, den einzigen, der bisher ſtumm geblieben war: „Sie denken in der Frauenfrage wie Ihr Freund?“ Es entſpann ſich eine Unterhaltung ohne inneren Anteil; Konrad fühlte, daß ſie ihr eine Hilfe war, und ging mit erzwungener Leb⸗ haftigkeit darauf ein. „Kellner, einen Whisky!“ rief Rolf Eulenburg grimmig, und ſtürzte das Getränk, ſobald es ihm gereicht wurde, haſtig hinunter. Dann ſtand er geräuſchvoll auf, ohne daß Hedwig es zu beachten ſchien, ſtieß heftig ſeinen 54 Stuhl zur Seite und wandte ſich, die Hände in den Hoſentaſchen, zwei Mädchen zu, die mit vielſagendem Lächeln und langen Blicken ſchon längſt die Verbindung mit den jungen Leuten am Tiſch vor ihnen hergeſtellt hatten. „Süß iſt die Rini heute,“ hatte Konrad den blaſſen Jüngling mit den breiten Raſenlöchern neben ſich flüſtern hören. „Totſchick“, ſekundierte ein anderer, das reizende Perſönchen gegenüber in dem engen feuerroten Kleid von den ſchmalen Lackſchuhen und dünnen Strümpfen bis zu der kecken Zipfelmütze über dem Bubengeſicht ſachkundig muſternd. Und ſie reckte und ſtreckte ſich, fuhr mit der gepflegten, nur etwas zu kurzen Hand über die runde Hüfte, wippte mit den ein wenig zu breiten Füßchen, ſo daß das ebenmäßige Bein, das nur an der Feſſel hätte ſchlanker ſein müſſen, bis zu den Knien ſichtbar wurde; neſtelte dann an dem tiefen Ausſchnitt ihrer Bluſe, bis die beobachtenden Augen drüben dem Spiel ihrer Finger folgten und den Leber⸗ fleck entdeckten, der herausfordernd zwiſchen dem Anſatz ihrer Brüſte ſaß. Man unterhielt ſich über ſie, zuerſt leiſe, dann lauter; es klang aufreizend, wie das Geſumme eines Bienen⸗ ſchwarmes: „Jetzt hat ſie der Grote —" „Und tanzt mit ihr Tango—" „Und füttert mit Verſen das hungrige Mäulchen—" „Die ſüße Muſe erotiſcher Dichtung—" Man lachte, zwinkerte mit den Augen, paffte Ziga⸗ rettendampf in breiten Ringen in die nach Welken und Modern duftende Herbſtluft. Dann ſiel leiſe Eulenburgs Rame — einmal — ein zweites Mal. Und man lachte wieder. „Ihnen widerſtrebt alſo der Gedanke an eine gelehrte Frau?“ ſagte Hedwig mit einem abweſenden, gezwungenen 55 Lächeln; ihre Hände ſpielten nervös mit der Schleife an ihrem Gürtel, ihre Stimme zitterte leiſe. „Meiner Empfindung, gewiß,“ antwortete Konrad gequält; — er hatte die Unterhaltung krampfhaft auf⸗ recht erhalten, um das Mädchen von der Szene abzu⸗ lenken, die ſich vor ihm abſpielte — „wenn auch nicht meinem Verſtande. Das ſind ſtets die beiden unver⸗ ſöhnlichen Gegner in mir. Doch ſie hörte nicht mehr, was er ſagte. Sie ſtand auf, wobei ſie mit dem Knie gegen den Tiſch ſtieß. Gläſer und Taſſen klirrten aneinander. Sie ging, ohne ſich umzuſehen. Die jungen Männer ſenkten die Köpfe, einige erröteten wie ertappte Sünder. Eulenburg, der bisher am Tiſch nebenan überlaut geſchwatzt und gelacht hatte, verſtummte, warf ein paar böſe Blicke hinüber und rief: „Hat ihr einer von euch weh getan? „Wer anders, als du ſelbſt“, klang es dagegen. „Ich hab' ein Recht dazu, daß ihr's wißt, aber ihr — ihr“ — er ſtand jetzt mitten unter ihnen und hob die Fauſt — „hütet euch! Mit einem ſpöttiſchen Lächeln ſah der Sommerſproſſige dem Zornigen in das rote Geſicht. „Du biſt mir gar der Rechte, ſie auszulachen!“ fuhr Eulenburg fort, „läufſt als ein Sportsmann, alſo als ein Richtstuer herum und haſt keinen Reſpekt vor einem armen Mädel, das ſich ſchindet. Ich werd' ihn dir bei⸗ bringen, hörſt du?“ Die anderen ſuchten ihn zu beruhi⸗ gen: er aber machte mit Ellenbogen und Schultern ein paar verächtliche Bewegungen. „Soupier' noch mal mit dem Grote, Rini“, rief er mit einer halben Wendung des Kopfes, und ſtreckte gleich darauf Warburg die Hand entgegen. „Sie ſtanden ihr bei“, und zu Konrad gewandt: „Sie auch. Ich danke Ihnen.“ Er ſah ihm gerade ins Geſicht: „Wie wohl⸗ tuend jung Sie ſind. Kommen Sie. Ich muß mir den Arger verlaufen. 56 Und ſie gingen, als wären ſie alte Freunde. Eulen⸗ burg ſprach wie ein entfeſſelter Sturzbach: „Ich zanke mich immer mit ihr — immer! Aber ich wüte im Grunde nur gegen mich ſelbſt, weil ich nicht los kann. Iſt es nicht ein gültiger Beweis für den teufliſchen Urſprung unſerer Weltordnung, daß zwei, wie wir, ein Dutzend Prachtexemplare der Menſchheit in die Welt ſetzen könnten —“ Konrads halb erſtaunter, halb verletzter Blick traf ihn. Er lachte. „Ach ſo! Bei Ihnen ſpricht man noch augenverdrehend von Roſen und Ver⸗ gißmeinnicht, wenn man liebt?! Wir ſind wahrhaftig geworden, brutal, wenn Sie wollen, wie die Wirk⸗ lichkeit, die ſcheußliche Wirklichkeit, die das Mädel wie ein ſaftloſes Blatt“ — er ſtieß mit dem Fuß an einen Haufen raſchelnden Herbſtlaubs — „vom Baum des Lebens fallen läßt, und den Mann zwingt, ſich an perverſe Frauenzimmer wegzuwerfen. „Zwingt?!“ wiederholte Konrad gedehnt. Und Warburg meinte bedächtig: „Iſt es nicht ein Zeichen von Dekadenz, den Regungen der Sinne ſo haltlos folgen zu müſſen, ſie überhaupt ſo wichtig zu nehmen? „Ganz im Gegenteil!“ antwortete der andere. „Was als Dekadenz erſcheint — Sie haben wohl auch draußen im Reich von braven Philiſtern, die die eigentlich de⸗ kadenten ſind, ſchaudernd von ihr reden hören?! — iſt nur franzöſelnder Firnis, krampfhaft eingeführt, weil wir nun mal Narren der Kultur ſind, und alles, was drüben glänzt, mit ihr verwechſeln. Unſere erwachte Sinnenfreude iſt Bejahung des Lebens. Daß wir dabei über die Stränge ſchlagen, iſt auch nur ein Zeichen von Kraft — einer überſchüſſigen leider, weil uns in dieſer dummen Welt nirgends Gelegenheit geboten wird, ſie in Leiſtungen umzuſetzen.. In dieſem Augenblick ſtrömten den Wandernden aus den langſam ſich ſchließenden Kauf⸗ und Bureauhäuſern 57 die Scharen der männlichen und weiblichen Angeſtellten entgegen. „Wie!“ rief Warburg, unwillkürlich ſtehen bleibend, „in dieſer Stadt raſtloſer Arbeit klagen Sie um den Mangel an Leiſtungsmöglichkeiten! „Die verſchiedenen Methoden großſtädtiſchen Geld⸗ erwerbs ſind doch keine Leiſtungsmöglichkeiten in meinem Sinn“, antwortete Eulenburg. „Glauben Sie, daß die Mädels durch Leiſtungen, die ihren natürlichen Wünſchen und Fähigkeiten entſprächen, bleichſüchtig und ſchmal⸗ brüſtig würden, wie die da?! Und ſich nun denken zu müſſen, daß ſolche, wie die Hedwig, ſich in die Unnatur auch noch krampfhaft hineinſteigern! Wenn der Ver⸗ ſtand den letzten Reſt von Inſtinkt auch in den Weibern vernichtet hat, und ſie umherlaufen wie wohlkonſtruierte Rechenmaſchinen, deren Exempel immer ſtimmt, dann möcht' ich, bei Gott, an dem Aſt da baumeln, und dem geſamten Kurfürſtendamm die blau angelaufene Zunge entgegenſtrecken. Es war dunkler geworden. Die drei Gefährten ſtan⸗ den abſchiednehmend auf dem Platz vor dem großen Kaufhaus, hinter deſſen Spiegelſcheiben es von Seide und Spitzen, Blumen und Federn gleißte und glänzte. Sie tauſchten, in der Abſicht häufigen Verkehrs, ihre Adreſſen aus. „Bei der Wanda Fennrich wohnen Sie?“ ſagte Eulen⸗ burg ſichtlich überraſcht zu Konrad. „Wie gefällt es Ihnen? „Ich ſoll es ſelbſt noch erfahren“, antwortete dieſer. „Bis jetzt war ich im Hotel.“ Eulenburg zwinkerte vielſagend mit den Augen: „Ra — wohl bekomm's! ſagte er. Sie trennten ſich. Konrad nahm ein Auto und fuhr in die innere Stadt. Die neugierige Ungeduld, die ihn, je weiter er kam, deſto ſtärker beherrſchte, ließ Vergan⸗ genes und Gegenwärtiges mehr und mehr als Rebel⸗ 58 bilder erſcheinen, die ſchließlich am Horizont ſeiner Ge⸗ danken träumeriſch ineinander verſchmolzen. Sein eigenes Heim erwartete ihn — nach Wochen unruhigen Hotel⸗ lebens zum erſtenmal. Er hatte Giovanni, der ſich mit erſtaunlicher Schnelle in Berlin zurechtfand, das Suchen danach überlaſſen und ihn von da ab kaum mehr ge⸗ ſehen. Zuweilen nur entdeckte er ihn, irgendwo im Straßengewühl, wie er ſich eilig und ſcheinbar ohne rechts und links zu ſehen hindurchwand. Hie und da erſchien er am frühen Morgen an ſeinem Bett, um ihm nichts als ein „niente“ achſelzuckend zuzuflüſtern. Heute aber war er wie ein Sieger gekommen, das ganze Geſicht von Lachen erhellt, und hatte alle Kam⸗ merdienerallüren vergeſſen, als er dem noch Verſchlafenen in überſtürzender Haſt von ſeiner Entdeckung erzählte: „eine bildſaubere Wirtin, ſchwarz und ſtattlich — und wie ſie ſich freute! Richt wie die anderen alten Hexen, die einen ſchon an der Türe muſterten, als wäre man ein Strolch! Rur ein paar komiſche kleine Hunde hat ſie — der Mann iſt tot — und eine Tochter. Die Zimmer mit großen Stühlen und breitem Bett. Gut ſollſt du's haben, bambino mio — ſehr gut.“ Dabei hatte er Konrad, als wäre er der Knabe von einſt, den blonden Kopf geſtreichelt. Der hatte kaum hingehört und von allem Geſchwätz nur eins verſtanden: daß der ſtille Winkel gefunden war, nach dem er ſich ſehnte. Jetzt — endlich! — würde er zu ſich ſelber kommen. Er war ſich bewußt, daß dies eine Rotwendigkeit war, wenn er den Wirbelwinden Berlins nicht zum haltloſen Spielzeug werden ſollte. Irgendetwas, deſſen er ſich nicht bewußt wurde, ließ ihn aus ſeinen Träumen auffahren; es war wohl die Stille, nachdem eben erſt der Lärm der Stadt in Räder⸗ rollen, Klingeln, Tuten und Traben um ihn getobt hatte; hier, auf dem ſchmalen Platz, in den die große Straße plötzlich mündete, ſpielten kleine Kinder, größere um⸗ 50 kreiſten ihn auf Rollſchuhen, und vor den Vorgärten ſaßen rundliche Frauen, die Hände im Schoß ver⸗ ſchlungen, und behäbige Männer, die Füße in geſtickten Hantoffeln behaglich von ſich ſtreckend. Sie ſahen alle auf — verwundert, erſchrocken, ja geärgert, als die Hupe des Autos, das Konrad brachte, ihre Feierabend⸗ ruhe unterbrach. Roch ehe er ausſtieg, ſiel ſein Blick auf den großen, tiefen Garten, der den Platz erſt zu einem Platze machte, denn ſein Gitterwerk mit den hohen Büſchen dahinter war wie ein Damm, an dem der Strom der Straße ſich brach, gezwungen, zurückzufluten, woher er gekommen war. „Die Sternwarte,“ ſagte der Chauffeur. Aus dem Grünen ragte eine große Kuppel hervor, die hell erleuchtet war; alle anderen Häuſer ſtanden ringsum in ihren einfachen, glatten grauen Kleidern und ſahen aus vielen kleinen Lichtaugen in ehrfürchtigem Staunen auf ſie. Giovanni kam ſeinem Herrn entgegen. Er ſchien hier ſchon ganz heimiſch, denn die Kinder unterbrachen ihr Spiel, als ſie ihn ſahen, und drängten ſich um ihn. „Ein Kunſtſtück, Onkel,“ quälten ſie, „das mit dem Ball.“ — „Rein, mit den Karten.“ — „Oder dem Groſchen“. Und ein kleines Ding hielt ihm in gläubiger Bitte die zerbrochene Puppe entgegen: „mach' ſie wieder ganz.“ Aber er ſchob ſie von ſich — vorſichtig, väter⸗ lich, um keines zu verletzen — und führte Konrad ins Haus, die Treppen hinaufeilend, wie ein Junger. „Iſt das die Himmelsleiter, Alter?“ rief dieſer ihm lachend zu, „Jakob hat ſie ſicher weniger hoch geträumt! Oben öffnete ſich eine Tür, die Silhouette einer brü⸗ netten, üppigen Frau ſtand ſcharf umriſſen vor dem hellen Hintergrunde. Aber noch ehe Konrad ſie begrüßt hatte, ſchlüpfte eine Geſtalt aus der Tiefe des Flurs, an der ſein Blick hängen blieb; etwas zwerghaft kleines in ein buntes Tuch gehüllt, ein ſchmales, ſehr weißes Geſicht, aus deſſen Oval zwei große traurige Augen 6o ſtrahlten, die ſich entſetzt zu weiten ſchienen, als ſie des Gaſtes anſichtig wurden. „Gina!“ rief die Frau an der Türe drohend; das kleine Weſen zuckte ſchmerzhaft zuſammen und machte eine Bewegung wie zu raſcher Flucht, aber die Füße ſchleppten ſie nur langſam rückwärts; dabei ſiel das Licht der Lampe auf einen Höcker, den es als ſchwere Laſt über den Schultern trug. Zwiſchen zwei Vor⸗ hängen, die es mit einer weißleuchtenden Kinderhand nur ein wenig zur Seite ſchob, verſchwand es. „Meine Tochter“, ſagte die Frau nach ſekunden⸗ langer verlegener Stille wie entſchuldigend, und öffnete eilfertig die nächſte Türe, hinter der das Licht auf⸗ flammte. Sie war vorausgegangen und wandte im gleichen Augenblick, als wäre die Wirkung der plötz⸗ lichen Helle im voraus berechnet geweſen, den Kopf; ihr blühend ſchönes Geſicht, von dem roſigen Schimmer der Wangen, dem feurigen Rot der Lippen, dem Auf⸗ blitzen der goldbraunen Augen durchleuchtet, war Konrad ſo nahe, daß er das Ausſtrahlen ſeines Glanzes wie prickelndes Feuer zu fühlen meinte; aber zu gleicher Zeit hatte er den harten Ton noch in den Ohren, vor dem die kleine Bucklige davongeſchlichen war. Die Frau empfand: mit dem förmlichen Dank, den der junge Mieter ausſprach, war ſie entlaſſen. Jetzt erſt ſah er ſich um: ein Zimmer voll alter Tep⸗ piche. In ſattem Grün hing einer an der Wand wie ein Blick in Waldestiefe; in verblichenem Blau lag ein anderer auf dem Boden, wie ſehr ſtilles, flaches Ge⸗ wäſſer; in mattem Gelb deckte ein dritter den Diwan, wie am Frühlingsabendhimmel der ferne Horizont. Ganz dunkle, ſchwere Schränke ſtanden dazwiſchen, und mitten im Zimmer, groß und breit, wie der Altar eines fremden Götzen, der den ganzen Raum mit ſeiner grotesken Form beherrſchte, ein mächtiger Schreibtiſch. Zu gigan⸗ tiſchen Frauenbrüſten wölbten ſich ſeine geſchnitzten La⸗ 61 den, um die Schlangen und Eidechſen ſich ringelten und ſchmiegten, die ſpitzen Zünglein ſaugend an der harten Kuppe. Rur die Phantaſie eines Wahnſinnigen konnte dieſes monſtröſe Werk geſchaffen haben. Ein dunkler Blick aus Konrads Augen traf Giovanni, fragend, faſt vorwurfsvoll. „Fennrich war Bildhauer, Herr Baron,“ ſagte der unterwürfig, und mit leiſem Kichern und vielſagendem Augenaufſchlag: „die Frau ſein Modell;“ dann hob er den grünen Teppich: „Das Schlafzimmer“. Hier ſchien alles weiß und glatt und kühl. „Es iſt gut,“ nickte Konrad müde, um gleich darauf, als be⸗ ſänne er ſich, in hellerem Tone fortzufahren: „Du biſt und bleibſt ein Hexenmeiſter, Giovanni. Hab Dank. Ich hätte dergleichen nie gefunden. Doch haſt du für dich geſorgt? Der Alte öffnete eine Tapetentür: „Hier!“ Konrad ſah in einen ſchmalen Raum, deſſen Wände mit Kränzen und welken Blumen behängt waren, wie eine Toten⸗ kammer. „So wirf doch zuerſt das Zeug heraus“, ſagte er ärgerlich. Giovanni ſchien nicht hinzuhören. Er fuhr mit der Hand wie koſend über die raſchelnden Blätter. „Die Sehnſucht meiner Jugend war's, einmal unter ſolchen Trophäen zu ſchlafen. Daß es die Zeugen der Triumphe einer toten Tänzerin ſind, was tut's?! Und er lachte leiſe. „Das alles — iſt auch von ihr?“ frug Konrad, indes ſeine Augen von irgendeiner dunklen Erinnerung ge⸗ bannt an den Seidenfetzen hingen, die aus der alten Truhe neben dem Bette hervorquollen. „Das?!“ Des alten Mannes Stimme überſchlug ſich, um dann zur Tonloſigkeit herabzuſinken. „Das?!“ Er zog den Anzug ganz hervor: ein Pierrotkoſtüm vergilbt vom Alter, die Armel zerriſſen, mit großen grauen Flecken beſäet, an vielen Stellen wie von der ätzenden Farbe 62 zerfreſſen. „Darin tanzte ich, als Monna Lavinia ſtarb .. Gute Racht!“ Konrad war, als ob er dem Eindruck entfliehen müſſe, in das Zimmer mit den Teppichen und den Fratzen zu⸗ rückgekehrt. Gedankenlos öffnete er die Schränke und Laden. Da ſtand und lag in guter Ordnung, was er von Hochſeß und Bamberg mitgenommen hatte und vieler⸗ lei liebgewonnene heimatliche Dinge daneben, die ſeine Gedanken dankbar und gerührt zu der alten weißhaarigen Frau wandern ließen, deren Güte und Treue noch immer ſeines Herzens einziger Reichtum war. Er wollte ihr ſchreiben — gleich, heute noch, dachte er in überquellender Empfindung. Er ſuchte ſein Brief⸗ papier, das mit dem Wappen, der roten Roſe im ſilbernen Felde, und griff nach der Lade des Sekretärs. Um den aufwärts gerichteten Schlangenleib legten ſich ſeine Finger und berührten das ſeidenglatte gewölbte Holz darunter. Es war ganz kühl; ſeine Hand aber war ſehr heiß; er drückte ihre ganze Fläche dagegen, dann lehnte er ſich in den Stuhl zurück und ſeine Finger glitten träumeriſch ſtreichelnd über das Holz. Und wärmer und weicher wurde es. Seine Gedanken verwirrten ſich. Alles Erlebte wir⸗ belte in wüſtem Reigen um ſeinen heißen Kopf: Berlin — das Weib im weißen Wagen — Wanda, die Wirtin — Er riß die Augen auf — krampfhaft, gewaltſam. Daß es ihn ſtets aufs neue packte! Daß das heimlich ſchwelende Feuer ſeiner Sinne immer wieder auflodernd über ihm zuſammenſchlug! Aber er wollte nicht daran verbrennen — wollte nicht! Rur ſeine Kraft entzünden und ſeinen Willen. Er reckte ſich gerade auf, um im nächſten Augenblick wieder müde zuſammenzuſinken; das „Warum?“, das „Wofür?“ drückte ihn mit Zentner⸗ ſchwere nieder. Da, — wer hatte ihm dieſen Streich geſpielt? —, ſtand das Bild ſeines Vatets vor ihm auf 63 dem Schreibtiſch, ein Geſicht, kraftſtrotzend, lebensluſtig, mit dem Siegerlächeln in den lachenden Augen. Roch lagen ſeine Finger auf der Wölbung der Lade, doch ihm ſchien, als faſſe er Stellen, die rauh, andere, die klebrig waren. Er bückte ſich, die elektriſche Lampe herunter⸗ ziehend: die braune Beize war vielfach abgerieben — von allzuvielen Händen geſtreichelt — betaſtet — Ein Fröſteln durchlief ſeinen Körper. Er ſah das Zimmer wieder vor ſich mit den roten Plüſchſofas, den Rokokoſtühlchen, und der Batterie ge⸗ leerter Flaſchen auf dem Tiſch — das Zimmer, in das ſie ihn, den halb Betrunkenen, gröhlend geſchleppt hatten: „Weil er ein Mann werden ſollte—" Er ſprang auf, von Ekel geſchüttelt. So mochte auch ſein Vater zum Manne geworden ſein! Er riß das Fenſter auf: Die Kuppel der Sternwarte leuchtete noch immer einſam durch die Herbſtnacht. An ihren Glaswänden zeichnete ſich der Schatten eines großen, dunklen Rohres ab und dann der eines Mannes. Das Licht erloſch: Dort drüben ſaß nun wohl ein ſtiller Forſcher und erhob ſich zu den Sternen. Mit kühler Hand ſtrich die Racht über Konrads Stirne. Tiefe Ruhe überkam ihn. Auch er wollte neue Welten ſuchen und im Dunkel dem Lichte nachgehen. Aufatmend wühlte er ſich in die weißen Kiſſen. Und das ferne leiſe Weinen eines Kindes ſang ihn ein. 64 Drittes Kapitel Vom Suchen nach Erkenntnis, und von der kleinen Gina Vollendung Gleich am nächſten Tage, — er konnte den Beginn ſeines Studiums kaum mehr erwarten, — beſuchte er einen der Profeſſoren, an die er empfohlen worden war, und deſſen Rat er einzuholen gedachte. Der alte Herr ſtellte ihn gleich nach der Begrüßung vor die Frage, auf welchen Beruf er ſich vorzubereiten wünſche. „Darauf ſoll mir die Univerſität die Antwort geben“, erwiderte er freimütig, wenn auch in ſeinem Eifer ein wenig abgekühlt durch die geſchäftsmäßige Art des Ge⸗ lehrten. „Ich muß erſt finden, wofür es ſich lohnt, das Leben einzuſetzen. Der Profeſſor lächelte beluſtigt, im Grunde überzeugt, einen jener begüterten jungen Leute vor ſich zu haben, die das Studium zum Vorwand für einige ungebundene Jahre Großſtadtlebens benutzen, und war innerlich mit dem jungen Gelbſchnabel fertig, der noch dazu ſo große Worte brauchte, um ſeine Abſichten zu beſchönigen. Die Antwort beſtand denn auch nur in der Empfehlung einiger bekannten Dozenten. „Tout Berlin beſucht ihre Vor⸗ leſungen, beſonders der weibliche Teil, ſoweit er hübſch und berufslos iſt“, fügte er ſchmunzelnd hinzu, durch ſein weiteres Schweigen bekundend, daß er nichts mehr zu ſagen habe. Konrad verbeugte ſich ſteif und ging. Irgend eine klaſſiſche Erinnerung an das Verhältnis des Meiſters zum Jünger mochte ihm vorgeſchwebt haben, als er die Treppe zu dem berühmten Mann empor⸗ geſtiegen war, und nun war er erledigt, weil er ſich Braun, Lebensſucher 5 65 nicht von vornherein in ein abgeſtempeltes Fach ein⸗ ſchachteln ließ; nicht einmal der Verſuch eines näheren Eingehens auf ſeine Wünſche und Fähigkeiten war ge⸗ macht worden. Eulenburg, dem er davon erzählte, lachte ihn aus: „Die Leute werden dafür bezahlt, daß ſie uns Kenntniſſe beibringen; ſie haben, wenn ſie halbwegs anſtändig ſind, genug damit zu tun, und ſollten ſich noch mit unſeren Seelenleiden beſchäftigen!“ Daraufhin begann er, die erſte kleine Enttäuſchung raſch abſchüttelnd, ſich auf eigene Fauſt ein Programm zu machen. Er belegte, ohne Warnung und Rat Wohl⸗ wollender irgend zu beachten, eine Menge verſchiedener Vorleſungen: philoſophiſche, nationalökonomiſche, litte⸗ rariſche und kunſthiſtoriſche, ja naturwiſſenſchaftliche ſo⸗ gar, für die er durch Warburgs Berichte Intereſſe ge⸗ wann, und mit dem ganzen Hochgefühl eines Pilgers, der an der Schwelle des Heiligtums ſteht, von dem er das Wunder erwartet, betrat Konrad Hochſeß das ehr⸗ würdige Gebäude der Frideriziana Wilhelma. Er hätte ſich für den Schwung ſeiner Seele die Kuppel eines gotiſchen Doms gewünſcht; die niedrigen grauen Decken drückten ihn nieder, und als er in den Hörſaal trat, wo eine dichtgedrängte Schar von Studenten des berühmten Profeſſors harrte, deſſen philoſophiſche Vor⸗ leſungen ihm über Deutſchlands Grenzen hinaus einen Namen gemacht hatten, da erinnerte ihn der Anblick des weißgetünchten Raums, der braungeſtrichenen Pulte, der ſchwarzen Tafel und des Katheders darin ſo ſchmerz⸗ haft an die öden Klaſſenzimmer, daß es ihm eiskalt über den Rücken kroch. Lautes Getrampel empfing den Dozenten. Alle Blicke richteten ſich auf ſein Mephiſtoantlitz; ein paar elegante Damen hielten die langgeſtielten goldenen Lorgnetten vor die Augen. Dann begann er zu ſprechen: ſehr leiſe und langſam zuerſt; ſchließlich mit wachſender ſcharfer 66 Betonung der Konſonanten, was ſeine Stimme unge⸗ wöhnlich hart erſcheinen ließ, und begleitet von ſeltſam verrenkten Arm⸗ und Handbewegungen. Es war, als müſſe er den Faden ſeiner Gedanken mühſam ausein⸗ anderwickeln und ziehen, und dieſe Anſtrengung beſchäf⸗ tigte manche der Zuhörer mehr als ihre Reſultate. Konrad verſtand wenig; die für ſein Ohr gekünſtelte Sprechweiſe ſtörte ihn, und die vielen geiſtreichen Be⸗ merkungen, auf die alles mit glänzenden Augen wartete, um ſie dann trampelnd zu quittieren, ſchienen ihm der Würde der Sache nicht angemeſſen. Er fühlte ſich leer und müde, als er herauskam. Wie hungrig war er ge⸗ kommen, wie überhungert ging er fort! Auf dem Gang begegnete ihm Elſe Gerſtenbergk. Er freute ſich, inmitten der Scharen Unbekannter, die ſich, nach ihren Geſprächen zu ſchließen, jetzt ſchon auf Grund ihrer Berufe ſonderten, jemanden zu treffen, dem er ſich mitteilen konnte. „Profeſſor Görne iſt ein Gehirnequilibriſt, deſſen fabel⸗ hafter Geſchicklichkeit zuzuſehen die Rerven angenehm aufpeitſcht“, ſagte ſie. „Da Sie jedoch zunächſt nicht Seiltanzen lernen wollen, ſondern gerade gehen, rate ich Ihnen fürs erſte zu weniger glänzenden Ramen und weniger vollen Hörſälen“; und mit warmer Anteilnahme gab ſie ihm ihre Ratſchläge. „Sie ſtudieren wohl ſchon lange?“ frug er ſie, er⸗ ſtaunt über ihre Sachkenntnis. „Ja und nein,“ entgegnete ſie mit einem Lächeln; „als ich noch den Dr. phil. als letztes Ziel all meines Strebens anſah, war ich von unſtillbarem Wiſſenshunger erfüllt und verzichtete lieber auf alles, Ruhe, Vergnügen, Freude, als daß ich eine meiner Vorleſungen verſäumt hätte.“ Sie machte eine kleine Pauſe. „Jetzt komme ich nur noch, wenn Pawlowitſch nicht kommen kann. Sehen Sie, hier,“ und ſie zeigte ihm ein mit ſtatiſtiſchen Be⸗ rechnungen gefülltes Heft, „ich ſchreibe dieſe Zahlen für 5* 67 ihn nach.“ Ein Glockenzeichen ſchreckte ſie auf. „So ſpät ſchon!“ — und mit einem eiligen Händedruck lief ſie davon. Daß ſie ſo wenig Zeit für ihn hatte! Gerade in dieſem Augenblick hätte er ſich an ſie klammern mögen, wie ein ermatteter Schwimmer. In der nächſten Vorleſung traf er der Verabredung gemäß Warburg. Er fand ihn, wie ſtets wenn er ihn wiederſah, in ſteigendem Maße erfüllt von der Freude an ſeinem Studium. Das reizte ihn zu einem Gefühl, gemiſcht aus Reid und Enttäuſchung. Jede neue Tat⸗ ſache, die der Dozent vom Katheder herunter mit monotoner Stimme aus dem abgegriffenen, vielfach be⸗ nutzten Manuſkript vorlas, hinterließ einen hellen Glanz auf dem farbloſen Geſicht des Freundes, und lebhafter, als es ſonſt ſeine Art war, ſprach er nach dem Kolleg, während ſie Arm in Arm vor der Univerſität auf und nieder ſchritten, von der quellenden Fülle des Wiſſens, die von dieſem ehrwürdigen Hauſe ſeit einem Jahr⸗ hundert in die Welt ſtröme und durch die großen Ent⸗ deckungen der letzten Jahrzehnte an Reichtum immer noch zugenommen habe. „Das Unglück iſt nur, daß des Geiſtes Gefäß zu eng iſt, um alles aufzunehmen“, ſchloß er enthuſiaſtiſch. „Und ſelbſt wenn es groß genug dafür wäre,“ meinte Konrad, „was hätteſt du davon, jeden Stern benennen, die Liebesregungen jedes Wurms beobachten, die Wir⸗ kungen jedes Elements berechnen zu können? „Was ich davon habe, du griesgrämiger Träumer?! rief Walter, „was ich weiß, beſitze ich; zum Herrn der Welt macht mich die Erkenntnis.“ „Die Erkenntnis vielleicht! Aber du begeiſterſt dich 4 nur für Kenntniſſe ⸗ WWalter blieb mitten auf der Straße ſtehen, um dem Freunde gerade ins Geſicht zu ſehen. „Verſuch's einmal, Konrad,“ ſagte er eindringlich, „verſuch's ernſthaft, kon⸗ ſequent, dir dieſe gering geachteten Kenntniſſe anzu⸗ 68 eignen, die aller Erkenntnis Grundlage ſind. Man muß überall von der Pieke auf dienen, wenn man etwas Tüchtiges werden will; du haſt nach einem Gipfel ſtürmen und die ermüdende Talwanderung vermeiden wollen.“ „Ganz richtig,“ antwortete Konrad heiter — der goldene Herbſtglanz in der Luft, der die Baumreihen der einzigen königlichen Straße Berlins umſpielte, hatte auch an ſeinem Himmel die Wolken verſcheucht, ſo daß er in der Ferne, traumhaft, die ſiegkündende Göttin über dem Säulentor verheißungsvoll leuchten ſah — „mit achtzig Pferdekräften durch die Täler ſauſen, nur auf die Gletſcher und Felſen zu Fuß, das entſpräche meiner Begierde. Aber du weißt ja, ich füge mich, da dieſes Zeitalter das der Herden iſt, und marſchiere in Reih und Glied.“ Er blätterte in ſeinem Rotizbuch und zog den Freund mit ſich fort. „Raſch, — ich ver⸗ ſäume den Anſchluß: Einführung in die Rational⸗ ökonomie.“ Er wurde ein ungewöhnlich fleißiger Student, der ſeinen Lehrern auffiel, aber es lag etwas Krampfhaftes in ſeinem Fleiß, und wenn Warburg, erſtaunt über die Zähigkeit, die er entwickelte, ſeiner Freude darüber Aus⸗ druck gab, ſah er ihn mit ſpöttiſch gekräuſelten Lippen und einem eigenen Lächeln an, hinter dem eine weſen⸗ loſe Trauer ſich zu verbergen ſchien. Eulenburg erklärte ihm in ſeiner derben Weiſe wiederholt, daß es ein Zeichen beginnenden Irrſinns ſei, morgens Philoſoph, mittags Rationalökonom, nachmittags ein Sozio⸗, Phyſio⸗, Zoo⸗, oder ſonſt ein Loge zu ſein — ſtatt dem Feuer⸗ gott lieber in irgendeiner Form perſönlich zu dienen — und nachts infolgedeſſen eine Schlafmütze. Seine dringen⸗ den Einladungen, ihn in die Bars und Kabaretts zu begleiten, ſchlug Konrad ab; ſtatt deſſen ſaß er zu Hauſe über den Büchern, die er ſich faſt täglich, wenn irgend⸗ ein neues Thema ihn gepackt hatte, aus den Bibliotheken 69 heimbrachte, oder beſuchte, von Pawlowitſch angeregt, die Bildungskurſe der Arbeiter, wobei ihn, wie er ehr⸗ lich geſtand, die Zuhörer mehr intereſſierten, als die Vorträge, und der Vortragende mehr als das, was er vortrug. Gleich an jenem erſten Abend, zu dem er durch den Ruſſen eingeladen worden war, hatte er ſich in ſeinen tiefgewurzelten Reigungen verletzt gefühlt, und der Auf⸗ ruhr, in den er dadurch geraten war, hatte ihn die eigen⸗ artige Umgebung, in der er ſich befand, faſt vergeſſen laſſen. Hawlowitſch ſprach über die deutſche Literatur nach Goethe und kritiſierte dabei die Romantiker als reak⸗ tionäre, aller Wirklichkeit abholde Träumer, die, von ungreifbaren Sehnſüchten erfüllt, zu ſchwach, um ſich kämpfend den elenden Verhältniſſen der Zeit entgegen⸗ zuwerfen, in der Weltflucht ihr Heil geſucht und das Leben zum Spiel gemacht hätten. Das Bild des alten Habicht, ſeines in Hochſeß faſt ein wenig geringſchätzig behandelten Lehrers, tauchte in Konrads Erinnerung auf, wie er dem Knaben zuerſt mit vor Rührung zittern⸗ der Stimme Hölderlins Hyperion vorgeleſen hatte. Seit⸗ dem war der Dichter ihm ein Freund geworden, die ganze Periode der Romantik eine ſo vertraute, daß er ſich unter den Schlegel und Tieck, den Brentano und Hardenberg heimiſch fühlte und ihre Bücher ihn in der Bamberger Penſion die kalte Fremde der Gegenwart oft genug verſchmerzen ließen. Und Pawlowitſch kannte einen Hölderlin kaum und die Geſtalten einer Bettina Arnim, einer Caroline Schlegel erſchienen in ſeiner Schilderung wie Typen überſpannter Weiber. Kaum hatten ſie ſich nach dem Vortrag im Speiſe⸗ ſaal des Gewerkſchaftshauſes wieder zuſammengefunden — einem überaus nüchternen, ſchlecht erleuchteten und noch ſchlechter gelüfteten Raum, der an jenem Tage infolge des endlos plätſchernden Regens draußen, und 70 der vielen tropfenden Kleider und Schirme drinnen, beſonders düſter und ungaſtfreundlich war, — als Kon⸗ rad ſeiner Empfindungen nicht mehr Herr blieb und ihnen lebhaften Ausdruck geben mußte. Pawlowitſch lächelte überlegen. „Die neue Jugend!“ ſagte er, „ſie ähnelt verzweifelt der von mir nach Ihrer Anſicht ſo übel behandelten von damals. Aber ſelbſt, wenn Sie recht hätten, wenn ich mich wirklich einer Geringſchätzung großer Künſtler ſchuldig gemacht hätte —, was ich beſtreite, denn es kommt auch in der Kunſt nicht auf Inhalte, ſondern auf Wirkungen an, — und Sie mich davon überzeugen könnten, ich würde meinen Vortrag nicht um einen Satz ändern.“ „Aiſo gegen Ihre Überzeugung ſprechen“, unterbrach ihn Konrad entrüſtet. Hawlowitſch machte eine abwehrende Handbewegung: „Ruhe, Ruhe, junger Freund! Geſchmack hat, noch dazu wenn er ſchlecht iſt, mit Überzeugung nichts zu tun. Wohl aber ſtehen meine Vorträge, wie unſere ganze Bildungsarbeit innerhalb des Proletariats über⸗ haupt, im Dienſte einer Überzeugung: der des Sozia⸗ lismus, der des Klaſſenkampfes. Beſſer, hundertmal beſſer, —“ ſeine Augen begannen zu funkeln und ſein Geſicht verlor den Ausdruck verſteinter Ruhe, der es ſonſt beherrſchte, — „ich vermittle meinen Hörern einen ſchlechten Geſchmack, als daß ich ſie auch nur einen Augenblick lang an ihrer Weltanſchauung irre mache.“ Ein paar Arbeiter, die dem Vortrag beigewohnt hatten, traten, von der lebhaften Unterhaltung angezogen, hin⸗ zu; man rückte zuſammen und ſie ſetzten ſich. „Ganz richtig, ganz richtig,“ nickte der eine, ein älterer Mann mit harten Fäuſten und verwitterten Zügen, „Kunſt und Dichtung ſind für uns Mittel der Zerſtreu⸗ ung, Genüſſe für die Feierſtunden, ſtatt der Kneipe oder der blöden Witze der Poſſenreißer. Es ziemen uns nicht 71 mehr die Laſter der Unterdrückten, noch die müßigen Zerſtreuungen der Gedankenloſen, ſagt ſchon Laſſalle. Er hatte langſam und dozierend geſprochen, ohne Wärme. Konrad wandte ſich ihm zu. „Grade von dieſem Geſichtspunkt aus: daß Samm⸗ lung ſtatt Zerſtreuung, Anregung ſtatt Einlullung des Geiſtes notwendig iſt“ ſagte er, „dürften Ihnen Dichter, wie Hölderlin, nicht vorenthalten werden. Eine Erhe⸗ bung der Seele, eine Bereicherung des Gemüts geht von ihnen aus - „Bleiben Sie uns doch mit dem Gemüt vom Leibe,“ warf Pawlowitſch heftig ein, „dieſem Alpdruck des Deutſch⸗ tums, der auf allem laſtet, was ſich aus Schlaf und Traum befreien will! Gemüt! — Die Feſſel am Fuß, an der ihr die Traditionen und Sitten der Vergangen⸗ heit mit euch ſchleppt. Gemüt! — das euch an Scholle und Familie, an Kirche und Krone kettet! Wiſſen Sie nun, warum ich die Romantiker ablehne, ablehnen muß? All unſere Bildungsarbeit wird durch die Erforderniſſe des Klaſſenkampfs beſtimmt. Was ihn ſchwächen kann, darf keine Rolle ſpielen. Wieder nickte der Arbeiter. „Rur ſolche Wiſſens⸗ gebiete ſind für uns von Bedeutung, die uns unſere Stellung im Klaſſenkampf beſſer erkennen lehren, uns für ihn fähiger machen“, dozierte er. „Aber Wiſſen und Kunſt ſind doch zweierlei, haben im Grunde gar nichts miteinander zu tun,“ ſagte Konrad lebhaft, wobei er ſich bittend nach Warburg und Elſe Gerſtenbergk umſah, die bisher geſchwiegen hatten. Beide lächelten ihn auch jetzt nur wortlos an, der eine in ſeiner verſonnenen Art, die andere mit einem leiſen Kopfneigen, wie dem der Zuſtimmung. „Ich verſtehe den Herrn nicht“, miſchte ſich jetzt der jüngere Arbeiter ins Geſpräch, ein blaſſer, ſchmalbrüſtiger Menſch mit zuſammengekniffenen Lippen. „Was iſt uns heute zum Beiſpiel anderes vermittelt worden als Wiſſen; 72 und was will der Herr anders, als daß wir auch von den Dichtern, die er liebt, etwas erfahren, alſo noch mehr wiſſen ſollen? Konrad blieb die Antwort ſchuldig. Er ſah eine Kluft vor ſich aufgeriſſen, viel breiter und tiefer, als die, welche er als zwiſchen den Klaſſen beſtehend angenommen hatte. War ſie wirklich nur ein Abgrund zwiſchen zwei Bergen derſelben Erde, oder der Weltenraum zwiſchen zwei Sternen? Die Freunde verabſchiedeten ſich. Es regnete noch immer. Auf der Straße, vor dem roten Hauſe ſtanden die Waſſerlachen; ſchwarz und träge floß der Kanal vorüber; ſelbſt über den Laternen hing der Regen wie ein Trauerſchleier. „Dieſe Vergötterung des Verſtandes iſt die Entgötte⸗ rung der Erde“, ſagte Konrad. „Warum ſchweigſt du übrigens immer? Du wenigſtens hätteſt mir beiſtehen können, dann hätte ich auch nicht ſchmählich die Flucht ergriffen.“ „Mich packte das Schauſpiel zu ſehr, als daß ich Mit⸗ wirkender hätte ſein mögen. „Bequeme Ausrede!“ „Dieſe bewußte Beſchränkung, dieſe Überzeugungs⸗ treue, die ſich ſelbſt zur Einſeitigkeit verdammt, hat etwas Grandioſes“, fuhr Warburg unbeirrt fort. In Konrads Kopf klopfte das Blut: „Und das ſagſt du?! du, der du all deine Klugheit, all deine Verſtandes⸗ kühle daran ſetzteſt, um mich den Frevel bewußter Be⸗ ſchränkung, einſeitiger Überzeugungstreue einſehen zu lehren, auf der die katholiſche Kirche ihre Geiſteszwing⸗ burg baute?! „Roch freue ich mich, daß es gelang,“ entgegnete Warburg, „trotzdem werde ich, hiſtoriſch betrachtet, auch die Großartigkeit ihrer Politik anerkennen. Vielleicht“, fügte er in zögerndem Rachdenken hinzu, „iſt ſie die notwendige Vorausſetzung allen Erfolgs. 73 „Damit gibſt du zu, daß von Rechts wegen eine Tyrannis die andere abzulöſen hätte“, rief Konrad. „Ich hüte mich wohl vor ſolch voreiligen Schluß⸗ folgerungen. Ich konſtatiere nur Tatſachen“, meinte Warburg, der, die Arme im Rücken verſchränkt, den Kopf vorgebeugt, mit den geſenkten Augen gleichſam an der Erde ſuchend neben dem Freunde herging, deſſen Blicke hin und her flackerten, ſich hier an einem Geſicht, dort an einem Wolkengebilde feſtſaugend, um es raſch wieder loszulaſſen. Jetzt blieb Konrad mit einem leichten Aufſtampfen des Fußes ſtehen. Erſtaunt ſah Warburg auf. „Zum Teufel mit deiner Objektivität! Überlaß doch ſo was den Mummelgreiſen, die, weil ſie ſelbſt eine Brille auf der Raſe tragen, das kalte Auge der Wiſſen⸗ ſchaft preiſen. Ich will nicht anſchauen; ich will er⸗ leben — erleben! Ich forſche nicht nach dem Ding an ſich, ſondern danach, was es für mich iſt, für mich ſein kann.“ Warburg lächelte ein wenig überlegen. „Darum biſt du ja auch, wie ich ſchon immer ſagte, von Ratur a⸗ wiſſenſchaftlich,“ ſagte er, „hätteſt ein Kriegsmann oder ein Künſtler werden ſollen. Konrad ſchwieg verletzt und grub die Zähne tief in die Unterlippe. Der Freund, dachte er, hätte wiſſen müſſen, daß er eine ſeiner wundeſten Stellen traf. Soldat! — Das hatte ihn zeitenweiſe, in Träume von Krieg und Ruhm verwoben, als köſtlichſtes Ziel vor⸗ geſchwebt, aber dann ſah er die Wirklichkeit: Uniform⸗ protzen, Rekrutendriller, die Wunſch und Sehnſucht raſch erſtickte. Künſtler! — Leidenſchaftlich hatte er ein paar Jahre lang Geige geſpielt, — mit viel Talent, ſagten die Lehrer, — um das Inſtrument ſchließlich, als er ſich ohne Erfolg mit einer eigenen Kompoſition gequält hatte, faſt mit einem Gefühl von Ekel beiſeite zu legen. Auch Gedichte hatte er gemacht, — er betonte, wenn er davon 74 ſprach, ſich ſelbſt verhöhnend, das „gemacht“, — und hütete ſich ſpäter ängſtlich, irgendeinen rhythmiſchen Ein⸗ fall zu Papier zu bringen, weil er „nicht geworden und gewachſen war“. Die Freunde trennten ſich ernſtlich verſtimmt und ſahen ſich in der nächſten Zeit nur flüchtig. Auf Konrads Schreibtiſch, der ihm im kühlen Lichte dieſer Tage nicht einmal mehr grotesk erſchien, ſondern in ſeiner abſurden Häßlichkeit einen beinahe lächerlichen Eindruck machte, häuften ſich danach Bücher ſozialiſti⸗ ſchen Inhalts. Lange Zeit hindurch ſtand er unter dem berauſchenden Einfluſſe Laſſalleſchen Pathos. Er wälzte abenteuerliche Pläne im heißen Kopf: Die Gefeſſelten befreien, die Entrechteten zur Würde ſich ſelbſt beſtim⸗ menden Menſchentums erheben — welch eine Aufgabe wäre das! Doch wenn er dann, ganz erfüllt, mit vor Tatenfieber klopfenden Pulſen andere ſozialiſtiſche Zei⸗ tungen und Broſchüren zur Hand nahm, oder in Ver⸗ ſammlungen ging, bei deren Beſuch er ſich allmählich von Pawlowitſch emanzipierte, der ihn zu leiten, ja zu beherrſchen ſuchte, ſo wurde der Eindruck immer ſtärker, daß das reine Gold der urſprünglichen großen Ideen auf der einen Seite gegen die Kupfermünzen alltäg⸗ licher Sorgen und Erlöſungen, auf der anderen Seite gegen die abgegriffenen gedruckten Anweiſungen auf illu⸗ ſoriſche Schätze eingetauſcht worden war. „Ideen werden altersſchwach, ſobald man ſie auf die Flaſchen des ſogenannten geſunden Menſchenverſtandes zieht,“ ſagte er einmal in einer Stunde tiefer Depreſſion zu Pawlowitſch; „ſo geht das Chriſtentum am Pro⸗ teſtantismus zugrunde.“ „Und der Sozialismus — woran?“ frug der Ruſſe, während ſein rechter Mundwinkel ſich ſarkaſtiſch in die Höhe zog. „Das vermag ich nicht zu bezeichnen; es iſt auch wohl vermeſſen, angeſichts der Millionen ſeiner An⸗ 75 hänger vom Zugrundegehen überhaupt zu ſprechen, entgegnete Konrad, „nur — es wirkt ſo entmutigend, er⸗ nüchternd, wenn man die Rachkommen ſeiner Helden und Märtyrer ſieht: trockne Schulmeiſter, korrekte Beamte. „Entmutigend?! Ernüchternd?!“ wiederholte Pawlo⸗ witſch mit hartem Auflachen. „Sie ſind ſehr maßvoll, Herr Baron! Eher ſollte der Sozialismus ganz zugrunde gehen, als daß er nach den Idealen jener Schulmeiſter und Beamten etwa in Konſumvereinen und Baugenoſſen⸗ ſchaften ſeine ſogenannte Erfüllung fände! Aber noch ſind wir da — wir!“ und ein triumphierendes Leuchten glitt über ſeine Züge. „Wir“, das war der Freundeskreis des Ruſſen, eine Gruppe radikaler Sozialdemokraten, faſt nur Slawen und Juden, mit der auch Konrad zuweilen zuſammenkam. Hier war Leidenſchaft, hier war Empö⸗ rung, — aber jene kalte und verbiſſene, die nur das Reſul⸗ tat einer ununterbrochenen Kette von Unterdrückungen ſein können; hier war Überzeugungstreue, aber eine, die religiöſe Wärme in die Eisluft grauſamen Fanatismus wandelt. Hier war Sehnſucht, aber vor allem jene negative der Haſſenden, deren deutlichſtes Ziel Rache iſt und Zerſtörung. Stets war es ein Gefühl des Fröſtelns, das Konrad aus dieſer Umgebung heimwärts trieb. Mit einem er⸗ leichterten Aufatmen pflegte er dann nach ſeinen geliebten Dichtern zu greifen, bald alles um ſich her vergeſſend; in rhythmiſchem Tonfall, faſt ein wenig pſalmodierend wie die katholiſchen Prieſter, las er erſt leiſer, dann lauter und lauter ſprechend die tönenden Verſe vor ſich hin, im Takt im Zimmer auf und nieder ſchreitend. Wenn Giovanni ihm den Tee ſervierte — eine alte Hochſeſſer Gewohnheit, die er wieder aufgenommen hatte — unterbrach er ſich kaum; das Summen der Flamme, das Brodeln des Waſſers erſchien ihm viel⸗ mehr wie die Begleitung ſeiner Melodien. 76 Einmal — Giovanni war in ein Varieteetheater ge⸗ gangen, Erinnerungen an die eigene Kunſt ſchienen ihn immer häufiger hinzuziehen, was Konrad lächelnd geſchehen ließ, gönnte er doch dem alten Manne dies bißchen wiedererwachende Lebensfreude, — brachte Gina, die Bucklige, den abendlichen Imbiß; vergebens hatte ſie vorher an der Türe geklopft, er hatte, von den muſi⸗ kaliſchen Akkorden Georgeſcher Verſe hingeriſſen, ihr Pochen überhört. Leiſe, daß nichts dazwiſchen klirrte, deckte ſie den Tiſch, mit den feinen Fingerchen Glas und Porzellan, Brot und Obſt zierlich ordnend. Erſt als das Waſſer im Keſſel zu rauſchen begann, bemerkte Konrad die Kleine. Sie ſtand bewegungslos, die blaſſen Lippen halb geöffnet, die großen Augen auf ihn gerichtet, in ihrem roten Kleidchen an den grünen Teppich gelehnt; die braunen, lockigen Haare bedeckten barmherzig den Höcker, ſo daß ſie einem Elflein glich, das dem Walde entſprungen war, um der tiefen Menſchenſtimme zu lauſchen. „Du, Gina?“ ſagte Konrad lächelnd. Wie gut paßte dies hauchzarte Kind in die Stimmung des Abends. Sie ſtammelte eine Entſchuldigung, um gleich darauf, aus dem Erſtaunen erwachend, den nunmehr am Tiſch Sitzenden mit ruhiger Grazie zu bedienen. Ihre Füßchen verſanken lautlos im Teppich, und jede Bewegung ſchien bei all ihrer Ratürlichkeit doch von großer Kunſt diktiert, denn niemals wandte ſie dem jungen Mann den ver⸗ unſtalteten Rücken zu. Eine wohlige Behaglichkeit breitete ſich um ihn aus; die Mahlzeit dauerte länger als ſonſt, denn Konrad mußte immer wieder auf die zarten Hände, in das ſtrahlende Geſichtchen, auf die weichen Locken des Mädchens ſchauen, in denen Goldreflexe ſpielten, und es trieb ihn, den wehmütigen Mund lächeln zu ſehen. „Liebſt du Gedichte?“ frug er ſie. „Ich hörte ſie nie“, ſagte ſie. 77 „Auch nicht in der Schule?“ forſchte er weiter. „Nie ging ich zur Schule“ — voll Beſchämung den Blick geſenkt, geſtand ſie's. „Rach dem Sturz war ich jahrelang krank; erſt jetzt lernt' ich gehen.“ „Dem Sturz?! Wann war das und wie? Roch tiefer fiel ihr Köpfchen auf die ſchmale Bruſt, die Haare glitten zur Seite und enthüllten den Höcker. „Ich lernte turnen auf ihren Schultern“, flüſterte ſie ſtockend, „oh, ſie war böſe damals! Sie hatte ſo ſehr auf die neue Rummer gehofft! „Die Mutter?“ ſtaunte er. Sie nickte. „Doch nun iſt ſie gut, weil Sie hier ſind“, ein ſchwärmeriſcher Blick heftete ſich auf ihn, „weil Giovanni ihr mit den Hunden eine neue, viel ſchönere Rummer lehrt. Darum alſo war der Alte ſtundenlang bei Frau Wanda im Zimmer, aus dem dann ein vielſtimmiges Konzert von Hundegebell, Weibergekreiſch und dem Ge⸗ lächter eines zahnloſen Mundes hervordrang! Konrads Schweigen rief in des Kindes Zügen den Ausdruck jäher Angſt hervor. „Sie werden doch nicht fortziehen?“ murmelte ſie, die Hände ineinander ringend, „weil die Mutter eine Jongleuſe iſt? Er ſtrich ihr beruhigend die Haare aus dem Ge⸗ ſichtchen; ſeltſam, wie heiß es war und doch unver⸗ ändert ſchneeweiß. „Ich bleibe und wenn du willſt, lehr' ich dich leſen.“ „Oh!“ wie heller Jubel klang's, von einem großen dankbaren Blick begleitet. Von nun an brachte ſie ihm regelmäßig den Tee, ohne daß der ſonſt ſo eiferſüchtige Giovanni ſie daran gehindert hätte. Er ſchien in den Unterricht der ge⸗ lehrigen Schülerin, in die Beobachtung ihrer Erfolge auf der Bühne ganz vertieft; er veränderte ſich aber auch zuſehends im Außeren, indem er auf ſeine Toilette größere Sorgfalt verwendete und ſich krampfhaft gerade 78 zu halten ſuchte. Eines Tages entdeckte Konrad ſogar, daß er ſich die Haare wieder gefärbt hatte. Das widerte ihn an, und um ſo lieber ließ er ſich des Kindes Dienſte gefallen. Eine Atmoſphäre zarter Sorgfalt verbreitete ſich um ihn, mit der nur die Zärtlichkeit eines Weibes den Geliebten zu umgeben vermag. Sie lernte um ſeinetwillen die Treppen gehen und erſchien, wovor ſie ſich ſtets ſo ſehr gefürchtet hatte, ohne Scheu unter dem aufkreiſchenden Kindervölkchen des Encke⸗ platzes, um täglich mit friſchen Blumen ſeine Tafel zu ſchmücken; ja, ſie wagte es ſchließlich ſogar bis zur Markthalle zu gehen, um mit ſicherem Blick die ſchönſten Früchte für ihn auszuſuchen. Blieb er dem Hauſe fern, ſo kauerte ſie vor ſeinem Schreibtiſch, eifrig Lettern malend und buchſtabierend, bis ſie ihn eines Abends ſtrahlend mit dem Vorleſen eines Gedichtes überraſchte, ſeinen Tonfall und ſeinen Rhythmus genau nachahmend. Und jede Racht, er mochte heimkommen, wann er wollte, kroch ſie, vom leiſeſten Geräuſch ſeines Schritts er⸗ wachend, aus dem Bett, warf ſich ihr rotes Kittelchen über und brachte ihm friſches Waſſer. Sie hatte be⸗ merkt, daß er es ſich ſonſt ſelbſt zu holen pflegte. Alle Ereigniſſe ihres kurzen Lebens vertraute ſie ihm allmählich an, Erlebtes und Geträumtes dabei ſeltſam durcheinander miſchend. Wer der Vater eigentlich geweſen war, wußte ſie nicht; ſo viele Männer ſeien immer aus und ein ge⸗ gangen, lärmende Leute, die alle Sprachen durchein⸗ ander ſchwatzten, Kunſtreiter und Clowns. Ein alter Mann mit einem böſen Geſicht — vielleicht war's der Vater geweſen — habe ſie einmal alle hinausgeworfen, die Treppe hinunter, ganz gewiß! Sie erinnere ſich ge⸗ nau, wie ſie hinabgekollert wären, einer über den an⸗ deren, und wie der Clown ſchließlich grinſend auf den Händen gegangen ſei. Und dann war die Tänzerin da⸗ geweſen, die einzige, die die kleine Gina lieb gehabt hatte! 79 Süßigkeiten brachte ſie ihr mit und nähte Kleider für ihre Puppen und küßte ſie — ach, ſeitdem ſie den Höcker hatte, mochte ſie niemand mehr küſſen, niemand! Sie ſei geſtorben, ſagten die Leute, aber ſie wiſſe es beſſer: mit eigenen Augen habe ſie geſehen, wie die Gute, Schöne in heller Mondnacht in ihren vielen, vielen, weißen Röckchen zum Fenſter hinausgeflogen ſei, — „zu den Sternen, die der alte weiße Zaubrer drüben in ſein großes Glashaus fangen kann. Konrad hörte ihr zu und ſtörte ſie mit keinem Wort in ihren Träumen. Er wußte, wie weh das tut, und er war doch ein geſundes Kind geweſen! Manchmal, wenn es dunkelte, fuhr er mit ihr durch die Stadt in den Tiergarten. Sie hatte niemals andere Bäume geſehen als die des Gartens der Sternwarte, nie andere Straßen als die dunklen, ſchmutzigen der nächſten Rähe. Er ſchämte ſich vor ſich ſelbſt, daß er am hellen Tag das Gelächter der anderen über ſeine ſeltſame Gefährtin fürchtete, aber er fühlte bald, wie die Dunkelheit auch das Kind vor den zudringlich mit⸗ leidigen Blicken ſchützte, die ſie roh aus der Traumwelt, in die ſie verſetzt wurde, geriſſen haben würden. Jetzt war ihr der Tiergarten eine Welt voller Wunder, die ſchwarzen kahlen Bäume verhexte Rieſen, die ſtillen Waſſer der Rixenpaläſte ſchimmernde Dächer, und die bunten Lichter der Stadt der Racht koſtbares Ge⸗ ſchmeide. Mehr als er es ſich ſelbſt geſtand, erfüllte dies Kind ſein Leben und ließ ihn das unſtillbare Sehnen ver⸗ geſſen, das ihn ſo oft zu verzehren gedroht hatte. Wie ſeine reine Seele ſich vor ihm erſchloß, ſein unbeirr⸗ barer Verſtand ſich entwickelte, ſein Herz, gleich einer Waſſer⸗ roſe, die auch aus dem tiefſten Schlamm in weißem Ge⸗ wande leuchtend emporſteigt, ihm entgegenblühte, — das alles ward ihm zur täglichen Freude, zu um ſo größerer, als er ſie tief in ſich verſchloß. 80 Riemand, auch Warburg nicht, wußte von ſeinem Um⸗ gang. Gina verkroch ſich, ſobald Konrad Gäſte hatte. Seine gleichmäßigere Stimmung, die Heiterkeit ſeines Weſens, die auch trübe Stunden durchleuchtete, ſchob der Freund auf die Befriedigung, die das Studium ihm mehr und mehr gewährte, auch auf den anregenden Um⸗ gang, der ſich allmählich entwickelt hatte. Trotz aller Gegenſätze, oder vielleicht grade um ihret⸗ willen, — denn das iſt der Unterſchied der Jugend vom Alter, daß ſie Widerſtände aufſucht, die das Alter zu vermeiden ſucht, wie ſie aus lauter Kraftgefühl Felſen erklettert, ſtatt gebahnte Wege zu gehen —, hatten ſich die Beziehungen zu Pawlowitſch mehr und mehr zu freundſchaftlichen geſtaltet. Sie ſaßen oft ſtundenlang debattierend beieinander, beſuchten ſich auch bald in ihren Wohnungen, wobei Konrad die Entdeckung machte, daß der Ruſſe, deſſen freie Ehe mit Elſe Gerſtenbergk bekannt war, nicht mit ihr zuſammenwohnte. Er hauſte in ein paar Stuben von puritaniſcher Einfachheit, die erſt bei näherem Zuſehen den bizarren Geſchmack des Bewohners merken ließen: an den Wänden hingen neben Photographien Rubensſcher Gemälde, — die üppigſten Frauenleiber leuchteten in hundert verſchiedenen Stel⸗ lungen daraus hervor —, Radierungen von Käte Koll⸗ witz, aus denen das Elend grinſte und der Blutrauſch ſchrie; und über dem ſchmalen Feldbett befand ſich eine goldumrahmte Kopie der ſchwarzen ruſſiſchen Madonna, an der die Opfergabe eines ſilbernen Herzens hing. „Glauben Sie“, ſagte Pawlowitſch. „Ich würde ſo heftig gegen Gemüt und Traditionen wettern, wenn ich ſie nicht noch in mir zu bekämpfen hätte? Das da ge⸗ hörte meiner Mutter. Dies Herz opferte ſie um meinet⸗ willen, als ich mich von ihr und ihrem frommen Glauben ſchied. Sie ſtarb, während ich auf der Peter⸗Hauls⸗ feſtung war. Richt einmal ihren letzten Wunſch, mich ſegnen zu dürfen, erfüllte man ihr. Darum laufe ich Braun, Lebensſucher 6 81 wohl auch —“ ſchloß er mit rauhem Lachen — „als ein Gezeichneter durch die Welt. Zuweilen lud er die Freunde zu Elſe Gerſtenbergk ein; dann wußten ſie im voraus, daß er in jener ſel⸗ tenen weichen Stimmung war, die einen anderen Men⸗ ſchen aus ihm machte. Mit einem freudigen Rot auf den Wangen, das ſie faſt ſchön erſcheinen ließ, trat ihnen dann die Hausfrau entgegen, ſie in das Zimmer führend, das ſie mit den alten Möbeln ihrer verſtorbenen Eltern ungemein be⸗ haglich eingerichtet hatte. Familienbilder, die verrieten, daß die Bewohnerin einer Sippe von Beamten und Of⸗ fizieren entſtammte, hingen an den Wänden, auf den Fenſterbrettern blühten Hyazinthen, der Rähtiſch davor zeugte von vieler Benutzung. „Sie hätte zu Ihrer Zeit leben müſſen,“ ſagte Paw⸗ lowitſch, den Arm um ihre Schultern gelegt, als er Kon⸗ rad das erſte Mal bei ihr willkommen hieß, „das heißt zur Zeit der Schlegel und Tieck natürlich! Und ſollte eigentlich um irgendeinen königlich preußiſchen gefallenen Freiheitshelden trauern. Statt deſſen iſt ſie im Zorn des Himmels eines lebendigen Revoluzers Liebſte ge⸗ worden. Eine tapfere Liebſte!“ fügte er, ihr ritterlich die Hand küſſend, hinzu. An jenem Abend war er beſonders mitteilſam. Draußen tanzten die Schneeflocken gegen die Fenſterſcheiben, um ſich auf der Straße in naßgrauem Schmutz aufzulöſen; in dem altmodiſchen Kachelofen, der breit und behäbig eine Ecke des Zimmers völlig einnahm, brannte das Feuer. Der Ruſſe lehnte daran, während Elſe ab und zu ging, um das Abendeſſen aufzutragen. „Wie gemütlich es bei Ihnen iſt!“ ſagte Warburg. Pawlowitſch lachte: „Wenn es nicht Winter wäre, ich würde imſtande ſein, Sie auf Ihr liebenswürdiges Urteil hin, das ich leider als berechtigt anerkennen muß, ohne Umſtände der gütigen Wirtin allein zu über⸗ 82 laſſen. Wiſſen Sie, warum die Engländer trotz aller Demokratie ſo feſt mit ihren Traditionen verwachſen ſind, warum die Deutſchen trotz aller umſtürzleriſchen Ideen, Philiſter bleiben und die Ruſſen, trotz der leiden⸗ ſchaftlichſten Freiheitsbegeiſterung, die Revolution nicht durchgeführt haben? Weil der lange Winter die häus⸗ liche Gemütlichkeit gezeitigt hat, weil das Herdfeuer, ein wahres Symbol beſonders des Germanentums, die Menſchen von der ſchmutzigen Straße und der rauhen Offentlichkeit weg in den Schoß der Familie zieht. Ein alter allgemeiner Brauch beſtätigt meine Auffaſſung: im Frühling freit der Bauer, damit er im Winter unter Dach und Fach iſt.“ Elſe kam mit der Obſtſchale und bat zum Eſſen. Sie ſetzten ſich um den runden Tiſch. „Auch den Liebeskünſten dieſer Frau iſt der Winter der beſte Bundesgenoſſe geweſen“, ſagte Pawlowitſch, ſie mit einem zärtlichen Lächeln betrachtend. „Erfroren, innerlich und äußerlich, kam ich aus Rußland. Dieſe Frau öffnete mir die Tür zum warmen Zimmer. Es bedurfte des ganzen Reſtes meiner Energie, um mich dem Sturme draußen nicht ganz zu entwöhnen. „Danach wäre die Ehe die koſtbarſte Waffe des Staates im Kampfe gegen die Revolution“, meinte Warburg. „Sicherlich,“ erwiderte der Ruſſe mit ſcharfer Beto⸗ nung, „ſie iſt das Mittel für alle Unterdrückung, geiſtige und phyſiſche: der junge Mann, der eben noch, ſtrotzend von Kraft, glühend von Begeiſterung, eine Welt zu er⸗ obern oder eine zu vernichten gedachte, wird in ihren Armen zum geſitteten Bürger, der vor jedem Idol ſtaat⸗ licher Macht den Rücken krümmt und mit ſaurem Schweiß jedem rollenden Pfennig nachläuft; und die junge Frau wird unter ihrer Peitſche zur Sklavin, die ihre Liebe für das Brot und das Bett verkauft und in ſtändiger Proſtitution Kinder gebärt. „Und der Weg, um dieſe Wirkungen aufzuheben? 6* 83 frug Konrad, obwohl er die Antwort vorausſah. Es lag ihm aber an der Fortſetzung dieſes Geſprächs. „Die freie Ehe natürlich — unſere Ehe!“ rief Paw⸗ lowitſch und legte die breite Fauſt auf die weiche kleine Hand Elſens, die neben ihm auf dem Tiſch ruhte und unter der ſeinen nun völlig verſchwand. Konrad verlangte danach, mehr zu hören: „Würde nicht von Ausnahmen abgeſehen, für die Maſſe eine Zügelloſigkeit ohnegleichen die Folge ſein? Pawlowitſch lachte hell auf: „Run ſind Sie faſt ein halbes Jahr in Berlin, atmen ſogar die vergiftete Luft, die ich um mich verbreite, und reden noch wie ein fränki⸗ ſcher Landpfarrer! Zügelloſigkeit! — Wann werden ver⸗ ſtändige Leute aufhören, erotiſche Bedürfniſſe unſerer Phyſis und ihre Befriedigung mit moraliſchem Maßſtab zu meſſen und körperliche Treue der ſeeliſchen — jener einzig notwendigen Folge wahrer, das heißt geiſtiger Gemeinſchaft zwiſchen Mann und Weib — nicht etwa nur überzuordnen, ſondern ſie ſogar für die Treue an ſich zu erklären! Wenn ein Weib einen Mann erotiſch entflammt und er ihren Leib begehrt, den er erkannte, muß er dann zugleich ihre Seele lieben, von der er nichts weiß? Oder ſoll er verzichten, wie ein Wüſten⸗ heiliger, und ſie und ſich um eine Stunde raſenden Rauſches betrügen, der vielleicht in ſeinem Hirn ein un⸗ ſterbliches Werk erzeugt, in ihrem Schoß einen Helden? Er war aufgeſtanden, ſeine Bruſt hob und ſenkte ſich, auf ſeinen Backenknochen, die breit aus den eingeſunkenen Wangen herausſtachen, brannten rote Flecken und die kleinen Augen ſprühten. Minutenlang war kein anderer Laut im Zimmer zu hören als das Verkniſtern der letzten Flamme im Ofen. Elſe ſaß ſtill vor dem verwüſteten Tiſch, den Reſte der Mahlzeit bedeckten; ihre Augen hielt ſie geſenkt, ihren Mund feſt geſchloſſen, aber ihre Hand, die noch immer auf dem weißen Tiſchtuch neben dem Teller lag, ihre Hand ſprach: zuerſt durchlief ſie 84 ein Zittern, das jeden Finger einzeln ergriff, dann ballte ſie ſich, wie von ſchmerzhaftem Krampf zuſammengezogen, um ſchließlich nach einem wehen Zucken ſich lang aus⸗ zuſtrecken, blaß und müde wie eine Sterbende. Erſt die Stimme des Ruſſen belebte ſie wieder. „Sing uns ein Lied“, ſagte er rauh. Schwankend wie nach ſchwerem Traum erhob ſie ſich, trat ans Klavier und ſchlug, noch blaß vor Erregung, ein paar Akkorde an, die allmählich voller und voller anſchwollen, während ihre Stimme immer ſieghafter darüber ſchwebte. In leidenſchaftlicher Melodie ſchien ihr ganzes Weſen ſich aufzulöſen. Das war das blaſſe Mädchen nicht mehr, das die Roheit des Mannes traf, wie die Wieſen⸗ blume der Herbſtſturm, das war das Weib, deſſen ent⸗ feſſelte Leidenſchaft ſie in den Purpurmantel der Herr⸗ ſcherin hüllte. Wie ſchön ſie war! Mit einem Blick ſtürmiſchen Verlangens, den ſie mit einem zärtlichen Aufleuchten in ihren Augen beantwortete, beugte ſich Pawlowitſch über ſie. Als die Freunde ſich verabſchiedet hatten, verfolgte ſie noch lange das Bild des Paares, wie es zuletzt unter dem weißen Flurlicht vor ihnen geſtanden hatte: der ſtarke große Mann mit dem Arm um die Schulter der ſchlanken Frau, beide ſtrahlend im Glück vollen Beſitzes. Eiskalt ſchlug der Schnee den Wandernden ins Ge⸗ ſicht. Sie ſchwiegen lange. Vor dem großen Weinhaus in der Leipziger Straße, deſſen Drehtüren ſich trotz der ſpäten Stunde noch un⸗ aufhörlich bewegten, blieb Konrad ſtehen. „Die Kehle iſt mir wie ausgedörrt, als ob ich allein die Koſten der Unterhaltung getragen hätte“, ſagte er, gezwungen lachend; „komm, wir wollen noch ein paar Flaſchen die Hälſe brechen.“ Warburg ſuchte einen verſteckten Platz in einem der ſtillen oberen Säle, aber Konrad zog ihn in die dichteſte Menge der Tafelnden. 85 „Mitten darin wollen wir ſein, wo ſie lachen und lieben. 1 Er beſtellte weißen Burgunder: „Rapoleons Wein! Und als der goldne Trank in den Gläſern glänzte, meinte er grübelnd: „Pawlowitſch hat unrecht: Dieſer, der größte der Helden, wurde im Bett der Ehe gezeugt! „Und doch gewiß im Rauſch der Leidenſchaft“, ſagte Warburg; „Carlo Bonaparte war ein Korſe, mehr an die freie Luft, als an den warmen Ofen gewöhnt. „Du ſtimmſt Pawlowitſch' Theorien zu?“ frug Kon⸗ rad mit geſpanntem Ausdruck, die dunklen Augen voll auf den Gefährten gerichtet. „Sie ſcheinen mir zunächſt in größerem Einklang mit den Forderungen der Ratur zu ſein, als die ſtrengen Geſetze der Treue, die wohl nur ein Ergebnis moraliſcher Überlegungen ſind“, entgegnete Walter vorſichtig. „Das bedeutet eine Zerreißung des Menſchen in Geiſt und Körper, eine Erniedrigung der Liebe auf das Riveau des Tieriſchen —“ und heftig, daß der Wein in auf⸗ leuchtenden Perlen überfloß, ſetzte Konrad das Glas zum Munde. „Du vergißt, daß wir unſere erotiſchen Bedürfniſſe mit den Tieren gemeinſam haben, unſere geiſtigen da⸗ gegen nicht; die Spaltung in uns iſt daher von vorn⸗ herein gegeben. „Damit öffneſt du der Freiheit der Gelüſte Tür und Tor.“ „Der Freiheit — nicht der Zügelloſigkeit, die wiederum nur eine ausſchließlich menſchliche, der Ratur fremde Verirrung iſt.“ „Du ſtatuierſt aufs neue Geſetze, die doch zu vage ſind, um brauſendes Blut am Überſchäumen zu hindern. Wo, wenn Freiheit die Rorm ſein ſoll, hört ſie auf, Freiheit zu ſein? Und, wenn der von Ratur Rüchterne mit zwei Glas Wein die Freiheit, zu trinken, aus⸗ koſtet, wie ſteht's mit dem, deſſen Durſt jeder Tropfen nur ſteigert, deſſen Glut nur immer verzehrender um ſich 86 greift, weil, was für die anderen löſchendes Waſſer, für ihn jenes Feuerwaſſer iſt, das, wenn es brennend in kühle Quellen fließt, ihren ganzen Lauf in lodernde Flammen wandelt?! „Konrad —!“ rief Walter erſchrocken durch die Leiden⸗ ſchaft, die ihm entgegenſchlug, die aus des Freundes ſprühenden Blicken noch wilder als aus ſeinen Worten ſprach. Jener lächelte: „Du wähnteſt, jene Kette des Wiſſens aus Zahlen und Ramen, Regeln und Theorien ge⸗ ſchmiedet, mit der ich mühſam Tag für Tag meine Glieder umſchnüre, habe mein ungeberdiges Selbſt in Feſſeln geſchlagen?!“ Immer raſcher leerte er ſein Glas und füllte es wieder —. „Ich will dir etwas anvertrauen, etwas, das ich mir ſelbſt nur in den dunkelſten Stunden ſage: Meine Angſt iſt's, jene gräßlichſte Angſt, die es gibt, die vor ſich ſelbſt. Biſt du dir nie wie dein eigenes Geſpenſt erſchienen? Haſt du dich nie vor den fremden wilden Mächten in dir gefürchtet, wie der Veſuv ſich vor dem Feuer in ſeinem Innern fürchten muß, das ihn zu zerreißen, zu verbrennen droht? Es iſt in uns immer etwas, das hungert. Wir müſſen der Beſtie von Zeit zu Zeit blutigen Fraß vorwerfen, oder ſie einſperren — ganz feſt — ganz feſt. Du ſiehſt: Die Feigheit macht mich ſittſam, wie einen Philiſter, und — der Ekel! Wieder und wieder ſetzte er das volle Glas zum Munde. „Konrad —!“ Walter legte die Hand mahnend auf Konrads heiße Rechte. Der ſah ihn an mit einem weiten, leeren Blick, als ſähe er an ihm vorbei, durch ihn hindurch in die Ferne: „Oder des blaſſen Kindes ſilberweiße Reinheit, die ſelbſt alles andere Weiß ſchmutzig erſcheinen läßt - Ein Gelächter, gell und mißtönend, ſchlug an ſein Ohr. Durch den Dunſt von Menſchenatem, Zigarren⸗ rauch, dampfenden Speiſen und ſüßen Gerüchen vieler Weine blickten Geſichter, unwahrſcheinlich in roter Ge⸗ 87 dunſenheit, verzerrt durch freches Grinſen, Männer und Frauen, die am Tage korrekt und geſittet hinter dem Ladentiſch ſtanden, an der Rähmaſchine oder auf dem Drehſtuhl ſaßen, Rekruten kommandierten oder Kinder erzogen. Wie ſie einander lüſtern betrachteten, wie die Augen der Männer an den durchſichtigen Bluſen der Mädchen, an den krachenden Seidentaillen allzu üppiger Frauen forſchend hängen blieben! Da lag ein Arm über einer Stuhllehne, an die ſich ſchmachtend der runde Rücken eines Weibes lehnte, — ſicherlich eine tugend⸗ hafte Gattin und gute Mutter bei Tage —, dort unter dem Tiſch zerdrückte eine rote Hand das dünne Gelenk einer blaſſen Jungfer, drüben verſanken zwei Augen⸗ paare verzehrend ineinander, und das feiſte Knie eines Glatzköpfigen zwängte ſich an das der kokettierenden Rachbarin. Und über alledem das Gelächter — gell und mißtönend! Gröhlten irgendwo kleine Teufel trium⸗ phierend über die Demaskierung da unten? Oder waren es vielleicht doch nur die alten Herren mit weißen Bärten und blauroten Wangen, die ſich an dem langen Tiſch unter der blanken Säule mit flackernden Augen unſaubere Geſchichten erzählten? Konrad hörte nur noch, wie ſie fröhlich waren, ſah nur noch Blicke, von Liebe trunken, fühlte nur noch die große Glut, die über allen zuſammenſchlug. Als er nach Hauſe kam, lauter als ſonſt den Schlüſſel im Schloß drehend, drang ein Lichtſtreif aus dem Zimmer der Wirtin und Flüſtern, Lachen, Hundewinſeln. Un⸗ bezähmbare Reugierde beherrſchte Konrad plötzlich, an⸗ geſtachelt durch das Bild Frau Wandas, das er in ſeinem dunklen Reiz ſo greifbar deutlich vor ſich zu haben meinte, wie er es in Wirklichkeit nie geſehen hatte. Er ſtieß die Türe auf und ſah in einen roten Rebel, aus dem zuerſt Giovannis ſchwarze Geſtalt her⸗ vorkroch. „Der Herr Baron“, grinſte er mit einem tiefen Bück⸗ 88 ling, und nach rückwärts gewandt im Tone eines Be⸗ fehlshabers: „Schrei nicht, Wanda — wir wiederholen die Probe: — Chin — Mao — Sem — Aſi — Jo — hierher!“ Eine Peitſche pfiff durch die Luft, aufheulend ſtürzten fünf winzige, ſchwarzgraue Hunde, von jener nackten Raſſe mit den übergroßen vorſtehenden Augen, aus dem Hintergrund, wo ſie nebeneinander, Konrad ſteif anglotzend wie Götzen, geſeſſen hatten, und unter der großen runden Lichtkugel aus rotem Glas, die von der Decke herabhing, reckte ſich der Körper der Jong⸗ leuſe, von oben bis unten in rotem Trikot, der ihre vollen Formen eng umſchloß. „Auch die Lichteffekte verſuchten wir heut —“ krähte des Alten Stimme, dann kauerte er ſich mit hochgezogenen Knien auf das breite Bett im Hintergrund, griff nach dem Tamburin, das darauf lag und ſchlug es im Takt mit den knöchernen Fingern. Mit kleinen ſchwarzen Kugeln ſpielte das Weib. Sie leuchteten; ſie ſahen ſie an; ſehnſüchtig, wenn ſie über ihrem Kopfe tanzten, trunken, wenn ſie an ihr nieder⸗ rieſelten; — waren es nicht Hupillen, herausgeriſſen aus den Augenhöhlen Lebendiger?! Das Tamburin dröhnte einen Siegesmarſch. Und zu Füßen der Spielerin hockten die Hunde zuſammengedrängt und ſtarrten ſie an, un⸗ bewegt. Da klingelten die Glöckchen an Giovannis In⸗ ſtrument, und eilig, wie hungrige Affen, kletterten ſie von allen Seiten an der roten Geſtalt empor, bis ſie oben auf Bruſt und Schultern hingen, die ſchwarzen, feuchten Schnäuzchen dicht an ihrem Geſicht. Mit einer Bewegung hingebungsvoller Ermattung ließ ſie die Kugeln fallen, ſie ſchlugen klingelnd auf, dann lagen ſie vor ihr, aufwärts ſchauend, erloſchenen Blicks. Die Hunde aber wurden immer lebendiger: auf ihrem Kopf ſaß der eine und wühlte den nackten Körper in das üppige Reſt ihrer ſchwarzen Haare; aus ihren Arm⸗ höhlen lugten zwei andere mit hängenden Zungen her⸗ 89 vor; um ihre Hüften hüpften die letzten, der eine den glatten langen Schwanz des anderen im Maul. In raſendem Rhythmus dröhnte das Tamburin. Und in Konrads Kopf brauſten die Geiſter des Weins, in ſeinen Adern pochte das Blut. Im nächſten Augen⸗ blick würde er die eklen ſchwarzen Geſchöpfe von den prangenden Gliedern reißen und würgen! Da öffnete ſich die Tür hinter ihm — klirrend fiel etwas zu Boden — Glas ſplitterte — Waſſer rieſelte dazwiſchen. Die Hunde ſprangen zur Erde und bellten. „Du — du!“ ſchrie die Spielerin, mit erhobenen Fäuſten vorwärtsſtürmend. Konrad wandte den Kopf: Totblaſſen Geſichts, in dem nichts lebte als die haßerfüllten Augen, den froſtſchauern⸗ den mageren Körper nur von ihrem weißen Rachtgewand umhüllt, ſtand die kleine Bucklige vor ihm. Und das Blut ebbte zurück, die Geiſter des Weins entflohen. Mit einem Schritt war er zwiſchen dem Kinde und der wüten⸗ den Mutter. „Sie rühren das Mädchen nicht an, oder — bei Gott! —“ und er griff nach der Peitſche am Boden. Das alles war nichts als ein wüſter Traum geweſen, dachte er am nächſten Morgen. Aber Gina war krank, und als er an ihr Bettchen trat und die Hand auf ihre Stirne legte, fühlte er das Fieber. Wanda ſchlug, als er kam, mit einem böſen Blick die Türe hinter ſich zu. Es mußte alſo doch wohl wahr geweſen ſein. Am liebſten wäre er umgezogen — ſofort, aber die Augen des Kindes, die eine Bitte waren, hielten ihn feſt. Stundenlang ſaß er an ihrem Bettchen und las ihr vor, während ihr ſchmales Geſichtchen von unbeſchreiblicher Seligkeit ſtrahlte. Waren es Goethes Gedichte, die ſie nicht oft genug hören konnte, ſo flüſterte ſie leiſe mit; es klang wie zweiſtimmiger Geſang aus der Ferne. „Du wirſt einmal eine ſchöne Stimme haben, Gina“, ſagte er. 90 „Wirklich?“ lächelte ſie glücklich und ſummte träume⸗ riſch das Lied vom Heidenröslein vor ſich hin. „Es iſt viel ſchöner wie das vom Monde“, meinte ſie. „Warum denn?“ frug der Jüngling. „Röslein wehrte ſich und ſtach — mußt es eben leiden —“ ſang ſie und zwei ſchelmiſche Grübchen er⸗ ſchienen wie kleine Kobolde in ihren Wangen. „Glauben Sie nicht, Herr Konrad,“ fuhr ſie dann ernſthaft fort, „daß das Röslein ſich nur zum Scheine wehrte? Es litt doch dieſen Tod ſo gerne! Der andere aber, der vom Monde ſang: — rauſche, rauſche, lieber Fluß! Rimmer werd' ich froh; ſo verrauſchte Scherz und Kuß und die Treue ſo —, der hat nie, nie mehr gelacht, und wenn er über die Straße geht, weinen die Kinder, die ihn ſehen“. Sie richtete ſich jäh in den Kiſſen auf, geſchüttelt vor Angſt. „Es war ein König von Thule, gar treu bis an das Grab —“ klang tief, gleichmäßig, beruhigend Konrads Stimme, während ſeine Hand ſie vorſichtig bettete und ſeine Augen auf ihr ruhten. Roch ein Aufſeufzen und ſie ſchlief ein. Riemand wußte, was ihr fehlte. Es kamen Tage, wo ſie aufzuſtehen vermochte und ſich's nicht nehmen ließ, wie früher, Konrads Tiſch zu decken. Dann aber trug ihr Giovanni die Teller und Schüſſeln, die ihre mageren Armchen nicht mehr heben konnten, zu, und brachte ihr ſogar heimlich Blumen zum Schmuck, fremde, farben⸗ frohe, die lange gereiſt waren, um hier im Norden zu ſterben. Seit jenem Abend hatte der Alte ſich verwandelt. Er ging umher wie ein Schuldbeladener. Stumm, in ſteter Dienſtbereitſchaft, bettelte er um Konrads Gunſt. Frau Wanda ging er ſcheu aus dem Wege. Abends war er ſtets zu Haus und ſpielte mit dem kranken Kinde, wenn es allein war. Sein Jauchzen hatte Konrad einmal in 91 ihr Zimmer gelockt: da ſtand der Alte hinter einem Wand⸗ ſchirm, über dem er auf ſeinen Fingern mit bunten Lappen geſchmückte Huppen agieren ließ — ein improviſiertes Kaſperltheater, das Gina entzückte. Konrad war in ſein fröhliches Knabenlachen ausgebrochen und hatte ihm mit einem liebevollen: „Du biſt ein guter Kerl“ die runzlige Wange getätſchelt. Von da an konnte ſich Giovanni nicht genug tun, um der Kleinen Freude zu machen. Rur zuweilen, wenn keiner ihn ſah, und das Kind, was immer häufiger vorkam, auf ſeinem Stuhle ein⸗ geſchlafen war, wobei das Köpfchen ihm tief auf die Bruſt ſank und der Höcker hoch hervortrat, ſtreifte es ſein Blick voll Abſcheu, und des Rachts drückte er ſich verſtohlen hinter die Falten des Flurvorhangs, um, wenn Wanda aus dem Theater nach Hauſe kam, die Sekunde zu erhaſchen, wo ſie ſeine Augen mit dem Aus⸗ druck verzehrenden Schönheitshungers umfaſſen konnten. Konrad, der ſich der kleinen Kranken in der erſten Zeit ganz gewidmet hatte, ging nun, da er ſie wohler und gut aufgehoben glaubte, mit lebhaftem Eifer und wachſender innerer Anteilnahme ſeinen Studien nach. Jener Wiſſensdurſt hatte ihn allmählich ganz in ſeinen Bann geſchlagen, der der Reugierde ſo nahe verwandt und darum ſo ſpezifiſch jugendlich iſt. Jede neue Kennt⸗ nis, die er erwarb, trug ſchon die Frage nach einer weiteren in ſich, nur daß dieſe Jagd nach Wiſſen die dumpfe, in keine Formeln zu faſſende Sehnſucht nach höheren Zielen nicht zu unterdrücken vermochte. Wenn er ſich mit Warburg darüber ausſprach, pflegte ihn dieſer immer wieder darauf hinzuweiſen, daß ein Beruf, ein Pläne und Gedanken auf ſich konzentrierendes Ziel, ein Mittel ſei, dem unruhigen Hin⸗ und Herflattern ſeiner Seele abzuhelfen. Der aber empörte ſich ſtets aufs neue gegen dieſe Auffaſſung: „Schlimm genug, wenn der Beruf das Ziel zu er⸗ 92 ſetzen vermag!“ ſagte er. „Schlimmer noch, wenn der Menſch es nötig hätte, wozu das Tier nur ge⸗ zwungen werden kann, in Käfige geſperrt zu werden, und ohne ſie in der Freiheit — und ſei es ſelbſt die Freiheit der Wüſte — nicht imſtande wäre, ſich die Rahrung zu erkämpfen, deren Geiſt und Seele bedarf! Pawlowitſch dagegen ſuchte mit allen Mitteln ſeines Verſtandes und ſeiner Überredungskunſt dieſem unbe⸗ ſtimmten Sehnen im Sozialismus Ziel und Richtung zu geben, und ſeine Vorträge, denen Konrad regelmäßig beiwohnte, ſchienen ihrem Inhalt nach oft nur für dieſen Adepten beſtimmt zu ſein. Rachher debattierten ſie. „Die Jugend von heute iſt von Geburt an alters⸗ ſchwach“, polterte Pawlowitſch, als Konrad wieder einmal, ganz kühl und von nichts als von Zweifeln und Wider⸗ ſprüchen beladen, mit den Freunden aus dem Gewerk⸗ ſchaftshaus trat, die friſche, ſchon frühlingsduftige Luft in tiefen Zügen einatmend. „Oder ſo ſtark wie Jung⸗Siegfried, der ſich ſein eigenes Schwert ſchmieden mußte“, antwortete er dem Ruſſen. Sie fuhren nach dem Weſten hinaus bis zu dem Café, wo ſie ſich an jenem Herbſtnachmittag zuerſt getroffen hatten. Pawlowitſch beſtand darauf, obwohl Elſe Gerſten⸗ bergk die Freunde zu ſich gebeten hatte. „Der Tiſch iſt ſchon für euch gedeckt“, wagte ſie noch einmal mit einem ſchüchternen Lächeln, das ihr ſonſt ſo fremd war, einzuwenden. „Wir werden die Freiheit unſerer Entſchließung doch nicht einem gedeckten Tiſch opfern“, rief der Ruſſe un⸗ wirſch, und ſie fügte ſich ſtumm. Am Ziele angelangt, knüpfte er den Faden des Ge⸗ ſprächs aufs neue an und erzählte, ſich immer mehr an der Glut der eigenen Erinnerung erwärmend, von jener Zeit im Anfang der neunziger Jahre, wo er als junger Menſch zum erſten Mal nach Berlin gekommen ſei — 93 „auch einer, wie Sie, zum Revolutionär nicht geboren — und in den ſtarken, alles mit ſich fortreißenden Strom ſozialiſtiſcher Ideen hineingetrieben worden wäre. „Damals beſaßen wir den koſtbaren, durch nichts zu erſetzenden Schatz eines Ideals, für das Titel, Ver⸗ mögen, Vergangenheit und Zukunft wegzuwerfen, nicht nur kein Opfer, ſondern eine Seligkeit war. Während Sie und Ihresgleichen!“ — er ſchürzte verächtlich die Lippen: „Zugvögel ſeid ihr, die das Ziel verloren haben und, umherirrend, ſchließlich kraftlos ins Meer ſtürzen. „Sie vergeſſen nur, daß ſeitdem zwei Jahrzehnte ver⸗ floſſen ſind, daß die Träume von damals Wirklichkeiten von heute wurden“, warf Konrad ein. „Unſinn, Unſinn —“ wehrte Pawlowitſch ab, „haben wir vielleicht den Sozialismus? „Rein. Aber wir machten, ſcheint mir, viele Schritte in ſeiner Richtung und ſehen mehr und mehr, daß der Weg nicht nur gangbar, ſondern notwendig iſt.“ Pawlowitſch trommelte mit den Fingern auf dem Tiſch. „Die Bourgeoisſöhnchen waren alſo nur gerade kräftig genug, ſich für eine Idee zu begeiſtern, um das Pro⸗ letariat jetzt, wo es zähe Arbeit, gänzlich unromantiſchſe Anſtrengung gilt, im Stich zu laſſen? „Verzeihen Sie,“ antwortete Konrad ſehr ruhig dem Erregten, „es handelt ſich doch wohl um zwei verſchie⸗ dene Generationen, von denen Sie ſprechen. Die eine — die Ihre! — iſt, ſo kommt es mir vor, gerade die⸗ jenige, die den Rauſch der Jugend überwunden hat und jetzt nüchtern für all jene Einzelziele kämpft — deren Rotwendigkeit ich gar nicht beſtreiten will — für die Sie uns, die neue Jugend, aber um ſo weniger begeiſtern können, als — Sie müſſen auch dieſe Offenheit entſchul⸗ digen! — Sie ſelbſt nicht mehr begeiſtert ſind.“ Pawlo⸗ witſch biß ſich heftig auf die Lippen und warf ihm unter gerunzelter Stirn einen böſen Blick zu. „Für 94 Sie“, fügte Konrad, der ihn ruhig auffing, hinzu, „iſt doch das alles nur noch ein Rechenexempel -" „Und das letzte Ziel: die Aufhebung der Klaſſenherr⸗ ſchaft, die Sozialiſierung der Welt?“ frug Pawlowitſch, mechaniſch in dem Glaſe löffelnd, das vor ihm ſtand. Konrad zögerte mit der Antwort: „Deren Voraus⸗ ſetzung die Diktatur des Proletariats ſein ſoll — nicht wahr?“ Pawlowitſch nickte ſpottend: „Haben Sie viel⸗ leicht dagegen etwas einzuwenden? „Ja“, entgegnete Konrad beſtimmt. „Wie?!“ rief Elſe mit einem Ungeſtüm einfallend, das ihrem Intereſſe bei dieſen Fragen gar nicht zu ent⸗ ſprechen ſchien, und einen ängſtlich flehenden Zug um den Mund, den Konrad nicht verſtand. „Wie?! Sie könnten den Glauben von Millionen zerſtören wollen? Und ihre Augen ſuchten die des Ruſſen, der hartnäckig in den Schoß ſah. „Wer ihn wirklich beſitzt, dem wird er durch einen jungen Menſchen, der kaum die Raſe in die Welt ge⸗ ſteckt hat, auch nicht zerſtört werden können,“ meinte Konrad, „ich aber hab' ihn nicht — leider! — ich kann ſeine Verwirklichung nicht einmal für wünſchenswert halten. Vielleicht — vielleicht wäre ſogar —“ zwiſchen jedem Wort entſtand eine Pauſe, und ſeine Augen rich⸗ teten ſich aufwärts, glitten wie ſuchend über die Köpfe der Menſchen hinweg in die Ferne — „der Kampf da⸗ gegen — ein Ziel, wenn man dabei zugleich für etwas kämpfen könnte. Er erwartete einen heftigen Angriff, aber ſtatt deſſen wandte Pawlowitſch das Geſicht, in das ſich zwiſchen Mund und Naſe zwei tiefe Falten gegraben hatten, Elſen zu und ſagte mit einer von Wehmut leiſe durch⸗ zogenen Ironie: „Schau ihn dir an, Elſe, dieſen Knaben aus den fränkiſchen Wäldern mit der großen Sehnſucht im Blut. Kein Vorurteil hat ihn von vornherein krumm⸗ gebogen, keine Großſtadtdekadenz hat ihn abgeſtumpft; 95 all meine Überredungskunſt, die freilich greiſenhaft genug geworden ſein mag, verwandte ich auf ihn und doch — kann er nicht glauben! Genau wie bei uns, wo die⸗ ſelbe Generation, die ſich vor wenigen Jahren für die Revolution maſſakrieren ließ, ſich heute höchſtens über Fragen der Erotik den Kopf — nicht einmal das Herz! — zerbricht!“ Seine Stimme ſank. Er ließ es ſich ruhig ge⸗ fallen, daß Elſe ſeine große Hand zwiſchen die ihren nahm. „Du mußt einlenken“, mahnte Warburg leiſe, während Konrad den ſtarken Mann ſich gegenüber erſchüttert anſah und vor dem wehen, vorwurfsvollen Blick Elſens beſchämt den ſeinen ſenkte. Alles war er zu tun bereit, um den Eindruck, den er gemacht hatte, wieder zu ver⸗ wiſchen. Schon öffnete er den Mund, doch der Ruſſe ſiel ihm ins Wort: „Still! Rehmen Sie keine Rückſicht auf ſolche Rückfälle in die „Gemüts'⸗Krankheit! Erklären Sie mir lieber, nicht etwa die Gründe Ihres Unglau⸗ bens, — das intereſſiert mich nicht! — ſondern, warum Sie die Verwirklichung unſerer Ideen nicht für wünſchens⸗ wert halten.“ Konrad errötete heftig: „Das alles, was ich ſage, lieber Herr Pawlowitſch, ſind doch nur Augenblickseindrücke! Ich bin wirklich nicht ſo vermeſſen, meine Anſichten für irgendwie feſtſtehende zu halten.“ Elſe dankte ihm mit einem warmen Blick. „Gewiß, gewiß — das glaub' ich gern! Sie müſſen mir aber demgegenüber geſtatten, gerade von den erſten Eindrücken helläugiger Jugend oft mehr zu halten, als von den ſpäteren ſchablonenhaften Reſultaten ſogenannt tiefgründiger Studien. Alſo? „Wenn Sie es denn durchaus wiſſen wollen — aber, nicht wahr, Sie glauben mir ohne weiteres, daß ich all Ihren Gegenargumenten zugänglich bin?“ Pawlowitſch nickte ungeduldig. „Sehen Sie, mir ſcheint, daß uns, den phyſiſch Satten, das Proletariat als die Klaſſe geiſtig Saturierter gegenüberſteht. Freilich, ſie ſcharen 96 ſich durſtig um jeden kleinſten Born des Wiſſens. Aber was ihnen zufließt, iſt ihnen ein Höchſtes, ein Evangelium. Sie ſind Beſitzende, die ſtolz auf ihren geiſtigen Geldſäcken ruhen. Erinnern Sie ſich, wie neu⸗ lich Ihr Freund — ein führender Genoſſe war es, glaube ich — unter dem dröhnenden Beifall der Menge er⸗ klärte: „von allen alten Banden der Religioſität, von all jenen myſtiſchen Phantaſien und Sehnſüchten, die nur diejenigen beſchäftigen können, welche zu faul oder zu feige ſind, ſich realen Dingen zu widmen, haben wir uns endgültig frei gemacht“', und wie man ihn umjubelte, als er ſchließlich ausrief: „auch Likörtrinken iſt ſchön und gehörte einſt zum Leben, wir wiſſen aber, daß wir ohne das auskommen, und dasſelbe gilt von allen geiſtigen Schnäpſen, die uns Pfaffen, Philoſophen und Aſtethiker vorſetzen“. Solche Menſchen, die für alle Fragen ſchon die Antwort wiſſen, die weiter hinaus, ins Unbekannte keine Sehnſucht mehr haben — ſolche Menſchen können uns weder Führer, noch dürfen ſie der Zukunft Herr⸗ ſcher ſein. Sie würden mehr Feſſeln anlegen, als brechen, mehr Saat zertreten, als ſäen. Konrad brach ab; er fürchtete, ſchon wieder zu weit gegangen zu ſein und ſah erwartungsvoll zu dem Ruſſen hinüber. Der aber lächelte nur gutmütig: „Iſt das Ihre ganze Sorge, junger Mann? Doch ſelbſt, wenn Sie recht hätten, glauben Sie, die Menſchheit wäre nicht Manns genug, ſich ſolcher Führer wieder zu entledigen? Und glauben Sie wirklich, die Befreiung von Millionen armer Menſchen aus Rot und Elend wöge nicht reichlich die paar ſogenannten Kulturgüter auf? Man iſt ja heute von tränenreicher Sentimentalität in bezug auf ſie — die vielleicht im Strudel der großen Umwälzung verloren gehen werden.“ Er unterbrach ſich und ſah nach der Uhr. „Wir werden die Fortſetzung unſeres Geſprächs auf ein anderes Mal verſchieben müſſen“, ſagte er. „Ich habe noch eine Verabredung. Braun, Lebensſucher 7 97 Auf der Straße trennten ſie ſich. Elſe war ſehr blaß und beim Aufſtehen ſchien es Konrad, als habe ſie ge⸗ ſchwankt. „Ich möchte Sie nicht allein gehen laſſen“, ſagte er beſorgt. Sie nahm wortlos ſeine Begleitung an. Ihm fiel ein, was ihm in letzter Zeit von Pawlowitſch vielfach zu Ohren gekommen war, — mit den Grund⸗ ſätzen, die er entwickelt hatte, ſtimmte es überein —, daß er ein wüſtes Leben führe, mit der und jener ſtadt⸗ bekannten Schönen geſehen worden ſei und gegenwärtig mit einer verheirateten Frau ein Verhältnis habe. Er ſah Elſe an, wie ſie geſenkten Hauptes neben ihm ſchritt, und ſein Herz krampfte ſich zuſammen. Hatte er ſie nicht kürzlich erſt voll ſtrahlenden Glücks geſehen? Bis vor die Tür ihres Hauſes ſchwiegen beide. „Ich habe Angſt um Sie, Fräulein Elſe“, ſagte er ſchließlich. „Ich auch“, erwiderte ſie, wehmütig lächelnd. Und dann: „Kommen Sie, mein Tiſch iſt noch gedeckt. Ich fürchte heute die Einſamkeit.“ Er folgte ihr. Ein kleiner Teller mit Erdbeeren ſtand zwiſchen den anderen Schüſſeln auf dem runden Tiſch. Sie ſchob ſie dem Gaſte zu: „Rehmen Sie, bis morgen ſind ſie welk. Sie waren für ihn beſtimmt. Die erſten! Zwei große Tränen rollten über ihre Wangen. Konrad griff nach ihrer Hand und führte ſie an die Lippen: „Elſe, liebe Elſe!“ flüſterte er. Mit einer mütterlichen Bewegung ſtrich ſie ihm die Haare aus der Stirn: „Großes Kind! Dann ſaßen ſie vor dem Ofen, deſſen Feuer ſie raſch noch einmal entzündet hatte, denn ſie fror trotz der Früh⸗ lingsluft. „Das iſt: die freie Ehe“, begann ſie leiſe und ſchwieg wieder. „Sie ſind allein — zu viel allein“, meinte er. Ein verlorenes Lächeln ſpielte um ihren blaſſen Mund: „Ehe⸗ leute, meinen Sie wohl, müßten immer beieinander ſein?! Daß die Ehe ſie dazu zwingt, iſt ihr Fluch. Ich glaube, 98 aneinandergekettete Sklaven müſſen ſich ſchließlich haſſen, ſelbſt wenn ſie die zärtlichſten Brüder geweſen waren. Auch ich will frei ſein, wie ich ſeine Freiheit achtete, nur“, ganz vergrämt ſah ſie in die ſpielenden Flammen, um erſt nach ſekundenlangem Verſtummen aufs neue fortzufahren: „Sie kennen ſeine Grundſätze — er hat keine, die er nicht lebte, die das Leben ihm nicht zuerſt diktiert hätte. Er liebt mich, er kann nicht los von mir. Er kommt immer wieder zu mir zurück — immer wieder — ſeit Jahren. Vielleicht hat er recht — in allem! Mein Verſtand ſagt ja. Aber mein Herz wird niemals aufhören, nein zu ſagen, nein! „Sie glauben auch an die — andere Treue?“ frug er. Wie ſeltſam ihm zumute war: Die dunkle Racht, das dämmrige Zimmer, allein mit dem Mädchen, die im Schein der kleinen verhängten Lampe vor ihm ſaß, ein ſüßes Traumbild. Rur auf ihren Händen, den kleinen weichen Händen, deren Berührung auf ſeinem Haar er noch ſpürte, lag das volle Licht. „Glauben? Wie ſollte ich?“ ſpottete ſie wehmütig. „Ich weiß nur, daß ich ſie halten muß, daß Liebe Eins' iſt für mich, vielleicht für alle Frauen. Das iſt ja gerade das Gräßliche, über das ich nie hinweg kann: iſt ſie wirklich beim Manne zwieſpältig, iſt für ihn ein Spiel, eine Befriedigung flüchtigen Begehrens, was für uns Gipfel iſt und Erfüllung, dann gibt es nur den Kampf und nie die glückliche Einheit der Geſchlechter. „Ich möchte glauben,“ meinte er in Erinnerung an ſeine Kämpfe, ſeine Riederlage und ſeinen Sieg, dunkel errötend, „daß wir uns zu Ihrer Auffaſſung erziehen könnten und — müßten.“ Sie ſah auf, neuen Glanz in den Augen: „Und das ſagt ein Mann wie Sie, in der Blüte der Jugend!“ Run ſtockte ſie wieder. In ihm tobte es von den widerſtreitendſten Gefühlen: wie ein Bruder hätte er ſie an ſich ziehen, mit linden 7* 99 Worten um ihres Leidens willen tröſten mögen, wie ein Liebender wünſchte er ſehnſüchtig ihr Stirn und Hände — die ſchönen, ſchönen Hände! — zu küſſen, ach, und wie ein Kind verlangte er danach, den Kopf in ihrem Schoß, alles ſagen zu dürfen, was er litt! Er ſtreckte die Hände aus, die gewölbten Handflächen nach oben, wie ein Bettler: „Wenn Sie mich ein wenig lieb haben könnten!“ Sie ſchüttelte den Kopf: „Mit ein wenig Liebe ſollten Sie ſich nie begnügen. Ganz und groß muß ſie ſein; dann iſt ſie, ſelbſt, wenn ſie ins tiefſte Elend führt, doch immer Glück — das einzige Glück geweſen! Manch⸗ mal, wie vorher, bin ich ſchwach — weibiſch; vergeſſen Sie's bitte! Selbſt wenn er — nicht wiederkäme, bin ich doch reich, überreich geweſen.“ Er ſah ſie an, Müdigkeit und Trauer auf dem jungen Geſicht: „Sie fühlen es doppelt gegenüber meiner Armut.“ „Erlebe die Liebe, ſelbſt wenn du vorher weißt, daß du an ihr zugrunde gehſt — möchte ich jedem ſagen. Und wenn ich es ſage, ich, die ſich nicht einmal, ſondern hundertmal kreuzigen läßt —“ ihre Augen umdunkelten ſich, von Leid überſchattet — „ſo muß es wohl wahr ſein. Wäre die Liebe nur Glück, ſie wäre wenig. Aber ſie iſt Erlöſung, Menſchwerdung, iſt Sonne, die alle geſchloſſenen Blüten wach küßt, iſt Regen, der alle ver⸗ borgenen Keime zum Sprießen bringt, Gewitterſturm, unter dem die verſchmachtete Erde zu neuem Leben er⸗ wacht. In ihr findet alle Unruhe Gleichmaß, alle Sehn⸗ ſucht Erfüllung. Gott iſt die Liebe, ſagen die Frommen und wiſſen nicht, was ſie tun, wenn ſie den verdammen, der da ſagt: Die Liebe iſt Gott.“ Sie war aufgeſtanden, leuchtend in der eigenen Begeiſterung. „Daß ich ein Weib wie Sie zu finden vermöchte“, rief Konrad hingeriſſen. Ein Schatten flog über ihr Geſicht: „Einmal ſtand einer vor mir, wie Sie: jung und ſchön und gut, 100 murmelte Elſe nachdenklich, „und Pawlowitſch ſagte zu mir: beglücke ihn. Ich weinte drei Tage lang vor Ver⸗ zweiflung „Und der Jüngling? „Nahm eine Kokotte.“ Sie ſchwiegen beide. In die Stille hinein ſchlug die Uhr. „Sie müſſen gehen, ſonſt büßen Sie die Nachtwache mit einem müden Tag“, ſagte das Mädchen; „aber vor⸗ her will ich Ihnen etwas zeigen — mein Geheimnis. Sie führte ihn ins Rebenzimmer. Da lagen auf Tiſchen und Stühlen viele Puppen mit runden Kinder⸗ geſichtern, von denen keines dem anderen glich; vom ſtupsnaſigen Bauernbübchen bis zum bläßlichen Stadt⸗ ſchulmädchen ſchienen alle Phyſiognomien vertreten. Elſe machte eine wegwerfende Bewegung: „Das iſt nichts. Mittel zum Erwerb,“ und auf ſeinen fragenden Blick, „wir müſſen leben — alle beide — und er hat keine Ahnung vom Geldverdienen, deſto mehr aber vom Aus⸗ geben. Als ich anfing, tat ich's aus Herzensdrang; ich arbeitete für mein Kind, gab den Puppen Geſichter, wie ich ſie mir für mein Mädel oder meinen Jungen er⸗ träumte, dann —“ ſie brach ab und trat vor einen großen Glasſchrank, den ſie öffnete, „jetzt iſt mein Ge⸗ heimnis hier.“ Mit mattblauem Samt waren Wände und Regale ausgeſchlagen, von denen die hellen Figuren davor ſich duftig abhoben. Waren es Puppen, Elfen, verzauberte Märchengeſtalten? Sie trugen Kleider von Brokat und vergilbter Seide und Spinnwebentüll; Schleier und Kro⸗ nen, Blumenkränze und Ronnenhauben auf dem flachs⸗ gelben Seidenhaar; ihre Geſichter waren blaß, kränklich, übernächtig, mit großen ſtummen Augen und mattroſa Lippen; ihre mageren Arme liefen in langfingerige Hände aus — ſolche Hände, die nichts mehr halten können, ſo ſchwach ſind ſie — und ihre Beine waren ſchlank und 101 dünn in den Feſſeln, daß Generationen von Königen nötig geweſen ſein mußten, um dieſe Feinheit hervorzu⸗ bringen. Rie hätten dieſe Frauen Mütter, dieſe Männer Krieger ſein können. Sie waren nur ſchön, von letzter, vergeiſtigter Schönheit. Mitten unter ihnen, als wäre ſie die Herrſcherin, ſaß auf hochlehnigem Stuhl ein Prinzeßchen in kurzem Spitzenkleid, goldbraune üppige Locken, von zartem Perlenkrönchen geſchmückt, umrahmten das Geſicht, das noch blaſſer, noch ſchmaler war als das der anderen, und die Beinchen waren auch viel, viel dünner, als die der Könige und Königinnen rings⸗ um; das Prinzeßchen war viel zu vornehm, um ihre Füße mit der rauhen Erde in Berührung bringen zu können; ſie war die letzte Blüte des alten Stammes. Konrads Blick blieb allein an ihr hängen. Vorſich⸗ tig nahm er ſie in die Hand, drehte und wendete ſie ſanft, wie etwas ſehr Liebes. „Gina!“ flüſterte er ſelbſt⸗ vergeſſen. Dann erſt entſann er ſich der Schöpferin dieſer Traumwelt. Mit einem Blick, der Frage und Staunen und Bewunderung zugleich ausdrückte, ſah er ſie an. „Muß nicht jeder Menſch, wenn er nicht verarmen will, ſich auf dieſem allzu hellen, allzu lauten Planeten einen Winkel ſchaffen, in dem ſeine verfolgte Phantaſie Alleinherrſcher iſt? Müſſen wir nicht den Quellen in uns, denen die Blumenwieſe verſagt wurde, die ſie trän⸗ ken ſollten, irgendwo einen Brunnen ſchaffen, damit ſie uns nicht zerſprengen?“ antwortete ſie ihm; er hielt noch immer das Prinzeßchen auf dem roten Stuhl in der Hand. „Mögen Sie die Kleine?“ Er ſtreichelte mit dem Finger über das Köpfchen und den Rücken: „Ihr fehlt nur der Höcker.“ Elſe ſah ihn verwundert an: „Der Höcker?“ Und nun erzählte er ihr von Gina und von allem, was ihm das weiße Kinderſeelchen war. „Gleich morgen beſuch' ich ſie und bring' ihr meine Puppen“, ſagte Elſe gerührt; „und die kleine Perlen⸗ gekrönte gehört Ihnen. 102 „Wie gut Sie ſind! „Ich glaube, Sie ſind beſſer -" An der Türe, zu der ſie ihn begleitet hatte, drehte er ſich noch einmal um: „Ich muß Ihre Hände küſſen, Ihre Zauberhände.“ Aber er küßte ſie nicht nur, er legte ſie ſich auf die Stirn, auf die Augen, auf das Herz. Als Elſe Gerſtenbergk am nächſten Morgen in Frau Wanda Fennrichs Wohnung trat, erfuhr ſie ſchon am Eingang von der heulenden Frau, daß die Kleine in der Racht kränker geworden war. Sie fand Konrad mit übernächtigen Augen an ihrem Bettchen. „Sie ſchrie nach mir“, ſagte er leiſe. „Giovanni hat mich vergebens geſucht. Jetzt, ſeit ich ihren Kopf ge⸗ ſtreichelt habe, ſchläft ſie.“ „Rein, Herr Konrad, nein,“ tönte ein feines Stimm⸗ chen aus den Kiſſen, „wie könnt' ich ſchlafen, wenn du mich ſtreichelſt — ich träume nur —“ und ein paar ſieberglänzende, kranke Augen richteten ſich auf ihn. „Gina!“ flüſterte er erſchüttert. Leiſe war Elſe näher getreten, ein paar ihrer Kinder⸗ puppen in den Händen. Konrad ſchlang ſtützend den Arm um die Kranke: „Sieh nur, was du bekommen ſollſt!“ Die Augen des Kindes bohrten ſich in Elſes Antlitz: „Wer iſt die fremde Frau? „Eine liebe Freundin -" Um die Lippen der Kleinen zuckte es, während ihre Augen noch immer an der Beſucherin hingen, prüfend, feindſelig. „Ich ſpiele nicht mehr mit Huppen“, ſagte ſie hart und ſchloß die Lider, ſich ins Bett zurückfallen laſſend. „Es iſt wohl beſſer, ich gehe“, meinte Elſe. Konrad erhob ſich und reichte ihr die Hand: „Haben Sie Dank, tauſend Dank, daß Sie kamen.“ Jetzt erſt bemerkte ſie, 103 wie elend er ausſah. Sie erſchrak: „Ich komme wieder, heute noch, nur um nach Ihnen zu ſehen. Ein wimmernder Wehlaut ließ ſie verſtummen. Gina ſaß hoch aufgerichtet in den Kiſſen, ihre Augen dunkle Brunnen eines Stroms von Tränen, der über die ein⸗ gefallenen Wangen floß. Konrad war im gleichen Augenblick wieder neben ihr, während Elſe die Türe leiſe hinter ſich zuzog. „Rauſche, rauſche, lieber Fluß — nimmer werd' ich froh —“ kam es ſtoßweiſe von Ginas Lippen. Konrads Hand lag wieder, wie vorhin, auf ihrem Köpfchen, das langſam, langſam zurückſank. Es wurde ganz ſtill im Zimmer. Frau Wanda war angſtgeſchüttelt in die Küche geflohen; die Hunde ſprangen ihr ſchmeichelnd auf den Schoß; Giovanni hockte zuſammengeſunken an der Türe. Konrad blieb allein mit dem Kinde. Es atmete ſchwer. Von Zeit zu Zeit öffnete es die Augen und ſah ihn an. Jedesmal war ihr Ausdruck reifer, tiefer, als entfalte ſich das kleine Geſchöpf in dieſen Minuten zum Weibe. „Küſſe mich!“ hauchte es ſehnſüchtig. Und ſeine Lippen ruhten auf den ihren, vom Fieber zerriſſenen. Der glühende ſchmächtige Körper zuckte in ſeinen Armen. Ein ſeliges Lächeln verklärte das zarte Geſichtchen. „Mußt — es — eben — leiden —“ tönte es faſt un⸗ hörbar an des Jünglings Ohr. Und Gina war tot. 104 Viertes Kapitel Vom großen Hoffen ohne Ziel Am Waldrand im Tale der Wieſent blühte der Rot⸗ dorn, die weißen Schlehen und die wilden Roſen; von gelben Butterblumen leuchteten die Wieſen, als habe der Himmel mit vollen Händen ſein Gold verſtreut. Konrad fuhr heim. Er ſaß auf dem hohen Selbſtfahrer und lenkte die beiden feurigen Füchſe, mit denen er am Bahnhof überraſcht worden war. Die Obſtbäume an der Chauſſee waren lauter üppige Blütenſträuße; ſie ſtanden ganz ſtill und ſteif, wie geputzte Kinder in der Kirche; jedes Aſtchen, durch ſein weißes Kleid breit und voll geworden, ſpreizte ſich in ſeiner Pracht. Von Ferne flatterte vom Turme die Fahne der Hochſeß: im weißen Felde die leuchtend rote Roſe, und über dem verwitterten Torweg prangte ein Eichenkranz, und die Kaſtanien im Hof glänzten im Schmuck roter Blütenkerzen. Ein Gefühl befreiten Aufatmens ſchwellte Konrads Bruſt. Ihm war, als ſei hinter ihm eine ſchwere eiſerne Kerkertür ins Schloß gefallen. Da ſtanden ſie alle und warteten ſeiner: der alte Habicht, die welken Wangen in dem freundlichen, von langem Prophetenbart umrahmten Greiſengeſicht freudig gerötet; die beiden Tanten, vertrocknete Mumien, deren heruntergezogene Mundwinkel ſeine Ankunft doch zu etwas hoben, das einem Lächeln glich; und ſie — die Großmutter — die immer Schöne! In weichen Falten, von keiner Mode mehr beeinflußt, umfloß das weiße Gewand ihre hohe Geſtalt, über dem vollen ſilberglänzen⸗ den Haar lag ein duftiger Schleier, ein paar Brillanten 105 blitzten in den kleinen Ohren, auf den ſchlanken Fingern, und die nachtdunklen Augen leuchteten, vom Alter un⸗ getrübt, aus all dem Weiß, wie zwiſchen Firnſchnee der tiefe See der Alpen. Er ſprang vom Bock, kaum daß die Pferde, noch un⸗ ruhig ſtampfend, ſtanden; er umarmte ſie alle, ſtürmiſch, leidenſchaftlich, ſo daß dem alten Mann die Tränen in die hellen blauen Augen traten, die Tanten mit zittern⸗ den Knochenhänden dem Ungeſtüm wehrten und die Gräfin Savelli, all ihre vornehme Reſerve vergeſſend, ihn minutenlang nicht losließ. Sie führte ihn in ſein Zimmer. Er ſah ſich ſtaunend um: nichts war verändert, nichts vom Platz gerückt, und doch erſchien ihm alles neu, fremd, faſt feierlich. War er wirklich immer von dieſen ſchönen, ſchweren, bronze⸗ beſchlagenen Mahagonimöbeln umgeben geweſen? Hatten dieſe goldenen, ernſten Sphinxe immer die Seſſel ge⸗ tragen, hatten ſich immer dieſe Lorbeergirlanden um die Schränke gerankt? „Du haſt ſehen gelernt, mein Junge“, ſagte die Gräfin auf eine ſtaunende Bemerkung von ihm, und ſtreichelte zärtlich ſein blaſſes Geſicht. Er ſah ſie groß an. Wie verändert ſeine Augen waren! „Und leben auch!“ fügte ſie langſam hinzu. „Leben?!“ wiederholte er fragend. „Ich weiß nicht, Großmutter. Denn leben heißt ſchaffen, und ich —“ „Schaffſt du zunächſt nicht dich ſelbſt?“ entgegnete ſie, ihm mit gütigem Lächeln leiſe die Wange ſtreichelnd. Am nächſten Tage, — die Rückkehr des jungen Hochſeß wurde in der Rachbarſchaft um ſo mehr als ein Ereig⸗ nis betrachtet, als ſie für eine endgültige gehalten wurde, — war der Vetter Rothauſen vom Greifenſtein der erſte, der mit ſeinem Viererzug vorfuhr. „Natürlich,“ dachte Konrad geringſchätzig, „vier arm⸗ ſelige Klepper, ſtatt zweier anſtändiger Gäule!“ und ihm fiel ein, wie der Greifenſteiner ſich vor fünf Jahren den Tanzſaal ſeines Schloſſes, der eben noch ein Heu⸗ 106 boden geweſen war, von einem Malermeiſter aus Forch)⸗ heim mit altdeutſchen Figuren hatte bemalen laſſen, die er ſtolz als eine Renovierung entdeckter Fresken ausgab; die Touriſten verfehlten dann auch nicht, ſie gegen eine Mark Eintritt pflichtſchuldigſt zu bewundern. „Fort⸗ ſchritt — Fortſchritt, meine Herrſchaften“, pflegte er den Eingeweihten lachend zu verſichern. „Mit der Plempe in der Fauſt lockten meine biederen Vorfahren den wan⸗ dernden Koofmichs im Tal die Batzen aus der Taſche. Wir machen's milder.“ „Biſt ja ein feſcher Burſch geworden“, damit be⸗ grüßte er Konrad, während dieſer den Damen aus dem Wagen half: der dicken, aſthmatiſchen Baronin, deren Beinamen „das Klageweib“ von ihm ſtammte, und dem Töchterchen, der Hilde. „Biſt ja ein ſüßes Mädel geworden,“ hätte er bei⸗ nahe, ein Echo des Vaters, ausgerufen, wenn ihm nicht rechtzeitig zum Bewußtſein gekommen wäre, daß dieſes blonde, weiße, ſchlanke Ding nach den Wünſchen der Tanten ſeine Frau werden ſollte. Schließlich ſtieg der Stammhalter vom Bock. Potsdamer Gardeulan, der eben auf Urlaub war. „Ihnen iſt wirklich zu dem Enkel Glück zu wünſchen, liebe Gräfin“, ſagte die Baronin, nachdem ſie ſich, ſchwer atmend, auf einen der tiefen Seſſel des Salons hatte fallen laſſen. „Denken Sie nur, wie gräßlich — eben erſt ſchrieb mir's meine Kuſine, die Vicky Heimburg —: Der armen Prinzeß Lyck ihr Alteſter muß nun auch nach Amerika! Wenn den eine gute Partie nicht raus⸗ reißt! Und doch iſt's ein Jammer, daß amerikaniſche Schweinezüchter immer wieder den Stammbaum ver⸗ derben!“ Sie hatte ſelbſt eine bedenkliche Lücke in der Ahnenreihe — eine ehemalige Kuhmagd oder ſo etwas — und ſuchte ſie durch Ahnenſtolz um ſo eifriger auszu⸗ gleichen, als ihre Erſcheinung einen peinlichen Atavis⸗ mus darſtellte. 107 Indeſſen verſuchte Alex, der Sohn, mit Konrad Ber⸗ liner Erfahrungen auszutauſchen, aber er fand kaum einen Anknüpfungspunkt: Weiber — Kneipen — Pfer⸗ de — der Vetter reagierte nicht. „Ein Stieſel oder ein Duckmäuſer“, dachte der junge Offizier geringſchätzig. Laut aber ſagte er mit gönnerhaftem Lächeln: „Warum beſuchſt du mich nicht? Könnte dich überall einführen. Wäre doch ſtandesgemäßer als dein Umgang.“ „Was weißt denn du davon?“ meinte Konrad. „Gott, man munkelt ſo allerlei,“ antwortete der andere ausweichend, „für unſereins, der überall ſoviel beſchäftigungsloſe Tanten und Onkels herumſitzen hat, iſt die Weltſtadt doch nur ein Klatſchneſt.“ „Warum hinterm Berge halten, Junge“, miſchte ſich der alte Baron ins Geſpräch und fuhr, Konrad derb auf die Schulter klopfend, fort: „Du biſt nicht ſtaupefrei, mein Beſter, und ich möchte dir gleich, noch ehe der Hoch⸗ ſeſſer Keller ſich auftut, ein bißchen auf den Zahn fühlen.“ „Bitte,“ lachte der Angeredete, wobei ſein tadelloſes Gebiß ſich enthüllte, „alle zweiunddreißig ſtehen dir zur Verfügung! „Ja, wenn's noch Weibergeſchichten wären, wie bei meinem Bengel,“ erwiderte Rothauſen, „das machen wir ſchließlich alle durch, ohne uns ernſthaft zu ver⸗ plempern. Aber ſtatt Frauenzimmer zu kareſſieren, was doch die reizvollſte Beſchäftigung iſt, —“ er ſchnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen —, „fraterniſierſt du mit den Roten.“ „Bin ich dir, teurer Vetter, wirklich das Goldſtück wert, mit dem du den Detektiv auf meine Ferſen hefteſt? ſpottete Konrad. „Ree, mein Junge, dafür gieß' ich mir lieber einen Pommery hinter die Binde! Doch, Scherz beiſeite, ich hab's von meinem Sprößling.“ „Berghof von un⸗ ſerer Geſandtſchaft ſprach mir davon“, warf Alex etwas verlegen ein. Und der Alte fuhr erregter fort: „Man 108 hat dich in zweifelhafter Geſellſchaft geſehen, mir einem Ruſſen vor allem, dem die politiſche Polizei ſtändig auf den Ferſen iſt, während du unſere Kreiſe geradezu ver⸗ meideſt. Ich würde dir nicht ſo ohne weiteres mit der Tür ins Haus fallen, wenn wir nicht gerade in Bayern Exempel von Beiſpielen hätten, und das lebhafteſte In⸗ tereſſe daran haben, daß der letzte Hochſeß ein tadel⸗ loſer Edelmann bleibt.“ Konrad ſtieg das Blut in die Stirn. „Dafür zu ſorgen, lieber Onkel, wirſt du gütigſt mir ſelber überlaſſen“, ſagte er ſcharf. „Im übrigen gehen, wie ich ſehe, unſere An⸗ ſichten zu ſehr auseinander, als daß wir uns verſtändigen könnten, denn ich glaube bei meinem Verkehr die Würde meines Standes beſſer zu wahren, als die — anderen bei Suff und Spiel und Frauenzimmern.“ Der junge Rothauſen hatte eine heftige Erwiderung auf den Lippen, aber das etwas gezwungene Gelächter des Vaters ſchnitt ihm das Wort ab. Die Baronin räuſperte ſich vernehmlich. Sie kannte ihren Mann: ahnte er nur das rote Tuch, ſo ſtürmte er blindlings vorwärts, gleichgültig, was für mühſam gezogene Hoffnungspflanzen dabei zertrampelt wurden. „Du entziehſt uns den lieben Hausherrn“, ſagte ſie zu ihm, ihre harte Stimme zu den ſanfteſten Flöten⸗ tönen zwingend, und zu Konrad gewandt: „Er hat Sie ſicher ins Gebet genommen! Gott, er hat ſo ſtrenge Grundſätze —!“ Konrad unterdrückte ein Lächeln. Der Skandal mit Hildens Gouvernante ſiel ihm ein, der ſelbſt ihm, dem Knaben, nicht verborgen geblieben war. „Aber die Jugend von heute will austoben, nicht wahr? fuhr ſie fort, „natürlich ohne die ehrenhaften Tradi⸗ tionen der Familie zu verletzen. Konrad ſah unwillkürlich zu den Tanten hinüber: „Die Traditionen der Familie“! bei dem geringfügigſten Anlaß hatte er ſie über dies Thema predigen hören. Sein Blick blieb an der Gruppe hängen: die beiden 109 dürren Geſtalten mit den farbloſen Geſichtern und Hilde, das blühende Leben, zwiſchen ihnen. Doch im Augenblick, da er ſich an dem Gegenſatz weiden wollte, war ihm, als fiele ein Schleier von ſeinen Augen: ſie waren ja Blüten von einem Stamm, die Ratalie, die Eliſe und die Hilde! Rur, daß die eine im Frühling des Lebens ſtand. Die niedrige Stirne, die leeren, grünen Augen, der ſchmale Mund, das zurückfliehende Kinn, die ſchlanke Geſtalt — nehmt ihnen die Farbe und die weiche Rundung der Jugend, und es bliebe nichts — nichts als: Fledermäuſe! Die Baronin war Konrads Augen gefolgt; ſie lächelte vielſagend zu ihrem Mann hinüber. „Run aber ſind Sie wieder der Unſere und werden das Erbe der Väter übernehmen, das Ihnen die liebe Gräfin ſo treulich verwaltet hat“, ſagte ſie ſalbungsvoll, ihm die kurze runde Hand auf den Arm legend. Es war wie eine Beſitzergreifung. „Rein, Frau Baronin,“ antwortete er und lächelte die Großmutter an, die eben, da die Flügeltüren zum Eßſaal ſich öffneten, den Arm in den Rothauſens legte, „dafür ſind wir beide noch zu jung — die Großmutter und ich.“ Für die nächſten zehn Minuten ſchien der Redeſtrom der Baronin verſiegt. Konrads gute Laune ſprudelte dafür über. Er fühlte ſich auf einmal ſtark und reich, ein Gewachſener, ein Freier vor allem, für den keiner dieſer Menſchen irgendeine Bindung bedeutete. Auch daß er ſich von der Heimat frei fühlte, ganz frei, kam ihm zu frohem Bewußtſein. Selbſt die ruhige Hilde — man hält für vornehme Zurückhaltung, was oft Dumm⸗ heit iſt, dachte er — wurde lebendiger. Und Rothauſen, ſchon gerötet vom Wein, ſpielte der Gräfin Savelli gegenüber den Galanten, was ſie mit einem gnädigen, ein ganz klein wenig ſpöttiſchen Aus⸗ druck entgegennahm, während ſich auf den Geſichtern 110 der Tanten die ſeit zwanzig Jahren nie überwundene Entrüſtung über die „kokette Italienerin“ ſpiegelte. „Welch eine Künſtlerin iſt die Sonne Italiens,“ ſagte er, ihre Hand an die Lippen ziehend, „daß ſie den Frauen unſterbliche Lilienfinger wie dieſe wachſen läßt -" „Und Trauben, wie jene“, lächelte die Gräfin, zur Türe weiſend, in der Giovanni, der ſein Amt als Keller⸗ meiſter wieder angetreten hatte, erſchien, einen flachen Korb mit zwei alten Flaſchen Chianti im Arm. Er trug ihn zärtlich, als wäre ein Kind darin, und entkorkte die Flaſchen langſam, andachtsvoll, und ließ den dunkel⸗ goldenen Wein feierlich in die Gläſer fließen, ſo daß er zuletzt niedertropfte, ſchwer wie Ol. Rothauſen ver⸗ ſtummte, in den Anblick des köſtlichen Trankes verſunken. Erſt als Giovanni gegangen war, hob er ihn an die Lippen und frug, nachdem er, den Genuß vorbereitend, den ſüßen Duft geſogen hatte: „Die ſchönſten Knaben von Capri ſollten ſeine Schenken ſein! Warum ſind Sie in dieſem einzigen Falle ſo ſtillos, Frau Gräfin, und wählen dafür den widrigen Zigeuner? Das Ausbleiben der Antwort, ein vorwurfsvoller Blick ſeiner Gattin ſchienen ihn an das Geſpenſt in dieſem Hauſe plötzlich zu erinnern: an den myſteriöſen Zu⸗ ſammenhang zwiſchen der Gräfin Lavinia und dem Seil⸗ tänzer. Er würgte mit einigen Biſſen Brot ſeine Ver⸗ legenheit hinunter, um bald darauf um ſo geſprächiger und lauter zu werden, ſo daß jede andere Unterhaltung notgedrungen verſtummte. Die ganze Rachbarſchaft wurde durchgehechelt, kein Räuſpern, kein vielſagender Blick auf die Tochter und die Baroneſſen, die alle drei krampf⸗ haft auf ihre Teller ſahen, vermochte ſeinem Redeſchwall Einhalt zu tun; die Gräfin Savelli verſtand es ſchließ⸗ lich mit der großen Kunſt ihrer Geſprächsbeherrſchung, ihn abzulenken. An den Bericht einiger toller Streiche junger Majoratserben knüpfte ſie an. „Abenteuerluſt liegt nun einmal im Blute des Adels“, 111 ſagte ſie, „und findet heute ſo ſelten einen erlaubten Ausweg.“ Alex, der ſich bisher ganz in die Genüſſe der Tafel vertieft hatte, ſah mit einem aufleuchtenden Blick zur Gräfin hinüber. „Ranu!“ brummte der alte Rothauſen, verwirrt durch die Abſchweifung, „uns fehlt's doch nicht an Möglich⸗ keiten, ihr zu frönen: die Aeronautik, der Sport -" „Wobei man Courage lernt und weiß nicht wozu, und die Muskeln ſtählt und weiß nicht warum!“ rief Alex mit unterdrückter Erregung aus. „Oder iſt's viel⸗ leicht ein unſerer würdiges Ziel, in der Luft oder auf dem grünen Raſen eine neue Art Clown vor dem gaf⸗ fenden Mob zu ſpielen?! Konrad nickte und bat dem Vetter in der Stille ab, was er an Groll gegen ihn empfunden hatte. „Wobei der Clown auch noch ein Geſchäftsmann iſt“, ergänzte er, „und aus einſtmals heldiſchen, an idealen Aufgaben ſich erprobenden Eigenſchaften Kapital ſchlägt. „Ich ſympathiſiere durchaus mit meinen jungen Freun⸗ den,“ ſagte die Gräfin, „das alles iſt ein für uns lebens⸗ gefährlicher Amerikanismus, der, wenn er nicht noch durch irgendein Machtgebot mit Stumpf und Stiel ausgerottet zu werden vermag, uns des Beſten und Höchſten berau⸗ ben kann, was wir haben — wir: damit meine ich alles, was wahrhaft vornehm iſt — der Fähigkeit nämlich, uns für eine große Sache nur um ihrer ſelbſt willen einzuſetzen. Jenen Abenteuermöglichkeiten, die Sie ver⸗ treten, lieber Baron,“ damit wendete ſie ſich wieder ihrem ein wenig verdutzt dreinſchauenden Rachbarn zu, „fehlt die Hauptſache, ein fernes, traumhaft verſchwim⸗ mendes Ziel, wie es zum Beiſpiel die Kreuzfahrer hatten.“ Rothauſen unterbrach ſie mit ſchallendem Gelächter. „Verzeihen Sie, teuerſte Gräfin, verzeihen Sie,“ ſagte er dann, ſich die Tränen aus den Augen wiſchend, während ſie ihn ſehr kühl und ſehr von oben herab 112 betrachtete; „ohne es zu wiſſen, haben Sie Ihrem Enkel eine koſtbare Waffe zur Verteidigung etwaiger ſpäterer Seitenſprünge geliefert und die rote Couleur unſerer liebwerten Standesgenoſſen, der Vollmar und Haller, erklärt. Der Zukunftsſtaat iſt gewiß ein noch traum⸗ hafter verſchwimmendes Ziel, als die Eroberung des Heiligen Grabes es jemals geweſen iſt. Konrad war plötzlich ernſt geworden: ſeine unbeſtimmte Sehnſucht, ſein Suchen, ohne recht zu wiſſen wonach; ſeine Ernüchterung, ſein Sichzurückziehen, ſobald irgend⸗ ein dunkel geahntes Ziel in greifbare Rähe geriet — war das Abenteuerluſt — nichts weiter? „Kreuzfahrer und Sozialiſten haben ein Gemeinſames: daß ſie aus einer gefeſtigten Überzeugungin den Kampfgehen, während Abenteurer nur das Erlebnis ſuchen. Das überſiehſt du, glaube ich, Großmutter“, ſagte er nachdenklich. „Das klingt ſchöner, heldiſcher — zweifellos“, ant⸗ wortete ſie, „aber für Raubritterblut wird Abenteuer⸗ luſt ſtets das Primäre ſein. Sie vergaßen übrigens“, damit wandte ſie ſich Rothauſen zu, „jener anderen Kategorie unſerer Standesgenoſſen, die Ihnen am nächſten liegt: der Vertreter konſequenter Reaktion. Sie ſind des⸗ ſelben Geiſtes. Oder wäre Hatriarchalismus und Abſo⸗ lutismus für uns Heutige nicht auch ein Märchen? Echte Adlige werden Sie immer in den Extremen ſich bewegen ſehen. „Sie anerkennen in einem Atem“, warf Rothauſen erheblich ernüchtert ein, „Reaktionäre und Revolutio⸗ näre. Wenn das mehr iſt, als ein neues Zeichen Ihrer unvergleichlichen Liebenswürdigkeit, Ihres ausgleichenden Taktes als Wirtin, ſo ⸗ „Denken Sie beim Kaffee auf der Terraſſe darüber nach, lieber Baron,“ entgegnete die Gräfin aufſtehend, „wir wollen uns doch den ſchönen Abend da draußen nicht entgehen laſſen. Beim Hinausgehen drückte Konrad die Hand des Braun, Lebensſucher 8 113 Vetters beſonders herzlich. „Ich begreife nur eines nicht,“ ſagte er dann, „daß du bei deinen Anſichten Offizier werden konnteſt. Man lernt Courage und weiß nicht wozu, man ſtärkt die Muskeln und weiß nicht warum — gilt das heute nicht in erſter Linie für das Soldatſein? „Im Augenblick könnt's faſt ſo ausſehen,“ antwortete Alex, „und doch iſt's immer noch der einzige Edelmanns⸗ beruf. Denn ſiehſt du“ — dabei legte er im Weiter⸗ gehen vertraulich den Arm in den Konrads — „er iſt der einzige, für den man nicht bezahlt wird. Bei den paar hungrigen Kröten, die ein Offizier bekommt, würde ſelbſt ein geborener Hungerleider darben. Man gibt nicht nur ſich ſelbſt, man gibt auch ſeinen Mammon. Und dann,“ ſeine waſſerblauen Augen verdunkelten ſich, „wir haben die Hoffnung auf das Große, auf das Abenteuer, wie deine Großmutter ſagt, auf Säbel⸗ geklirr und Kugelgepfeif. Dabei wär's mir gleichgültig, ob's gegen deine Freunde, die Roten, oder gegen Fran⸗ zoſen und Briten ginge.“ „Und wenn deine Hoffnung am Reviſionismus der Roten und am Paziſismus Europas, lauter Sympto⸗ men der Altersſchwäche, zuſchanden wird? Alex zuckte die Achſeln: „dann bleibt unſereinem als Lebensinhalt, worüber du erhaben zu ſein behaupteſt,“ antwortete er, „die Karten, der Wein, die Weiber. „Klägliche Surrogate für Todesmut, Siegesjubel, Blutrauſch!“ „Kläglich?! Ra —“ und mit einem amüſierten Seiten⸗ blick auf den puritaniſchen Vetter lachte Alex vielſagend. Dann erzählte er ihm frivole Geſchichten. Als ſie ſchließ⸗ lich im Park die anderen wiederfanden, begannen die banalen, allgemeinen Unterhaltungen aufs neue. Der Rothauſenſche Wagen ſtand ſchon vor der Türe, aber noch gab es eine phraſenreiche Auseinanderſetzung zwiſchen den Tanten und der Baronin. 114 „Laſſen Sie uns doch das Hildchen, Kuſine!“ flehten wie aus einem Munde Eliſe und Ratalie. „Unmöglich! Unmöglich, Liebſte! Sie iſt auf eine ſo gütige Einladung doch nicht im mindeſten vorbe⸗ reitet!“ lautete die Antwort. „Was macht das?“ meinte Ratalie, den Arm um die Schulter des Mädchens legend, „ſolch ſüßes Kind bedarf doch nicht großſtädtiſcher Toi⸗ lettenkünſte, ein Kamm, ein Rachthemd findet ſich ſchon für ſie, und die Kinder hätten dann Zeit, ihre alte Freund⸗ ſchaft zu erneuern.“ Rach langem Zieren, dem erſt der rauhe Befehl des Vaters ein Ende machte: „Die Pferde werden unruhig! — ach, ſie ſtanden mit krummen Knien mäuschenſtill! — übergab die Baronin ihr „Kleinod“ den Tanten. Es zeigte ſich, daß ſie doch nicht ſo ganz unvorbereitet ge⸗ weſen ſein mußte, denn Hildens Pompadour enthielt ſogar die Brennſchere, mit der ſie in ihre ſtraffen Haare kleine regelmäßige Wellen zu brennen pflegte. Konrad ſeufzte. Er erinnerte ſich der leerſten Stunden ſeiner Kindheit mit dieſer „Freundin“. Das Wahn⸗ ſinnigſte hatte er behauptet, nur um ſie zum Widerſpruch zu reizen, und immer war ihre Antwort, von gläubigem Augenaufſchlag begleitet, dasſelbe „Ja“ geweſen. Sie ſchien ſich in Gegenwart von Männern ihrer eigenen Richtigkeit in einem Maße bewußt zu ſein, daß alles Perſönliche in ihr auslöſchte. „Die alten Rachteulen!“ dachte er grimmig, „müſſen ſie mir auch noch das Zuhauſeſein verderben! Er kümmerte ſich nur ſoweit um ſie, als es die Höf⸗ lichkeit notwendig machte, aber es ſtörte ihn ſchon, wenn ſie nachmittags mit ihrer unvermeidlichen Weißſtickerei am Teetiſch ſaß und jeder Aufblick ihrer runden Augen ihm galt. „Auf den Mann iſt es dreſſiert, das Gänschen“, ſagte er eines Abends verärgert zur Großmutter. „Mußt es dem Mädchen nicht nachtragen, Konrad, 8* 115 meinte dieſe, „nicht ſie, ſondern die Eltern haben das zu ihrem einzigen Lebensinhalt gemacht. Sie werden es einmal gräßlich büßen müſſen!“ Ihr Geſicht ver⸗ ſteinte ſich förmlich in rückſchauendem Leid. Von da an widmete er ihr hier und da ein freund⸗ liches Wort, was ihm ſtets ein verlegenes Lächeln ein⸗ trug. Rur als er entdeckte, daß die Greifenſteiner mit dem Karren der Botenfrau einen Reiſekorb für das Fräulein herüberſchickten, der auf eine Verlängerung ihres Aufenthaltes ſchließen ließ, erſtarb all ſein guter Wille, und er zog ſich hartnäckiger als vorher von ihr zurück. Auf dem Turm ſaß er und träumte in die Welt hinaus. Im Walde, unter den großen Buchen lag er und horchte in ſich hinein. Wie oft er Elſes gedenken mußte, ohne Sehnſucht freilich und ganz ohne Verlangen, aber mit einer weichen Zärtlichkeit, die ihm das Herz warm machte! Er ſah ihr zartes Geſicht, unſchön, im Vergleich zu dem der Greifenſteinerin, und doch durch ſein leb⸗ haftes Mienenſpiel, ſeinen wechſelnden geiſtig belebten Ausdruck von unerſchöpflichem Reiz. Warum ſie nicht antwortete? Schon zweimal hatte er ihr geſchrieben! Ob es das Glück war, daß ihr keine Zeit dazu ließ, oder der Kummer, der ſie verſtummen machte? Er bat Warburg, der den ganzen Sommer in Berlin bleiben wollte, ſelbſt die Einladung nach Hochſeß ablehnend, ſich nach ihr umzuſehen. Aber auch dieſer ſchrieb zu⸗ nächſt nicht. Es war, als ſollte jene Welt für Konrad ganz verſinken. An einem glutheißen Maientag ſaß er beim alten Giovanni, der neuerdings allerlei ſeltſames Getier in ſeinem Stübchen züchtete und dreſſierte. Eine große exo⸗ tiſche Eidechſe, der zuliebe er jetzt ſogar den Ofen heizte, beſchäftigte ihn beſonders; ſie ſaß am liebſten auf des Alten Schulter oder kletterte auf ſeine Glatze, von wo aus ſie mit der langen blauen Zunge Fliegen fing. Auch 116 eine Schildkröte hatte er, mit einem ſonderbar verſtän⸗ digen alten Menſchengeſicht; ſie watſchelte ſchwerfällig auf Giovanni zu, ſobald er ſie beim Ramen rief und ſchüttelte wehmütig den Kopf, wenn ihr ein anderer als ſein Herr Futter zu reichen verſuchte. Und in einem Winkel des Zimmers gab es ein großes Geſtell aus alten Scheiben und Medizinflaſchen, in dem ein Volk fleißiger Ameiſen unermüdlich hin und her kroch. „Bei den Tieren erholt ſich ſo einer wie ich, der nicht ſterben kann, von den Menſchen“, murmelte der Alte vor ſich hin, Konrad ſcheinbar keinerlei Beachtung ſchen⸗ kend. „Zuerſt möchte man die ganze Welt umarmen, dann wird einem ein Ameiſenhaufen zur ganzen Welt. „Iſt dies das Alter?“ dachte Konrad gequält. „Wer ſuchte dann nicht als Jüngling den Tod?“ Und laut ſagte er: „Du willſt am Ende noch einmal auf den Jahrmarkt gehen? — Und die Tiere den Menſchen vor⸗ führen?“ „Rein! dazu ſind ſie mir zu ſchade“, antwortete Gio⸗ vanni, die Blicke zärtlich auf die Eidechſe richtend, die gerade langſam an ſeinem Arm emporkroch, während die Schildkröte geduldig mit eingezogenen Gliedern als Fußbank vor ihm lag. Da klang aus der Ferne Gitarrenton. Der Alte fuhr auf, ſo daß die Eidechſe herunterrutſchte. Konrad lachte: Muſik —, und Giovannis Menſchenverachtung war ver⸗ flogen. Räher und nälſer kam es. Sie gingen beide über den Hof bis zum Torbogen und ſahen die Straße hinab. „Dort — dort — ein gelber Wagen — Kunſt⸗ reiter ſind's“ rief Giovanni aufgeregt und preßte beide Hände auf das wild klopfende Herz. „Ich ſehe nichts — gar nichts; ich höre nur“, antwortete Konrad. Da kam's um die Ecke, ein bunter Zug von Mädchen und Knaben, helle Stimmen: „Es ſteht ein Baum im Odenwald, der hat viel dürre Aſt' ... Eine ging voran, kraftvoll ausſchreitend im flattern⸗ 117 den blauen Kleid mit weißer Schürze, am gelben Band die Laute über der Schulter; die ſonnengebräunte Rechte ſpielte darauf; über dem runden Geſicht, glühend wie reife Pfirſiche, wehten, von keinem Hut und keinem Kamm gehalten, die roten Haare. „Grüß Gott, Herr Junker!“ rief ſie luſtig, vor Kon⸗ rad ſtehen bleibend. „Grüß Gott, Herr Junker!“ echote die ganze Schar. „Gibt's friſches Waſſer und Mittagsſchatten für uns hier droben?“ frug das Mädel, mit blitzenden Augen den vor ihr Stehenden freimütig muſternd. „Arm ſind wir am Beutel, doch reich an Geſang! Der ſoll's Euch vergelten!“ „Wenn das alles iſt, was ihr wollt!“ lachte er fröh⸗ lich — es war ihm auf einmal, als wehe würzige Berg⸗ luft durch das altersgraue Tor in die Schwüle — „dort habt ihr's beieinander: den Brunnen und die Kaſtanien.“ Und ſingend zogen ſie ein. Alle Schloßbewohner liefen zuſammen: die Mägde aus der Küche, die dicke Mamſell, noch mit dem Schaum⸗ löffel in der Hand, von dem die Sahne weiß herunter⸗ tropfte; die Burſchen aus den Ställen, Halfter und Striegel in den Fäuſten; die Tanten aus dem Garten mit echauffierten Geſichtern, die ſich beim Anblick der ſich lagernden Jugend zu abwehrender Entrüſtung ver⸗ zogen. „Wer erlaubte den Leuten —“ rief Ratalie. Sie ſprach nicht zu Ende. „Ich!“ antwortete Konrad. Und ſie duckte den Kopf mit böſem Augenblinzeln. Jetzt kam auch Hilde Rothauſen aus der Haustür, ganz weiß, ohne Fleckchen und Fältchen, den großen Mullhut auf dem Scheitel, Halbhandſchuhe an den Händen. Mit erhobenen Armen trat ihr Eliſe entgegen: „Geh, Kind, geh! daß du mit der Geſellſchaft nicht in Berührung kommſt!“ Sie wollte ſchon gehorchen, warf nur noch auf Konrad einen fragenden Blick. Aber er 118 ſah an ihr vorüber; nie war ihm das Mädchen in ſeiner tadelloſen Wohlerzogenheit ſo lächerlich vorge⸗ kommen. Geſenkten Kopfes folgte ſie den Tanten. Da erſchien die Gräfin unter der Haustür, mit einem Blick das Bild vor ihr umfaſſend: „Welch fröhliche Gäſte haben wir heute“, ſagte ſie freundlich. Und ſie ſprangen alle auf; ſie fühlten die Herrin. Die Rot⸗ haarige trat aus dem Kreiſe; wohlgefällig blieben die Blicke der gütigen Frau auf ihr ruhen. „Woher, wohin, ihr fahrenden Sänger?“ fragte ſie lächelnd. Das Mädchen griff in die Saiten der Laute, und brauſend fiel der Chor der jungen Stimmen ein: „Ob Forchheim bei Kirchehrenbach Woll'n wir zu Berge ſteigen, Dort ſchwingt ſich am Walpurgistag Der Franken Mainachtsreigen Indeſſen brachten die Mägde Körbe mit Erdbeeren und Schüſſeln voll ſüßer Sahne. Jubelgeſchrei emp⸗ fing ſie. „Fahrende Sänger zu bewirten, iſt alter Brauch auf Hochſeß“, damit wehrte die Gräfin allzu ſtürmiſchem Dank, „und gerade für euch, ſcheint mir, ließ die Sonne ſo raſch unſere erſten Früchte reifen. „Roch heut bis nach Kirchehrenbach?“ ſtaunte Konrad, während die ganze Schar, behaglich gelagert, ſchmauſte. „Wenn's ſein muß, bis Rürnberg auch!“ rief keck ein Bürſchlein mit vollem Munde, und eine ſchwarzhaarige Kleine fiel ihm ins Wort: „Geleit uns! „Wenn's erlaubt iſt!“ entgegnete Konrad. „Fahr' die Mädchen hinüber“, wandte ſich die Gräfin an ihn. Doch die Rote erhob ſich raſch: „Schönen Dank, gnäd'ge Frau, doch wir wandern!“ Und mit einem lachenden Blick auf Konrad: „Wer mit uns tanzen will, 119 der wandert mit!“ Sie ſtreckte ihm die Hand entgegen, er ſchlug ein; der feſte Druck eines Kameraden war's, den er ſpürte. Durchs Tor hinaus, mit Sang und Klang, zog die Schar; die roten Locken, das blaue Kleid flatterten wieder voran. „Wohlauf, die Luft geht friſch und rein, Wer lange ſitzt, muß roſten; Den allerſonnigſten Sonnenſchein Läßt uns der Himmel koſten“ - - - Giovanni lehnte an der grauen Mauer; bis weithin erkannte er noch an der hohen Geſtalt und dem federn⸗ den Gang den Konrad. „Jugend!“ flüſterte er müde und ſchlich zum Turm zurück, zu den Eidechſen und der Schildkröte. „Drum reicht mir Stab und Ordenskleid Der fahrenden Scholaren, Ich will zur guten Sommerzeit Ins Land der Franken fahren ... Droben am Fenſter ſtand die Gräfin Savelli. Sie lauſchte. Am vollen Ton erkannte ſie unter allen Stimmen die ihres Enkels. „Jugend!“ lächelte ſie, und traum⸗ verloren glänzten die dunklen Augen. Mit einem letzten aufleuchtenden Blick, der des Tages Glanz in eine Glut zuſammenfaßte, — ſo wie Liebende ſich trennen, deren Abſchied die ganze Wonne des Er⸗ innerns, die ganze Vorfreude des Wiederſehens ſpiegelt, — war die Sonne untergegangen, als auf dem ſagen⸗ umwobenen Walberla, der einſam und ſteil aus dem Tal emporſtieg, das Leben erwachte. Allerlei Landvolk nahte ſich der kleinen Kapelle der heiligen Walpurgis, mit deren Gründung die erſten Verkünder des Gekreu⸗ zigten den Kult des Sonnengottes an dieſer uralten Weiheſtätte zu vernichten glaubten. Und von der anderen Seite, das Graubachtal bergauf, kamen die Hochſeſſer 129 Gäſte. Immer lauter miſchte ſich ihr Lied in das Gebete⸗ murmeln der Frommen, bis ſie es zuletzt jubelnd über⸗ tönten. Konrad war der erſte, der auf der kahlen Kuppe er⸗ ſchien und ſich aufatmend ins Gras warf. Richt aus Müdigkeit, denn drunten an der kleinen Mühle, deren Räder die ſilbernen Wellchen der Wieſent wie luſtig ſpielende Kinder bewegten, hatten ſie lange geraſtet. Aber da waren die Stimmen, die im Geſang harmo⸗ niſch zuſammenklangen, im Geſpräch ſchrill genug an⸗ einander geraten. Und nun verfiel Konrad in miß⸗ mutiges Grübeln über all das Bunte, Widerſprechende, das er gehört und durch das die Feierſtimmung jäl) unterbrochen worden war. Einer hatte das Signal zum erſten Geplänkel ge⸗ geben: „So laßt doch endlich das Gegröl und Gezupfe, hatte er übellaunig gerufen, „gerade als ob wir nichts anderes könnten. Danach war der Streit über Ziel und Inhalt der Jugendbewegung, als deren Glied ſie ſich betrachteten, losgebrochen. Für die Freiheit der Perſönlichkeit, für gemeinſame Erziehung der Geſchlechter, für freie Schule, für Bodenreform und Abſtinenz waren die Fünfzehn⸗ und Sechzehnjährigen gegeneinander eifernd eingetreten, und das Erſtaunen über ihr Wiſſen und Rachdenken hatte Konrad zunächſt den Vorgängen nur wie ein Zu⸗ ſehender folgen laſſen. Dann aber wurde der Sturm zum Orkan: gegen die Lehrer, gegen die Eltern, gegen Juden und Sozialdemokraten, gegen Schule und Re⸗ ligion tobten ſie und überſchrien einander, jeder, das rote Tuch, gegen das er wütete, für den Feind an ſich erklärend, gegen den alle ſich verbinden ſollten. „Jetzt lachen und ſingen ſie wieder,“ dachte Konrad. verſtimmt über ſich ſelbſt, „nur mein Lebensgefühl wirft jeder verquere Wind aus dem Sattel. „Hallo, Sie Faulpelz!“ rief eine luſtige Stimme 121 neben ihm, „wer nicht Holz zum Scheiterhaufen trägt, muß zuſehen, wenn wir tanzen! Er ſprang auf die Füße und ſchichtete den Reiſig um die Wette mit den anderen. Das lief und hüpfte im Dunkel herum, das verkroch ſich im Buſchwerk und tauchte daraus hervor, das kletterte auf die Bäume und flog hinunter, wie ein Völkchen aufgeſcheuchter Racht⸗ alben. Stumm ſah das Landvolk, das von der Ka⸗ pelle aus neugierig zuſammenlief, dem Treiben zu, bis es ſich, angeſteckt vom Eifer der anderen, munter hinein⸗ miſchte. Hoch ragte bald der ſchwarze Holzſtoß; dann ein Schwelen, ein Kniſtern; kleine Flammenzungen leckten gierig empor, als wollten ſie erſt die Speiſe verſuchen, die ihnen winkte. Und plötzlich, entfeſſelt, ſtieg aus der Mitte, ſiegreich lodernd, die Flamme. Mit roter Glut malte ſie die jungen Geſichter, in aller Augen ſpiegelte ſie ſich. Und jetzt ſchleppte ein jeder noch die letzten ſchwarzen Scheite heran. „Die Schulmeiſter!“ — „Die Philiſter!“ — „Die Protzen!“ — „Die Vaterlandsloſen!“ — „Die Aus⸗ beuter!“ — „Die Dirnen!“ — Bei jedem Ruf praſſelte dürres Holz ins Feuer und der ganze Chor rief ſchmet⸗ ternd: „Sie brennen!“ Dann ſprang einer hervor, den ganzen Arm voll raſchelnder Zweige. Er ſchleuderte ſie: weit ausholend, in die Flammen. „Die Intellektuellen!“ ſchrie er. „Sie brennen — brennen!“ jubelte es ringsum. Dann ward es ſtill. Andächtig hoben ſich die jungen Geſichter zu der him⸗ melan ſteigenden Feuerſäule, und die Augen ſtrahlten von innen erleuchtet durch eine Begeiſterung, die ſieges⸗ trunken die ſchwarze Himmelskuppel zu durchbrechen ſtrebte. „Lodre empor! Allen Rachtalben ein Schrecken!“ klang 122 es ſchließlich feierlich durch die Runde, wie die in einem Ton verſchmolzene Stimme aller. „Die Feuerrede“, ging's flüſternd von Mund zu Mund, und um den Sprecher, einen Knaben noch, mit ſchmaler Bruſt und langen Gliedern, der bisher kaum geſprochen, aber mit großen Augen alles um ſich her in ſich geſogen hatte, ſammelten ſie ſich. „Wir haben uns geſtritten, wer wohl unſerer Feinde ärgſter ſei! Und haben uns eben vereint, ſie gemeinſam zu vernichten. Sammeln wir weiter trockene Scheite, dürre Blätter, die junge Keime zu erſticken drohen. Rehme jeder den Feind aufs Korn, dem er gewachſen iſt, und wir, die große Armee der Jugend, über die ſchwarz⸗rot⸗gold die deutſche Fahne weht, ſchlagen ſie alle! —“ Konrad horchte auf: ſollte vom Munde des Unmündigen ihm kommen, was er erſehnte? — „Wider Knuten und Ketten kämpfen wir. Wider Autoritäten, die uns, wie die Gärtner den jungen Obſtbaum, in ihre Formen, an ihre künſtlichen Spaliere zwingen wollen. Und Ungeziefer und Giftpflanzen rotten wir aus: die jüdiſche Geſinnung, die uns dem Golde ſtatt der Ehre nachjagen, den welſchen Geiſt, der uns Wolluſt ſtatt Freundſchaft wählen läßt. Aber mit dem Ramen der ärgſten unſerer Feinde das Feuer dieſer Sonnwendnacht zu ſchüren, blieb dem letzten der Sprecher vorbehalten, und wie ſein Reiſig in die Gluten fiel, ſo fiel ſein Ruf in unſere Seelen, daß ſie hellauf loderten: die Intellek⸗ tuellen! Wie ſie die Kräfte der Natur in Keſſel und Flaſchen und Drähte bannten, ſo handeln ſie an unſeren Seelen. Wehe, wenn wir ihnen zum Opfer fallen! Dann iſt des Germanentums letzte Stunde gekommen. Wir ſind zähe Arbeiter — aber wir werden an der Arbeit zugrunde gehen, wenn wir verlernen, freudig Feiernde zu ſein. Wir verſtehen, zu erwerben, und wer⸗ den auf unſerem Golde bei lebendigem Leibe verfaulen, wenn wir uns zu opfern nicht mehr vermögen. Wir 123 ſind tiefe Grübler — und leer, leer und arm und kraft⸗ los hinterläßt uns all unſere Weisheit, wenn wir nicht große Gläubige ſind „Glauben — woran!“ ſagte jemand ſehr leiſe. Konrad war's, als wäre es ſeine Stimme geweſen. Der Redner brach ab. Man kicherte verſtohlen. Die Flamme ſank. Der Kreis löſte ſich da und dort, um dem Feuer neue Rahrung zu holen. „Geloben wir einander in dieſer Stunde —“ war das nicht der Tonfall des Oberlehrers an Kaiſers Ge⸗ burtstag? Konrads Stirnader ſchwoll: daß jeder Stei⸗ gende heute vor dem Gipfel zum Abſturz kam! War's Schwäche, Feigheit, Verhängnis? „Geloben wir: Keuſch⸗ heit, Treue — mit einem Wort: Deutſchſein.“ Mur wenige hatten noch zugehört: vereinzelt ertönte ein beifälliges Wort; verletzt, beſchämt, verlor ſich der Redner unter den Bäumen. Konrad folgte ihm; irgend etwas hatte das Dunkel ſeiner Seele plötzlich erhellt, wie der Blitzſtrahl in der Racht, der dem Verirrten den Weg zeigt. Er reichte dem Knaben, in deſſen Wimpern noch eine Träne des Zornes hing, die Hand, und ein paar andere, die ihm aus dem Wege gegangen waren, wie das Publikum ſtets dem Erfolgloſen, geſellten ſich zögernd und neugierig wieder zu ihm. „Laſſen Sie ſich's nicht anfechten,“ ſagte Konrad, „es geht uns allen nicht anders: wir möchten das Große ſagen, das wahrhaft Begeiſternde, Richtunggebende. Aber: — wir kennen es ſelbſt noch nicht. Und dann kommen uns die Worte zu Hilfe — die leeren Worte. Statt des brauſenden Waſſerſturzes, den alles erwartete, das ausgetrocknete Flußbett.“ „Sicher, ſicher,“ meinte einer der Umſtehenden eifrig; „das iſt's ja, warum wir immer wieder auseinander kommen.“ „Die leeren Worte —“ nickte traurig der Knabe. „Das dürfte uns nicht entmutigen,“ fuhr Konrad fort, 124 „denn ſehen Sie, und keine alte Weisheit iſt's, ſon⸗ dern eine, die ich in Ihrem Kreiſe, — eben erſt! lernte, daß wir, daß die ganze Jugend dieſe Leere fühlt, iſt doch ſchon ein ungeheurer Gewinn. Wiſſen, Perſön⸗ lichkeit, Freiheit — das war die Parole von geſtern. Wir ſuchen Unterordnung, Unterordnung unter eine Idee. Freilich: wir haben ſie nicht, doch daß wir ſie ſuchen, eint uns.“ Es war zuletzt, wie ein Selbſtgeſpräch; er fühlte, daß ihn die anderen kaum noch verſtanden. Sie ſchauten ſchſon wieder nach oben, wo, von vielen Armen hinein⸗ geſchleudert, Holzbündel in die Gluten praſſelten. Rur der Redner von vorhin ſtand noch wie angewurzelt neben ihm. „Durch Himmel und Hölle ſuch' ich ſie, ich ſchwör's!“ rief er dann, ſich ihm leidenſchaftlich in die Arme wer⸗ fend. Hochauf, ſtrahlender als zuvor, denn wie ſchwarzer Samt ſtand jetzt der Himmel dahinter, züngelten die Flammen. Und in das Kniſtern hinein tönte eine helle Mädchenſtimme: „Ein Gelöbnis forderte er, wie der Prieſter vom Firmling, wie der Kriegsherr vom Rekruten? Euer aller Antwort ſei: Rein — nein — nein! Steigt zum Fir⸗ mament unſer Feuer empor, weil es gelobte, nicht zu fallen? Breitet die Eiche ihre ſchwarzen Zweige aus, weil ſie verſprach, groß und ſtark zu ſein? Und zog der Kirſchbaum ſein Blütenkleid an, weil er den Schwur leiſtete, fruchtbar zu werden? Rein — nein — nein! Roch einmal ſag' ich's. Rur wir laßt uns ſein, nur wir! Keine Sklaven, auch die eines Eides nicht. Und nicht nüchtern, ſondern allzeit berauſcht — berauſcht vom Leben!“ Toſender Beifall, Zuruf und Händegeklatſch um⸗ brauſten das Mädchen. Kräftige Jünglingsarme hoben ſie hoch empor. 125 „Lotte — die rote Lotte! Ihre Locken wehten, dem Feuer vermählt. „Vorſicht!“ rief irgendein Ängſtlicher. „Ich und die Flamme ſind Freunde!“ jauchzte ſie. Dann ſprang ſie zur Erde und führte den Reigen, der in bacchantiſchem Taumel, getaucht in rotes, gelbes und blaues Licht, den Scheiterhaufen wild aufjubelnd umtoſte. Keiner entzog ſich dem Kreiſe. Vergeſſen waren die Martern der heiligen Walpurgis. Atemlos, mit klopfenden Pulſen, ſtanden die Tanzen⸗ den ſtill. An den Händen hielten ſich noch die einen, Arm in Arm, die Schultern zärtlich aneinandergeſchmiegt, ſtanden die anderen, und manch ein Bauernburſch hatte ſeinen Schatz umſchlungen. Mainachtluft, keine Hoch⸗ ſommerſchwüle, umwehte die heißen Wangen, zarte Früh⸗ lingsliebe, nicht die verzehrende Glut letzter Sommer⸗ tage, glänzte aus den hellen jungen Augen. Mit einem Lächeln voll ſiegreicher Lebensluſt ſah die rote Lotte ſich um: „Wer ſpringt mit mir durchs Feuer? „Ich — ich — ich“, tönte die vielſtimmige Antwort. Doch ſie zog den Junker von Hochſeß aus der Menge: „Du!“ und ihre roten Lippen wölbten ſich über den weißen Zähnen. Von irgendwoher aus dem Dunkel klang die Laute aufs neue: „Schatzkind, halt Gürtel feſt und Kleid Juchheiſa — durch das Feuer!“ Die Paare ſammelten ſich hinter Konrad und Lotte. Sie flogen voran; einen Augenblick lang waren ihre Körper eins mit den Flammen. „Einen Kuß zum Dank, daß ich dich nicht brennen ließ, Walpurgishexe“, rief übermütig der Jüngling. Und das Mädchen bot ihm lachend den friſchen Mund. „Schau den da drüben,“ ſagte ſie dann, als ſie neben⸗ einander im taufriſchen Graſe ſaßen, „den langen Braunen. 126 War er's nicht, der drunten in der Mühle mit ſauer⸗ töpfiſcher Miene von der Erziehung zur Kameradſchaft⸗ lichkeit ſprach? Jetzt macht er der Frieda zärtliche Augen! „Was hältſt denn du von der Kameradſchaft?“ frug er neckend und zog an der ungebärdigen Locke, die ihr tief auf die glühende Wange hing. „Gar nichts“, antwortete ſie luſtig, und dann, mit ern⸗ ſtem Geſicht: „Liebhaben ſollen wir uns, ohne Getue — liebhaben können, ohne daß die Mädeln kokett und die Jungens gemein werden. Fern im Oſten färbte ſich der Himmel. Das war die Schläferin, die Sonne, die, ausgeruht, ihr roſiges Ant⸗ litz erhob und mit noch traumbefangenem Lächeln die Berg⸗ ſpitzen grüßte. In vielen jungen Augen hing ſich ihr erſter Strahl und blieb beglückt von den klaren Spiegeln ſeiner Schöne in ihnen hängen. Das Opferfeuer der Racht zog ſcheu und beſchämt vor dem ewigen Licht über ihr ſeine letzten Flämmchen in die ſchwarze Aſche. „Vom Himmel hoch, o Englein, kommt! Kommt, ſingt und klingt, kommt, pfeift und tromt! tönte es feierlich in der Runde. Händeſchüttelnd, als gält's einen Abſchied von alten Freunden, ging Konrad von einem zum anderen. Vor der Lotte, die niedergeſchlagenen Auges am Bande der Laute neſtelte, blieb er ſtehen. „Lebwohl!“ ſagte er einfach. Sie legte ihre Hand in die ſeine und hob die Lider. Ihre Augen waren feucht: „Lebwohl -" Und nach Oſt und nach Weſt ſtiegen ſie ab zu Tal. Konrad ſchritt kräftig aus. Kein Schlaf hatte ihn je ſo friſch und froh ins Freie entlaſſen. Zwei Briefe warteten ſeiner. „Von Elſe —“ dachte er. Aber ſo ſtark wie ſeine Erwartung geweſen war, empfand er im Augenblick ihre Erfüllung nicht. Als 127 hätte er eben auf einem Berghange voll blühender Alpen⸗ roſen geſtanden und träte plötzlich in ein Treibhaus blaſſer Azaleen. „Nur um uns vor ſchmerzhaftem Mißverſtehen zu be⸗ wahren, ſchreibe ich Ihnen heute“, las er; „aber Sie müſſen ſich an dieſen wenigen Zeilen genügen laſſen. Wer möchte einen lieben Freund, der ſich des blühenden Sommers freut, an vereiſte Seen und entlaubte Bäume erinnern. Sollte Ihnen Warburg, der mich neulich in meiner Klauſe überfiel, allerlei Sentimentalitäten von mir erzählen, ſo ſchenken Sie dem keine allzu große Be⸗ achtung. Er iſt ſelbſt verändert, wärmer, ich möchte faſt ſagen menſchlicher und ſieht mit anderen Augen Konrad, deſſen volles Intereſſe wieder erwacht war, riß den Umſchlag von dem anderen Brief. Warburg ſchrieb: „Für Deine und Deiner verehrten Frau Großmutter Einladung danke ich von Herzen. Aber ich möchte in dieſem Sommer hier bleiben. Ich will die Ferien be⸗ nutzen, um mich mit einer Frage näher zu beſchäftigen, die je mehr ſie außerhalb meines Studiums liegt, um ſo mehr meine Empfindung gefangen nimmt: dem Zio⸗ nismus. Frau Sara Rubner, — Du erinnerſt Dich vielleicht der jungen Frau mit dem intereſſanten Mongolen⸗ typus aus dem Simmel⸗Kolleg, — gewinnt mich mehr und mehr dafür. Für uns moderne Juden, die wir uns immer ſtärker unſerer ſeeliſchen Heimatloſigkeit bewußt werden, bietet ſich hier vielleicht — vielleicht — ein neuer Wurzelboden.“ Alſo auch er, dachte Konrad verwundert, auch er, den das Studium, der kommende Beruf ſo ganz zu erfüllen ſchienen, bedurfte noch eines anderen Lebensin⸗ halts! „Doch nicht dies iſt der Grund meines heutigen Briefes. Ich hätte wohl noch lange mit ihm gezögert, wenn mein Beſuch bei Elſe Gerſtenbergk mich nicht faſt zu einem Telegramm an Dich bewogen hätte. Es muß etwas für ſie geſchehen. Pawlowitſch ſcheint ſie verlaſſen zu haben, wenigſtens ließ er ſeit Monaten nichts von ſich hören 128 — man behauptet, er ſei mit Frau Renetta Veit an der Riviera geſehen worden, — und ſie leidet unſäglich. Jedes Lächeln, zu dem ſie ſich zwingt, denn kein Wort der Klage kommt über ihre Lippen, ſchneidet ins Herz. Man ſollte ſie der Einſamkeit, der ſie ſich widerſtands⸗ los ergibt, gewaltſam entreißen, und Du, an dem ſie mit rührendem Vertrauen hängt, wärſt der rechte Mann dafür. Lade ſie ſtatt meiner nach Hochſeß. Mache es recht dringend, als wäre ihr Kommen in Deinem Intereſſe notwendig.“ Konrad legte den Bogen erregt beiſeite. Gewiß, es mußte geholfen werden, er mußte helfen. In Erinnerung an den, um deſſentwillen ſie zugrunde ging, ballte er unwillkürlich die Hände. Seine Freundſchaft mußte ihm dies Opfer entreißen. Freundſchaft?! Lachte ihn nicht eben wieder die rote Lotte an?! — Mit raſchem Ent⸗ ſchluß, jedes Bedenken weit von ſich weiſend, ging er zur Großmutter. Er war nicht ohne Sorge, ob ſie ſich würde gewinnen laſſen. Rückhaltlos erklärte er ihr die Lage Elſens, zeigte ihr auch Warburgs Brief. Die Gräfin antwortete zunächſt nicht. Sie ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder, um ſchließlich, vor dem Enkel ſtehen bleibend, einen langen forſchenden Blick auf ihn zu werfen. „Sie iſt nicht deine Geliebte?“ fragte ſie langſam. „Rein, Großmama“, antwortete er, ihrem Blick be⸗ gegnend. „So mag ſie kommen“, lautete gleich danach der Be⸗ ſcheid. Stürmiſch zog Konrad die Hände der Greiſin an ſeine Lippen. Ein Ausdruck plötzlich aufſteigender Beſorgnis huſchte über ihr Antlitz. Sie beherrſchte ſich jedoch raſch. „Ich ſchreibe ſelbſt,“ ſagte ſie dann, ſich vor den Schreibtiſch ſetzend. „Wie gut du biſt!“ er beugte ſich über ſie, ihre weißen Haare mit einer Bewegung ſcheuer Ehrfurcht ſtreichelnd. Sie ſah auf: „Gut?! Sie iſt eine anſtändige Frau, Braun, Lebensſucher 9 129 denke ich, und würde, nur von dir geladen, nicht kommen.“ Die nächſten Tage verlebte Konrad in wachſender Ungeduld, bis ſchließlich — endlich! — der Brief mit der bekannten Schrift auf dem Teetiſch lag. Schon als ſie den Bogen auseinanderfaltete, erhellte ſich das Ant⸗ litz der Gräfin: dieſe zarten, ein wenig fallenden Schrift⸗ züge — eine Wieſe, deren feine Halme ſich unter dem Abendwind leiſe ſenken — gefielen ihr weit beſſer als jene großen ſteilen, mit denen die dümmſten Frauen Originalität vorzutäuſchen vermochten. Und auch der Inhalt befriedigte ſie ſichtlich. „Ein liebes Geſchöpf, warmherzig und einfach,“ ſagte ſie, Konrad den Brief hinüberreichend, „du wirſt ſie am beſten morgen ſelbſt abholen. Die Tanten horchten auf. „Ich erwarte einen Gaſt,“ fuhr die Gräfin fort, „eine mir ſehr empfohlene junge Dame, Fräulein Gerſtenbergk, die ſich ein paar Wochen bei uns erholen ſoll.“ Die Tanten wechſelten einen ihrer vielſagenden Blicke, nicht ohne Hilde dabei bedauernd zu ſtreifen. „Von den ſächſiſchen Gerſtenbergs auf Heiligenſuhl?“ frug Ratalie intereſſiert, „eine der beſten Familien!“ „Und durch die Mutter, eine Vierort, ſehr vermögend“, ergänzte Eliſe voller Genugtuung. Hilde ſenkte den Kopf noch tiefer auf ihre Arbeit. „Ganz und gar nicht, meine Lieben“, entgegnete die Gräfin mit jenem ſpitzbübiſchen Lächeln, das ihrem Ge⸗ ſicht einen oft kindlichen Ausdruck verlieh; „es handelt ſich um ein einfaches Fräulein Gerſtenbergk, eine Stu⸗ dentin“, und ſie weidete ſich an den langen Geſichtern der beiden Damen. „Eine Emanzipierte!“ rief Ratalie entſetzt. „Da wird unſere liebe Hilde wohl Platz machen müſſen“, klagte Eliſe. „Haben wir nicht genug Fremdenzimmer?“ meinte die 130 Gräfin mit bewußtem Mißverſtehen; „der Umgang mit dem klugen Mädchen würde Ihnen, liebe Hilde, über manche leere Stunde hinweghelfen. Die Angeredete ſah errötend auf: „Gewiß, Frau Gräfin; ich bleibe mit Freuden, wenn Rataliens ſpitze Stimme ſchnitt jedes weitere Wort ab: „Du wirſt jedenfalls die Erlaubnis deiner Mutter einholen müſſen, liebes Kind. Rach deutſchen Be⸗ griffen —“ ſie betonte das „deutſchen“ mit Rachdruck — „iſt eine Perſon, die mit Männern zuſammen ſtudiert, oder zu ſtudieren behauptet, kein erwünſchter Umgang für junge Damen unſerer Kreiſe.“ Und alle drei ſtan⸗ den auf. Am nächſten Tage fuhr Konrad Hochſeß mit ſeinen beiden Füchſen den Gaſt in den Hof. Hinter den Gar⸗ dinen ihrer Fenſter ſah er die Geſichter der Tanten ſich an die Scheiben drücken und hinter der Küchentür ver⸗ ſchwand, im Augenblick, als er Elſe vom Wagen half, Hilde Rothauſens weißes Kleid. Er lächelte wehmütig: ſie mochten beruhigt ſein, alle drei! Die Gefürchtete war wie das Silberwölkchen droben am Himmel, das ein kräftiger Oſt jeden Augen⸗ blick auflöſen konnte. Selbſt die raſche Fahrt hatte ihre farbloſen Wangen nur ein ganz klein wenig zu röten vermocht. Sie wäre eine ihrer Märchenpuppen geweſen, wenn ſich nicht allmählich in den Augen ein Lebensfunke entzündet hätte. „O, der Lindenbaum!“ — „Und dort die Schwalben! - „Wie das Waſſer ſchwatzt!“ — „Wie die Roſen blühen!" - hatte ſie zwiſchen langen Pauſen mit immer hellerer Stimme ausgerufen. Ganz zuletzt hatte ſie Konrads Arm leiſe berührt und ihm, als wär's ein großes Geheimnis, mit einem verirrten Lächeln um die Mundwinkel zuge⸗ flüſtert: „Seit zehn Jahren war ich immer in Berlin, immer!“ Gerührt ſchloß die Gräfin das blaſſe Mädchen in ihre 131 9* Arme, auch der letzten, leiſen Beſorgnis enthoben. Das war keine, die auszog, Herzen zu brechen, ihr eigenes vielmehr mochte wohl ſchon gebrochen ſein. Es kamen jene ſtillen Sommertage, erfüllt von weicher, warmer Luft, die ſich nur wie ein leiſes Atmen der Erde ſanft bewegt, überwölbt vom immer gleichen milden Blau des reinen Himmels. Das ferne Dengeln der Senſen, das Plätſchern des Bachs, Bienengeſumm, Grillengezirp, Waldesrauſchen und verhallendes Vogelgezwitſcher ver⸗ einigten ſich, von den Wellen der klaren Luft getragen, zu einem einzigen Schlummerlied der Seele, und am Abend fielen im Chor die tiefen Stimmen der Unken und der Fröſche wie Orgelbegleitung ein. Das iſt die große Feierzeit des Jahres; die Zeit, die ſelbſt auf harte Geſichter einen Zug von Frommſein malt. Auch über Elſe kam das Wunder. Die Sonne malte das krankhafte Weiß ihrer Haut mit durchglutetem Braun, die Luft wiſchte die ſchweren ſalzigen Tropfen aus ihren Augen und der Geſang der Ratur lullte die Stürme des Herzens ein. Sie ging umher, wie der lebendige Geiſt dieſer Tage, hell und ſtill. Einem jeden wurde warm ums Herz, der ſie in ihrem ſchlichten Kleide durch Hof und Garten wandeln ſah. Es hielt ſie nie lange im Zimmer. Roch ehe die Mägde am Morgen mit den klappernden Milcheimern zu den Ställen gingen, war ſie ſchon auf weichen Sohlen leiſe hinausgeſchlüpft. Und noch ehe die Gräfin, die nach Art alter Leute keinen langen Schlaf hatte, ihr Wohn⸗ zimmer betrat, war ſie wieder heimgekehrt und hatte die ſchlanken, vielfarbig ſchimmernden venetianiſchen Gläſer auf den Tiſchen mit blauen Glockenblumen gefüllt. Selbſt in die nüchternen Stuben der Tanten mit den geſcheuerten Böden und ſtets blank polierten, ſtäubchenloſen gelben Holzmöbeln wagte ſie ſich hinein und gab ihnen mit ein paar Sträußchen von Heckenroſen ein frohes Geſicht. 132 Hilde, die dem neuen Gaſt zunächſt keine Beachtung geſchenkt hatte, erwachte allmählich aus ihrer Lethargie. Sie fühlte die Woge voll Wohlwollen, die der Fremden entgegenkam. Und ſie fing an, ihr nachzugehen, ſie zu imitieren. Es kamen Morgenſtunden, in denen Hildens Stimme im Wechſelgeſpräch mit der ihren zu den offenen Fenſtern der noch Schlummernden emporklang. Die Weißſtickerei ruhte verſtaubt im Körbchen. Die enge, dumpfe Welt, um die ihre kleinen Gedanken, wie kaum flügge Vögel um das Reſt, ängſtlich geflattert hatten, erweiterte ſich. Gab es wirklich für ein Mädchen, das auf den Mann wartete, etwas anderes zu tun, als ſtill bei der Handarbeit zu ſitzen? Sie horchte auf, wenn Elſe erzählte, und das einzige, für das ſie bisher ein wenig Intereſſe gezeigt, eine gewiſſe ſpieleriſche Tätig⸗ keit entfaltet hatte, der Garten, erſchien ihr ſogar im Lichte einer ernſten Arbeit. Aber auch allerlei Luſtiges gab es zu tun, das freund⸗ liche Worte und Blicke eintrug: im Walde Erdbeeren pflücken, die mittags überraſchend im weißen Weine dufteten; im Garten die ſich erſchließenden Knoſpen von den verwelkenden Rachbarinnen befreien, und zuweilen heimlich, ganz früh, wenn es niemand ſah, in das Knopf⸗ loch des Rocks, der vor Konrads Türe hing, die aller⸗ ſchönſte ſtecken. Zuerſt hatte er ſich wohl verwundert, wenn er ſie ſah. hatte ſie ſogar ärgerlich beiſeite geworfen, da ſie von Elſe nicht kommen konnte, die ſich kaum um ihn küm⸗ merte. Dann aber kam auch über ihn eine ſo ſeltſam weiche Stimmung, die ihm gebot, niemandem weh zu tun, und er ließ ſich den Morgengruß gefallen, mit der Geberin harmlos darüber ſcherzend. Er bemerkte nicht, wie ihre fahlen Blauaugen dabei aufleuchteten, wie ſie ſich bemühte, durch allerlei kleine Aufmerkſamkeiten, die ſie Elſen ablauſchte, noch mehr Beachtung zu finden. Wenn Konrad von Ritten und Wanderungen heim⸗ 133 kam, fehlte ihm das Gefühl, das ihn ſonſt in Gedanken an den Kreis um den Teetiſch, an die Tanten, die Fledermäuſe, die dem Himmel die Sonne nicht gönnten, beſchlichen hatte. Jetzt, das wußte er, ſchwebte ſiegreich über ihrem böſeſten Stirnerunzeln, ihrem bitterſten Mundverziehen das frohe Geſpräch der anderen. Einmal aber fauchte in die Rachmittagsſtille wie Ge⸗ witterſturm der überraſchende Beſuch der Baronin Rot⸗ hauſen. Die Baroneſſen und die Frau Gräfin wolle ſie ſprechen, ſagte ſie mit röchelndem Atem dem Diener, der ſie melden wollte. Von der Terraſſe herein kamen die drei mit erſtaunten Geſichtern. „Ich will mein Kind, mein armes mißleitetes Kind“, rief ſie ihnen entgegen, ſo daß Konrad, Elſe und Hilde es draußen hören konnten. „Das muß ja eine merk⸗ würdige Dame ſein, Frau Gräfin, die Sie meiner Tochter zur Geſellſchaft ſo dringend empfohlen haben! Macht das Kind aufſäſſig, läßt ſie aller Würde vergeſſen, die ſie ihrer Geburt ſchuldig iſt.“ Sie ſchöpfte Atem. „Aber —“ begann die Gräfin, doch die Aufgeregte ſprach bereits weiter: „Gärtnerin will ſie werden — Gärtnerin! Iſt ſo etwas je erhört geweſen?! Eine Rot⸗ hauſen, die Dung karrt und Kartoffeln buddelt!“ Der Atem ging ihr aufs neue aus. „Ich will mein Kind zurück, mein armes mißleitetes Kind!“ ſchrie ſie mit überſchnappender Stimme. „Wir ſind unſchuldig“, ſagte Ratalie achſelzuckend. „Ganz unſchuldig“, wiederholte Eliſe mit einem ſchmerz⸗ bewegten Augenaufſchlag. „Ich weiß von der ganzen Sache nicht das mindeſte, liebe Frau Baronin“, ſagte die Gräfin kühl. „Es wird wohl das beſte ſein, Sie ſprechen Ihre Tochter ſelbſt. Draußen auf der Terraſſe beruhigte ſich die Erregte etwas. Elſens unſcheinbare Erſcheinung — Hilde hatte von ihr in einer Weiſe geſchwärmt, die ſie als eine be⸗ denkliche Konkurrentin erſcheinen ließ — und Konrads 134 freundliche Ritterlichkeit, mit der er Hilde verteidigte, dämpften ihren Zorn. „Wir haben ja gar nichts dagegen, lieber Baron, flötete ſie, „daß unſer Kind ſich unter der Leitung un⸗ ſeres Gärtners und unſerer Wirtſchafterin über all die Dinge näher orientiert, die eine tüchtige Gutsfrau wiſſen ſollte. Aber eine Schule! Eine Gartenbauſchule!! Un⸗ möglich, unmöglich! Das Fräulein“ — und ſie lorg⸗ nettierte Elſe neugierig — „iſt ſich natürlich nicht klar geworden, wen ſie vor ſich hat.“ „Ganz klar, Frau Baronin,“ ſagte Elſe ruhig, „ein Mädchen wie viele, das in Gefahr ſteht, vor lauter ge⸗ ſchäftigem Richtstun ein unglücklicher Menſch zu werden.“ „Wie können Sie ſich erlauben —“ fuhr Frau von Rothauſen auf, ſie nahm ſich aber raſch wieder zuſammen; vor ſolchen Leuten durfte man ſich keine Blößen geben! Sie lehnte ſich ſteif in den Stuhl zurück und ſagte feier⸗ lich: „Den einzigen Beruf der Frau wird meine Tochter in der Ehe finden, mein Fräulein, und auch ihr einziges Glück. Und nun, mein Kind,“ damit wandte ſie ſich) an Hilde, die abwechſelnd rot und blaß geworden war, „bedanke dich bei deinen gütigen Gaſtgebern, packe dein Köfferchen und komm. Der Vater kann deine Rückkehr gar nicht erwarten.“ Das Mädchen ſtand auf, krampfte die Hände inein⸗ ander, ſah ſich wie hilfeflehend nach allen Seiten um und ſagte dann: „Wenn ich noch bleiben dürfte! Fräu⸗ lein Gerſtenbergk iſt — iſt ſo viel für mich. Rie — nie „Unerhört!“ ſchrie die Baronin, faſſungslos, „und das ſagſt du mir — mir, deiner Mutter! Hilde brach in Tränen aus. „Ich meinte doch nicht dich, nur die fremden Menſchen“, ſchluchzte ſie. „Das iſt Dankbarkeit“, ſagte Ratalie ſpitz. „Gott — das iſt doch auch nur eine veraltete Tugend, nicht wahr, Fräulein Gerſtenbergk?“ meinte Eliſe. iſt ein Menſch ſo gut zu mir geweſen." 135 Die aber hatte ſich Hilden, die nun noch verzweifelter weinte, zugewandt. „Geh, Hilde, gehorche deiner Mutter, flüſterte ſie ihr zu; „beweiſe ihr, wenn du zu Hauſe biſt, daß du nicht verdorben wurdeſt. Dann erreichſt du weit eher, was du willſt.“ Hilde ſtarrte Elſe an, entgeiſtert. Ihre Tränen waren verſiegt. „So etwas rätſt du mir!“ rief ſie, „du, die mir predigte, ſtark zu ſein! Du!“ Und ihr nichtsſagendes Geſicht verzerrte ſich plötzlich vor Haß und Hohn, während ihr Blick zwiſchen Elſe und Konrad hin und her flog. „Ich werde ſelbſtverſtändlich den Wünſchen meiner Eltern Folge leiſten“. Es war jetzt wieder die wohl⸗ erzogene junge Dame, die aus ihr ſprach. Elſe bot ihr beim Packen ihre Hilfe an. „Danke, ich habe dem Mädchen geklingelt“, war die hochmütige Antwort. Und ſie fuhr fort, ohne ihr noch die Hand zu geben. Von da ab ſchlug die Stimmung in Hochſeß um. Waren es die ſich mehr und mehr zuſammenziehenden Gewitterwolken, die ſchwer auf allen laſteten? War es die elektriſche Spannung der Luft, die in gereiztem Weſen, in Angſtlichkeit und Unſicherheit zum Ausdruck kam? Die Tanten benutzten jeden Anlaß zu ſpitzen Be⸗ merkungen gegen Elſe; ſie begegnete ihnen mit ſchwer zu verſteckender Verletztheit. Häufiger als ſonſt kamen die Nachbarn nach Hochſeß. „Langweilen Sie ſich auch nicht?“ frugen die Herren angenzwinkernd und ſchnurrbartdrehend den jungen Hausherrn, der die Fauſt in der Taſche ballte. Und dann, wenn Elſe kam, muſterten ſie das junge Mädchen, prüfend, abſchätzend. Der Klatſch ging um in der Gegend. Auf dem Greifenſtein war er zur Welt gekommen, das ſchatten⸗ hafte, großmäulige Ungeheuer ohne Knochen und Mus⸗ keln. Es wand ſich durch alle Täler, es kroch zu den Bergen hinauf, es ſchlüpfte, zuſammengezogen, durch 136 alle Türen, um ſich in den Zimmern breit und behäbig auszubreiten. Konrad fühlte, daß irgend etwas die Freundin be⸗ drohte, kaum daß ſie von der alten Laſt befreit worden war. Der Wunſch, ſie zu ſchützen, ihr zur Seite zu ſtehen, wurde immer ſtärker, wärmer. Er, der ſonſt gern in den Tag hineinträumte, horchte, von der erſten Dämmerſtunde an, auf ihren leichten Schritt im Flur. Zuerſt folgte er ihr nur von ferne. Er ſah ihr Kleid um die Baumſtämme wehen, ſah, wie ſie auf den ſchmalen Füßen elaſtiſch von Stein zu Stein ſtieg, wie ihre Arme ſich in feiner Rundung hoben, um einen blütenſchweren Aſt zu ſich nieder zu ziehen, wie der Körper ſich bog, bei aller Schlankheit weiche Formen verratend, um die Blumen am Bach zu erreichen. Und einmal ſah er auch hinter Büſchen ver⸗ ſteckt ihre Augen, in Träumen verloren, ihren Mund in Erinnerung lächelnd. Galten Träume und Erinnerungen wohl immer noch ihm, dem Ungetreuen? Es hielt ihn nicht länger. „Fräulein Elſe“, ſagte er leiſe. „Konrad — Sie?!“ und ein heller Schein flog über ihre Züge. Wäre ſie nicht vor mir erſchrocken, wenn ſie an Pawlowitſch gedacht haben würde? fuhr es ihm befreiend durch den Sinn. Sie gingen nun oft miteinander, ganz offen, vor den Augen der Tanten. Ihm war, als wäre ſie jetzt erſt angekommen. Zu ihm. Von der Vergangenheit ſprach keiner von den beiden. Auf ihren gemeinſamen Wanderungen, die ſie mit eigenſinniger Beharrlichkeit über die Grenzen des Guts⸗ bezirks nicht ausdehnen wollte, wurde ſie mehr und mehr die Führende, weil ſie die Unterrichtete war. Beſſer als er kannte ſie Weg und Steg, hatte ſich mit offnen Sinnen und liebevollem Eingehen in die Eigentümlichkeiten der 137 Ratur, in die Bedingungen und Forderungen des Grund und Bodens, in das Leben und Treiben der dünn ge⸗ ſäten Bevölkerung verſenkt, und mit einem aus Scham und Staunen gemiſchten Gefühl lernte er durch ſie die Heimat kennen, die ihm vor lauter gewohnheitsmäßig gleichgültigem Anſchauen im Grunde die Fremde geweſen war. In ihrem Eifer und ihrer Entdeckerfreude bemerkte ſie zunächſt wenig davon, nur manchmal entfuhr ihr ein Ausruf komiſchen Entſetzens, wenn er ihr über den eigenen Beſitz und ſeine Bewohner ſo gar keine Aus⸗ kunft zu geben vermochte. „Sie gehen wie ein Gaſt im eigenen Hauſe umher“, ſagte ſie bei einer ſolchen Gelegenheit. „Der größte Teil der Menſchheit krankt daran, daß er entwurzelt iſt, daß ſeinem Lebensatem die natürliche Rahrungsquelle fehlt, und Sie beſitzen dieſes unſchätzbare Gut und wiſſen es nicht.“ „Sie vergeſſen: ich hatte nie ein ungeteiltes Heimats⸗ gefühl. Im Lande meiner Mutter lebte ſtets meine Phantaſie; dorthin führte mich meine Sehnſucht“, ent⸗ gegnete er. Erſt jetzt war ihm, was er ſagte, zu vol⸗ lem Bewußtſein gekommen. Den Spuren der Groß⸗ mutter, ihrer Tatkraft, ihrem Ordnungsſinn, begegnete er in Haus und Dorf, in Wald und Feld; aber ihm wehte dabei etwas Kühles, Unperſönliches entgegen. Und Elſe, die mehr und mehr auch ſein Schweigen verſtand, meinte: „Wie eine fremde Königin iſt ſie, die das Reich treulich verwaltet, ohne ſich ihm jemals zu eigen zu geben. Und doch,“ fügte ſie nach einer kleinen nachdenklichen Pauſe hinzu, „müßte es Seligkeit ſein, ſich mit den jungen Buchen dort um die Wette — tief in dieſen Boden zu ſenken!“ Konrads Auge begegnete dem aufleuchtenden Blick, den ſie zu ihm erhob. Es ſtrömte ihm heiß zum Herzen. Und leiſe und zärtlich ſchob er ſeinen Arm in den ihren, als gehörten ſie zueinander. 138 Die Landleute lächelten, wenn ſie die Wandernden ſahen. Sie fühlten ſich dem ſchlichten blonden Mädchen vertraut, deſſen Blick ſo warm war, deſſen Händedruck keinen Handkuß forderte. Ihre Anteilnahme an ihrem Ergehen war ohne Reugierde, ihr Mitleid mit ihren Röten keine Ankündigung verletzender Almoſen. „Das wird eine gute Frau“, ſagten ſie. In jedem, auch dem ärmſten Oberfranken lebt etwas von echter Edelmannsgeſinnung. Er bettelt nicht, er darbt lieber, und wenn er der kahlen Hochebene ent⸗ ſtammt, ſo iſt er rauh und unzugänglich wie ſie. Konrad entſann ſich nicht, hier oben je anders als zu Wagen oder zu Pferde geweſen zu ſein. „Wie ein Grand⸗ ſeigneur, nicht wie ein Landesvater“, meinte Elſe mit leiſem Vorwurf, als ſie miteinander über die einſame Halde ſchritten. Hier, wo Kalkſtein und Dolomit die Oberfläche bilden und weder Teiche noch Bäche vor⸗ handen ſind, vermag ſelbſt härteſte Arbeit dem Boden nur wenig abzuringen. Reben den vereinzelten kleinen Häuſern wird das Regenwaſſer in Lehmgruben geſam⸗ melt, um wenigſtens einen armſeligen Küchengarten er⸗ halten zu können. Wetterdiſteln und blaſſe Waldane⸗ monen wachſen zwiſchen dem ſpärlichen Raſen; ſchwarz und einſam richten dazwiſchen hier und da Wacholder⸗ büſche ihr Haupt empor. „Wie ein Totenacker!“ ſagte Konrad ſchaudernd. „Wenn man Waſſer hinaufzuleiten vermöchte, um wie Fauſt einem freien Volk den freien Grund zu erobern, entgegnete ſie, „wäre das nicht eine Aufgabe, wert, ſich dafür einzuſetzen? „Für dieſen dürren Boden — das blühende Leben?! rief er abwehrend aus. „Beſchränkung iſt überall unſer Los“, warf ſie leiſe und wehmütig ein. „Gewiß, gewiß,“ nickte er eifrig, „aber erſt nach⸗ dem wir für unſer beſchränktes Wirken den höheren, 139 allgemeineren Zweck und Sinn gefunden haben. Wie in einem Gefängnis würd' ich erſticken, wenn ich dem Warum meines Lebens nicht auf den Grund gekommen wäre!“ Es war ein weicher Sommerabend damals mit ſilber⸗ grau verhängtem Himmel. Sie ſchwiegen lange. Bis ſie wieder leiſe zu plaudern begann. Er hörte kaum, was ſie ſagte, aber der Ton ihrer Stimme fiel, wie ſanfter Regen nach dem Sturm auf Buſch und Baum, beruhigend auf ſeine bewegte Seele. Sie ſprach von der Gegenwart und nur von ihr, als wäre die Vergangenheit ganz und gar vergangen; ſie ſprach von Hochſeß, als wäre dies Stückchen Erde die Welt. Und er wurde ganz ſtill. Ihm war auf einmal, als wüchſe eine Mauer um die Grenzen ſeines Guts, über die kein Suchen und Sehnen jemals hinüber zu ſteigen vermöchte. Er und ſie — das war Ausgang und Ziel. Das war Glück. „Liebe, liebe Elſe!“ ſagte er und legte den Arm um ihre Schultern. War es der trübe Abend, der ihre Züge ſo bleich erſcheinen ließ? Dann ſaßen ſie zu dritt vor dem großen Kamin im Zimmer der Gräfin, denn ein Wetter, daß in der Ferne noch grollte, hatte die Luft erheblich abgekühlt, und die alte Dame benutzte gern jeden Vorwand, um Hände und Füße, die ſich immer ſchwerer erwärmen wollten, der belebenden Wirkung des Feuers auszuſetzen. Ihre Augen hingen an dem Relief des Kamingeſimſes, einem feinen Gerank, das das Bild einer an den Felſen geſchmiedeten Ariadne leicht umkränzte. Der ſtark heraus⸗ gearbeitete Körper der Gefeſſelten wurde im Schein des Feuers lebendig. „Iſt ſie nicht ein antikes Symbol der Knechtſchaft, aus der Sie die Frauen befreien wollen?“ ſagte ſie und ſpann, als keine Antwort kam, den Faden ihres Ge⸗ dankens weiter; „Sie ſollten nur nicht vergeſſen, daß 140 es zwar ein Mann geweſen iſt, der die Schöne ihrer Freiheit beraubte, aber auch ein Mann, der ihr Be⸗ freier war. Sie geht immer nur von einer Hand in die andere“. Auch jetzt blieb es ſtill. „Run, Sie ſchweigen —?“ und ſie hob ein wenig den Schirm der vor ihr ſtehenden Lampe, um Elſen ins Geſicht zu ſehen. „Was iſt Ihnen, mein Kind?“ rief ſie ihn wieder fallen laſſend, und beugte ſich beſorgt zu dem Gaſt hinüber. „Ich ſpürte die Druckſtellen meiner Ketten wieder“, ſagte Elſe, während ein Fröſteln ihren Körper durchlief. „Der geſprengten, nicht wahr?“ frug die Gräfin, die kleine Hand des Mädchens leiſe ſtreichelnd. Es war das erſtemal, daß ſie das Schickſal ihres Gaſtes be⸗ rührte. Wunden, das wußte ſie, müſſen erſt vernarbt ſein, ehe man ihre ſchützende Hülle lüſten darf. „Der geſprengten — ja!“ antwortete Elſe mit un⸗ gewöhnlich heller Stimme. „Wirklich?“ fiel Konrad ein. Forſchend ſah die Gräfin zu ihm hinüber. War es nur die Teilnahme des Freundes, die ſeinem Ton eine ſo warme Färbung gab? Aber Elſe ſchien ihn zu über⸗ hören. Mit tränenſchimmernden Augen führte ſie die Hand der Gräfin an ihre Lippen. „Alles danke ich Ihnen — alles! Ich war erfroren, war leblos. Der Schmerz, der das Herz zerreißt, uns die wildeſten Gedanken der Selbſtzerfleiſchung ins Hirn hämmert, iſt ein gütiger Freund, iſt eine Art Reaktions⸗ erſcheinung der Seele — wie das Fieber etwa für den Körper — im Vergleich zu dem Gift, das ſie zerſtören will. Rur die vollkommene Fühlloſigkeit, jenes gräßliche Leer⸗ ſein in Kopf und Herz, jenes ſich ſelbſt zum Geſpenſte werden, das iſt die Hölle. Ihr Brief — der Brief einer Frau, der ich fremd war, der mein ganzes Denken, Fühlen und Sein faſt wie etwas Feindſeliges erſcheinen 141 mußte, und die mich dennoch zu ſich lud, und das in einem Augenblick, wo ich ganz verlaſſen war — Ihr Brief war der erſte Sonnenſtrahl auf das Eis, unter dem mein Leben ſchlief. Und jeder Tag, ach, was ſage ich: jedes gütige Lächeln, das mir galt, jeder Hände⸗ druck, der mehr ſagte, als hundert teilnehmende Worte ſagen könnten — Worte, deren Tonfall ſchon zu be⸗ leidigen vermag! — lockte aus dem erſtarrten Boden neue Blüten hervor. Und nun — nun,“ in leiden⸗ ſchaftlicher Bewegung war ſie der Gräfin zu Füßen ge⸗ ſunken, „lebe ich wieder!“ Zwei Hände legten ſich um ihre Schläfen, zwei Lippen ruhten auf ihrer Stirn. „Im Schoß der Mutter,“ dachte ſie und meinte zu fühlen, wie von Händen und Lippen ein Strom von Ruhe ausging, ſie umfloß und durchdrang. Sie hob den Kopf. Zwei Augen trafen ſie, — dunkel wie Weiher in der Racht, in deren Tiefen goldene Schätze glühen. Sie ſtarrte ſie an, ſelbſtver⸗ geſſen: waren es die der Gräfin, die Konrads?! Mit einem Lächeln, das ihr eigenes nicht war, erhob ſie ſich, und ſagte — faſt fröhlich ſollte es klingen: „Und nun iſt es Zeit, daß ich gehe.“ Es blieb ſtill in dem Zimmer. Jeder erwartete wohl vom anderen, daß er antworten würde. Die Uhr, die ſonſt niemand hörte, tickte plötzlich ganz laut. „Ich muß arbeiten, ich büße ſonſt die Winteraufträge ein,“ fuhr Elſe zögernd fort. Dann griff ſie plötz⸗ lich, wie von einem Schwindel gepackt, nach der Stuhl⸗ lehne hinter ſich. Konrad ſprang zu, um die Wankende zu ſtützen. „Sie ſehen ſelbſt: daß es nicht Zeit iſt — noch lange nicht — von uns zu gehen“, ſagte er ſehr weich. Mit geweiteten Augen ſah die Gräfin von einem zum anderen; in jenem Ton klang Mannesliebe, jene echte, reine, ſchützende. Elſe hatte ſich ſchon wieder in voller Gewalt. 142 „Rur daß ich heute ſprach, von mir ſprach, hat mich ſo erſchüttert“, ſagte ſie. „Geſtatten Sie mir, Frau Gräfin, daß ich mich ein wenig früher zurückziehe? Roch ein Handkuß, ein freundliches, ein wenig zer⸗ ſtreutes „Gute Racht“ und Elſe ging. Ganz ſtill, mit geſenkten Lidern — als wolle ſie nie⸗ manden durch die Fenſter ihrer Seele ſchauen laſſen — ſaß die Gräfin zurückgelehnt in ihrem tiefen Stuhl. „Willſt du halbe Arbeit tun, Großmutter?“ frug Konrad leiſe; „willſt du ſie wieder frieren laſſen?“ Sie ſah nicht auf. Sie hörte nur: welch rührend zartes Beben war in dieſer Stimme! Es klopfte einmal, zweimal. Giovanni erſchien unter der Türe. „Was iſt's ſo ſpät?“ herrſchte ihn Konrad an. Er machte einen tiefen Bückling. „Der Wind riß die Fahne vom Turm. Ich ſagte längſt, daß die Stange morſch iſt.“ „Und damit erſchreckſt du uns jetzt?! „Damit Frau Gräfin morgen früh nicht erſchrecken.“ Er verſchwand wieder. Gräfin Savelli ſah ihm nach; auch als er ſchon ge⸗ gangen war, hafteten ihre Blicke noch in derſelben Richtung. Was war es doch, mas der Alte ihr ein⸗ mal vor Jahren geraten hatte? Die Lieſe hatte ſie ins Haus nehmen ſollen, des Müllers Lieſe, als der Knabe zum Jüngling gereift war. Pfui! „Großmutter, ich bitte dich, mir zuliebe, wenn du es um ihretwillen nicht tun magſt: halte die Elſe feſt! drängte Konrad. „Um deinetwillen — gut!“ Sie erhob ſich, ihm die Hand reichend. „Und nun kein Wort mehr darüber. Eine fremde Härte lag auf ihrem Geſicht. In dieſer Racht fand Konrad Hochſeß keinen Schlaf. Er konnte es nicht erwarten, ihr zu ſagen, daß ſie 143 bleiben dürfe, bleiben müſſe! Er lauſchte angeſtrengt; jedes Knacken im Holz, jedes Raſcheln der Gardinen, jedes Knarren des Fenſterladens ließ ihn auffahren: war es ihre Zimmertüre, ihr Kleid, ihr Schritt? Aber auch als der Morgen dämmerte, wartete er um⸗ ſonſt. Schweißperlen ſtanden auf ſeiner Stirne: war ſie nicht totenblaß geweſen geſtern abend, als ſie ſchlafen ging? Vielleicht war ſie über Racht erkrankt, lag hilflos und in Schmerzen allein in ihrem Zimmer! Oder ſie hatte ſich gar nicht niedergelegt, hatte heimlich das Haus verlaſſen! Er ſprang aus dem Bett und fuhr haſtig in die Kleider. Dann ſchlich er hinaus. Den langen Flur über die Galerie der Diele bis zum anderen Flügel, wo die Fremdenzimmer lagen, mußte er hinuntergehen, an der Wohnung der Tanten, an der des alten Habicht vorbei. Vor jeder Pforte horchte er, ob nicht ein Laut das Wachen der Bewohner verriete. Doch alles war ſtill. Aus den großen Fenſtern der Galerie ſah er auf den Hof hinab: nichts bewegte ſich. Drückende Sommer⸗ ſchwüle ließ jedes Blatt am Baum reglos ſchlafen. Schwer hing das Fahnentuch von der niedergeriſſenen Stange am grauen Gemäuer des Turms. Wie blaß die rote Roſe auf dem weißen Grunde ausſah! Von der Sonne ausgezogen, vom Regen verwaſchen — verwelkt. Ein Feſt wollen wir feiern, ein großes Feſt und eine neue Fahne hiſſen, mit einem ſtrahlenden Symbol des Glücks, dachte er freudig erregt und meinte Elſe vor ſich zu ſehen, im weißen Kleid mit Blumen im Haar, wie ihre kleine Hand mit ſilbernem Hammer das Tuch an die ſtarke Stange nagelte. Elſe! Das Herz ſchnürte ſich ihm zuſammen. An ihrer Türe ſtand er jetzt! War es der Ton des brauſenden Blutes in ſeinen Ohren, oder bewegte ſich etwas hinter ihr? 144 Gewißheit — um Gottes willen, Gewißheit! Er drückte die Klinke herunter — „Wer iſt da?“ — eine geängſtigte Stimme. „Ich“, und ſchon ſtand er vor ihr. Sekundenlang dunkelte es ihm vor den Augen. Dann ſah er: ein unberührtes Bett — einen halb gepackten Koffer und ſie — ſie! „Du bleibſt — bleibſt!“ ein erſtickter Schrei war's. An jenem Morgen gab ſie ſich ihm. Die Gräfin Savelli ſaß an ihrem Frühſtückstiſch; nach⸗ denklich zerbröckelte ſie das Brot zwiſchen den Fingern und überflog abweſenden Blicks die Poſtſachen, die ihr eben gebracht worden waren. „Iſt der Herr Baron ſchon auf?“ frug ſie den Diener. „Als ich eben den Kaffee brachte, ſchlief der Herr Baron noch“, antwortete er. Sie nickte. Alſo wußte Elſe noch nicht, daß ſie ihrem längeren Bleiben zugeſtimmt hatte. Ein befreiender Atemzug hob ihre Bruſt. Wie hatte ſie nur einen Augenblick lang ſo grauſam, ſo unmenſchlich ſein können! Dieſes Mädchen mußte gehütet, nicht preisgegeben werden. Der Diener erſchien ſchon wieder. „Fräulein Gerſten⸗ bergk“, meldete er. „Ich laſſe bitten“. Mit ausgeſtreckter Hand ging ſie ihr entgegen. Mitten im Zimmer aber ſtockte ihr Fuß. Schwebenden Schritts, als hätte ihr Körper keine Schwere, war Elſe über die Schwelle getreten. Ihr Antlitz leuchtete. Ob es auch bleicher und ſchmaler war als ſonſt und die Augen dunkel umſchattet. Es war nicht der Glanz eines Sieges, nicht das Strahlen ge⸗ noſſener Luſt. Es war wie alte Marienbilder, aus Holz geſchnitzt, in dunklen Kapellen über der ewigen Lampe leuchten. Braun, vevensſucher 10 145 „Ich möchte fort, gleich jetzt, Frau Gräfin“, ſagte ſie, ohne daß ihr Ausdruck ſich änderte. Die Angeredete war zu benommen, als daß ſie hätte antworten können. Sie ſah das Mädchen nur an. „Sie haben mich länger behalten wollen“, fuhr Elſe fort. „Sie wiſſen?!“ Der Blick der Gräfin war eine er⸗ ſtaunte Frage. Ein Lächeln, das weich ihren Mund umſpielte, ein großer, freier Augenaufſchlag begegnete ihr. Und die Blicke der beiden Frauen tauchten tief ineinander. Bis ſich die dunklen Sterne der Gräfin, tränengefüllt, nieder⸗ ſenkten. „Setzen Sie ſich zu mir — ſo — ganz nah, mein liebes Kind“, flüſterte ſie, Elſe an ſich ziehend. „Ich möchte fort, ehe Konrad erwacht“, ſagte das Mädchen mit bittend erhobenen Händen auf dem Fuß⸗ ſchemel kauernd. „Er ſoll nicht wiſſen, niemals wiſſen, wohin ich ging. „Heißt das nicht zu grauſam ſein? Er — liebt Sie, Elſe“, antwortete die Gräfin. Das junge Antlitz vor ihr leuchtete noch heller. „Er liebt mich. Mit einer rührenden, zarten Liebe, frühlingshaft. Er gab mir den Glauben wieder, den Glauben an die Menſchen, an mich! Soll ich nun die weiße Wieſenlilie ſeiner Liebe ſelbſtſüchtig und töricht in einen Scherben verpflanzen und die Hoffnung nähren, ſie würde den Herbſt überdauern? Ihren Duft will ich mit mir nehmen, reuelos.“ „Und — er?! Des Mädchens Lippen zuckten. „Wird leiden murmelte ſie, um gleich darauf feſten Tons fortzufahren: „Aber ein lebenslanges Unglück würde es, wenn ich bliebe. Er verließe mich nicht — aus Güte, aus Mit⸗ leid. Es würde eine jener Ehen ſein, die wie mit einem Henkerſchwert das Leben vom Körper trennten. Er aber 145 ſoll leben, ſoll das Leben erſt finden, das er ſo ſehn⸗ ſüchtig ſucht. Ich will ihm die Türe öffnen, nicht zu⸗ ſperren. Darum muß ich fort — gleich fort! Jetzt bin ich ſtark, in einer Stunde könnte ich ſchwach ſein. „Mir aber werden Sie nicht verheimlichen, wo Sie ſind?“ frug die Gräfin, aufs tiefſte erſchüttert. Elſens Lippen ſchloſſen ſich feſt zuſammen, was ihren Zügen den Ausdruck ſtarren Willens verlieh. „Doch — immer“, entgegnete ſie. „Auch, wenn Konrads Liebe Ihnen mehr bedeuten ſollte als — eine Erinnerung?“ Ein warmer mütterlicher Blick umfaßte ſie, deren Wangen ſich dunkel färbten. „Auch — dann! Der gelbe Poſtwagen rollte über den Hof — durch das graue Tor — ins Tal hinab. Konrad öffnete die Augen, um ſie gleich darauf, ſelig lächelnd, wieder zu ſchließen. 10* 147 Fünftes Kapitel Won Konrads Höllenfahrt und den Geißeln der Berolina In der Bar Aux Trois Gräces ſpielten rotbefrackte Zigeuner; ſie ſaßen in einem ſchmalen langgeſtreckten Raum, der ganz in eine Farbe getaucht war: dasſelbe giftige Grün leuchtete von den Tapeten, den Teppichen, den Bezügen der tiefen Stühle um die kleinen Tiſche. Es war leer, — Mitternacht, — noch viel zu früh für den Betrieb hier. Das Garderobenfräulein ſchlum⸗ merte an der Türe; ihre ſchlaffen grauen⸗Wangen hingen herunter, als wäre die Dreißigjährige eine alte Frau. Die Kellner ſtanden mit zuſammengeknickten Knien hinter den Portieren und gähnten. Jetzt hörten die Muſikanten zu ſpielen auf; ihre Ober⸗ körper fielen müde vornüber. Das ſchlummernde Gar⸗ derobenfräulein, — die knickebeinigen Kellner an den Portieren, — es war als grinſte die grüne Farbe ſchadenfroh über den Opfern ihres Gifts. Da ſchlugen Türen. Das Fräulein fuhr auf. Raſch die Puderquaſte. Eine weiße Wolke ſtäubte über ihre Züge, die Lippen zogen ſich über das falſche Gebiß zu⸗ rück — das war ein Lächeln. Geſchäftig liefen die Kellner hin und her und grinſten verbindlich; mit külmner Künſtlerbewegung warfen die Muſikanten die ſchwarzen Haarſträhnen aus der Stirne und polierten mit ein paar Gedanken an fürſtliche Trinkgelder die matten Augen. Der grüne Raum füllte ſich: Damen in Reiherhüten und Pelzmänteln, unter denen die Chiffonſchleppen wie bunte Schlangen über dem grünen Teppich züngelten; Mädchen in hochhackigen Bänderſchuhen, vorn gehobenen, 148 über den Hüften bauſchigen, unten ganz engen Röckchen, ſo daß ihre Geſtalten ausſehen, wie die der Frauen Holbeins, die ſtolz über dem geſegneten Leib die Hände kreuzen. Und dann die Herren im Cutaway, im Frack, im Smoking, ſehr ſchlank, von gewollter Sehnigkeit, mit aus der Stirn geſtrichenen Haaren, die noch die Schärfe und Fleiſchloſigkeit der glattraſierten Züge betonten. Sie begrüßten einander von Tiſch zu Tiſch, freund⸗ lich, gehalten. Sie konverſierten — das deutſche Wort „ſprechen“ hätte einen zu lauten Ton vermuten laſſen — mit den Damen und tranken gelbe und rote, grüne, bunte und weiße Flüſſigkeiten aus phantaſtiſch geform⸗ ten Gläſern, ohne dabei lauter zu werden. Eine Gruppe neuer Gäſte erſchien. Unter ihnen ein kleiner, weißbärtiger Alter, den ſelbſt das Garderoben⸗ fräulein mit verklärtem Lächeln empfing, und Konrad Hochſeß, deſſen Geſicht jede Erinnerung an die Knaben⸗ züge verloren hatte. Man grüßte die Eintretenden lebhafter als bisher. Der alte Herr beſonders war raſch umringt. „Ihr habt mich wohl ſchon zu den Toten verſammelt? lachte er, den ſie Hofrat titulierten. „Sie unterſchätzen unſere Intelligenz!“ ſagte ein kleiner Kerl mit einem runden Kindergeſichtchen. „Wir wußten Sie, und wenn Sie ſich noch ſo geheimnisvoll gebär⸗ den, mitten im Leben.“ „Von dem Sie wieder einmal bußfertig zurückkehrten, um ſich in unſerem Krähwinkel auszuruhen“, ergänzte ein anderer. „Verflucht nötig haben Sie's“, meinte ein dritter, den kleinen Alten betrachtend, der, ernſter geworden, die Zigarette zwiſchen den Fingern drehte. „Ihr habt natürlich, wie immer, alle recht“, antwortete er, während ſein rechtes Auge nervös zu zucken begann. „Ungemütlich iſt's draußen, ekelhaft ungemütlich! In Paris, in Rom, in London: überall dieſelben giftigen 149 Blicke und hämiſchen Bemerkungen, die unſereinem folgen. Man prüft unwillkürlich in jedem Spiegel Rock und Krawatte, ob ſie nicht dreckig ſind. „Bankrott des Europäertums, Hofrätchen,“ miſchte ſich Eulenburg ins Geſpräch, der eben an den Tiſch ge⸗ treten war, „totaler Bankrott. Weil wir's nicht von ſelber gelernt haben, wird's uns von den zärtlichen Rachbarn eingeprügelt: national zu werden. „Beſſer noch: chauviniſtiſch“, warf hitzig ein blutjunger blaßblonder Jüngling ein. „Antiſemitiſch!“ ſekundierte ſpöttiſch einer, der ſichtlich ein Jude war. Eulenburg drehte ſich auf dem Abſatz um und ſah ihn an. „Sicher. Was übrigens unſerer perſönlichen Freundſchaft, lieber Breslauer, keinen Eintrag tut. Juden und Sozialdemokraten haben in den letzten Jahrzehnten unſeren internationaliſtiſchen Charakter geprägt. „Barer Unſinn,“ unterbrach ihn der Angeredete, „er iſt ein Ergebnis rein wirtſchaftlicher Erſcheinungen: der Induſtrie, des Verkehrs, der Mode.“ Der Hofrat lachte hell auf, ſo daß alles ſich nach ihm umſah. „Run iſt mir wieder wohl, Kinder, ganz wohl!“ ſagte er, „denn ich fühle, daß ich zu Hauſe bin. Wer anders als der Deutſche könnte, — ſo dekadent er ſich gebärdet —, ſo urgeſund ſein, um ſich nachts um die zweite Stunde über Weltprobleme zu erhitzen?! Der Engländer iſt um die Zeit ein Schwein, der Franzoſe ein Faun, der Ruſſe ein Narr. Wirklich: in dieſem Krähwinkel muß der zerſchundenſte Raubritter wieder zu Kräften kommen.“ „Schade!“ brummte in komiſcher Verzweiflung der Kleine mit dem Kindergeſicht. „Ich hatte ſchon den ehrenvollen Auftrag, Ihnen ein Denkmal zu ſetzen.“ Der Hofrat klopfte ihm beruhigend auf die Schulter: „Führen Sie's aus, teurer Meiſter! Ich habe unſere Berühmtheiten immer bedauert, daß ſie bei ihrer Ver⸗ 150 ewigung nicht mehr mitreden können. Sie hätten gewiß irgend ein Symbol ihrer Lebensempfindung der eigenen Viſage vorgezogen. Ich jedenfalls,“ und er begrüßte ringsum mit heiterem Ricken die Mädchen, „wünſche mir die Bar⸗Muſe — nichts als Schwanenhals und Gir⸗ vffenbein natürlich.“ Ein Mädchen, das Lockenhaar hoch getürmt über der freien Stirne, den Oberkörper bis zur Taille, die eine breite Schärpe mehrfach umwand, in durchſichtigen Chiffon gehüllt, legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter: „Papachen, blamier' dich nicht,“ neckte ſie, „dreiviertel Jahr fern von Berlin, bedeutet ein halbes Jahrhundert in der Kultur zurück ſein.“ „Biſt wohl immer noch die einzige, die ſo etwas wie Geiſt hinter dem ſündigen Fleiſch zu beſitzen ſcheint? antwortete er und ging langſam, da und dorthin grüßend, durch die Reihen, um ſich ſchließlich am Ende des Gangs, neben die Muſikanten, die tiefe Bücklinge machten, nieder⸗ zulaſſen. „Tango“, kommandierte er. Das Mädchen, das ihm gefolgt war, lachte hell auf. „Vieux jeu“, ſagte ſie. „Sei ſtill, Leonie,“ mahnte er; „noch merkt es ſelbſt ein Berliner, daß du Lene heißt und mit Spreewaſſer getauft biſt. Der da aber, dem deine Augen bereits Treue bis zum Grabe ſchwören —,“ und er nickte zu Konrad hinüber, „übrigens: Baron Hochſeß, Made⸗ moiſelle Leonie Doris — iſt ein Franke von unbeſtech⸗ licher Tugend.“ Die Rotbefrackten ſetzten den Bogen an. „Tanze lieber. Deine Beine ſind impreſſionabler als dein Geiſt und deine Augen. Leonie ſtand auf, mit der Bewegung eines Automaten, ein anderes Mädchen, deſſen Geſicht violetter Puder einen durchſichtigen Mondſcheinglanz verlieh, kam ihr entgegen. Sie ſenkten die Augen ineinander in ſtummem 151 Gruß. Unter dem Einfluß weicher klagender Molltöne ſchienen ihre Glieder, ihre Mienen zu erſtarren, bis ein jäh einfallender ſtarker Akkord ſie leiſe erbeben ließ. Sie ſchritten vorwärts. Das Inſtrument des Prim⸗ geigers klagte — es ſchrie —, und nun hämmerte hart ein rhythmiſcher Takt dazwiſchen. Ein wenig raſcher gleitender — voneinander — zueinander — bewegten ſich die Tanzenden. Der alte Herr ſah ihnen zu, ungeduldig, ſtirnrunzelnd. „Ruhe!“ donnerte er mitten in einer Variation die Geiger an. Die Melodie riß ab. „Sagt ich's euch nicht hundertmal: Raub und Mord ſind Außerungen der Tugend im Vergleich zur einzigen Todſünde: der Ge⸗ ſchmackloſigkeit“, rief er. „Walzer und Polka und ähn⸗ liche neckiſche Dinge mögt ihr untereinander tanzen, der Tango iſt eine Angelegenheit zwiſchen Mann und Weib. Denkt an Cowboys und Gauchos und Straßen⸗ mädel — die Polizei iſt ja nicht hier! — So was muß fühlbar hinter der Larve des geſitteten beherrſchten Mitteleuropäers ſtecken, ſonſt kehrt doch lieber gleich zur Quadrille und zum Konter zurück. Alles lachte über des kleinen Mannes Erregung. Aber im gleichen Augenblick traten zwei Herren zu den Tänze⸗ rinnen, Eulenburg und Bernhard, der Bildhauer. Die Geigen ſchluchzten von neuem, noch ſchmelzender als zuvor und barſcher, leidenſchaftlicher fiel der hämmernde Ton ein; die Muſik ſang das Duett, daß die Füße, nein, die Körper tanzten. Jetzt bewegte der Herr ſich langſam auf einem Fleck, die Dame, ſich ſeinem Arme faſt entwindend, den Ober⸗ körper weit zurückgelehnt, ſo daß die Brüſte ſich aus dem Mieder hoben, tanzte im Bogen um ihn, wehrend und verführeriſch lockend zugleich, und aufreizend ſtritt ſich dazu auf den Geigen Dur und Moll. Dur ſiegte dröhnend: der Herr, die Armmuskeln geſtrafft, zog die Entfliehende an ſich — die Muſik rauſchte auf —, ganz 152 dicht, Leib an Leib ſtanden die Tänzer nun voreinander und zwiſchen ihre nur leiſe gleitenden Füße ſchoben ſich tanzend die ſeinen. Man applaudierte ſtürmiſch. „Ausgezeichnet“, ſagte der Hofrat, ſich befriedigt zu⸗ rücklehnend. „Sie haben ſich koloſſal entwickelt, Eulen⸗ burg. Wenn der Rhythmus Ihrer Verſe ſo gut wäre, wie der Ihrer Beine! Und Leonie hatte vollkommen recht, wenn ſie mich auslachte. Euer plötzliches Be⸗ kenntnis zum Unterleib, meine Lieben im gerafften Röck⸗ chen und Cutaway, predigt die Rückkehr zur Ratur. Man lachte ſchon lauter an den Tiſchen. Leonie ſaß auf der Armlehne von Konrads Stuhl. „Sie müßten tanzen können“, ſagte ſie, jedes Wort mit einem langen Blick begleitend. „Rimm ihn in die Lehre, mein Täubchen“, ſpottete der Hofrat. Es war ein rauher Ton in Konrads Lachen, mit dem er einfiel: „Machen wir's ab, Fräulein Leonie! in acht Tagen tanzen wir beide zuſammen! Vom Tiſch gegenüber klang wieherndes Lachen und Händeklatſchen. Ein Mädel mit einer Pagenfriſur um das freche Bubengeſicht hatte ſich eben beineſchwenkend hinaufgeſchwungen. „Los — los, Rini!“ krähte einer. „Berlin!“ ſchrie ſie, alle übertönend. „Die Friedrichſtraße trägt auf Stein Die blaſſen Gewäſſer des Lichtes ⸗ „Unſinn! Olle Kamellen,“ unterbrach ſie ein anderer und deklamierte ſalbungsvoll weiter: „Die Dirnen umſtehn mit Hirſchgeweihn Die Circe meines Geſichtes. Sie begann aufs neue, noch lauter: „Auf faulen Straßen lagern Häuſerrudel Um deren Buckel graue Sonne hellt, Ein parfümierter, halbverrückter Pudel Wirft wüſte Augen in die große Welt 153 „Du, für den Blech ſind wir noch zu nüchtern“, klang es ihr mit lallender Stimme entgegen. „Laß mich ausreden, du Duſſel —“ antwortete ſie und fuhr im Ton eines ſkandierenden Schulbuben fort: „In Rummelplätzen, wo Athleten ringen, Wird alles unklar und ſchon ungenau. Ein Leierkaſten heult und Küchenmädchen ſingen. Ein Mann zertrümmert eine morſche Frau. „Bravo, bravo!“ lachten die Zunächſtſitzenden. „Wer iſt denn die?“ fragte jemand. „Rini Kops, die jüngſte Muſe ⸗ In einer Ecke debattierte man über moderne Lyrik: „Sollen wir Städtegeborenen ewig verdammt ſein, den Frühling zu beſingen, den wir nicht kennen, und die Rachtigallen, die wir nie gehört haben? „Rieder mit der verlogenen Rührſeligkeit vergißmein⸗ nichtblauer Reoromantiker! „Dieſe zuſammengeſuchten Füllſel lyriſcher Hausputen ſind bei weitem nicht ſo gefährlich, als das weltfremde Pathos der Prieſter an des heiligen Georges Altar -" „Im Griechentempel aus bemalter Leinwand -" Ein blaſſer Langer, der bisher ſtill neben einem äthe⸗ riſchen Mädchen, das ein Gewand ſtatt eines Kleides trug, geſeſſen hatte, benutzte die Sekundenſtille und ſagte ruhig: „Iſt die Religionslehrerlyrik moniſtiſcher Ge⸗ meinden, die uns mit unendlichem Weltgefühl erfüllen will, indem ſie Haeckels ſämtliche gelöſte Welträtſel in Reime bringt, vielleicht höhere Kunſt?!" Man ſchwatzte durcheinander, heftig, ironiſch, feier⸗ lich. Irgendwo fiel der Rame eines eben Geſtorbenen. Er machte alle verſtummen. Bis der blonde Lange im Weggehen den Kopf wandte und ſagte: „Man braucht bloß eines unnatürlichen Todes zu ſterben, um heute ein großer Dichter zu ſein, auch wenn man nichts war, als ein reimeſchmiedender Primaner. 154 Allgemeiner Tumult. „Der Kerl hätte nur noch vom „gewachſenen“ ſtatt „gemachten“ Gebild, vom „Geſtalteten' ſtatt „bloß Gere⸗ detem“ deklamieren müſſen“, rief ihm Eulenburg nach. „Was ereifert ihr euch eigentlich?“ meinte Konrad achſelzuckend; „ſetzt denen da lieber ein Höheres ent⸗ gegen, das die Traumgröße ihres Griechentums über⸗ trumpft. Aber ihr habt nichts, darum ſchreit ihr.“ Konrads Worte fielen wie der Funke in ein Pulverfaß. Alles ereiferte ſich und ſprach durcheinander, ohne ſich auf eine Diskuſſion von Argumenten noch einzulaſſen. „Das Erleben des intellektuellen Städters wäre nichts? die Offenbarung unſeres bewußten Rervenlebens in all ſeiner Kompliziertheit — nichts?!“ rief einer. Dann ſchlug nur noch ein Strom ſich überſtürzender Worte an Konrads Ohr: „Höhe der wiſſenſchaftlichen Erkenntnis“, — „Energetik“, — „Monismus“, — „Welt⸗ anſchauung“. Er ſtand mit verſchränkten Armen an die grüne Wand gelehnt und lächelte. Die Muſik ſpielte einen Gaſſen⸗ hauer. „Mokieren Sie ſich nur,“ ſagte der Hofrat, „denn alle liefern Ihnen den Beweis, daß Sie recht haben.. „Leider; ich wäre Ihnen für das Gegenteil dankbar geweſen“, entgegnete Konrad. Ein Wortwechſel an der Türe übertönte ihn: „Was, zu ſpät? — Zu früh, meint Ihr wohl?! — Die Polizei?! — Unſinn; noch nie ſcherte mich Preußens heilige Hermandad“, antwortete eine erregte Männer⸗ ſtimme auf das eifrige Geflüſter einer anderen. Pawlowitſch trat mit langen Schritten herein. Ohne rechts und links zu ſehen, ging er auf Konrad zu, der ihm mit einem feindſeligen Aufblitzen in den Augen ent⸗ gegenſah. „Ich ſuche Sie, Herr Baron“, ſagte der Ankömm⸗ ling laut. 155 „Ich bin Ihnen nicht aus dem Wege gegangen“, antwortete Konrad ebenſo. Ein Skandal?! Die angeheiterten Gäſte horchten auf. „So ſpielt doch weiter, zum Donnerwetter!“ ſchrie der Hofrat die Muſikanten an. Die Geigen warfen eine kreiſchende, wilde Melodie in den grünen Saal. Die mit der Mondſcheinhaut, jetzt ſo blaß wie ein weißer Rachtſchmetterling, rankte und bog und wandte den ge⸗ ſchmeidigen Körper in dem ſchmalen Gang zwiſchen den Tiſchen, bis es nur noch wenige gab, die ihr Anblick nicht bannte. „Wo iſt Elſe?“ ziſchte Pawlowitſch Konrad an. „Hat der ein Recht zu fragen, der ſie verließ?“ ent⸗ gegnete dieſer ſchroff. „Ihnen lief ſie nach. Mein — mein war ſie!“ Die Züge des Ruſſen ſahen in dieſem Augenblick wie verfallen aus. „Sie war frei!“ Konrad erhob die Stimme ein wenig, als er das ſagte. „Und blieb es“, fügte er langſam hinzu. „Wo iſt ſie?“ wiederholte Pawlowitſch, ſein verzerrtes Geſicht dicht vor dem des anderen, ſo daß ſein heißer Atem ihn traf. „Fort“. Der Ruſſe hob die Fauſt: „Sie haben meine — meine Frau ver⸗ Der alte Hofrat, der die beiden nicht aus dem Auge gelaſſen hatte, trat dazwiſchen: „Ihr werdet eure ernſte Sache doch nicht zum Getratſch dieſes Geſindels machen“. Hawlowitſch wich einen Schritt zurück. „Ich ſtehe Ihnen morgen zur Verfügung“, ſagte Konrad mit erzwungener Ruhe. Die Muſik brach ab, das Mädel mit der Pagenfriſur ſaß wieder auf dem Tiſch. Sie ſchwankte. Die Augen blinzelten in dem aufgeſchwemmten Bubengeſicht. Sie gröhlte laut: 156 „Wer weiß, in welche Welten dein Erſtarktes Sternenauge ſchien, Stahlmaſterblüte Stadt aus Stein Der Erde weiße Blume — Berlin. Pawlowitſch ließ nichts mehr von ſich hören. Seine alte Wohnung hatte er ſchon ſeit langem aufgegeben. Um ihn zu finden, beſchloß Konrad ſchließlich, die Hilfe der Polizei in Anſpruch zu nehmen. Da legte ſich der Hofrat ins Mittel: „Machen Sie den armen Kerl, dem das Herz mit der Theorie durch⸗ gegangen iſt, nicht unglücklicher als er iſt,“ ſagte er; „der Polizei iſt er ſowieſo verdächtig, hetzen Sie ſie ihm nicht noch auf die Ferſen.“ So ließ Konrad die Sache auf ſich beruhen, und der Ruſſe blieb für ihn verſchwunden. Auch Elſe Gerſtenbergk hatte er nach ein paar ver⸗ geblichen Verſuchen, die er gegen den dringenden Rat der Großmutter unternommen hatte, zu ſuchen aufge⸗ geben. Er vermochte nicht anders, als ihre Flucht trotz allem, was die Gräfin ihm von dem Mädchen berichtet hatte, als Untreue aufzufaſſen. In einem Zuſtand, der zwiſchen völliger Apathie und gereizter Rervoſität wech⸗ ſelte, war er zurückgekommen, ſich kopfüber in den Strudel ſtürzend, nicht um wie früher als Suchender das ihm gemäße ruhige Fahrwaſſer ſchließlich zu erreichen, ſondern um die Pein ſeines Erinnerns zu betäuben. Die Groß⸗ mutter, durch Warburgs Freundesbriefe unterſtützt, hatte ihm nahegelegt, nach einer anderen Univerſitätsſtadt überzuſiedeln. Vergebens. Was war es nur, das ihn an Berlin feſſelte? Die verborgene Hoffnung, Elſe vielleicht doch noch wiederzufinden, die ſelbſtquäleriſche Freude, dem Schatten der kleinen Gina zugleich mit dem Erinnern an ſie nahe zu ſein, oder gar jener rätſel⸗ volle Magnetismus, den der ſtarke Moſchusduft der 157 „weißen Blume Berlin“ auf alle, die einmal in ihrem Bannkreis flattern, ausübt? Er fand Warburg in einem Zuſtand des Befriedigt⸗ ſeins wieder, der ihn die eigene Zerriſſenheit nur noch ſtärker empfinden ließ. Des Freundes Leben ſchien aus⸗ gefüllt von der Vorbereitung zu einem ihm gemäßen Beruf, von der Reigung zu einer geiſtig hochſtehenden Frau und der Begeiſterung — wenn ſich die ruhige Wärme ſeines Intereſſes mit dieſem Wort vielleicht auch nicht bezeichnen ließ — für die Ideen des Zio⸗ nismus. „Eine Heimat für die Heimatloſen, ein Vaterland für die in jeder Ration ſich nur als Geduldete fühlenden, iſt, ſelbſt wenn es ein unerreichbares Ideal wäre, als Ziel von ſo zuſammenſchweißender Kraft, daß keine Arbeit dafür umſonſt ſein hnnn“, ſagte er einmal, als Konrad ein wenig ſpöttiſch von ſeinem Utopismus ſprach. Es war in Frau Sara Rubners Salon, in den ihn Warburg eingeführt hatte, einem ſtillen, harmoniſchen Raum, wo alles Holz von ſilberigem Grau, aller Stoff von verblichenem Grün war, und matte Gobelins, die beide Farben in ſich vereinigten, zwiſchen den Türen hingen. Das ganze Licht in dieſer Winterdämmerſtunde ging von einer hohen gelben Kerze aus, die wie in einem Heiligenſchrein, einſam in einer Riſche des Zim⸗ mers brannte. „Wir ſollten niemanden an ſeinem Utopismus irre machen, und wenn es der närriſchſte wäre,“ meinte die Hausfrau, „er gibt dem Leben ein Ziel, dem Streben Stetigkeit.“ Überraſcht wandte ſich Konrad ihr zu. Dieſe kleine Frau in dem großblumigen, phantaſtiſchen Seidenkleid, mit den gebauſchten, glanzloſen ſchwarzen Haaren um das weiße Regergeſicht war ihm bisher kaum intereſſant, ja, in ihrer typiſchen, öſtlich⸗jüdiſchen Raſſenerſcheinung wenig anziehend erſchienen. Jetzt ſprach ſie wie aus 158 ſeiner Seele, denn ſein zur Schau getragener Skepti⸗ zismus dem Freunde gegenüber war von heimlichem Reide gezeugt. „In Ihrem Tone liegt Reſignation, gnädige Frau, ſagte Konrad, „und doch waren Sie es, die Walter für dieſen Utopismus gewonnen hat.“ „Gewiß. Und ich freue mich deſſen,“ entgegnete ſie, „er iſt glücklicher als ich, er hat die große Begeiſterungs⸗ fähigkeit, die nicht wie ein Feuerwerk verpufft. „Sie irren, liebe Freundin,“ fiel Walter ein — noch nie, ſchien es Konrad, hatte ſeine Stimme einen ſo vollen, weichen Ton gehabt — „nur weil ich weniger begeiſterungsfähig bin, als Sie, und noch von keinem Spaziergang die Entdeckung neuer Welten erwartete und auf keinem Stern das Paradies zu finden glaubte, habe ich ein ſtarkes Beharrungsv-emögen. Sie lachte. „Denken Sie nur,“ ſagte ſie zu Konrad, „dieſer Mann hat den Zank und Streit und kleinlichen Hader auf dem letzten Zioniſtenkongreß, der mir zuerſt Tränen der Wut, dann Tränen unauslöſchlichen Ge⸗ lächters erpreßte, als eine Stärke der Bewegung zu ver⸗ teidigen vermocht!“ „Natürlich“, beſtätigte Warburg. „Einigkeit iſt wie Friede oft nur ein Zeichen der Stagnation, des Alterns. „Wenn das auch für den einzelnen gilt,“ rief ſie aus, „ſo kann ich mich tröſten. Denn ſtets bin ich im Streit mit mir.“ Im Laufe des Geſprächs erzählte ſie mit lächelnder Selbſtverhöhnung von ihren „Lebensverſuchen“. „Schon als Backſiſch begann ich zuerſt heimlich, dann mit rück⸗ ſichtsloſer Offenheit mich allen Bewegungen begeiſtert in die Arme zu werfen und fand, unglücklicherweiſe mit allzu ſcharfem Verſtand begabt, unter meinen Gefährten mehr Maulhelden, als Helden, mehr Leute, die im Trüben für ſich fiſchen, als im Hellen für andere bauen wollten. Einem, der ſich beſonders radikal gebärdete und mit 159 Feuer und Schwert gegen die Laſter der kapitaliſtiſchen Geſellſchaft zu Felde zog, wäre ich in meiner Begeiſte⸗ rung für die Tugend faſt nachgelaufen, wenn ich nicht rechtzeitig erfahren hätte, daß dieſer Cato zu gleicher Zeit durch Herausgabe pornographiſcher Schriften zum Kröſus wurde.“ Dann hatte ſie nach kurzer Ehe in bitterſter Enttäu⸗ ſchung ihren Mann verlaſſen, — „leider hatte ſelbſt die Liebe mich nicht mit Blindheit geſchlagen“ —, hatte es mit der Malerei verſucht und Kunſtgeſchichte und Philo⸗ ſophie ſtudiert, aber — und das ein wenig leichtfertige Lächeln auf ihrem Geſicht erſtarb dabei — „wir haben Talente, aber kein Talent, Wünſche, aber keinen Willen. „Sagten Sie nicht neulich,“ miſchte ſich Warburg wieder in das Geſpräch, — er ſaß jetzt ganz im Schatten, ſo daß nur ſeine Stimme die innere Bewegung ver⸗ riet, — „daß den Frauen wohl nur eines beſchieden ſei, worin ihr Denken und Fühlen und Sein zu reiner Har⸗ monie ſich entfalten können: die Liebe? Sie ſchwieg einen Augenblick. Dann legte ſie ihre bräunliche Hand, die zu breit war, um ſchön zu ſein, mit einer gütigen und beſchwichtigenden Geſte auf die ſeine und ſagte: „Den Frauen — ja! Doch nur ſo lange, als der kritiſche Verſtand ihren Inſtinkt nicht verdorben hat. „Seltſam,“ meinte Konrad, als die Freunde aus dem ſtillen Salon miteinander auf die Straße traten, „das Lachen dieſer Frau klingt nach Tränen. Und warum nur dieſe feierliche Kerze brannte? „Ein jüdiſcher Brauch,“ antwortete Warburg ruhig, „ſie feiert damit das Gedächtnis ihrer Schweſter, die ſich vor Jahren, ein halbes Kind noch, das Leben nahm. Aus — Lebensüberdruß! All dieſe Menſchen, denen das Leben nichts verſagte, ſind wie ohne Hände ge⸗ boren. Sie verhungern, indeſſen alles um ſie voll Früchte hängt. 160 Konrad ſah dem Freunde ins Geſicht. „Gezeichnete ſollte man meiden“, ſagte er. Der andere lächelte, ganz ruhig und aufrichtig, ein Lächeln das von innerer Helle widerſtrahlte: „Oder ſie erlöſen. Mit einem Händedruck, wärmer noch als ſonſt, gingen ſie voneinander. Konrad wohnte nicht weit in einem der großen Hotels am Kurfürſtendamm, das erſt kürzlich ſeine prunkvollen Räume dem immer neuheitshungrigen gaffenden Publi⸗ kum eröffnet hatte. Ganz oben, ſo hoch ihn der Aufzug fahren konnte, hatte er ſich ein paar helle Zimmer ge⸗ wählt, mit jenem künſtleriſchen Intellektualismus aus⸗ geſtattet, der alle phantaſtiſchen Träume verbannt. Die kleine gekrönte Wachspuppe auf dem roten Stuhl, die einſam auf der ſpiegelnden Platte des Schreibtiſches ſtand, betonte nirgends ſo ſtark ihren Charakter einer verwunſchenen Prinzeſſin. Hier war alles modern, praktiſch, höchſte Kultur des naturwiſſenſchaftlich gebildeten aufgeklärten Verſtandes⸗ menſchen. „In dieſer Umgebung,“ hatte Konrad, ſich ſelbſt ob dieſer Wahl verſpottend bei Warburgs erſtem Beſuch ge⸗ ſagt, „muß jeder Dichter zum Journaliſten, jeder Künſtler zum „aktuellen“ Illuſtrator, jeder Verliebte zum Mitgift⸗ jäger, jeder Phantaſt zum Börſenſpekulanten werden. Statt Giovanni, des Seiltänzers, bediente ihn das Muſter eines Kellners, das heißt, eine namen⸗ und in⸗ dividualitätsloſe Maſchine, und die Krone wohlgeſchulter Hotelmädchen, das ſich für ein Trinkgeld zu jedem Dienſt mit demſelben Gleichmut bereit finden würde. Die Bekanntſchaft mit Frau Sara hatte Konrad bis ins Innerſte aufgewühlt. Wie in einem Spiegel glaubte er ſich ſelbſt begegnet zu ſein. „Talente, kein Talent — Wünſche, kein Wille“, klang es ihm, halb kühle Feſt⸗ ſtellung einer unabänderlichen Tatſache, halb bitterer Vorwurf einer Schuld, noch in den Ohren. Sollte er Braun, Lebensſucher 11 161 durch den kalten Regen und den fauchenden Sturm weiter wandern, um wieder ruhig zu werden? Im breiten Lichtſtrahl des Hotelportals blieb er ſtehen. Zahlloſe Wagen und Autos rollten heran. Herren und Damen in großer Toilette ſchritten an ihm vorüber in die Halle. Alle Birnen brannten, die großen Glastüren zu den Feſträumen ſtanden weit offen, eine bunte Menge bewegte ſich hinter ihnen. Er wandte ſich an den betreßten Türhüter: „Was gibt's hier heut abend? „Koſtümfeſt „Berolina“, zum Beſten des Säuglings⸗ heims“, antwortete der, und fügte mit jenem aus Hoch⸗ achtung und Vertraulichkeit gemiſchten Ausdruck, den gewiegte Hotelangeſtellte anzunehmen pflegen, wenn von großen Kokotten, vornehmen Glücksrittern und reichen Parvenüs die Rede iſt, hinzu, mit einer Wendung des Kopfes hinüberdeutend: „Der Kommerzienrat Sieg⸗ mund Veit ſpielt den Wirt.“ „Veit?!“ dachte Konrad; der Portier kam ſeiner Frage entgegen: „Frau Renetta Veit iſt die Gründerin des Heims“. Renetta Veit — die Rixe im weißen Auto — die Geliebte des Ruſſen! Ohne nachzudenken, mit der Sicherheit eines Schlaf⸗ wandelnden, ließ Konrad ſich in ſein Zimmer fahren, vertauſchte raſch den Smoking mit dem Frack, um ſich wenige Minuten ſpäter, die Eintrittskarte in der Hand, vor den offenen Türen wiederzufinden. Ein kleiner Herr mit glänzender Glatze über dem farbloſen Geſicht, das zwei kluge, unruhig flackernde Augen belebten, empfing ihn. „Baron Hochſeß“ — „Kommerzienrat Veit“. Eine ſehr weiße Hand, deren Gepflegtheit ihre ungewöhnlich vier⸗ eckige Form nur noch ſchärfer hervortreten ließ, legte ſich kühl, weich und flüchtig in die ſeine, die Augen glitten ſekundenlang forſchend an ihm herab, um ſich gleich danach mit den ſchweren Lidern zu bedecken. 162 „Wir kennen einander, Herr Baron“, ſagte dann eine Stimme, fein und knarrend wie aus einem Grammo⸗ phon, „durch unſeren gemeinſchaftlichen Freund Paw⸗ lowitſch.“ „Pawlowitſch?“ unterbrach ihn Konrad, „iſt er heute abend hier? „Wie, Sie wiſſen noch nicht? Der arme Kerl, der eine Erholung dringend nötig hatte, war mit uns⸗ er unterſtrich die letzten drei Worte, ſo daß niemand an ſeiner Generoſität zweifeln konnte — „in Oſtende. Währenddeſſen ging ſeine — ſeine Mätreſſe durch! Konrad richtete ſich in ſeiner ganzen Größe auf: „Die Dame war ſeine Frau“, ſagte er ſchroff. „Run, nun,“ begütigte der Bankier, „was man heute ſo Frau nennt, natürlich, natürlich! Meine Renetta macht den Rummel dieſer Titulaturen ſelbſtverſtändlich auch mit; aber in der Sache — na, wir verſtehen uns! Ein malitiöſes Lächeln kräuſelte ſeine ſchmalen, blutleeren Lippen und mit einem gönnerhaften Ricken wandte er ſich einem neuen Gaſte zu, ehe Konrad zu einer Er⸗ widerung Zeit gefunden hatte. Ein Gefühl tiefen Un⸗ behagens bemächtigte ſich des jungen Mannes. Ob er nicht lieber umkehren ſollte? Da traf er unter der Menge ſeine Kaffeehausbekannten. Sie lachten ihn aus, als ſie ſeine Eintrittskarte ſahen. „Was,“ rief ihm einer von ihnen entgegen, „Sie zahlen noch für das Opfer? Der Olle kann froh ſein, daß wir ihm gegen Sektpullen unſere Tanzbeine zur Verfügung ſtellen. „Und ſeiner ſchönen Frau unſere Berühmtheit für einen zärtlichen Blick“, ſagte ein anderer. „Für — mehr nicht?!“ frug Konrad mit verächtlich geſchürzten Lippen. Man lächelte bedeutungsvoll, zuckte die Achſeln, deutete allerlei an — auch der Rame Pawlowitſch fiel. „Ob er ein Verhältnis mit ihr hatte?!“ meinte jemand. 11* 163 „Offen geſtanden: ich glaub's nicht. Sie iſt zu klug, zu kühl, — will ſich erſt eine geſellſchaftliche Poſition ſchaffen, die ihre Vergangenheit vergeſſen läßt. „Ihre Vergangenheit?!“ Konrad wurde neugierig. „Gott — es iſt ja öffentliches Geheimnis: der alte Halsabſchneider kaufte ſie irgendwo in der Polackei einem verkrachten Kollegen ab. Daher hat ſie auch die mieſe dunkelgehaltene Tochter.“ „Und Sie meinen, Pawlowitſch —² „So'n ruſſiſcher Revolutionär, ein verkappter Fürſt noch dazu, wie man ſagt, iſt ein unentbehrliches Salon⸗ requiſit, gerade ſo wie ein ahnenreicher Ariſtokrat und ein berühmter Dichter, zu dem ſie den Eulenburg jetzt dreſſiert.“ „Eulenburg?“ wiederholte Konrad erſtaunt. „Iſt er nicht neuerdings Antiſemit? Der andere lachte: „Und kämpft für Raſſenreinheit! Aber, was wollen Sie?! Eine ſchöne Frau ſteht immer jenſeits von Gut und Böſe „Beſonders wenn ſie, wie unſere Renetta, den Druck der Eulenburgſchen echt nationalen Lyrik bezahlt“, ſpottete ein dritter. „Frau Berolina verſchlingt alle —“, mit einem tiefen tragiſchen Tonfall ſagte es irgendwer. Konrad hörte kaum mehr zu; was ging der Klatſch ihn an? Rur eins intereſſierte ihn noch: „Fährt ſie ein auffallend weißes Auto? „Gott bewahre! Ein gelbes, natürlich ein gelbes! Damit der Berliner aus dem Zweifel nicht heraus⸗ kommt: iſt's S. M. oder S. V! Ein paar Gardeuniformen leuchteten zwiſchen den ſchwarzen Fräcken. „Alex Rothauſen!“ rief Konrad überraſcht, ſeinen Vetter, den Gardeulanen, erkennend, „was ſuchſt du denn hier?!“ „Erbinnen!“ lachte dieſer, „und du? 164 „Richts,“ entgegnete Konrad achſelzuckend, „das Tot⸗ ſchlagen einer leeren Stunde vielleicht!“ „Ich dachte ſchon —“ meinte der junge Offizier ge⸗ dehnt. „Was denn?“ frug Konrad. „Na — du weißt doch,“ lautete die Antwort, von forſchenden Blicken begleitet, „das Weib — die Veit!! Kein Zweifel, daß ſich der kleine Prinz Linſingen von den Gardedragonern ihretwegen eine Kugel durch den Kopf jagte! Und der Alte!! — Dem Herbert Wandlitz auf Vorberg hat er ſo lange hilfreich unter die Arme gegriffen, bis er ihn glücklich aus ſeiner Klitſche heraus⸗ hob! Ein feudales Schloß hat er ſich jetzt darauf bauen laſſen. Der Adel wird wohl auch nicht ausbleiben: Veit von Vorberg — nicht übel, was?!“ und er lachte. „Und bei deiner Meinung von den Leuten biſt du hier?! „Ein Wohltätigkeitsfeſt! Das verpflichtet zu nichts. Und bietet Chancen — „Du ſuchſt in dieſem Milieu eine Frau?! Alex verzog den Mund. „Haſt recht, Vetter,“ ſagte er mit einem unterdrückten Seufzer, „es iſt ekelhaft! Aber ſeit die Millionen, beſonders die amerikaniſcher Provenienz, hoffähig und ebenbürtig machen und die alten guten Familien im Winter lieber auf ihrer Klitſche ſitzen bleiben, als ſich von Schweine⸗ oder Guano⸗Prin⸗ zeſſinnen in den Winkel drücken zu laſſen, — ſeitdem muß ein nur mit Ahnen geſegneter Gardeleutnant an eine Aufmiſchung der Raſſe denken, um mich gelehrt auszu⸗ drücken. „Mir ſcheint,“ entgegnete Konrad nicht ohne Heftig⸗ keit, „der Adel wenigſtens ſollte vor dem Gelde nicht zu Kreuze kriechen. „Du biſt wirklich noch jünger als deine Jahre! ſpottete Alex. „Alle adligen Eigenſchaften ſind außer Kurs. Die Geſinnung des Induſtrieritters, im beſten 165 Fall die des Kaufmanns herrſcht. Es gibt bloß eine Hoffnung: daß große Ereigniſſe, umwälzende meinet⸗ wegen, die ariſtokratiſchen Tugenden wieder notwendig machen.“ In dieſem Augenblick kam der Bankier im Geſpräch mit einem Herrn vorbei, der in devoter Haltung neben dem Kleinen ging. Man hörte etwas von „orientaliſchen Wirren“ — „Balkanbahn“ — „Retzau, vom Auswärtigen Amt, der trägt ein Ereig⸗ nis mit ſich herum,“ flüſterte Rothauſen erklärend, „und überall hat der Alte ſeine Hände drin —. Veit wandte den Kopf, dem Ulanen freundlich zunickend, um gleich darauf ſein Geſicht wieder in würdevolle Falten zu legen und die Augen zu ſenken, wie es ſtets ſeine Gewohnheit war, wenn er von Geſchäften ſprach. Es war inzwiſchen gedrängt voll geworden. Bekannte Berliner Perſönlichkeiten tauchten auf; Künſtler, Lite⸗ raten, Gelehrte. Und man mediſierte: Dieſer habe von Veit ein Stipendium bekommen, jener eine Reiſeunter⸗ ſtützung; den Maler dort habe er durch das Porträt ſeiner Frau lanciert, den Bildhauer hier durch den Brunnen in ſeinem Schloßpark. Der Bankier ſchien ſich zu vervielfältigen — überall grüßend, vorſtellend. Trotz ſeiner Kleinheit blieb er ſtets ſichtbar. Vielleicht weil alles den Rücken bog, oder trotz dem Gedränge ein leerer Luftraum um ihn blieb, wo er auftauchte? Kon⸗ rads Hochmut empörte ſich: daß ſich Geiſt und Adel ſo widerlich vor dem Gelde krümmte! Hier war ſein Platz nicht. Schon ſtrebte er dem Ausgang zu. Da intonierte das Orcheſter einen Marſch. Renetta Veit! — Wenigſtens ſehen wollte er ſie noch! Der kleine Bankier ſchien plötzlich aller Würde beraubt zu ſein. „Achtung, Achtung, meine Herren!“ rief er, mit den kurzen Beinchen durch den Saal chaſſierend. Er ſchwitzte vor Aufregung. 166 Die Wand, die den einen Saal von dem anderen trennte, ſchob ſich auseinander. Auf blanken Rädern fuhr eine Schar junger Mädchen, als Meſſenger⸗Boys verkleidet, herein: „Platz für Berlin! Platz für Berlin!“ ſchrien ſie, in weitem Bogen die Reugierigen rückwärts drängend. Und hinter ihnen lief und ſtieß und überpurzelte ſich's: Lauter Jugend! Pfadfinder und Pfadfinderinnen in Soldaten⸗ ſchritt, bunte Wandervögel mit ihren Gitarren, Straßen⸗ kehrer und Milchmädchen. Dann in karikierten Masken bekannte Berliner Typen: Künſtler und Theaterdirektoren, Dichter und Kritiker, Varieteeſterne und Tänzerinnen, mit einem Dutzend ſtirnrunzelnder Poliziſten auf den Ferſen. Eine kurze Pauſe entſtand. Man wandte ſich gelang⸗ weilt ab. „Stets derſelbe Kitſch“, ſagte einer ungeniert. „Ru fehlt nur noch Santa Berolina mit den ſüßen Kinderchen unter dem ſchützenden Mantel“, ſpottete ein anderer. Alles lachte. Die Muſik ging in einen Walzer über. Auf hochhackigen Schuhen, die ſchlanken Körper von leichten grünſchillernden Schleiern umgeben, die Perlen⸗ ketten wie fließende Waſſertropfen zu halten ſchienen, bunte Lockenperücken über den Geſichtern, flutete, wie getragen vom Rhythmus, eine Schar lachender, koket⸗ tierender Frauen in den Saal, — „Spreenixen“, tönte es ihnen hundertfach entgegen. Aber ſchon im nächſten Augenblick war es, als wehe durch den Raum ein eiſiger Lufthauch, der die Lippen ſchloß: An klirrenden Ketten zogen junge Männer im Frack und Damen in Balltoilette, verlumpte alte Weiber, humpelnde Bettler, aufgetakelte, grell bemalte Dirnen und barfüßige kleine Kinder ein graues, von ſchwarzen Fenſterhöhlen durchbrochenes, hoch aufragendes Gemäuer herein, und ganz oben, ſo daß das goldene Haar die Kriſtallkugeln des Kronleuchters faſt berührte, ſaß ſie 167 — die Herrſcherin — Berolina; den Körper in Spinn⸗ webſchleiern, durch die das blühende Fleiſch an Hals und Beinen lockend durchſchimmerte, weit vorgebeugt, wie ein ruhendes Raubtier, die nackten Ellbogen auf die Knie ſtützend, und das Kinn in die Hände vergraben, die, von großen Ringen geſchmückt, mit langen, ſchim⸗ mernden Krallennägeln die ſchneebleichen Wangen um⸗ ſchmiegten. Unter vollen, blutroten Lippen blitzten ſtarke Zähne hervor, die breiten Rüſtern der Raſe bewegten ſich beutelüſtern, die Perlmutteraugen ſchillerten in allen Farben des Regenbogens. Von den üppigen, tief ent⸗ blößten Schultern wallte in königlichen Falten ein Mantel weißen Hermelins. So ſaß ſie und ſtarrte gierig, un⸗ beweglich, ein Götzenbild. Es war totenſtill im Saal. Auch die Muſik hatte auf⸗ gehört. Man hörte nichts als den keuchenden Atem der Gefeſſelten. Konrads Augen brannten auf der Sphynxgeſtalt; er kannte ſie, lange ſchon — ſeit jenem erſten Abend, wo ſie geſpenſterhaft neben ihm aufgetaucht war — in fließendem Waſſerkleid, mit Perlen im Haar — eine Rixe — eine Seelenloſe — Er würde ſie haben — heute noch — als ſein Spiel⸗ zeug für ein paar leere Stunden, ſie: Frau Berolina, vor der die anderen alle als Sklaven winſelten. In Riſchen von Lorbeerbäumen und Fächerpalmen, aus denen phantaſtiſche Lichtorchideen, hundertfach opali⸗ ſierend, glühten, waren kleine Tiſche gedeckt. Um die Büffete, auf denen die Delikateſſen ſich häuften, drängten ſich die Gäſte. Jene wüſten Schlachten entſtanden, die verhungerte Proletarier vor geſtürmten Bäckerladen nicht anders hätten liefern können. Man ſah ergraute Be⸗ rühmtheiten um Hummern und Auſtern kämpfen, ſah tantiemenreiche Dramatiker in Winkeln ſitzen und gierig verſchlingen, was ſie in beladenen Tellern vor ſich auf 168 den Knien hielten, und Gruppen junger Literaten ent⸗ deckte man, die ſich für Wochen im voraus ſatt zu eſſen ſchienen. Mit ſcheuen Blicken, wie Diebe in der Racht, ſchlichen andere mit Sektflaſchen unter den Armen in halbdunkle Rebenräume; es genügte ihnen nicht, daß die Kellner ohne Unterbrechung die Gläſer füllten. Am Arme von Konrad Hochſeß ſchritt Frau Renetta Veit durch die Säle. Von ihren Tellern und Gläſern ſahen ſelbſt die Verſunkenſten ſekundenlang auf: ihr Hermelinmantel fegte den Boden, aus ihrem vorge⸗ ſtreckten Geſicht höhnte der Blick ihrer hellen Augen über der Menge. Sie erreichte mit ihrem goldgepuderten Scheitel die Stirne ihres ſchlanken Begleiters, der ſie hochmütig erhobenen Hauptes geleitete. „Wohin führen Sie mich?“ frug ſie, die Lider hebend. „Wohin es mir gefällt“, ſagte er. Und ſie ſahen wieder über die Ballgeſellſchaft. „Kulturträger!“ ſtieß ſie wie im Selbſtgeſpräch verächt⸗ lich zwiſchen den Zähnen hervor. „Was geht das uns an?“ antwortete er. Atemlos kam in dieſem Augenblick Eulenburg hinter ihnen hergelaufen: „Ich habe einen Tiſch für Sie reſer⸗ viert, gnädigſte Frau“, rief er. „Sie hatten mir doch verſprochen -" „Was?!“ gab ſie über die Schulter weg zurück. „Sie ſelſen, daß ich engagiert bin. Des Abgewieſenen große breite Geſtalt knickte förmlich zuſammen, während das Blut ſein Geſicht dunkelrot färbte. „Aber nachher darf ich —“ bettelte er. „Vielleicht!“ warf ſie ihm achſelzuckend zu. Konrad ſah ſie an, ſpöttiſch lächelnd: „Behandeln Sie ſo Ihre Günſtlinge?! „Wenn ſie ſich's gefallen laſſen!“ In einem kleinen, nur matt erhellten Rokokoſalon, der am äußerſten Ende der Zimmerreihe lag, und, all⸗ zu weit von den Tafelgenüſſen, von den Gäſten ge⸗ 169 mieden worden war, rückte er ihr einen Seſſel an ein winziges Tiſchchen. „Was befehlen Sie? „Obſt und Sekt — nichts weiter.“ Er ſtand auf, drückte den Klingelknopf und gab dem Kellner ſeine Befehle. „Sie ſind eigenmächtig“, meinte ſie überraſcht. „Kein Bedienter, wie Sie hoffentlich gleich bemerkt haben werden“, entgegnete er, ſich neben ſie ſetzend. „Vor deinen Wagen, Berolina, ſpannſt du mich nicht, aber ich —“ und mit einem eiſernen Griff umklammerte ſeine Rechte ihr Handgelenk, ſo daß ſie leiſe aufſchrie — „ich nehme dich! „Herr Baron, Sie ſind -" Der Kellner kam mit dem Eiskübel und entfernte ſich wieder. „Richt betrunken,“ ergänzte Konrad lächelnd. „Der eine hat dich gekauft, die anderen haſt du gehabt. Ich weiß, ich weiß! Aber ich, hörſt du, ich habe dich — lange ſchon — Mit weitoffenen Augen ſtarrte ſie ihn an, die Finger um die Armlehne krampfend, wie zum Aufſpringen bereit. Er erwiderte ihren Blick mit einem ſpöttiſch⸗über⸗ legenen Lachen. „Ach ſo! Wir ſind wohlerzogene Europäer, und ⸗ er lachte ſein Knabenlachen, — „auf einem Wohltätig⸗ keitsfeſt! „Verzeihen Sie alſo, gnädigſte Frau, wenn ich im Sinne Ihrer heutigen Rolle Komödie ſpielte.“ „Komödie?!“ wiederholte ſie unſicher. Er goß ihr Sekt in das Glas und ſtieß mit ihr an, nur flüchtig an dem ſeinen nippend. Dann frug er nach Pawlowitſch. „Ein Verhör?!“ frug ſie, ſich mit einem leiſen Lächeln in den Seſſel zurücklehnend, die Arme hinter dem Kopf verſchränkt, ſo daß die roten Haare unter ihren Achſel⸗ höhlen aufleuchteten. „Sie irren“, ſagte er unbewegt. „Es intereſſiert mich 170 nur, von welchem Standpunkt aus Sie an ihm Gefallen fanden.“ „Ich liebe die Liebe“, antwortete ſie, aus halbge⸗ ſchloſſenen Lidern einen Blick auf ihn werfend, lang und greifend, wie die Zunge des Chamäleons, die ſich nach dem Schmetterling ſtreckt. Es überlief ihn heiß. Etwas erwachte in ihm, auf das er nicht gerechnet hatte. Und ein erſter leiſer Triumph blitzte in ihren Augen. „Ich brauche als Lebensluft die von Männerleiden⸗ ſchaft geſättigte Atmoſphäre, und darum“ — raſch ent⸗ ſchloſſen ſtand ſie auf, wobei ihr bloßer Arm, wie zu⸗ fällig, ſeine Wange ſtreifte — „bin ich ſchon viel zu lange hier allein mit Ihnen. Er trat ihr in den Weg. Auge in Auge ſtanden ſie einander gegenüber. „Sie ſehnen ſich wirklich nach jenen, die vor Freſſen und Saufen Ihre Herrlichkeit zu vergeſſen vermochten? flüſterte er, während die überlegen⸗kühle Haltung, die er zuerſt gewahrt hatte, ihn mehr und mehr verließ, „nach jenen, die beſtenfalls keuchend und angekettet an Ihrem Wagen ziehen — vor Wonne winſelnd, wenn Ihre Peitſche ſie trifft?!" Sie ſenkte den Kopf, demütig wie eine Bezwungene, ſo daß das Licht der Lampen auf ihrem weißen Racken glänzte. „Du biſt ein Weib, Renetta. Das Weib!“ hauchte ſein heißer Atem an ihrem Ohr. „Du willſt den Mann, nicht den Knecht. Ich weiß es, ſeit dein Blick mich zum erſtenmal ſtreifte — damals, in der Herbſtnacht — aus dem weißen Auto Sie ſchreckte auf, brennende Glut flog flüchtig über ihre Wangen; aber er ſah nichts mehr, auch nicht den kalten Blitz, der ſekundenlang aus ihren Augen brach. Er fühlte nur das weiche Rachgeben ihres Körpers, und mit der Linken bog er ihren Kopf nach vorn, ſeine Zähne in ihren Racken grabend — 171 Sie gingen den Weg zurück, den ſie gekommen waren, Arm in Arm, hoch aufgerichtet. An der Schwelle des großen Saales zog er den Hermelinmantel über ihre Schultern: „Bedecke dich — du biſt von mir gezeichnet“, ſagte er, und mit einem Lächeln zärtlicher Hingabe tat ſie, was er befahl. Wieherndes Gelächter, von kreiſchendem Aufſchreien und wollüſtigem Gekicher unterbrochen, empfing ſie. In dem Boskett ihnen zunächſt ſaß eine rundliche Schrift⸗ ſtellerin auf den dünnen Beinen eines Kritikers, und ein athletiſcher Dichter ſchleppte eben ein ausgelaſſen zappelndes Mädchen in die Fenſterniſche daneben. Drüben kniete ſchweißtriefend die dicke lyriſche Augenblicksberühmt⸗ heit vor der ſchlanken Frau des bekannten Bildhauers, der ſelbſt, eng umſchlungen, zwiſchen zwei Pfadfinder⸗ mädchen ſaß. In der Mitte tanzten ſie, verlaſſen von allen Grazien, nur beherrſcht von entfeſſelter Geſchlecht⸗ lichkeit. Aus dem Rauchzimmer gegenüber trat der Kommerzien⸗ rat, ſehr kühl, ſehr ruhig. Ein kaum merklicher Zug von Hohn und Überlegenheit prägte ſich um ſeine Mund⸗ winkel, als er mit einem Blick das Bild vor ſich ſtreifte. An die Kriſtallſcheiben der Türen aber preßten ſich die Geſichter der Kutſcher und Chauffeure, mit einem Ausdruck von Reid und Gier ihre Herren betrachtend. Von jenem Abend an fehlte Frau Renetta Veits glänzende Erſcheinung auf den Karnevalsfeſten des Winters. Sie ſei leidend, meinten bedauernd die einen; die anderen lächelten vielſagend. In ihrem meerblauen Boudoir war Konrad Hochſeß ein täglicher Gaſt. „Unter hundert Schleiern möcht' ich dich verſtecken, hinter hundert Türen verſchließen“, hatte er ihr bebend in ungezügelter Leidenſchaft zugeflüſtert, als ſie ihn das 172 erſtemal empfing. Und: „ich will nur dich — dich! hatte ſie ihm, überwältigt von der Glut ſeines Beſitz⸗ ergreifens, erwidert. Von Berolina, der Herrſcherin, dem gierigen Raubtier, ſchien jede Spur in ihr ausgelöſcht. Sie lebte nur für ihn, für die Blicke aller anderen in ihren Gemächern ver⸗ borgen, eine Odaliske. Er aber trug, wo er ging und ſtand, wie einen unſichtbaren Mantel den ſchwülen Duft ihrer Liebesſtunden um ſich. Und ein Gefühl von Lebens⸗ fülle beherrſchte ihn, wie die Juliſonne den Sommertag. Die ſprudelnde Heiterkeit, die er zuerſt an den Tag legte, entwickelte ſich bald zu einem ausgelaſſenen, faſt genialiſchem Humor. Er machte die Racht zum Tage, ein ſubelnd begrüßter Gaſt in den Bars, in den Ballokalen, wo er mit dem Gelde um ſich warf, nur um überall ſtrahlenden Geſichtern zu begegnen. Die ſchöne Leonie, ſo meinte man vielfach, ſei ſeine Geliebte, denn er ver⸗ ſagte ihr kaum einen Wunſch, und beide wurden in jenem Winter zum bekannteſten Tangopaar. Aber es war nur der überſtrömende Reichtum ſeines Glücks, den er verſchwenderiſch auf alles, was ihn umgab, ausſtreuen mußte. Die Quelle, aus der er ſchöpfte und die ihn, wie Champagner, je mehr er trank, um ſo durſtiger machte, verſteckte er als koſtbares Geheimnis vor aller Welt und bemerkte in dem Rauſch, aus dem er nie er⸗ wachte, die von Reid und Spott gemiſchten Blicke nicht, die ihm folgten. Warburg mied er, denn er war der einzige, vor dem ihn ein unbeſtimmtes, peinigendes Gefühl von Scham beſchlich. Bis der alte Freund ihn eines Tages in „eigenen Angelegenheiten“ dringend zu ſprechen verlangte und ein Ausweichen unmöglich war. „Du ſchwänzeſt die Schule,“ verſuchte Warburg zu ſcherzen, als er bei ihm eintrat und mit einem Blick das immer noch unbewohnt erſcheinende Hotelzimmer überflog. 173 „Vielleicht bin ich nur in eine — andere Klaſſe ver⸗ ſetzt“, entgegnete Konrad ebenſo, vor den forſchenden Augen ihm gegenüber die ſeinen ſenkend. Unruhig ſchritt Warburg im Zimmer auf und ab Dann blieb er vor ihm ſtehen, ihm leiſe, als berühre er einen ſehr Wunden, die Hand auf die Schulter legend. „Was ſoll nur daraus werden?!“ ſagte er auf⸗ richtig bekümmert. „Muß denn immer aus allem, was iſt, etwas werden? meinte Konrad mit ſeinem ſtrahlendſten Lächeln, „hat denn für euch ewig Rüchterne nur einen Wert, was Zweck, was Zukunft hat?! „Run,“ warf Warburg ein, „die natürlichſte Folge einer ſo alles beherrſchenden Leidenſchaft ſcheint mir doch der Wunſch nach dauernder Vereinigung zu ſein, ſtatt- er ſtockte. „Sprich es nur ruhig aus,“ fuhr Konrad, ernſt ge⸗ worden, fort, „ſtatt nach dauerndem Ehebruch, wollteſt du ſagen.“ Warburg nickte. „Von einem Ehebruch aber iſt doch nur die Rede, wenn eine — Ehe beſteht. Das aber gilt für Renetta und den Mann, deſſen Ramen ſie trägt, nicht,“ — Warburg ſah ungläubig auf — „hat nie gegolten; aus Mitleid kaufte er ſie von einem Schurken frei.“ Warburg lachte: „Der — und Mitleid?! Konrad hob ungeduldig die Schultern: „Aus Eitel⸗ keit denn, wenn du willſt. Sie hat ihm dafür eine ge⸗ ſellſchaftliche Poſition geſchaffen. „Du denkſt alſo nicht an eine künftige Heirat?“ frug Warburg vorſichtig. Konrad lächelte mit überlegener Heiterkeit: „Spannt man Vollblutpferde vor einen Pflug? Soll ich die Göttin dieſer Liebe in das Kleid einer Dienſtmagd ſtecken? Warburg ſchwieg, ohne den Ausdruck kummervollen Grübelns los zu werden. Konrad, in ſeiner verfeinerten 174 Empfindlichkeit für fremdes Leid, dachte an des Freundes ſtille Reigung. „Biſt du mir böſe, weil ich Frau Sara Rubner ſo lange gemieden habe?“ Er begleitete ſeine Frage mit dem wärmſten Freundesblick. „Weißt du, wer Sonne gewöhnt iſt, meidet den Schatten. Der graue Salon, das Totenlicht, und die reine Geiſtigkeit dieſer Frau -" Warburgs Geſicht war ganz hell geworden. „Gerade dies wäre ein Gegengewicht. Doch, ehrlich geſtanden, es iſt am Ende beſſer ſo. Ich wäre viel⸗ leicht eiferſüchtig geworden. Irgend ein Reſt von — verzeih! — barbariſchem Lebensdurſt zeigt ſich zuweilen auch bei ihr. Und jetzt“ — er legte die Hand über die Augen, als wolle er einen zu deutlichen Ausdruck ſeiner Hoffnungen verbergen, „jetzt hört ſie mit mir natur⸗ wiſſenſchaftliche Vorleſungen.“ Konrad war nachdenklich geworden: „Ob nicht Frauen nur aus unterdrücktem Lebensdurſt ſtudieren?“ meinte er. Warburg blickte erſtaunt. „Muß ich dich an — Elſe erinnern?!“ ſagte er leiſe. „Elſe —“ Konrad wandte ſich ab, tief erblaßt, und ſah lange zum Fenſter hinaus auf den wirbelnden Schnee, der ſich auf der Straße unten in ſchwarzen Schmutz wandelte. Eine plötzliche Sehnſucht nach weißem, froſtkrachendem Winter überkam ihn. „Ob wir beide uns nicht irgendwo im Gebirge Hirn und Herz durch Gletſcherwind kühlen laſſen ſollten? ſagte er. Aber der Freund machte eine ſehr heftige Ab⸗ wehrbewegung: „Mitten im Semeſter?! Und ich weiß, Sara liebt das Gebirge nicht. Ihn aber ließ der Gedanke nicht los. In einem ver⸗ ſchneiten Dorfe, einſam, fern aller Welt, träumte er ſich mit Renetta. Und ein Erlebnis, das ihn ſtür⸗ miſch erregte, beſtärkte ihn in ſeinem Plan. Sie hatte eigenſinnig darauf beſtanden, den Beſuch Eulenburgs 175 zu einer Stunde anzunehmen, die ſonſt nur ihm allein gehörte, und hatte ihm für ein Gedicht, das in glühenden Farben ihre Reize pries, ein Lächeln geſchenkt, aus Dank, Eitelkeit, Verheißung gewoben — „Was haſt du mit dem Menſchen?“ rief er, als Eulen⸗ burg nach einem, wie ihm ſchien, allzu bedeutungsvollen Handkuß gegangen war. In ihren Augen blitzte es auf; ſie fühlte, wie der Geliebte, ihr Herr bisher, an der Kette der Eiferſucht lag, wie ein Sklave. Und plötz⸗ lich überwältigte ſie ein faſſungsloſes Weinen. Mit einem langen, fremden Blick ſah ſie ihn an, als er die vermeintlich durch ſeinen unſinnigen Verdacht Gekränkte mit Anklagen ſeiner ſelbſt und Bitten um ihre Ver⸗ zeihung zu beruhigen ſuchte. Ihre Tränen verſiegten. Merkwürdig, wie ſie, in einer Empfindung von Schreck und Staunen gemiſcht, ihr eigenes Ich aus ſich ſelbſt heraustreten ſah und neugierig betrachtete: Eine Eis⸗ hand preßte ihr Herz zuſammen, bis der letzte Tropfen roten Blutes daraus entwichen war. Mit abſichtsvoller Bewußtheit ſchmeichelte ſie ſeine Erregung hinweg und ſchien widerſpruchslos, ja mit freudigem Rachgeben auf ſeine Wünſche einzugehen. Verſunken in dem Gedanken an die neuen, fremd⸗ artigen Reize, die ihrem Liebesleben bevorſtanden — er ſah ſich mit ihr auf gleitenden Hölzern über weite Schneeflächen fliegen, träumte von einſamen Rächten auf verlaſſenen Hütten — ging er von ihr, heimlich durch Rebenſtraßen ſchleichend, um, noch ganz im Bann ihrer Rähe, kein anderes bekanntes Geſicht ſehen zu müſſen. Daß ein Reues, Fremdes zwiſchen ihnen ge⸗ weſen war, daß in ihre Hingabe etwas wie Empörung ſich eingeſchlichen, das Weibliche über das Männliche triumphiert hatte, kam ihm nur wie ein dumpfer, vom Morgengrauen ausgelöſchter Traum zum Bewußtſein. Auch daß unter ihrem Schmeicheln das einſame Berg⸗ dorf zu einem Winterſportplatz geworden war. 176 Und nun ſaß er im gleichen Coupé mit der ganzen Familie, denn auch das Kind, ein kleiner, dünngliedriger Backfiſch mit kühlen, geſchlitzten Augen in dem gelben Geſicht, war mitgenommen worden. War ihm ſchon die Gegenwart des Bankiers eine Qual, ſo ſteigerte ſie ſich durch die Anweſenheit der Tochter zur Unerträglichkeit. Die ſchöne junge Frau, Gattin dieſes Mannes, das war ſchon eine Karikatur. Aber Renetta, als Mutter dieſes Mädchens, bei deſſen Anblick ſeine Phantaſie ihm das Bild des unbekannten ſcheußlichen Vaters heraufbeſchwor und die widerlichen Liebesſtunden der Eltern, deren Frucht ſie war, brachte ihn faſt in einen Zuſtand von Raſerei. „Warum dieſe Begleitung?“ ſtieß er wild hervor, als der Bankier mit ſeiner Stieftochter im Speiſewagen ver⸗ ſchwunden war. „Er ſagte, er täte es nicht anders,“ antworte ſie gleich⸗ gültig, „man müſſe die Dehors wahren. Die Dehors wahren?! Das ſchien ja faſt, als wiſſe er — Sie kamen an Bamberg vorbei. „Ihre Heimat, Baron“, ſagte Renetta lächelnd. „Wie ſchön muß das ſein.“ Konrad blickte mit gefurchter Stirne hinaus; er dachte an den ſteinernen Reiter im Dom und an ſeine keuſche Ritterlichkeit. An die alte Frau dachte er, droben auf Hochſeß, und errötete jäh; niemals würde er Renetta Veit ihr zuführen können! Als er ſich umwandte, ſaß ſie, weit vorgeneigt, die Arme auf die Knie geſtützt, in die Hände mit den glän⸗ zenden ſpitzen Rägeln an den beringten Fingern das Kinn vergraben, und ſtarrte ihn an mit jenem Blick der thronenden Berolina, voll Kälte und Feuer, voll Haß und Leidenſchaft. In dem großen Hotel des Winterſportplatzes ſammelte ſich ein internationales Publikum um den Sport als den Braun, Lebensſucher 12 177 Mittelpunkt allen Intereſſes. Bis über die Teeſtunde hinaus waren die weiten Schneeflächen draußen belebt von Menſchen, für die es kein Alter mehr zu geben ſchien: der ſehnige, graubärtige Alte, der in weitem, fühnem Bogen vom Berg herunterſchoß, gab an Kraft und Schönheit dem Jüngling nichts nach, der auf ſeinen Flügelbrettern aufjubelnd vom Sprunghügel in die Tiefe flog; und die reife Frau, die auf dem ſpiegelnden Eiſe auf blitzendem Stahl kunſtvolle Kreiſe zog, war um nichts weniger ſchön und reizvoll, als das junge, ſchmal⸗ hüftige Mädchen, das in ſauſender Fahrt den kleinen Schlitten zu Tale lenkte. Renetta Veit paßte nicht hierher. Ihre Grazie ver⸗ ſagte, wenn es galt, ſie mit Kraft und Mut zu paaren. Und wenn ſie im ſtrahlenden Wintermorgen, der grauſam aller künſtlicher Schönheitsmittel ſpottet, hilflos mitten im Schnee auf Skiern ſtand, das Geſicht unter den Goldhaaren blau gefroren, dann konnte ſie ſogar häß⸗ lich ſein. Sie fühlte das bald und gab alle weiteren Verſuche, es den anderen gleich zu tun, auf; es hätte ſie ja auch nur eins gereizt: ſie zu übertreffen. Konrad fuhr allein, befreit, voll ſtarkem Kraftbewußtſein zu den Höhen empor und wieder hinab in die Tiefen. Renetta ſah ihm nach, mit verſchleiertem Blick und geneigtem Racken, wieder ganz das lauernde Tier. Drohte er ihr zu entgleiten?! Und ſie ballte im Be⸗ wußtſein ihrer Kraft die weißen Hände. Es kamen Tage, wo Konrad, heimkehrend, ſie nicht wie ſonſt, ſeiner wartend, im Hotel fand. Statt ihrer begegnete ihm Rana, die Tochter, in der Halle. „Mama iſt mit Mr. Rorton“ — einem ſchwerreichen Amerikaner — „fortgefahren“, ſagte ſie das eine Mal mit ſpöttiſch verzogenem Munde. „Graf Pechlarn“ der Typus eines flotten öſterreichiſchen Offiziers — „hat ſie im Schlitten abgeholt“, erklärte ſie, von grauſamer Freude ſtrahlend, das andere Mal und fügte halb frech, 178 halb altklug leiſe hinzu: „Sie ſollten doch wiſſen, Herr Baron, Mama iſt aus Prinzip untreu.“ Von wütender Eiferſucht gequält, gab er ſeine ein⸗ ſamen Fahrten auf und wich kaum noch von ihrer Seite. Und mit der Freude eines Vogelſtellers, der mit girrendem Pfeifen und Trillern und mit grauſamen Leimruten ſeine Opfer ins Retz lockt, peitſchte ſie ſeine Leidenſchaft mit heimlichen Händedrücken und gewäh⸗ renden Blicken und reizte ihn durch raffinierte Koketterie mit anderen Männern. Zähneknirſchend und doch von der Angſt gefoltert, ſie an einen der vielen anderen verlieren zu können, unter⸗ warf er ſich täglich mehr ihren Launen. Daß etwas in ihr, das Beſte, der Reſt unverdorbenen Weibtums ſich) danach ſehnte, ihrer ſelbſt faſt unbewußt, unterworfen zu werden, daß ihre Seele, je mehr ſein Widerſtand ſchwand, um ſo verzweifelter am Totenbett ihrer ſterben⸗ den Liebe weinte, das ſah er nicht. Um das Wiſſen von ihren Seelen hatten ſie nie Zeit gehabt ſich zu kümmern. Abends, wenn er mit ihr allein zu ſein hoffte, hatte ſie ſtets einen Hofſtaat um ſich, und am Tage mehrten ſich die Sportsleute, die Skier und Bobſleigh um ihret⸗ willen vergaßen. Einmal gelang es ihm, ſie im Schlitten der Schar ihrer Bewunderer zu entführen. „Ich ertrag's nicht länger,“ ſagte er, ihr Handgelenk umklammernd, wie an jenem erſten Abend, „willſt du mich wahnſinnig machen?“ „Warum wahnſinnig?“ entgegnete ſie mit einem dank⸗ baren, faſt demütigen Aufblick. „Sagte ich es dir nicht gleich: ich liebe die Liebe,“ und als er ſich mit finſterer Miene von ihr wandte, fügte ſie, den Kopf an ſeine Schulter legend, ſo daß ihre Haare ſeine Wangen ſtrei⸗ chelten, leiſe und ſchmachtend hinzu: „Bin ich nicht dein — nur dein?! Sind die anderen mir mehr als ein Spielzeug: 12* 179 Er erzählte ihr, noch immer voll Mißtrauen, von dem kecken Ausſpruch ihrer Tochter. Sie lachte hell auf: „Das Mädchen erſetzt durch Verſtand, was ihr an Schönheit abgeht! Sie beſtätigt nur, was ich vorhin ſagte: Spielzeug zerbricht man oder wirft's weg, wenn es langweilt. „Und — ich?!“ frug er bebend, mit ſeinem brennen⸗ den Blick die Rätſel ihres Geſichts durchforſchend. „Du?!“ ſagte ſie verwundert, den Arm zärtlich um ſeine Schultern ſchlingend. „Du biſt mein Geliebter. Und ſie zog ſeinen Kopf heran, um ihn zu küſſen. „Was hat Liebe mit Treue zu tun?“ fuhr ſie dann fort. „Wer liebt iſt treu — ohne weiteres. Treue aber ohne Liebe iſt eine hündiſche Tugend.“ An jenem Tage fuhren ſie weit und blieben bis tief in die Racht in einem kleinen Dorfwirtshaus, deſſen luſtige Wirtin das „junge Paar“ mit freundlich⸗derben Witzen empfing, und ſie in der Gaſtſtube, wo der große, grüne Kachelofen glühte, im Glasſchrank neben dem Myrtenkranz gemalte Taſſen und bunte Gnadenbilder glänzten und das hochaufgetürmte Bett in getäfelter Riſche ſtand, ihre Mützen und Mäntel ablegen ließ. Als die Kunde von den leutſeligen Fremden, die ein Fäßchen Tiroler hatten anſtechen laſſen, ſich im Dorf verbreitete, füllte ſich das Wirtshaus mit Burſchen und Mädchen; und ſie jodelten und tanzten um die Wette und ſangen ihre neckenden Liebeslieder im Weggehen noch zu den Fenſtern der Gaſtſtube hinauf, die noch lange glänzend in die Schneenacht ſahen. Von da an wurden die Stunden unvergifteten Glücks immer ſeltener. Die Leidenſchaft, die ſie jetzt zueinander riß, hatte etwas von der feindſeligen Gewalt des Haſſes. Als ſie nach Berlin zurückkehrten, fegte der Märzwind durch die Straßen und an den Büſchen im Tiergarten 180 ſtreckten ſchon vorwitzige Frühlingstriebe ihre grünen Fingerchen aus. Müde und abgeſpannt, mehr einer Gewohnheit als einem Wunſche folgend, ging Konrad noch am Abend ſei⸗ ner Ankunft in das Stammkaffee ſeines Freundeskreiſes. Als er eintrat und durch Wolken Zigarettenrauchs die bekannten Geſichter auftauchen ſah, erſchrak er. War er verwöhnt durch den Anblick luftgebräunter, ſonnen⸗ geröteter Haut, oder waren es wirklich Geſpenſter, die ihm aus tiefliegenden übernächtigen Augen entgegenſahen? Leonie war die erſte, die ihm ſichtlich erſtaunt eine blutleere Hand entgegenſtreckte. „Endlich!“ ſagte ſie. „Sind Sie krank geweſen?“ frug er, mit einem Blick auf ihren Teint, der allen Puders zu ſpotten ſchien. „Tangokrank“, ſpottete einer. „Ihr tanzt immer noch?“ ſtaunte Konrad. „Immer!“ antwortete das Mädchen. „Aber bilden Sie ſich nur nicht ein, Baron, daß Sie beſſer ausſehen, als wir.“ Sie zog ihn auf den leeren Stuhl neben ſich und fuhr leiſer fort: „Warum bleiben Sie nicht bei uns? Aus den Händen der anſtändigen Frauen ⸗ ſie ſchnitt dazu eine Straßenjungengrimaſſe, — „kommt Ihr alle ſo käſebleich.“ Er machte eine ärgerliche Be⸗ wegung. „Na, nicht böſe ſein! Ich bin eine ehrliche Haut und ſage, wie ich's meine: Was nehmt Ihr die dumme Liebe ſo tragiſch.“ „Dumme Liebe?!“ wiederholte er beluſtigt. „Was denn ſonſt?“ antwortete ſie, „eine ganz nette Beluſtigung, vielleicht ſogar eine Rotwendigkeit, wie Eſſen und Trinken, aber doch nicht wert, ſie wichtig zu nehmen.“ Man lachte ringsum. „Was gibt's denn Wichtigeres, Fräulein Leonie?“ frug der alte Hofrat, eine neue Zigarette in den Mundwinkel ſchiebend. Sie ſah nachdenklich vor ſich hin und meinte dann 181 langſam: „Wenn ihr's für euch ſelbſt nicht wißt, die ihr euch über hunderterlei Ismen allabendlich die Köpfe blutig ſchlagt, ſchlimm genug für euch! Soweit mich's angeht, weiß ich's. Da iſt zum Beiſpiel die Lia — ihr kennt ſie ja — ſie iſt krank, liegt den ganzen Tag zu Bett, während ihre alte Mutter ihre paar Fähnchen zu⸗ ſammenflickt, um ſie abends wieder auf neu ausputzen zu können, wenn ſie ausgeht. „Na — und?“ rief der Hofrat ungeduldig, „eine ſehr banale Geſchichte!“ „Meinen Sie?!“ ſagte Leonie giftig; „iſt's vielleicht banal, daß dies fidele Mädel mit den glänzenden Augen und dem leichtfertigen Leben nur eure Dumm⸗ heit ausnutzt, um in ein paar Jahren — ſofern ſie's aushält bis dahin! — mit der Mutter irgendwo in ein Häuschen ins Grüne zu ziehen — das iſt nämlich für ſie das wichtigſte — und auf die gaänze ſogenannte Liebe zu pfeifen!“ Die um den Tiſch ſitzenden waren ernſt geworden. „Da ſoll ſie ſich nur jetzt an ihren Freund, den Eulen⸗ burg halten“, ſagte jemand, „paßt auf, der wird noch heuer der tantiemenreichſte Dichter! „Wird ihr wenig helfen,“ lachte Leonie mit einem Seitenblick auf Konrad, „jetzt, wo Frau Renetta Veit wieder hier iſt und die Premiere ſeines Dramas vor der Türe ſteht.“ „Rimm dein Mundwerk in acht“, fuhr ſie Konrad an. „Fällt mir nicht ein“, antwortete ſie achſelzuckend. „Jemand unter euch wird doch wohl noch ſagen dürfen, was er denkt. Der Eulenburg iſt fällig. „Leonie!“ Konrad packte ſekundenlang ihren Arm. „Au!“ machte ſie und fuhr gleichmütig fort: „Als der arme kleine Prinz ſich erſchoſſen hatte — gräßlich muß es übrigens geweſen ſein, die Rini erzählte mir erſt neulich davon, wie das weiße, blutbeſudelte Auto mit dem Toten durch die Straßen raſte -" 182 Konrad ſah fragend auf: „Ein weißes Auto?! „Mit blauſeidenen Sitzen — ja! Aber was haſt du denn?!“ rief das Mädchen, in das blaſſe Geſicht des Mannes ſtarrend. Er ging hinaus, ohne Antwort. Sie war alſo damals, als er ſie das erſtemal ſah, von ihrem Geliebten ge⸗ kommen! Warum quälte ihn der Gedanke? „Ich liebe die Liebe —“ er wußte es ja längſt — von ihr ſelbſt. Von da an mied Konrad die Tafelrunde. Auch zur Erſtaufführung von Eulenburgs Werk zu gehen, das beſonders in der dem Kommerzienrat Veit naheſtehenden Tagespreſſe ſchon wochenlang vorher als das kommende „Ereignis“ angekündigt und beſprochen wurde — man verriet ſogar mit geheimnisvoller Miene Toilettendetails der mitwirkenden Künſtlerinnen — ver⸗ mochte er ſich nicht zu entſchließen. Er erfuhr aus den Zeitungen von dem großem Erfolg und zugleich von „Frau Renetta Veit, die im Kreiſe der Sterne des geiſtigen Berlins die Proſzeniumsloge inne hatte und deren berückende Schönheit im Glanz unzähliger Bril⸗ lanten mit dem genialen Werk unſeres hoffnungsvollen Dichters wetteifernd um die Aufmerkſamkeit des Publi⸗ kums rang.“ Er mied nun auch die Geliebte, ſich ſelbſt einredend, der Stolze, Zurückhaltende zu ſein, während ſein Ver⸗ langen nach ihr ihn folterte und er, nur um ihren Duft zu ſpüren, die violetten, von ſteilen großen Schriftzügen bedeckten Bogen, mit denen ſie ihn früher überſchüttet hatte, wenn er einmal nicht zur verabredeten Zeit ge⸗ kommen war, vor ſich ausbreitete. Jetzt — und er war ſchon eine volle Woche fern geblieben — hatte ſie keine Zeile für ihn! Er ertrug's nicht länger und ſuchte ſie auf. Sie ließ ſich wegen einer Migräne verleugnen. Er meinte hinter der Türe die Tochter boshaft kichern zu hören. Müde, empfindungslos ging er wieder. Ein Schimmer von hellem Grün lag wie ein Schleier 183 über der langen Allee, die er durchſchritt, und die Luft war erfüllt von jener weichen, warmen Feuchtigkeit der Glas⸗ häuſer für Tropenpflanzen. Im neueſten Frühlingsputz promenierte die elegante Welt über die Straßen, den Schauſtätten müßigen Lebens. Arm in Arm, in kurzen Röcken, kecke Löckchen vor dem Ohr auf den weichen Wangen, kamen die Mädchen vorüber; ihre Augen, glänzend von bewußtem Begehren, hingen ſekundenlang an allem Lockenden: Kleidern, die leiſe rauſchten, Reihern, die wie weiſende Fahnen wehten, Männerblicken, die auf der Suche waren. Frauen traten aus den Kauf⸗ häuſern und Kaffeehäuſern, erregt vom pikanten Klatſch), oder heiß vom galanten Abenteuer der letzten Stunde, und andere, deren erfrorenes Lächeln auf geſchminkten Lippen gleiche Erlebniſſe wenigſtens vortäuſchen ſollte. Kleine Mädchen mit langen, bloßen Beinen, von Bonnen begleitet — alten, verbitterten und jungen, denen der Lebenshunger aus den Geſichtern ſprach —, übten ſich ſchon in der Kunſt der Koketterie und fingen bereitwillig die Blicke der Knaben auf. Blaſſe Gymnaſiaſten mit blauen Rändern unter den Augen ſtolzierten hinter hoch⸗ buſigen Spreewälderinnen, die langſam die weißen Kinder⸗ wagen vor ſich herſchoben, während ihre weiten Röcke um die runden Beine ſchwenkten. Konrad fühlte einen ſchweren Druck auf dem Kopf und ſtrebte raſcher vorwärts. „Baron Hochſeß!“ Eine bekannte Stimme hielt ihn auf, er ſah in Frau Rubners erſtaunt auf ihn gerichtete Augen. Sie verrieten, wie viel ſie in ſeinen Zügen entdeckten, aber ihr Mund ſchwieg davon. „Kommen Sie mit,“ ſagte ſie heiter, „ich gehe zum Boſtonklub. Auch Warburg wird dort ſein.“ Warburg? Boſtonklub? Er verſtand nicht. Sie lachte hell auf über die Verblüffung, die aus ſeinen Mienen ſprach. „Ja — auch mich hat's gepackt. Ich tanze“, erklärte 184 ſie. „Gerade wir Gehirnmenſchen ſollten uns immer wieder unſeres Körpers erinnern. Sonſt vergeſſen wir, daß wir jung ſind.“ Und mit elaſtiſchem Schritt eilte ſie vorwärts. Es war ein privater Zirkel, an dem ſie teilnahm. Man übte unter Leitung einer ehemals berühmten Tänzerin die neuſten choreographiſchen Schlager. Die Schüler waren meiſt ältere Leute, viele üppige Damen darunter, die für Körper und Herz offenbar eine zweite Jugend ſuchten. Zu ſeinem Erſtaunen traf Konrad den Hofrat unter den Zuſchauern. „Für das Studium modernen Lebens,“ ſagte ihm dieſer nach einem freundſchaftlichen Händedruck, „iſt die Kennt⸗ nis dieſes Klubs unentbehrlich. Sehen Sie nur die Frauen an: Frau Rubner zum Beiſpiel, von der ich heute eine glänzende ruſſiſche Überſetzung der Simmel⸗ ſchen Philoſophie des Geldes bekommen habe, und Hed⸗ wig Mendel, die eben ihren Doktor gemacht hat und auf allen Frauenkongreſſen das große Wort führt, ſie tanzen mit größerer Hingebung als unſere Mädels.“ „Warum ſollten ſie nicht?!“ meinte Konrad, „eine geſunde Reaktionserſcheinung. „Sicherlich,“ nickte der andere, „nur vergeſſen Sie, mit wem ſie tanzen, wem ſie ſich ſo hingebungsvoll in die Arme ſchmiegen. Der da, Frau Rubners Partner, iſt Gerhard Fink, — der reine Apoll, nicht wahr? hat aber nicht mal das Einjährige machen können — jetzt, wie Sie wiſſen werden, unſer preisgekrönter Flieger. Jener dort, mit dem das Fräulein Doktor walzt, war bis vor einem Jahr Chauffeur bei den Mercedeswerken; irgend⸗ eine Prinzeſſin hat ihn mit ihrem Auto gekauft und auf einigen Auslandsreiſen ſo gut erzogen, daß er jetzt in allen internationalen Rennen ſeinen eigenen Wagen lenkt. Und drüben der mit dem Zigeunergeſicht iſt im Tatter⸗ ſall erſter Stallmeiſter. Ja, ja —“ und er lachte ver⸗ ächtlich — „die intellektuellen Weiber, denen die geiſtigen 185 Männer nicht mehr imponieren, ſuchen ſich ſolche, die ihnen durch ihre Körperlichkeit überlegen ſind! Sie glauben nicht, mit welch einem Gefühl der Erleichterung ich von hier zu unſeren Mädels zurückkehre! Konrad wollte heftig erwidern, — mochte ſein Rach⸗ bar auch vielfach recht haben, Frau Rubner, das wußte er, war über ſolchen Verdacht erhaben, — als Warburg eintrat. Frau Sara ließ ihren Tänzer ohne weiteres ſtehen, um den Freund mit beſonderer Herzlichkeit zu begrüßen. Er ſtrahlte noch vor Freude darüber, als er Konrad entgegentrat. „Iſt ſie nicht wundervoll?“ flüſterte er ihm zu; es war das erſtemal, daß er ſein Entzücken in dieſer Weiſe ausſprach. Konrad überlegte noch, ob er Hedwig Mendel, um ihr einen peinlichen Augenblick zu erſparen, nicht beſſer ignorieren ſolle, als ſie ihm im Vorüber⸗ tanzen unbefangen zunickte. „Auch Sie wundern ſich?!“ frug ſie dann lächelnd. „Ich dachte, Sie würden begreifen, daß wir ſtudierten Frauen nicht bloß auf dem Katheder ſtehen und am Schreibtiſch ſitzen wollen.“ „Ich wundere mich ja auch nicht, daß Sie tanzen, ſondern mit — wem Sie es tun, Fräulein Doktor“, antwortete Konrad mit bewußter Schärfe. Des Mädchens Augen in dem ſchmal und ſpitz ge⸗ wordenen Geſicht verdunkelten ſich. „Meinen Sie, ich ſollte dem nachlaufen, der vor einer Renetta Veit ſeine Kunſt proſtituiert?!“ flüſterte ſie. Und laut ſagte ſie, zu ihrem beſcheiden abſeits ſtehenden Tänzer gewendet: „Richt wahr, Wendrutzki, jeder ſucht das Leben nach ſeiner Reigung. Wir tanzen —“ Und mit einer faſt ekſtatiſchen Leidenſchaft, die den ganzen übermäßig ſchlanken Körper in Schwingung verſetzte, wirbelte ſie davon. Frau Sara Rubner ging mit den Freunden nach Hauſe, nachdem ſie Gerhard Fink flüchtig vorgeſtellt hatte. „Mögen 186 Sie ihn?“ frug Konrad, um ein Geſpräch anzuknüpfen; die Worte Hedwigs klangen noch ſchmerzhaft in ihm nach. „Er iſt der beſte Tänzer Berlins,“ antwortete War⸗ burg ſtatt ihrer, „alſo für Frau Saras neuſte Leiden⸗ ſchaft gerade gut genug. Sie konſumiert Menſchen, wie Sie wiſſen: je einen für jede Reigung. „Ich glaube, Sie unterſchätzen meinen Tänzer,“ fiel ſie ruhig lächelnd ein, „freilich, er hat nicht viel gelernt, verſteht auch keine geiſtreiche Konverſation zu machen, dafür iſt er eine ſo beruhigend unkomplizierte Ratur und erſetzt durch Innerlichkeit, was ihm an Wiſſen ab⸗ geht“. Dann brach ſie das Geſpräch ab. Konrad erfuhr nur noch, daß ſie ſich als Autofahrerin ausbilden wollte und den Beſuch der Univerſität daher zunächſt aufgeben würde. Zwiſchen den drei Wandernden trat eine beklemmende Pauſe ein, wie immer, wenn jeder eigenen, ihn weit von den anderen entfernenden Gedanken nachhängt. Warum ging er hier, grübelte Konrad, zweck⸗ los und unfroh? Während Renetta vielleicht —. Eine wütende Sehnſucht, durch quälende Zweifel nur geſtei⸗ gert, packte ihn. Er verabſchiedete ſich raſch und unvermittelt; nur die Bläſſe ſeines Freundes ſiel ihm auf, oder war es der Widerſchein des gelben Gaslichts geweſen? Mit immer ſchnellerem Schritt ſtürmte er durch die Straßen. Sehen — nur ſehen muß ich ſie! dieſer eine Gedanke bohrte ſich in ſein Hirn und hetzte ſeinen Herzſchlag. Er ſtand vor ihrem Hauſe. Wie?! Alle Fenſter erleuchtet?! Geſellſchaft?! Und er wußte von nichts?! Und heute nachmittag hatte ſie ihn abgewieſen?! Lachende und lärmende Gäſte kamen die Treppe hinab; das Mädchen ſchloß auf; er drückte ſich in den Schatten des Torwegs. „Ein göttliches Weib!“ hörte er ſagen. Das war 187 Eulenburg. Sein Blut ſiedete. Mit einem Sprung ſtand er an der Türe. „Die Herrſchaften erwarten mich noch“, ſchrie er das verdutzte Mädchen an, das eben abſperren wollte, und jagte die Treppe empor. Die Flurtüre ſtand offen. Er hörte die Stimme des Hausherrn — kühl, ge⸗ ſchäftsmäßig: „Ich bin zufrieden mit dir, mein Kind. Du lernſt es allmählich, mein Haus auf das Riveau zu heben, das der Poſition, die ich mir eroberte, ent⸗ ſpricht.“ Die beiden traten in das Licht der Lampe. Sie blieben ſtehen. Des kleinen Mannes Augen hafteten an dem halbentblößten Buſen der junoniſchen Frau neben ihm, ein gieriges Feuer entzündete ſich in ihnen, weitete ſie. „Du hätteſt nicht nötig gehabt, Eulenburgs Roſen mit ſo beziehungsvoller Geſte in den Ausſchnitt zu ſtecken“, ſagte er, und ſeine breite weiße Hand legte ſich auf ihre Schulter, glitt bebend über ihren Hals. Sie regte ſich nicht. Ihr Blick nur muſterte höhniſch den vor ihr Stehenden, den die Anſtrengungen des Abends beſonders greiſenhaft erſcheinen ließen, während ein hartes, ſpöt⸗ tiſches Lachen in dem engen Raume widerklang. Der Glanz in ſeinen Augen erloſch, ſeine Lider ſenkten ſich), er trat einen Schritt zurück, küßte ihr mit der Höflich⸗ keit des Weltmanns die Fingerſpitzen und ging. Konrad ſtand vor ihr keuchenden Atems. Sie ſchrie auf, um ihn im nächſten Augenblick, die Schritte des Mädchens auf der Treppe hörend, mit ſich in den dunklen Salon zu ziehen. Rur die Glühlampen von der Straße warfen breite Lichtbündel durch die Fenſter. „Was willſt du?“ ziſchte ſie. „Du läßt dir von dem Eulenburg hofieren,“ ſtieß er hervor, ſie mit der Linken an ſich reißend, ſo daß ſie wie in einem Schraubſtock in ſeinem Arm lag, „und trägſt ſeine Roſen“ — er riß den Strauß duftender Blumen vom Ausſchnitt ihres Kleides, ſo daß die Dornenrote Striemen 188 auf ihrem weißen Halſe zogen. „Umbringen werd' ich dich, umbringen Mit ängſtlich flackernden Augen, während ihre Rechte heimlich nach ſeinen Taſchen griff — er ſah entſetzlich aus und hatte doch vielleicht eine Waffe, ſie aber fürchtete ſich gräßlich vorm Sterben, ſo ſehr wie vor der Armut! — ſprach ſie, die Worte überſtürzend, auf ihn ein. Er hörte nicht hin. Er ſah nur den ſchim⸗ mernden Racken, den Rücken mit dem weichen Ein⸗ ſchnitt zwiſchen den Schulterblättern, die weißen Arme, die, vom Licht getroffen, glänzten, als wären ſie Strahlen von ihm. „Sei ſtill — ſtill,“ ſtöhnte er, „rede nicht! Ich weiß, daß du lügſt! Wenn dieſe Hände gemordet hätten, ich früge nicht danach! Rur lieben ſollſt du mich — mich allein!“ Und während er neben ihr zuſammenſank, den Kopf an ihre Knie gedrückt, reckte ſie ſich empor. Alle Angſt war aus ihrem Antlitz verſchwunden; zu einem verächt⸗ lichen Lächeln öffnete ſich der große, blutigrote Mund. Über Racht war es Frühling geworden. Aber Konrad ſcheute die hellen Tage draußen, wie einer, der keine reinen Kleider anzuziehen hat. Wie gut es war, daß niemand ſich um ihn kümmerte, niemand, auch Warburg nicht. Eines Abends trat er doch überraſchend in ſein Hotelzimmer. Konrad ſetzte ſich ihm gegenüber, ſo daß ſein Geſicht beſchattet blieb, denn er ſchämte ſich ſeiner übernächtigen Züge. Warburg indeſſen achtete ſeiner nicht. Er ſelbſt ſah gealtert und müde aus. „Ich wollte dir nur ſagen, damit du es von anderen nicht zuerſt erfährſt,“ begann er ſtockend, „daß Sara Rubner ſich — verlobt hat, — verlobt: mit Gerhard Fink -" Seltſam, dachte Konrad, wie ſtumpf ich bin, wie des 189 Freundes Unglück mich kalt läßt! Und laut ſagte er: „Und du haſt ſie ihm ſo ohne weiteres, ſo kampflos überlaſſen? Warburg ſah auf; ſeine Augen erzählten von der Tiefe ſeiner Qual, aber ſeine Stimme war ganz ruhig und ſein Mund lächelte ſogar, als er antwortete: „Sie gehörte mir nie, — wie hätte ich ſie halten können? Ich werde nicht aufhören, ihr Freund zu ſein und immer wünſchen,“ fügte er mit einem leiſen Seufzer hinzu, „daß ſie meiner Freundſchaft nicht bedürfen wird. Als Konrad die offizielle Anzeige der Verlobung er⸗ halten hatte, beſuchte er Frau Rubner aus bloßer Höf⸗ lichkeit. Wie konnte dieſe Frau ihm jemals intereſſant, ja bedeutend erſchienen ſein, für die eine triviale Elſe mit einem Durchſchnittsmenſchen die Löſung ihrer inneren Konflikte, die Erfüllung ihrer Sehnſüchte bedeutete?! Ihr Anblick jedoch überraſchte und feſſelte ihn aufs neue. Das Geſicht hatte einen ganz weichen, faſt demütig kindlichen Ausdruck angenommen, und aus ihren einſt ſo kühlen, klugen Augen leuchtete nichts als reines Glück. „Man wird fromm, wenn man liebt,“ ſagte Frau Sara, nachdem ſie die erſten konventionellen Redens⸗ arten gewechſelt hatten, „fromm wie die Kinder, denen ihr Heiland das Himmelreich verheißt. Man glaubt alles, hofft und duldet alles. Selbſt das Schwerſte: daß ich meinen beſten Freund ſo tief verwunden mußte. Ein fragender Blick traf ihn dabei. „Warburg leidet ſehr — gewiß,“ entgegnete Konrad, „aber er gehört nicht zu den Menſchen, die an getäuſchter Reigung zugrunde gehen. „Rein“, beſtätigte ſie mit tiefernſtem Geſicht. „Starke Menſchen gehen nur zugrunde, wenn ſie ſich ſelbſt in ihrer Liebe täuſchten, nicht wenn ſie getäuſcht worden ſind. Ich weiß das, denn wir ſind von gleicher Art, darum hätte ich auch nie ſeine Frau werden können, 190 ebenſo wie ein normales Weib nicht ihres Bruders Gattin werden kann. Vor dem Abſchied erzählte ſie ihm noch, daß ſie bald heiraten und im eigenen Auto die Hochzeitsreiſe machen würden. „Heute iſt er bei ſeinen Eltern,“ fügte ſie lächelnd hinzu, „alten, einfachen Pfarrersleuten, um ſie für unſere Verbindung günſtig zu ſtimmen. Und über⸗ morgen, wenn er heimkehrt, wird er ſein neues Flug⸗ zeug zum erſten Male ſteuern. Wie froh wird er ſein! Und ſie klatſchte in die Hände vor Freuden, wie ein ſeliges Kind. Konrad ging langſam, von Schwermut beladen, von der glücklichen Frau. „Starke Menſchen gehen nur zu⸗ grunde, wenn ſie ſich ſelbſt in ihrer Liebe täuſchten,“ klang es ihm wieder und wieder in den Ohren, wie eine Melodie, die man nicht los wird. Und der Freund und Frau Sara waren vergeſſen. Es ſtand für ihn feſt: Um das Weib, von dem er nicht laſſen konnte, zu ringen, wenn es ſein mußte, auch gegen ſie ſelbſt. Roch war ſie ja ſein — ſein. Er durfte, er wollte nicht zweifeln. An dieſer Gewißheit hing der Reſt ſeiner perſönlichen Würde. Gerade heute, das wußte er, gab ſie ein Feſt. Ihren Bitten gegenüber, daran teilzunehmen, — die übrigens nicht allzu dringende geweſen waren, dachte er bitter — war er, wie ſchon häufig, ſtandhaft geblieben. Er hielt es nicht mehr aus, nur einer unter vielen zu ſein, — einer am Wagen Frau Berolinas! Aber wenn er jetzt in die Bar ging, dann würde er wohl — ſo nebenbei — von einigen ihrer Gäſte hören können, wie ſie ausgeſehen hatte, wer wohl heute der Begünſtigte geweſen war. Das Blut ſtieg ihm in die Schläfen: wie ekelhaft das war, wie unwürdig, die anderen auszuhorchen, wo es die Geliebte galt! Rein — ſo ging's nicht mehr weiter. Ihm grauſte vor ſich ſelbſt. Morgen würde er vor ſie hintreten mit 191 der einzigen Forderung, die allen Schmutz, unter dem er erſtickte, abzuwaſchen imſtande wäre: Scheidung In der Bar „Aux trois Graces“ ſpielten rotbefrackte Zigeuner. Die Geigen ſchluchzten, — ein hämmernder Ton fiel ein — aufpeitſchend — Leonie lief Konrad entgegen. „Biſt du auch betrunken, wie die andern?“ Und ihr Blick forſchte in ſeinem glühenden Antlitz. „Rein“, ſagte er laut; ihm war plötzlich, als würde er ſich ſeiner überſchäumenden Kraft wieder bewußt, wie einſt, da er Frau Berolina zuerſt umarmt hatte. „Schau nur den Kerl, den Eulenburg,“ flüſterte Leonie, „er wird ſie umbringen.“ „Eulenburg?!“ Konrads Geſicht verfinſterte ſich. Ihm gegenüber ſaß er und hielt die kranke Lia auf dem Schoß, ihr ein großes Glas Sekt in den offenen Mund ſchüttend. „Du Konrad —“ gröhlte er, „ſtell dir vor: für jeden Kuß verlangt dieſer Fratz ein blankes Goldſtück. Merk dir's, mein Junge, und tauſch' beizeiten deinen roſen⸗ roten Idealismus gegen ein Stück handfeſten Erfolges ein.“ Er ſetzte die Flaſche an den Mund und trank in vollen Zügen. „Übrigens, Kinder, wozu der nicht alles gut iſt! Die ſchönſten Beine und die ſchmachtendſten Augen erreichen nicht, was er erreicht! Richt bloß ſo ine kleine Rachteule geht ihm auf den Leim —“ Er ſchnalzte mit der Zunge und rülpſte. Die anderen drängten ſich um ihn. „Raus mit der Sprache, Gevatter“, ſchrien ſie durch⸗ einander. „Warum ſo zimperlich!“ - „Früh um viere iſt keine Zote zotig genug -" Konrad war weiß geworden, er wußte ſelbſt nicht, warum. Leonie ließ ihn nicht aus den Augen. 192 Eulenburg ſchüttelte ſich vor Lachen, einen violetten Briefbogen, von großen, ſteilen Schriftzügen bedeckt, in der erhobenen Hand haltend. „Wißt ihr, was das iſt, ihr Affen? Re! -" Konrad war aufgeſprungen, ſich mit beiden Händen zitternd auf den Tiſch ſtützend. Eulenburg lallte, ſo daß nur die allernächſten ihn noch verſtanden: „Zwiſchen Knackmandeln und — und Kaffee — hab' ich heut — heut — die — die ſchönſte Frau von Berlin ⸗ Mit einem raſchen Griff entriß ihm Konrad den Zettel: „Mein Dichter . . . Deine Renetta . . .“ er brüllte auf, wie ein zu Tode Getroffener, und ſtürzte ſich auf den Rivalen. Eulenburg ſtarrte ihn an, verſtändnislos, mit gläſer⸗ nen Augen, — ſah zwei Fäuſte — duckte ſich heulend — Mit einer Kraft, die niemand dem Mädchen zugetraut hätte, riß Leonie den Wütenden auf den Stuhl zurück. „Haltung!“ ziſchte ſie dicht an ſeinem Ohr, „um ſo ein Weibsſtück Mord und Totſchlag?! Und zu den andern ſagte ſie laut: „Ihr ſeid alle mit⸗ einander beſoffen! Schert euch nach Hauſe.“ Sie ſenkten, wie geſchlagene Hunde, die Köpfe. Langſam, als wäre nichts geſchehen, verſuchte Konrad ſich eine Zigarette anzuzünden, doch ſeine Finger zitterten zu ſehr. Da hielt ihm Leonie das brennende Streichholz hin. Die Zigarette glühte auf; gleich darauf zerfiel ein Stück violetten Papiers in Aſche. „Aus,“ ſagte Konrad mit feſter Stimme, und, zu Leonie gewandt: „Was meinſt du, wenn wir morgen, beide zuſammen, Frau Berolina und der dummen Liebe den Rücken kehrten?" Braun, Lebensſucher 13 193 Sechſtes Kapitel Wom Suchen nach der neuen Religion Eine feuerrote Scheibe, glühte die Sonne durch ſilber⸗ graue Rebelſchleier. In der Ferne grollte der Donner. „Wer einmal wieder in ſich ſelbſt Donner und Blitz erleben könnte!“ murmelte Konrad vor ſich hin. Er lag auf dem Raſen über den Rymphenburger Terraſſen und ſah den kunſtvoll gebändigten Waſſerſpielen zu. Leonie ſaß neben ihm, lange grüne Grashalme durch die Zähne ziehend. „Armes Mädel!“ ſagte er dann laut, nachdem er ſie eine Weile betrachtet hatte, „du haſt dir unſere Ver⸗ gnügungsreiſe auch anders vorgeſtellt! — Willſt du heim? Oder willſt du irgendwo vor dem internationalen Geſindel, das in dieſer Stadt zuſammenſtrömt, deine Künſte produzieren und eine beſſere Geſellſchaft finden, als ich es bin? — So rede doch endlich! — Weiß Gott, ich nehm's dir nicht übel, wenn es dir längſt ſchon leid tut, bei mir die barmherzige Schweſter zu ſpielen! Könnte ich's, ich liefe mir ſelbſt davon.“ In ihrem Geſicht kämpfte es; ſie kniff die Augen krampfhaft zu, um die aufſteigenden Tränen zu ver⸗ bergen. „Du möchteſt mich nur los ſein, was?“ entgegnete ſie, ihren Kummer mit grober Rede verkleidend, „um dann ungeſtört, wie geſtern, im Morgengrauen an den greulichen ſchmutzigen Fluß zu ſchleichen, wo ſie die Selbſtmörder fiſchen. — Puh! Zwei dicke Tränen, denen ſie nicht mehr wehren konnte, rollten über ihre Wangen. 194 „Aber Leonie!“ rief er und griff nach ihrer Hand, die er leiſe ſtreichelte; „wer wird denn weinen! Um ſo einen wie mich noch dazu, der all deine Aufopferung gar nicht verdient.“ Jetzt lachte ſie, ein helles, klingendes Lachen, ſo daß ein paar Soldaten, die vorübergingen, luſtig einſtimmten. „Du haſt recht, vollkommen recht. Verdienen tuſt's nicht, daß ich in Sack und Aſche neben dir herlaufe und deine Schritte bewache, wie eine zimperliche Großmama das Enkelchen. Jung, geſund, reich und ſo'n Jammer⸗ lappen! —“ Er wollte antworten, aber ſie hielt ihm, noch immer lachend, den Mund zu. „Run hör' ſchon zu Ende, du weißt, wenn ich mal im Schwatzen bin, dauert es ſeine Zeit. Alſo: gerad' weil du's nicht ver⸗ dienſt, freut's mich ſo, dir was ſein zu können! „Biſt eine gute Seele, Leonie“, meinte er mit einem Anflug aufrichtiger Rührung in der Stimme. „Hat ſich was: gut!“ ſagte ſie ärgerlich. „Gute Men⸗ ſchen ſind immer gräßlich; ſie protzen mit ihrem Gut⸗ ſein, indem ſie durch ihre Leidensmiene zeigen, wie ſchwer es ihnen fällt. Rein: ich bin nicht gut, gar nicht! Mal nützlich zu ſein — freiwillig — kein Poſſenreißer oder Vergnügungsobjekt gegen bare Bezahlung — ein Hochgenuß iſt's für unſereinen! Wie ich in Stellung war, — ja, guck mich nur an: keine fünf Jahr iſt's her, da wohnte ich noch in herrſchaftlichen Dienſtbotenlöchern und putzte die Stiefel vom Herrn und ließ mich von der Gnädigen kujonieren, — hielt ich's nur aus, wenn ein paar kleine Würmer da waren, denen ich hinter dem Rücken der grämlichen Mademoiſelle etwas zuſtecken konnte, oder ein verliebter Backſiſch, dem ich die Liebes⸗ briefe beſorgte. Dafür bezahlte mich keiner, das erinnerte mich daran, daß ich nebenbei auch noch ein Menſch ge⸗ blieben war.“ In dieſem Augenblick flog ein Ball, von ein paar rot⸗ bäckigen Buben geſchleudert, in Leoniens Schoß; ver⸗ 13* 195 legen, mit verlangenden Augen blieben ſie vor ihr ſtehen. Reckend deutete ſie an, ihn konfiszieren zu wollen, als einer von ihnen ſich auf ſie ſtürzte, um ihn ihr zu ent⸗ reißen. Sie ſprang empor, ein regelrechtes Ringen ent⸗ ſtand, das ſchließlich zu wildem Spiele wurde; ſie ent⸗ wickelte dabei ausgelaſſene, urſprüngliche Heiterkeit, und konnte ſich ſchließlich der zudringlichen kleinen Bande nicht anders erwehren, als indem ſie ſich atemlos dicht neben Konrad ins Gras warf, bei ihm Schutz ſuchend. „Eigentlich biſt du ein Stieſel, daß du nicht mitſpielſt“, meinte ſie. „Und du ein rechtes Kind“, ſagte er. „Weil ich nie eins habe ſein können, wahrſcheinlich“, entgegnete ſie mit plötzlich verfinſterten Zügen. Er ſal) ſie teilnahmsvoll an. „Ach ſo!“ fuhr ſie, die Lippen ſpöttiſch ſchürzend, fort, „du denkſt, weil ich ſo ſchon beim Beichten war, kann's nun weiter gehn. Aber laſſen wir's lieber. Es gibt Mädchen, die in Schauergeſchichten ſchwelgen. Ich nicht.“ Sie erhob ſich, ein paarmal tief Atem holend: „Es war ſcheußlich — einfach ſcheußlich! „Und jetzt iſt es beſſer?“ frug er, ſich gleichfalls er⸗ hebend. „Beſſer?“ wiederholte ſie. „Dumme Frage! Man merkt's: der Herr Baron iſt niemals Dienſtbote ge⸗ weſen. Ich wundere mich, daß es überhaupt noch welche gibt! Wegen dem bißchen ſogenannter Anſtändigkeit, meinſt du wohl?! Wobei man verhutzelt und verkommt, und ſich in den Bettelmantel des Tugendſtolzes als des einzigen Lohns für eine zerquälte Jugend hüllen kann!“ Er hörte ihr zu, ohne daß ſein Intereſſe ein allzu lebhaftes geweſen wäre. Seine Gedanken waren, ſeit ſeiner fluchtartigen Abreiſe von Berlin, wie ein ver⸗ ſprengter Bienenſchwarm, der, ſeiner Königin beraubt, zweck⸗ und ziellos, hin und her ſummt. Es klang daher kühl und abweſend, wenn er, das 196 Geſpräch fortſetzend, ſagte: „Aber vielleicht tauſchteſt du, um die Schreckniſſe der Vergangenheit los zu werden, Schreckniſſe der Zukunft ein? Sie betrachtete ihn ſekundenlang prüfend von der Seite, während ein leichter Schatten ſich über ihre Züge legte. Dann zog ſie ſeinen Arm durch den ihren, und erwiderte, kräftig ausſchreitend: „Couponſchneidende Philiſter meinen, daß armen Pro⸗ leten, die jahrzehntelang in unentwegter Tugendhaftig⸗ keit Invalidenmarken kleben, das trockene Brot, für das ſie ſie beſtenfalls einmal eintauſchen, wie Himmelsmanna ſchmecken wird. Ich verſichere dich aber, daß, wer ſchon mit dem Glauben an die ewige Seligkeit aufgeräumt hat, ſich mit ſolch irdiſcher Zukunftshoffnung ſicher nicht beruhigen läßt. Für uns gibt's nur eins: den Luxus der Zukunftspläne und Sorgen euch zu überlaſſen. Seit⸗ dem ich bei dir bin, kommt er mir nicht einmal beneidens⸗ wert vor. Du ſpielſt nie mit, wenn's gerade luſtig iſt, wie vorhin ⸗ „Und beneide dich hinterher“, meinte er trübſinnig. Sie gingen unter alten rauſchenden Buchen, an einem Bach entlang, der ganz leiſe floß, als fürchte er ſich, den Abendfrieden zu ſtören. Mit dem ſinkenden Tag mehrten ſich die Wandernden; ärmliche Leute meiſt, die, als wäre es ein Geſchenk von heute, mit fröhlichen Geſichtern von dem alten verträum⸗ ten Garten Beſitz ergriffen. Leonie lächelte wie ſie. „Die Zukunft der Armen iſt immer nur der nächſte Tag“, ſagte ſie unvermittelt. Ihr elaſtiſcher Gang, — als führe er einer großen Freude entgegen — ihr er⸗ hobener Kopf, betonten noch die ſtrahlende Zuverſicht, mit der ſie ſprach. Seine Hand ruhte plötzlich feſter auf ihrem Arm, während ein Gefühl der Beſchämung ihn beſchlich. Wie hatte ſie doch vorhin geſagt: „Jung, geſund, reich und ſo ein Jammerlappen.“ An ſeinem Ohr war es vorbeigeklungen. Jetzt, nachträglich, traf es ihn. 197 „Was iſt denn dein nächſter Tag?“ frug er. „Dir helfen, fröhlich zu werden“, antwortete ſie, ohne eine Spur von Sentimentalität. Ihm wurde warm ums Herz, und die Empfindung, daß wieder ein Stück ſeiner Seelenzwangsjacke von ihm ſiel, ließ ſeinen Schritt ſich federnd dem ihren anpaſſen. Durch alte Laubengänge kamen ſie jetzt über breite, in üppiger Raumverſchwendung, als gelte es, cäſa⸗ riſchen Prunkaufzügen Platz zu ſchaffen, ſich dehnende Terraſſen. Liebespaare, in jener naiven Lebensfreude an⸗ einandergeſchmiegt, die nichts von Schamloſigkeit an ſich hat, kamen vorüber. Aus üppigem Buſchwerk, das die Schere des Gärtners längſt nicht mehr zu ſtarren Formen bändigte, lugten lächelnd Dianen und Amoretten auf ein Volk, das von ihnen nichts mehr wußte; und ſtille, von grauem Sandſtein gefaßte Waſſerflächen, in denen ſich einſt gepuderte Köpfchen eitel ſpiegelten, warfen neckend die bunten Kattunröckchen kleiner Vorſtadtmädchen zurück. Der Himmel war jetzt wolkenlos; von einem matten Blau, das fern am Horizont, wo der Park ſich in die Felder verlor, in zartes Roſa überging. Richts Grelles, nichts Schreiendes war in dieſem Bilde, ſelbſt unten der kleine See mit den feierlich und lautlos ſchwim⸗ menden Schwänen hatte nichts Leuchtendes, nur einen Ton wie von altem Silber, und das kleine, zart ge⸗ ſchwungene Rokokoſchlößchen mit den geſchloſſenen Fenſtern, hinter denen verborgene Geheimniſſe träumen mußten, lugte wie der verirrte Geiſt alter Zeiten zwiſchen den Stämmen hervor: halb ängſtlich, weil die Welt ſo anders war wie einſt, halb glücklich, weil er heimge⸗ funden hatte. Und hinter ihm drängte ſich's in üppigem Blättergerank und über ihm wölbten die Aſte ſich zärt⸗ lich ſchirmend zum Dach. Und nun bog der Weg wieder ins Helle und vom freien Platze aus überflog das Auge noch einmal die grüne Pracht vom ſaftigen Raſen über die Hecken bis 198 zu den hohen Bäumen hinüber. Grün! War die Sprache ſo arm, daß ſie für die vielfachen Farben des Frühlings nur ein einziges kleines Wort beſaß? Silberne und goldene, ſchwarze, blaue und rote Töne ſtrahlten von den Buchen und Eichen, den Tannen, Eſchen und Ahornen, — es war wie ein Konzert in Farben, wie eine Mozartſche Melodie. Konrad ſchwieg, erfüllt von jener Schönheit, die zwar alle unbewußt empfinden, die aber nur wenigen zu ſchauen vergönnt iſt, wie etwa die Vornehmheit eines Menſchen allen wohltut, die ſich ihm nähern, aber nur einzelne, nur gleiche ſie zu erkennen vermögen. Leonie ſah ihn von der Seite an, verwundert, faſt furchtſam. Sie fühlte immer, wenn er weit fort war von ihr, und lernte raſch, daß jedes Wort aus ihrem Munde ihn dann verletzte. Er bemerkte, wie ſie zögernd hinter ihm zurückblieb, wie ſie bemüht war, ſich völlig auszulöſchen, nur um ſein Fühlen und Schauen, dem ſie nicht zu folgen ver⸗ mochte, nicht zu ſtören. Arme Leonie! dachte er. War ſie nicht viel, viel ärmer als er? Waren es nicht dieſelben, durch eine lange Ahnenreihe von Herren immer mehr verfeinerten Fühlfäden der Seele, die ihn zu einem überſchwenglich Genießenden machten, wie zu einem ſo tief zu Verletzenden? Sie fuhren im Wagen zurück, denn er war ganz plötz⸗ lich ſehr müde geworden. Leonie ſaß neben ihm; ihre Hände ruhten läſſig, handſchuhlos, auf ihrem Schoße. Sie waren groß und kräftig, wie die antiker Göttinnen, dabei ſehr weiß. Es frappierte ihn, daß ſie — nackt waren. Er betrachtete die ſeinen: ſchlanke, nervöſe Hände mit ſehr langen ſpitzen Fingern, — Hände, die, wenn er blind geweſen wäre, Schönheit taſtend hätten empfinden können, aber keine Hände zum Zupacken oder Waffenführen. Er ſeufzte verſtohlen — ſelbſt ein teil⸗ nehmender Blick ſeiner Rachbarin, der immer gleich von 199 einem Helfenwollen ſprach, wäre ihm verletzend geweſen. Aber nun verſtand er auch, warum die Weiße ihrer ſtarken Hand ihm faſt ſchamlos erſchien. „Du haſt ſchöne Hände, Leonie, aber ſie ſollten braun ſein“, wollte er ſagen, als ſie plötzlich wie erſchrocken aus ihrem langen Stummſein auffuhr. „Herr Gott,“ rief ſie, „da fällt mir ja ein, daß ich eine alte Bekannte beſuchen könnte! So iſt das Wühlen in der Vergangenheit, zu dem deine Fragen und mehr noch deine Schweigſamkeit mich wider Willen veranlaßt haben, doch zu irgendwas gut geweſen!“ Und ſie ſuchte eifrig in einem Rotizbuch, das ſie in ihrem Täſchchen bei ſich trug, bis ſie eine ſchmale Karte fand und ihm hinüberreichte. „Frau Sabine Brandis“, las er, „wer iſt das? „Das entzückendſte Geſchöpf, das du dir denken kannſt: antwortete ſie enthuſiaſtiſch. „Sie gab in Berlin fran⸗ zöſiſche Stunden — um für das Univerſitätsſtudium Geld. zu verdienen, wie ſie mir erzählte — und kam auch zu meiner Gnädigen. Das war, als meine heimliche Tanzerei im Lunaballhaus von dem jungen Herrn, einem ekel⸗ haften Bengel, dem ich auf ſeine Frechheiten hin mal gehörig heimgegeigt hatte, entdeckt worden war, und man mich einfach hinauswarf. Sie half mir damals. Zur Mutter traute ich mich nicht. Volle vier Wochen lang teilte ſie ihre mageren Mahlzeiten mit mir, und gab mir überdies alles, was ich an Bildung habe; — auch das biſſchen Franzöſiſch, über das du dich immer mokierſt. „Das iſt aber doch Jahre her,“ meinte Konrad, „kennſt du denn ihre Adreſſe? „Damals wohnte ſie —“, Leonie ſtockte und ſuchte wieder in ihrem Rotizbuch. „Frühlingsſtraße — ich hab's! Vielleicht weiß man dort noch was von ihr. Am ſelben Abend — ſie war in ihrem Eifer nicht zurückzuhalten — begleitete er ſie in den fernen Stadtteil. 200 „Frau Sabine Brandis,“ ſagte der dicke Grüntran⸗ händler, der vor der Türe ſaß; „ei freilich, die wohnt hier, lange ſchon. Fünf Treppen hoch, links. Konrad ließ Leonie allein und verſprach, ſie in einem kleinen Biergarten an der Reichenbachbrücke zu erwarten. Schon brannten die Laternen matt im Dämmerlicht, als er ſich an einen der Tiſche ſetzte, die in dem winzigen Gärtchen ſtanden. Die übrigen Gäſte — ſein Tiſch war der letzte freie geweſen — genoſſen lebhaft ſchwatzend den milden Abend; Handwerker, Arbeiter, kleine Beamte mochten es ſein, nach den Geſprächsfragmenten zu ur⸗ teilen, die er auffing. Von ihren perſönlichen Freuden und Leiden ſprachen ſie, vom Streik der Bauarbeiter, von den internen Angelegenheiten des Stadtviertels, — der Zukunft von morgen, über die ihr Hoffen und Fürchten nicht hinausging. Kirchturmpolitik, dachte er, aber ohne jene ſpöttiſche Selbſtüberhebung des gebildeten Europäers, die von der Höhe ſeines Standpunktes zeugen ſoll und dabei allzu oft nur ſeine Leere verrät. Die Zeit verrann. Er ſah nach der Uhr. Wo nur Leonie blieb? Sollte ſie einen falſchen Weg gegangen ſein? Er fing an, ſich zu ſorgen; dabei ſezierte er ſein Gefühl; es hätte kein anderes ſein können, wenn ſie ein Kind oder ein Freund geweſen wäre. Die Laternen glänzten durch den grauen Abend, kühl und fremd. Feuchtwarme Luft ſtieg von der Iſar empor, die ihre gelben Fluten langſam vorüberwälzte. Warum ſitze ich eigentlich hier? dachte er; um auf ein Mädchen zu warten, das ich nicht liebe, um die Freunde in Berlin glauben zu machen, daß ich mich amüſiere und Renetta Veits Untreue mich gleichgültig läßt? Sie läßt mich ja auch wirklich gleichgültig, — mehr als das: leer — leer. Wie er den Bengel am Rebentiſch beneidete, der leuchten⸗ den Auges davon erzählte, daß der Kampf um Lohn⸗ erhöhung in ſeiner Fabrik von morgen ab ſeine Wochen⸗ 201 einnahme um eine ganze Mark erhöht habe, oder gar das zierliche Mädchen, die eben vorbeiging und ihrer Freundin die neue Bluſe beſchrieb, in der ſie morgen — morgen! — den Geliebten entzücken würde. „Auf Wiederſehen morgen!“ hörte er eine Stimme voll weichen Wohlklangs neben ſich. Und dieſes „Morgen“ durchleuchtete ihn plötzlich mit dem Glanz aufgehender Sonne: daß er leer war, bedeutete zugleich frei ſein. Und offen für neue Fülle! Waren das nicht einmal Elſens Worte geweſen? „Du biſt nicht böſe, ich ſeh's“, ſagte Leonie, ſich zu ihm beugend. „Auch nicht, daß ich von dir erzählte, nicht wahr? Sie erwartet uns beide — morgen. Man mußte ſteile fünf Treppen ſteigen, um zu Sabine Brandis zu kommen, und durch einen dunklen, engen Flur, an einer winzigen Puppenküche vorübergehen bis in das Zimmer, deſſen ganze Außenwand ein breites Fenſter war. Hielten ſich drei Menſchen darin auf, wie zu jener Rachmittagsſtunde, da Konrad und Leonie bei ihr waren, ſchien es voll zu ſein, denn es ſtanden viele gefüllte Bücherregale und mit Heften und Manuſkripten beladene Tiſche umher. „Manchmal ſind wir unſerer zwanzig und merken im Eifer des Geſprächs die Enge kaum“, ſagte lächelnd die kleine zarte Frau, während ſie ihren Gäſten den Tee ſchenkte und ein Plätzchen frei machte, um die Taſſen hinzuſtellen. „Es iſt ſchade, daß Sie nur zum Vergnügen hier ſind“, fügte ſie nach einer kleinen Pauſe hinzu, „trotz allen ſchlechten Rufs, den man uns macht, läßt es ſich für den, der arbeiten will, nirgends ſo gut leben wie hier. Von den Fremden und dem Jahr⸗ marktstreiben, das veranſtaltet wird, um die Hotels zu füllen, ſind wir durch Wälle und Mauern geſchieden. Das Leben nach außen zerfetzt uns hier nicht wie in 202 Berlin, darum vermögen wir um ſo intenſiver nach innen zu leben.“ Konrad fühlte die Verpflichtung, ſich vor dem klugen durchdringenden Blick dieſer Frau von dem Odium der bloßen Vergnügungsreiſe rein zu waſchen. „Sie taxieren uns doch zu gering,“ ſagte er, „ich kam ohne Vorſatz, alſo auch nicht mit dem des Vergnügens, eigentlich nur aus dem inſtinktiven Gefühl heraus, mit der Flucht aus der alten Umgebung mir ſelbſt zu ent⸗ fliehen; und Leonie gar begleitete mich unter Verzicht auf alles Amüſement als eine Art ſeeliſcher Kranken⸗ wärterin.“ Leonie wehrte ſcheinbar ärgerlich und doch vor Freude errötend, das Lob Konrads ab: „Du willſt immer oben hinaus, auch für andere. Als ob es nicht für ein Mädel wie mich, die nie aus Berlin heraus kam, Vergnügen genug wäre, überhaupt hier zu ſein. „Sie hat recht, ganz recht,“ meinte Sabine, ihr zu⸗ nickend, „und ich würde es lieber hören, Sie, Herr von Hochſeß, kämen aus ganz brutaler Vergnügungsſucht hierher, die jedenfalls eine Lebensbejahung iſt, als aus dieſer lebenverneinenden Fluchtempfindung heraus. Die Welt iſt doch ſo überreich an Schönheit, und — was weit herrlicher iſt! — ſo überreich an unbeackertem, fruchtbarem Boden!“ „Zeigen Sie ihn mir!“ rief er in jugendlich ungeſtümer Aufwallung, „und dieſe beiden Hände, die noch von keiner Arbeit zeugen, ſtell' ich in ſeinen Dienſt. „Sind Sie denn blinden Auges durchs Leben ge⸗ gangen?!“ ſagte ſie erregt, „iſt Ihnen ſeeliſches und geiſtiges Leid, Sorge, Furcht und Verlaſſenheit nie be⸗ gegnet?! Das der einzelnen, das der Lebensalter, der Geſchlechter, der Klaſſen, der Raſſen, der Völker, der Welt?!“ Er errötete dunkel. „Ich habe darüber nachgedacht, entgegnete er zögernd, „mir ſchienen aber alle Theorien, 203 auch die des Sozialismus, mit denen die große Rot der Menſchheit bekämpft werden ſoll, ſo unzulänglich, ſo zweifelhaft.“ Seine Stirn färbte ſich noch tiefer. Er fühlte, wie jämmerlich es klingen mußte, was er ſagte. Es war eine Art Selbſtverteidigung, wenn er noch fort⸗ fuhr: „Auch ſchien mir, daß man erſt ſelbſt etwas ſein, ſelbſt eine geſchloſſene Einheit darſtellen muß, ehe man ſich erlauben darf, in das Leben und Leiden anderer einzugreifen.“ „Und weil Sie den Bettler nicht zum ſorgenloſen Bankier machen können, verſagten Sie ihm das Brot für — morgen!“ meinte ſie bitter, um dann raſch, mit einem faſt abbittenden Lächeln hinzuzufügen: „Freilich haben Sie recht, daß man erſt ſelbſt etwas ſein muß, denn nirgends iſt ſentimentaler Dilettantismus ſchäd⸗ licher als in der Lebens⸗ und Weltreform Es klingelte ſtürmiſch. Sabine öffnete. „Kathi, du? hörte man ſie rufen. „Um Gottes willen, was iſt? — komm, ſetz' dich!“ Und ſie führte eine totenblaſſe Frau hinein, der die Knie ſchwankten. „Raſch, ein Glas Tee!“ Leonie ſprang hilfreich herzu. Konrad wollte ſtillſchweigend gehen. „Bleiben Sie nur!“ Damit drückte ihn Sabinens kleine feſte Hand auf den Stuhl zurück. Die Eingetretene kümmerte ſich um niemanden. „Ich habe Rachricht von Johannes — endlich! Endlich! Aus dem Spital iſt er entlaſſen. Er möchte heim!“ ſtieß ſie mit der erſten Möglichkeit freien Atemholens heraus, während ihr die Tränen in Strömen über die ein⸗ gefallenen Wangen liefen. Sabine ſtreichelte und küßte die wild Erregte. „Run gilt es, ihn ſo raſch als möglich hier zu haben“, ſagte ſie dann nachdenklich. „Aber wie — wie?!“ ſchrie die Frau verzweifelt auf. „Er iſt noch ſo ſchwach, daß er die Fahrt im Zwiſchen⸗ deck nicht aushalten würde! Ach, und Ihr alle habt 204 euch ſchon bisher faſt das Hemd ausgezogen, um zu helfen!“ Sie weinte herzbrechend. „Wenn ich —“ flüſterte Konrad leiſe Sabinen zu. Ihr Geſicht leuchtete. Sie wollte ſprechen, doch mit bittender Gebärde legte er den Finger auf den Mund. Sie nickte. „Sei ſtill, Kathi, ganz ſtill,“ ſagte ſie dann, „wir haben keine Zeit zu weinen, wenn wir handeln müſſen. Die Schluchzende ſah mit geröteten Augen auf. „Geh ſchnell und telegraphiere ihm“ — ſie ſuchte das nötige Geld in einem ſehr mageren Beutelchen — „daß er warten ſoll, bis das Reiſegeld da iſt. Käthchen ſtarrte die Sprechende entgeiſtert an: „Du— du“, kam es ſchließlich raul) aus ihrer Kehle, während ſie Sabinens Hände an die Lippen zog. „So mach' doch ſchnell!“ ſagte dieſe, ſie ihr ent⸗ ziehend. „Haben wir uns noch je mit Danken aufge⸗ halten? Gibt's etwas Selbſtverſtändlicheres, etwas, das allen Dank mehr in ſich ſchlöſſe, als helfen, wenn man kann?“ Und ſie ſchob ſie faſt gewaltſam zur Türe hinaus, ſich Konrad raſch wieder zuwendend. „Johannes Wolters iſt von ſeinen Eltern aus dem Hauſe geworfen worden, weil er ſich zur Sozialdemo⸗ kratie bekannte,“ ſagte ſie mit einem langen, fragenden Blick, „und mußte den Soldatenrock um ſeiner Über⸗ zeugung willen ausziehen.“ „Einer alſo,“ ergänzte er ruhig, „einer der Reichen, Starken, der einer Idee lebt.“ Sie reichte ihm die Hand zu feſtem Druck. „Verzeihen Sie, wenn ich Sie vorhin verkannte“, ſagte ſie mit einer ſo weichen Stimme, daß Konrad meinte, ſie wie ein Streicheln auf der Wange zu fühlen. „Sie wiſſen ja ſchon, worauf es ankommt: Hingabe an eine Idee, oder“ — und ſekundenlang träumte ſie mit großen Augen vor ſich hin — „an einen Menſchen! Auf das Uralt⸗heilige, Myſtiſche: „Wer ſein Leben ver⸗ 11 liert, wird es gewinnen: 205 Sie erledigten raſch das Geſchäftliche ſeiner Hilfe⸗ leiſtung, während ſie von Kathi erzählte, die ihr Elternhaus freiwillig verlaſſen hatte und ſeit zwei Jahren unter Entbehrungen grauſamſter Art arbeitete und darbte, keine Demütigung ſcheuend, unter keiner Enttäuſchung zuſammenbrechend, nur das eine Ziel im Auge, ihren Bruder zu unterſtützen und ſeine Rückkehr zu ermöglichen. „Ihres Bruders?!“ unterbrach ſie Konrad erſtaunt. Sabine nickte lächelnd: „Richt ihres Geliebten! Johannes iſt für ſie die Per⸗ ſonifizierung allen Heldentums.“ Als Konrad und Leonie von ihr gingen, ſagte er zu ihr: „Freuſt du dich nicht, deine Anſicht über die Liebe, ddie dumme Liebe“, einmal in dieſer Weiſe beſtätigt zu finden?“ Sie lächelte ein wenig ironiſch: „Vielleicht, daß dieſe Kathi ſie wirklich mit mir teilt - Dann unterbrach ſie ſich ſelbſt, und Konrad frug nicht weiter. Als er ihr jedoch, im Hotel angekommen, „Gute Racht“ ſagte, zögerte ſie einen Augenblick an ihrer Schlafzimmertüre und ſagte ſehr langſam und mit ge⸗ ſenktem Blick: „Ich weiß auch gar nicht, ob das mit — mit der „dummen Liebe“ ſo ganz richtig geweſen iſt. Sie beſuchten Sabine Brandis immer häufiger. Konrad fühlte den belebenden Einfluß dieſer ſtets prickelnden geiſtigen Champagneratmoſphäre. Menſchen der verſchie⸗ denſten Art und Herkunft drängten ſich in ihrem Vogel⸗ bauerzimmer: Männer mit bewußter Betonung des Raturburſchentums, und junge Elegants; Frauen, ſenti⸗ mental⸗phantaſtiſch in fließende Gewänder gehüllt, und ſolche, die mit koketter Grazie die Mode von übermorgen trugen; junge Leute, allem Beſtehenden 206 gegenüber von einem wahren Vernichtungsſieber er⸗ griffen; Grauhaarige daneben, deren ſuchende Seelen, endlich ermüdet, im Schoße des Katholizismus Ruhe gefunden hatten, oder ſich in den Myſterien orientali⸗ ſcher Kulte verloren; andere dazwiſchen, denen Hyſterie und Reuraſthenie aus den flackernden Blicken, aus den wechſelnden Stimmungen ſah. Künſtler und Studenten der verſchiedenſten Rationali⸗ täten maßen ihre Temperamente und Anſichten aneinan⸗ der. Alle Richtungen waren vertreten, nur die gewöhn⸗ lichen, nur die herrſchenden nicht. Der Sozialismus wurde hier ſchon als eine bourgeoiſe Weltanſchauung an⸗ geſehen, die beſtenfalls eine Etappe zum Anarchismus ſein könne. Alle künſtleriſchen Ausdrucksformen, auch der nächſten Vergangenheit erſchienen hier veraltet, und ſelbſt in den wahnſinnigſten Verſuchen, neue zu geſtalten, wurde mit jener Sehnſucht, die ſich bei dem einen als geſunde Hoffnung, bei dem anderen als der Durſt des Fieberkranken äußerte, nach den erſten Zeichen der Zukunftsentwicke⸗ lungen geſucht. Mit dem leidenſchaftlichſten Haſſe aber wurde alles verfolgt, was ſich künſtleriſch als Ratura⸗ lismus, philoſophiſch als Materialismus kennzeichnen ließ. Man anerkannte eher die wildeſten Farbenphan⸗ taſien eines Expreſſioniſten jüngſter Art, als den Ratura⸗ lismus eines berühmten alten Meiſters. Man duldete eher die Verteidigung des unſinnigſten ſpiritiſtiſchen Gaukelſpiels, als etwa die der Ideen Haeckels. „Daß ihr Deutſchen, ihr Dichter und Denker, euch die wachſende Ausbreitung des Monismus gefallen laßt, rief ein leidenſchaftlicher Südfranzoſe, „iſt ein Zeichen eures kulturellen Riedergangs. „Er beweiſt nichts als den Bankrott des Philiſters, ſchrie eine Stimme in den allgemeinen Tumult hinein, „der heute ſchon eine Karikatur der Vergangenheit iſt, und den morgen die Guillotine unſerer metaphyſiſchen Weltanſchauung beſeitigen wird. 207 „Das Zeitalter des Intellektualismus und der Technif iſt zugleich das des Amerikanismus und der Anglo⸗ manie“, polterte ein älterer Mann mit langem Bart und kurzen Hoſen. „So lange wir die Bande, die München verſeucht und unſere Oberammergauer Bauern zu ihren Affen macht, nicht mit Feuer und Schwefel ausräuchern, werden wir auf die Epoche des Inſtinkts und der Phantaſie, die naturgemäß auch das Ende des Kapitalismus bedeuten muß, vergebens warten.“ Und ein Italiener rief ekſtatiſch: „Wir Romanen werden es ſein, die wieder, während Deutſche und Amerikaner eine Fabrik um die andere bauen und durch die ſchwarzen Rauchſchwaden ihrer Schornſteine den Himmel verdunkeln, lichte Tempel errichten, in denen Fromme vor lodernden Opferfeuern beten.“ „Zu welchen Göttern?“ frug Konrad ſehr ernſt. Alles ſchwieg. Zu feierlich hatte ſeine Frage geklungen, als daß man mit irgendeiner inhaltsloſen Phraſe zu ant⸗ worten vermocht hätte. Schließlich klang ein Rame leiſe, wie mit taſtendem Verſuch gewagt, in die Stille und wurde da und dort lauter und freudiger wiederholt. „Wie weit er wohl ſein mag?“ ſagte der eine. „Er zeigt ſich nie mehr“, meinte ein anderer. Man drängte ſich ſchließlich dichter, mit fragenden Mienen um Sabine, die mit ihrem weichſten Lächeln um ſich ſah). „Jörun Egil,“ ſagte ſie, und der Rame formte ſich auf ihren Lippen, wie zu einer unſichtbar geheimnis⸗ vollen Koſtbarkeit, „iſt verſenkt in ſein Werk. Ich ſehe ihn ſelten und finde ihn immer nur leuchtender vor innerer Klarheit. „Er ſpricht nicht davon?“ ließ ſich eine zweifelnde Stimme vernehmen; ein Dutzend Augen durchbohrten faſt den Sprecher, als habe er ſich an einem Heiligtum vergangen. „Er ſpricht mit niemand davon,“ entgegnete Sabine, „ſeit jenem Rovembertag vor einem Jahr, wo er mitten 208 unter uns zuſammenbrach.“ Ein einziger tiefer Seufzer ſchien gleichmäßig jede Bruſt zitternd zu heben. „„Habt Geduld mit mir — Geduld —“ Ich höre ſein Schreien noch heute“, murmelte jemand dicht neben Konrad. „Und nun iſt's unſere Geduld, die ihn aufrecht hält“, rief eine junge, helle, freudige Stimme ganz laut. „Wer möchte zweifeln?“ ergänzte eine andere in tiefem, ſchwerem Mollton. Die früher durcheinander ſchreienden Stimmen ſchienen in ihm zu erlöſchen. „Wer iſt's?“ frug Konrad leiſe, während er ſich ſcheu in den Flur zurückzog. Kathi, die neben ihm ſtand, ſah ihn verwundert an und ſagte dann mit kaum hörbarerer Stimme: „Jörun Egil, — der die neue Religion verkünden und die Erlöſung bringen wird - Es war ganz ſtill im Zimmer. Rur die Kaſtanien⸗ zweige pochten in rhythmiſchem Takt an das Fenſter. Der blecherne Klang der Klingel, neue, lärmende Gäſte durchbrachen erſt den Bann; man wurde wieder laut wie vorher, nur auf dem Antlitz Sabinens blieb der ſtille Glanz, den der Rame entzündet hatte. Man ſprach und ſtritt ſo heftig, daß der unbeteiligte Zuhörer den Übergang zu Tätlichkeiten jeden Augenblick hätte erwarten müſſen. Und doch waren es nichts als geiſtige Dinge, um die der Kampf ſich drehte. Alle Fragen platzten hier aufeinander, wie Feuerwerkskörper, die ſich gegenſeitig entzündeten. Man führte keine geiſt⸗ reichelnden Geſpräche über die Dinge, ſondern ſtand mit perſönlicher Anteilnahme mitten in ihnen. Richt durch ſchwächere Gründe, ſondern durch mattere Ver⸗ teidigung ſchien eine Idee der anderen zu unterliegen. Die Ideale des Weltbürgertums, des ewigen Friedens, geſtern noch revolutionär für die Maſſe, verblaßten gegen⸗ über dem Feuer rein nationaler Ideale, dem Kraftbewußt⸗ ſein, das ſich in der Furchtloſigkeit vor dem kommenden Braun, Lebensſucher 14 209 Kriege, dem nicht zu vermeidenden, ausſprach; die Ideale der Gleichſtellung der Geſchlechter, obwohl noch längſt nicht verwirklicht, wurden wie nicht mehr zu erörternde Realitäten angeſehen, aber von einer geradezu brutal leidenſchaftlichen Betonung ihrer Verſchiedenartigkeit übertrumpft. Frauen mit dem Doktordiplom ereiferten ſich weit weniger darüber, ob ſie plädieren und pre⸗ digen, dozieren oder wählen würden, als darüber, ob ihre Weibheit verkümmern oder zur höchſten Entwick⸗ lung zu gelangen vermöchte. Ehe oder freie Liebe war unter dieſen Menſchen nicht mehr die Frageſtellung, ſondern die Entwicklung der Raſſe unter den Be⸗ dingungen neuer Erkenntniſſe und Willensrichtungen. Aber wie ein brauſender Waſſerfall, deſſen Wellen ſich gegenſeitig zu überſtürzen, zu verſchlingen ſcheinen, ſchließlich im Tal zu Ruhe und Gleichmaß kommt, ſo liefen alle Geſpräche immer wieder in dem einen ge⸗ heimnisvoll dunklen Born myſtiſchen Hoffens zuſammen. Faſt ganz ſchweigſam, meinte Konrad mit allen Poren zu hören. Zuweilen war ihm wie einem, der im Hoch⸗ gebirge, von Wolkenmauern dicht umgeben, geſtiegen und immer geſtiegen iſt und plötzlich durch ſie hindurch in die leuchtende Ferne ſieht. Aber die Rebel zogen ſich wieder zuſammen. Er fühlte eine verborgene innere Einheit in all dem Viel⸗ fachen der Ideen — doch ſie war namenlos. Er emp⸗ fand eine verſchleierte Zielgleichheit für all dieſe Hingabe, — aber niemand kannte ſie. Wie all ſeine Sehnſucht nach dem Leben erwachte, nach dem Leben, das ſich nicht mehr in bloßem Erleben — und wenn es das geiſtigſte geweſen wäre! — erſchöpfen ließ, ſondern, wie die Natur ſelber, ein immer neues Schaffen von Leben ſein mußte! Sollte auch er nur ein „Armer“ ſein, der ſich mit der Hoffnung auf morgen, mit der Zukunft des nächſten Tages begnügen mußte? 210 An Händen und Füßen würde er gefeſſelt bleiben, unfähig zu irgendeinem Werk, wenn er nicht die innere Einheit zu finden vermöchte, durch die ſelbſt die kleinſte Tat, der leiſeſte Gedanke zu notwendigen Gliedern in der Kette des Ganzen werden mußten. „Jörun Egil —“. Er lächelte ſkeptiſch und doch mit einem ganz, ganz leiſen, ſeinem Bewußtſein noch fernen Schimmer von Hoffnung. Es konnte doch in einer Zeit, die, erſchüttert von unaufhörlichem, geheimem Beben, auch durch die ſtärkſte Veſte drohende Riſſe zog, Einer kommen, der aus Trümmern und Spalten mit einem göttlichen „Es werde!“ das neue Leben erweckte. In Träumerei verſunken, vergaß er minutenlang die kleine Welt um ſich her. Sabine Brandis drückte eben die kleine, weiße Stroh⸗ kappe auf ihre braunen, eigenſinnig geringelten Locken. „Laßt euch nicht ſtören, liebe Freunde,“ ſagte ſie, „in zwei Stunden bin ich zurück.“ Dann rief ſie Kathi und zeigte ihr ein paar Büchſen über dem Herd: „Hier gibt's noch Tee und Zucker und Kakes. Sorge einſt⸗ weilen für die Gäſte. Wenn du früher gehſt,“ fügte ſie leiſer hinzu, „nimm meine ſchwarze Jacke aus dem Schrank. Mit dem Fähnchen kannſt du bei dem Wetter nicht über die Straße. Lachend verſtellten ihr ein paar Mädchen die Flur⸗ türe. „Wohin willſt du ſo ſpät?“ riefen ſie. „Ihr wißt doch: die Stunde bei der Lenz“, entgegnete ſie, ſich Platz ſchaffend. „So ſpät: eine Stunde?“ ſtaunte Konrad, aus der Verſunkenheit jäh erwachend. „Sie iſt Modell und hat nur abends Zeit!“ rief Sabine und lief ſchon die Treppe hinunter. „Modell — ich verſtand wohl falſch“, ſagte er mit einem fragenden Blick. „Doch — doch!“ entgegnete lebhaft einer der Gäſte. „Reſi Lenz iſt der neuſte Typ ihrer Gattung: ſie hat I4* 211 den Bildungshunger, ſeitdem ſie phyſiſch ſatt iſt. Sie muß doch mitreden können, wenn ihre verſchiedenen Lieb⸗ haber mit ihr dinieren, und bereitet ſich jetzt, vor der Feſtſpielzeit, ſelbſtverſtändlich auf irgendeinen Nabob vor, mit dem ſie mindeſtens franzöſiſch ſchwatzen will.“ „Und zu ſolchem Bildungsunterricht' muß Frau Bran⸗ dis ſich hergeben?“ meinte er entrüſtet. Mit geröteter Stirn und blitzenden Augen wandte Kathi den Kopf nach ihm: „Sie muß — gewiß! Wie wir alle müſſen. Aber nicht wegen des bißchen Lebens! Keiner von uns möchte, wie die Bourgeois, reich werden wollen, um reich zu ſein. Rur dann iſt die Arbeit wunder⸗ voll, alle Arbeit, ſelbſt die ſchmutzigſte, wenn ſie einer Sache dienſtbar gemacht werden kann. „Die Eitelkeit einer Kokotte iſt doch wohl kaum eine „Sache“ in Ihrem Sinn“, antwortete Konrad gereizt. „Wohl aber Jörun Egils Exiſtenz!“ ſagte einer. Und wieder folgte dem Ramen Kirchenſtille. Ehe Sabine zurückkam, wußte er um ihre Hingabe: ſie erwarb den Lebensunterhalt jenes Mannes, auf den ſie alle ihre Hoffnung ſetzten. Vielleicht war ſie auch ſeine Geliebte. Riemand wußte es. Und jetzt, wo der Sommer vor der Türe ſtand, arbeitete ſie mit doppelter Anſpannung ihrer Kräfte. Jörun Egil war leidend. Wer ihn zuletzt geſehen hatte, ſprach vom Fieberglanz ſeiner Augen, vom Zittern ſeiner Hände, von der durchſichtigen Weiße ſeiner Haut. Einen langen Aufenthalt in freier Luft, unter weitem Himmel, mit dem Blick auf irgend⸗ einen blauen Waſſerſpiegel wollte Sabine ihm ſchaffen. Warum ſie nicht immer mit ihm lebte, frug Konrad. „Er braucht Einſamkeit für ſein Werk,“ lautete die Antwort; „tagelang verſchließt er ſich vor jedem Men⸗ ſchen. Und er ſchien völlig wunſchlos. Bis jetzt, wo ihn die Sehnſucht nach Bergen und Seen plötzlich er⸗ faßte.“ Mit ehrfürchtigem Reigen küßte Konrad Sabinen an 212 dieſem Abend abſchiednehmend die Hand. Sie erriet den Beweggrund ſeines Gefühls. „Richt doch“, wehrte ſie ab. „Sind wir nicht über⸗ eingekommen: Hingabe iſt das größte Glück, iſt der eigentliche Inhalt des Lebens; Hingabe an eine Idee oder an einen Menſchen. Bei mir iſt es beides. Alſo ein doppeltes Glück. Als er die halbdunkle hohe Treppe hinunterſchritt, ſah er Kathi zwiſchen zwei Männern vor ſich her gehen. Sie ſchüttelte gerade die Hand des einen von ihrem Arm. „Laß das,“ ziſchte ſie, „die Dummheiten haben ein Ende „Rachdem du mir die letzten Groſchen aus der Taſche lockteſt, um den Bruder zu füttern“, entgegnete eine grollende Stimme. „Eine Ehre für dein ſchmutziges Geld“, ſagte das Mädchen, den Kopf in den Racken werfend. „Doch jetzt iſt er krank —“ flüſterte ihr anderer Be⸗ gleiter mit einem zärtlichen Blick und klimperte dabei in der Taſche mit den Münzen. „Ich brauch' euch nicht mehr — keinen von euch!“ rief ſie wild. Und mit großen Sätzen ſprang ſie die letzten Stufen hinab. Leonie ſah zu Konrad auf mit einem ganz verwirrten Blick: „Sie opferte ſich — ganz und gar — für ihren Bruder!“ ſagte ſie. Konrad ſchwieg. Das Herz zog ſich ihm zuſammen. Trotz aller Bitten, ihn beſuchen zu dürfen, die Sabine zu unterſtützen verſprach, blieb Egil für Konrad un⸗ ſichtbar. „Er iſt leidender denn je“, ſagte ſie eines Tages be⸗ kümmert. 213 Sie ſelbſt wurde immer ſchattenhafter. Leonie hatte ſie's geſtanden, als ſie ihr einmal begegnet war, wie ſie ſich mühſam in der Junihitze durch die Straßen ſchleppte —, ſelbſt den Groſchen für die Straßenbahn ſparend, — daß ihre Kräfte bei einer oft zwölf⸗ und mehrſtündigen Arbeit zu erlahmen drohten. Da entſchloß ſich Konrad, ihr den Plan vorzulegen, den er ſeit jenem Abend mit ſich her⸗ umtrug. „Ich möchte fort,“ begann er, „die Luft der Stadt laſtet mir auf dem Kopf. Auch Leonie, die alle Farbe verlor, bedarf der Erholung. Run hat mir ein Agent ein Haus zur Miete angeboten — am Walchenſee, nicht weit von Urfeld.“ „Oh!“ machte ſie überraſcht, „dort ſoll es herrlich ſein!“ „Würden Sie und Ihr kranker Freund uns begleiten wollen? Das Haus iſt geräumig. Wir würden ein⸗ ander nicht ſtören.“ Ihr Schweigen ſteigerte ſeine Ver⸗ legenheit. Hatte er doch ihren Stolz verletzt? Endlich hob ſie die Lider von den feucht gewordenen Augen. „Ich danke Ihnen — danke Ihnen von ganzem Herzen!“ Er lachte hell auf: „Wiſſen Sie nicht, wie dumm das Danken iſt? Beſonders hier, wo ich nichts gebe, nichts als dieſes gemeine abgegriffene Tauſchmittel für die großen Werte, die ich empfangen will, — am Ende ſogar für das Leben ſelbſt: die Idee für meine Hingabe? „Sie geben Kraft, Geſundheit, Zukunft vielleicht für eine neue Welt!“ entgegnete ſie erſchüttert. Leonie, die er erſt jetzt mit der bevorſtehenden Über⸗ ſiedelung bekannt machte, muſterte ihn lange mit einem finſter forſchenden Blick, ehe ſie eine einſilbige Antwort fand. Er hatte ſich in letzter Zeit ſo wenig mit ihr be⸗ ſchäftigt, daß er erſt jetzt ihren merkwürdig veränderten Ausdruck bemerkte. Es ſiel ihm ſchwer aufs Herz, daß er ihren Wünſchen ſo gar nicht Rechnung getragen hatte. 214 „Verzeih, Leonie,“ ſagte er ſchuldbewußt, „daß ich dich und deine Bedürfniſſe ſo wenig bedachte! Du lang⸗ weilſt dich, armes Kind! Aber ſei ruhig: du ſollſt ent⸗ ſchädigt werden. Unſer Häuschen bietet die Möglichkeit zahlloſer Ausflüge. Wir werden wandern und reiten und fahren, du wirſt ſehen, wie ſchön die Welt iſt. Und wir wollen froh miteinander ſein.“ „Wir — wir?!“ unterbrach ſie ihn, durch Tränen lachend, und legte beide Arme zärtlich um ſeinen Hals, „die Zukunft von morgen — da hab' ich ſie wieder! Von da an konnte ſie, den ganzen Tag trällernd und lachend, die Zeit der Abreiſe kaum mehr erwarten. Konrad ärgerte ſich über die oberflächliche Vergnü⸗ gungsſucht, die bei ihr wieder zum Vorſchein kam, und über ſich ſelbſt, daß er ſich ärgerte. „Ich hatte wirklich vergeſſen, ganz vergeſſen, aus welchem Milien ſie iſt, dachte er, — „ein Dienſtmädchen! Rur ein Dienſt⸗ mädchen!“ Am Oſtufer des Walchenſees, da wo die Fahrſtraße ſich bei dem Dörflein Sachenbach ins Land hinein der Jachenau zuwendet, ſtrecken zwei Halbinſeln ſich in das grüne Waſſer, ſie umfaſſen es wie die offenen Haken einer Zange, und ſchwarz und ſtill, als traure es über ſeine Gefangenſchaft, liegt es zwiſchen ihnen, ſelbſt wenn draußen die Sonne über dem weiten Seeſpiegel glitzert, oder der Sturm ſeine Wogen peitſcht. Gelbe Mummeln blühen in dieſem Winkel, und im Schilf ſchluchzen leiſe die kleinen gekräuſelten Wellchen. Ein winziges, ein⸗ ſames Haus ſteht auf der ſüdlichen der beiden Halb⸗ inſeln; irgendeiner, der die Menſchen floh, baute es vor Jahrzehnten unter die dunklen Tannen, die ihre Aſte hoch emporrecken und tief zur Erde ſenken, ſo daß kein Sonnenſtrahl hindurchdringt. Es iſt faſt immer ver⸗ ſchloſſen; die kühle Luft, die aus ſeinen Räumen dringt, wenn Fenſter und Türen ſich öffnen, verſcheuchte noch 215 jeden. An der ſüdlichen Front hüten zwei zerbrochene Sandſteinengel die ausgetretene Steintreppe, die zur breiten Terraſſe emporführt; Kletterroſen haben ihnen Kränze aufs Haar gedrückt und verdecken barmherzig die abgeſchlagenen Hände, die geſtutzten Flügel. Hier ſtehen ſeit Tagen ſchon Fenſter und Türen weit offen, und durſtig trinken die vom langen Schlaf erwachenden Räume Luft und Licht, denn weit, weit dehnt ſich die ſchimmernde Fläche des Waſſers und die blaue Kuppel des Himmels vor ihnen, bis fern am Horizont grüne Matten, dunkelumwaldete Höhen und die weißen Rieſen⸗ häupter der Berge ſie begrenzen. An der Rordfront des Hauſes aber wird es nicht wärmer; da ſtarren ſonnenloſe Zimmer auf die ſchwarze Bucht, und das Efeugerank, das ſie umſchattet, kriecht mit dicken Aſten wie lebendiges Gewürm weiter über den Boden bis hinüber zu der ſeltſam geduckten Ka⸗ pelle, an deren zerbröckelndem Fundament das Waſſer anſchlägt, grauſam, regelmäßig, tiefe Furchen hinein⸗ freſſend. Der Efeu umklammert den kleinen Turm mit ſtarken Stämmen; er hält ihn aufrecht und gibt ihm mit ſeinem ſtets ſich erneuernden Frühlingsgrün faſt ein junges Geſicht. Von der morſchen Kanzel darin predigt niemand mehr; niemand betet mehr vor dem kahlen Altar; die Kapelle iſt baufällig. Rur der Efeu bewahrt ſie vor dem Zuſammenſturz. Unter den Heckenroſen, die von den Engeln empor ſich rankten und über der Terraſſe zu rotleuchtendem Dache ſich wölbten, erwarteten Konrad und Leonie ihre Gäſte. Droben, im hellſten Zimmer des Hauſes, aus deſſen Fenſtern der Blick über den See hinweg bis zu den weißen Firnen ſchweifen konnte und die Lichter vom jenſeitigen Ufer die Scheiben blitzend trafen, ſollte der Leidende wohnen; daneben, mit der Ausſicht in den Tannenwald und über die dahinter anſteigenden Wieſen, Sabine. 216 Die Räder des Landauers, der ſie bringen ſollte, knarrten über den Kiesweg. Seltſam, daß er geſchloſſen war, trotz des leuchtenden Tages! Er hielt. Sabine ſprang leichtfüßig zu Boden, haſtig mit dem Tüchlein über die heiße Stirn fahrend. „Es war ein wenig warm im Wagen“, ſagte ſie mit einem begrüßenden Händeſchütteln; dann wandte ſie ſich um, Jörun Egil beim Ausſteigen helfend. Seine Hand, die ſich ihr zuerſt, eine Stütze ſuchend, entgegenſtreckte, war ſehr mager: jede einzelne Ader trat in ſcharfen blauen Strängen auf ihr hervor. Als er unten ſtand, — eine ſchmalſchultrige, gebeugte Geſtalt — hob er dieſe Hand haſtig über die Augen. „Es blendet ſo“, ließ ſich eine glockentiefe Stimme vernehmen, deren Klang niemand von der eingefallenen Bruſt erwartet hätte. Erſt unter dem Roſendach enthüllte er ſein Geſicht. Faſt würde Leonie aufgeſchrien haben, wenn Kon⸗ rad nicht rechtzeitig ihren Arm umklammert hätte. Es war von grünlicher Bläſſe; die faſt weißen Lippen darin zitterten, um die dunklen Augen, von ſchweren Lidern faſt ganz beſchattet, zogen ſich tiefe ſchwarze Ringe. Ein paar dünne blonde Haarſträhnen klebten an der feuchten Stirn. Konrad fühlte, daß dieſer leichenfahle Mann in das helle, freudige Zimmer nicht paſſen würde. So ließ er ihn ſelbſt das ihm behaglichſte wählen. Erſt ganz zuletzt fand er es: einen Raum im Parterre, den Konrad unbewohnt hatte laſſen wollen, denn die Wände er⸗ ſchienen ihm feucht, um das einzige ſchmale Fenſter zog ſich dichter dunkler Efeu, und der Blick, nach beiden Seiten durch dunkle Tannen beengt, ſah nichts vor ſich als die Bucht. Egil, durch deſſen Körper ein Zittern ging, — er mochte ſich beim Treppenſteigen vielleicht überanſtrengt haben, dachte Konrad —, ſank in den Seſſel am Fenſter. 217 „Wie ſchön das iſt, — wie froh ich bin!“ ſagte er, zu Konrad aufſchauend. Welche Augen! Sie ſtraften die Wärme der Worte Lügen. Wer vermochte zu ent⸗ rätſeln, ob ſie von kalter Müdigkeit oder von grauſamer Härte waren. Er ſchien den Eindruck, den ſie erweckten, zu kennen, denn er ſenkte raſch die Lider über ſie. „Gib mir meine Schatulle, Sabine,“ flüſterte er dann, „und laßt mich allein.“ Sie gehorchten ſtumm. „Die Reiſe hat ihn ſehr mitgenommen,“ ſagte Sabine erſchüttert; „auch die plötzliche Helle nach der Dunkelheit ſeines teppichverhangenen Zimmers.“ Richt einmal Konrad vermochte ein höfliches Wort der Erwiderung hervor⸗ zubringen. Kaum eine Stunde ſpäter klang die Stimme des un⸗ heimlichen Gaſtes voll und klar bis zu der Roſenterraſſe hinaus, wo zum Eſſen gedeckt war, und er trat in die Türöffnung, ein vollkommen Gewandelter, mit erfriſchter Haut, geröteten Lippen, feurigen, offenen Augen. Er war in dieſem Augenblick nichts als ein junger glück⸗ licher Menſch, vor deſſen ſtrahlendem Lächeln ſelbſt Leonies ängſtliche Scheu verflog. Als ſie ſich vom Tiſch erhoben, ſtand der Mond hoch am Himmel. „Wir wollen zum See hinab,“ ſagte Sabine mit ver⸗ haltenem Jubel in der Stimme, „ſo beglänzt ſoll es dir entgegenleuchten, das Waſſer, deine Wiege! Egil aber zuckte zuſammen und wurde aſchfahl im Geſicht. Was er ſagte, klang wie ein Stöhnen: „Rein, nein, noch nicht — heute noch nicht!“ Und er ſchritt haſtig zur anderen Seite des Hauſes. Dann lächelte er wieder, ein ſeliges verzücktes Lächeln. Seine Augen hingen unverwandt an dem Efeuturm der Kapelle, der ſich ſchwarz gegen die Silberhelle der Racht abhob. „So wächſt meine Kirche,“ flüſterte er vor ſich hin, „aus dem nährenden Boden der Mutter Erde, und um⸗ 218 ſchlingt die Tempel alter Götter und zerdrückt ſie mit ſtarken lebendigen Armen! Ich ſage euch, der Tag iſt nicht fern, wo die Mauern unter ihr, an denen ſie auf⸗ wärts wuchs, zerbröckeln werden, und ſie allein ihren ſonnendurchleuchteten Turm, in dem die Sänger des Himmels niſten, triumphierend zu den Sternen erhebt!“ War er ein Wahnſinniger? Ein Seher? Mit aus⸗ gebreiteten Armen — regungslos — ſtand er auf dem weißſchimmernden Raſenplateau, auf dem ſein Schatten wie ein ſchweres ſchwarzes Kreuz ſich ſtreckte. Leonie ſchauerte zuſammen und ſchmiegte ſich an Konrads Schulter. Sabine ſtarrte, die Hände ineinander ver⸗ ſchlungen, zu Egil empor, und als ſie ihn zittern, die ekſtatiſch aufgerichtete Geſtalt kraftlos zuſammenſinken ſah, ſchlang ſie den Arm um ihn und führte den Willen⸗ loſen behutſam in das Haus zurück. Am nächſten Morgen, als ſie die Freunde begrüßte, lag in ihren Augen der Ausdruck unendlichen Flehens. Da küßte Leonie ſie zärtlich auf die zuckenden Lippen, und Konrads Blick ſenkte ſich in den ihren. „Angſtige dich nicht, du arme Seele!“ ſagte er, während der Mund ſchwieg, „wir werden nicht fragen, nicht forſchen, dir unſere ahnungsvolle Furcht nicht verraten —“ und ſie drückte dankbar die Hände der beiden. Von demſelben Gefühl getrieben, eine Laſt abſchütteln zu müſſen, wanderten Konrad und Leonie am Ufer ent⸗ lang nach Urfeld, dem freundlichen Weiler an der äußerſten Rordſpitze des Walchenſees, den die große von fauchenden Automobilen belebte Keſſelbergſtraße ſo ſchmerzhaft aus ſeiner einſtigen Verträumtheit — zu der Zeit, da nur wenige Wagen mühſelig über den alten ſteilen Weg zu klettern wagten — aufgeſchreckt hatte. Von den Hängen blinzelten kleine Häuschen immer noch erſtaunt auf das Leben unten, als würden ſie ſich nie daran gewöhnen können, während die beiden Wirts⸗ häuſer wie rechte Wegelagerer alles packten, was vor⸗ 219 überkam. Sie waren ſogar ſchon zu Hotels geworden und würden ſich gewiß, wie Konrad lachend ſagte, „binnen kurzem vom Mittageſſen zum Lunch, vom Rach⸗ mittagskaffee zum Afternoon⸗Tea entwickelt haben.“ Jetzt waren ſie noch von jenen Sommergäſten gefüllt, die ſich an Orten wie Urfeld, wo es noch keine Kurmuſik und keine Tanzkränzchen gibt, — der Gebildete nannte ſie Reunions — aus Bürgerfamilien, die ihren Ferien⸗ aufenthalt auf Grund der niedrigen Preiſe wählen, und aus Natur⸗ und Ruhebedürftigen zuſammenſetzen, bei denen die Abgeſchiedenheit den Ausſchlag gibt. Konrad und Leonie ließen ſich im Wirtsgarten nie⸗ der. Es war ein heißer Sommertag. Der See atmete nur leiſe, vom funkelnden Regen des Sonnenlichts überſprüht; viele Segelboote durchzogen ihn, wie ſtolze Schwäne, die weißen Flügel blähend; ſehr fern, dufti⸗ gen Traumbildern gleichend, verſchwammen die Berge mit den Wölkchen am Horizont. Eine Schar fröh⸗ licher Kinder plätſcherte mit bloßen Beinen im Waſſer; weiter hinaus tauchten die Köpfe Schwimmender auf. Aus den kleinen Kabinen ſtiegen Frauen — angezoge⸗ ner als im Ballſaal — in die klare grüne Flut. Männer ſonnten ſich auf den Holzſtufen. Aufgeſchwemmte Ren⸗ tiers, an deren Körper das ſchwammige Fleiſch bei jeder Bewegung ſchwankte, enthüllten ſich ebenſo rück⸗ ſichtslos wie ſpindeldürre Jünglinge mit hervorſtechen⸗ den Schulterblättern und eingefallenem Bruſtkaſten. Leonie ſchürzte verächtlich die vollen Lippen. „Schamlos ſind doch nur die Männer,“ ſagte ſie, „es iſt, als wüßten ſie, daß ihre Mannheit trotz aller Häßlichkeit ſtets gleich hoch im Preiſe bleibt.“ „Grotesker als ſie find' ich die Frauen,“ meinte Konrad, „die ſich Kleider anziehen, um ins Waſſer zu gehen. Wenigſtens ſollte das nur den Garſtigen er⸗ laubt ſein.“ „Und denen, die ſich ſelbſt nicht mehr gehören“, fuhr 220 Leonie fort, nachdenklich zur Erde blickend, wo ſie mit dem Schirm Kreiſe in den Sand zog. In dieſem Augenblick tönte von der Straße her in das Knattern und Fauchen eines langſam und ruckweiſe fahrenden Autos das Geräuſch erregter Menſchenſtimmen. In engliſch⸗deutſchem Kauderwelſch zankte eine hohe Männerſtimme, und ſuchte ſich vergebens verſtändlich zu machen. Konrad erhob ſich hilfsbereit. Vor dem Gaſthaus hielt ein eleganter Wagen, der eine kleine amerikaniſche Flagge trug; ein Herr in verſtaubtem Auto⸗ mantel, das kantige Geſicht vom Arger gerötet, ſtand dabei. Konrad überſetzte dem bayriſchen, vor ſich hin⸗ fluchenden Chauffeur die Wünſche und Vorwürfe des Scheltenden, und dieſem die Auskunft des Fahrers, wo⸗ bei es ſich herausſtellte, daß der Schaden einen Aufent⸗ halt von einigen Tagen notwendig machte. „Wie unangenehm,“ ſeufzte der Fremde, „in zwei Tagen wollte ich ſchon in Sulden ſein. Was macht man nur in dieſem Reſt? „Es könnte Ihnen vielleicht eine ſenſationelle Bekannt⸗ ſchaft vermitteln, die der Ratur,“ meinte Konrad ironiſch. Der andere lachte; dann gingen ſie zuſammen in den Garten, wo ihnen Leonie entgegentrat. Konrad ſtellte vor: „Mr. Macheart — Fräulein Leonie Doris.“ Die fühlen grauen Augen des Amerikaners hafteten über⸗ raſcht auf der ſchönen blonden Frau, und wie in flüchti⸗ ger Frage auf ihrem Begleiter. Dann küßte er Leonie die Hand, länger als er es einer „Dame“ gegenüber gewagt hätte. „Eine ſenſationelle Bekanntſchaft, Herr Baron, — Sie hatten recht“, ſagte er mit leichtem Lächeln. Leonie erblaßte und ſah erſtaunt zu Konrad hinüber. „Die der Ratur ſtellte ich Ihnen in Ausſicht — keine andere“, entgegnete er ſcharf. Sie verabſchiedeten ſich raſch. Vor der kleinen Verkaufsbude draußen blieb Konrad ſtehen. Ein paar einfache Badetrikots lagen zwiſchen 221 dem bunten Kram billiger „Andenken“. Er wandte ſich an ſeine ſtumme Begleiterin: „Was meinſt du, wenn wir uns vor der Heimkehr noch durch ein Bad er⸗ friſchten? Sie runzelte die Stirn. „Haben Sie kein Koſtüm? frug ſie die Verkäuferin. Konrad ſchien überraſcht. „Warum das?“ meinte er lächelnd, „ich denke du biſt fehlerlos!“ „Möchteſt du, daß ſie mich alle begaffen?“ entgegnete ſie mit einem forſchenden Blick, den er nicht verſtand, denn er ſagte harmlos: „Wie könnt' ich ihnen ſolch einen Anblick mißgönnen?!“ Sie war erblaßt und hatte ſich ſo heftig auf die Lippen gebiſſen, daß ein Blutstropfen aus der Wunde rann. Schließlich nahm ſie, den Kopf in raſchem Entſchluß aufwerfend, wie er, ein kurzes ſchwarzes Trikot. „Ich werde — nackt ſein!“ ſagte ſie gedehnt auf dem Wege zu den Kabinen und richtete wieder den Blick auf ihn. „Um ſo ſchöner“, lachte er. Als ſie ſich entkleidete, ſtürzten ihr die Tränen über die Wangen, aber Konrads bewunderndes: „Wie ſchön du biſt“ im Augenblick, da ſie hinaustrat, verwiſchte auch ihre letzten Spuren, obwohl ihr geſchärftes Ohr nicht überhörte, daß er eine Statue mit demſelben Ton⸗ fall hätte beurteilen können. Ihre Erſcheinung erregte faſt einen Aufruhr. Die Frauen empfanden ſie wie eine perſönliche Beleidigung und tuſchelten erregt mitein⸗ ander; die Männer kamen von weit her allmählich zurück⸗ geſchwommen, einer nach dem anderen, wie von magne⸗ tiſcher Gewalt gezogen. Rach wenigen Minuten ver⸗ ſchwand Leonie froſtgeſchüttelt wieder in der Kabine. Im Garten begegnete ihnen der Amerikaner. Er ver⸗ ſenkte haſtig ein Opernglas in der Taſche und grüßte tief. „Du biſt nicht eiferſüchtig?!“ frug Leonie, als ſie ſich 222 dem Hauſe näherten — ſie waren bis dahin einſilbig nebeneinander her gegangen. „Aber ganz und gar nicht,“ gab er zurück, „dann würde ich ja meiner lieben Lehrmeiſterin Schande machen! Mit brüderlich zärtlicher Gebärde legte er den Arm um ihre Schultern, küßte ihre weiche Wange und fügte hinzu: „für die dumme Liebe biſt du mir zu gut.“ Sie machten von da an weite Ausflüge in die Berge hinauf, und überall wußte der Amerikaner, ihnen zu begegnen. „Ich habe die Bekanntſchaft der Ratur ge⸗ macht, ſie läßt mich nicht mehr los“, ſagte er, als Leonie ſich beziehungsvoll nach dem Stande der Autoreparatur erkundigte. Sie ſegelten oft halbe Tage lang, wobei es Leonies größtes Vergnügen war, durch geſchicktes Manövrieren Macheart zu entſchlüpfen, deſſen Boot ihr Kielwaſſer ſuchte. Sabine ſchien ſich des Alleinſeins beſonders zu freuen. Sie ſaß unter dem Roſendach, unermüdlich an einer Überſetzung arbeitend, für die ihr ein erhebliches Honorar in Ausſicht geſtellt worden war. Egil blieb den ganzen Tag in ſeinem Zimmer. Er ſaß am Fenſter in einem tiefen Lehnſtuhl, auf dem Tiſch vor ſich die geheimnisvolle Kaſſette. Meiſt ſchien er zu ſchlafen. In der Zwiſchenzeit aber bedeckte er in fliegender Eile kleine weiße Zettel mit einer kritzlichen Schrift. Rur im Zwielicht des ſpäten Nachmittags kam er hinaus. Es wiederholten ſich dann die Anfälle eines bis zur Aus⸗ gelaſſenheit ſich ſteigernden Frohſinns, einer bis zur Ekſtaſe wachſenden Begeiſterung. Eines Rachts kamen Konrad und Leonie ſehr ſpät nach Hauſe. Der Amerikaner, der zum Mittelpunkt der kleinen Sommerfriſche geworden war, — der weibliche Teil der Gäſte überbot einander plötzlich an hinterwäldle⸗ riſcher Toilettenpracht, und der männliche ſaß nächtlicher⸗ weile mit heißen Geſichtern mit ihm am Spieltiſch und ließ die Goldſtücke rollen, — hatte ein Feſt gegeben. 223 Und mit kühlem Gleichmut, als wäre ſie nie etwas anderes gewöhnt geweſen, hatte Leonie die Rolle ſeiner Königin geſpielt — einer unnahbaren Königin, die ſelbſt den Tanz verſchmähte, um nicht vom Arm eines Mannes berührt werden zu müſſen. Als ſie, zurückgekehrt, unter dem Roſendach ſtanden, wandte ſie ihr Geſicht, tief erglühend, Konrad zu: „Sag du mir auch, daß ich ſchön war“, flüſterte ſie heiß. Das Blut ſtieg ihm in die Schläfen. Ach — die Sommernacht und das blühende Weib! — Da hörte er hinter ſich im dunklen Garten ein irres Kichern. Mit einem entſetzten Aufſchrei flog Leonie die Treppe hinauf, während er ebenſo raſch die Steinſtufen abwärts ſprang und um die Fliederbüſche bog. Dicht an der Bucht, die wie polierter ſchwarzer Marmor regungslos da lag, nur hier und da gelb gefleckt von den Waſſerroſen, ſaß Egil, die ſpitzen Knie ſo hoch ge⸗ zogen, daß ſein Kopf zwiſchen ihnen hindurch ſah. Er ſtierte auf eine Mummel, die ſich, ihren Kelch weit ge⸗ öffnet, dem großen Käfer darzubieten ſchien, der an ihren Staubfäden nagte. Bei Konrads Rähertreten wandte er ruhig den Kopf, als wäre deſſen Spaziergang zu dieſer Stunde etwas Selbſtverſtändliches. „Kommen Sie nur, Baron, kommen Sie“, ſagte er, „aber leiſe — vorſichtig, damit Sie dies koſtbare Be⸗ obachtungsobjekt nicht ſtören.“ Und er zog ihn am Rock zu ſich hinunter: „Was ſehen Sie hier?“ fuhr er dann fort, die Augen auf ihn richtend, dieſelben kalten, grau⸗ ſamen Augen, die Konrad bei ihrer erſten Begegnung zurückſchrecken ließen. „Einen Käfer — was ſonſt?“ entgegnete er. „Was ſonſt?!“ wiederholte der andere höhnend, um dann Konrad noch näher rückend, im Tone eines letzte Geheimniſſe verkündenden Hrieſters leiſe weiter zu ſprechen: „Sie ſind ein Mann. Ich werde es Ihnen ſagen — Ihnen allein. Aus ſchwarzem Schlamm, der 224 aus Milliarden verrotteter Lebeweſen beſteht, — alſo aus Leichen, aus nichts als aus Leichen! — ſaugt dieſe ſtrahlende Wunderblume ihre Schönheit und ihre Kraft. Und der Käfer, der häßliche ſchwarze Käfer in ihrem göttlichen Schoß frißt ihr das Herz aus. Dort aber — ſchauen Sie nur: das große, dicke, grüne Tier mit den Glotzaugen, wie es lauert, bis der Schwarze dick und voll iſt — dann ſpringt er auf ihn — klatſch! — und ſchluckt ihn hinunter. Auf unſerem Dach jedoch ſperren fünf junge Störche die Schnäbel auf. Roch bevor der Morgen graut, werden ſie den Grünen, den ihnen der Vater holt, ſchonungslos auseinandergeriſſen und ſtück⸗ weiſe verſpeiſt haben.“ Egil ſchnellte auf, mit der Knochen⸗ hand hinüber zu den Bergen weiſend: „Drüben kreiſt längſt ſchon der Adler — die kleinen Störche hier, die Gutgenährten, werden ſeine Beute ſein! Ihn aber trifft eine Kugel mitten ins Herz, und ſeinen Kadaver ver⸗ ſchlingen die Fiſche,“ — ſeine Stimme wurde heiſer, ſchneller und ſchneller und immer eintöniger ſtieß er die Worte hervor — „und die Fiſche freſſen wir und nähren mit Totem, mit Gemordetem den tiefſten Gedanken in unſerem Hirn!“ Er ſchwieg erſchöpft, um dann aufs neue die Stimme zu erheben, bis ſie zu ihrem vollſten Glockenton anſchwoll: „Aus unſerem Kot wachſen die Blumen, reifen die Früchte. Von Leichen lebt alles Leben! Weisheit und Kraft und Schönheit ſind ſtin⸗ kender Kadaver giftgezeugte Frucht! Und er lachte — lachte gellend — daß er ſich die Seiten halten mußte. Konrad fühlte, wie etwas Kaltes, Weiches an ſeinem Körper emporkroch, als hätte eine Schar unſichtbarer Kröten, mit eklem, klebrigem Schlamm an den Bei⸗ nen, von ihm Beſitz ergriffen. Mühſam nur zwang er ſich zur Ruhe. „Das ſind bekannte naturwiſſenſchaft⸗ liche Tatſachen, Herr Egil“, ſagte er. „Richtig, — vortrefflich!“ antwortete dieſer, „natur⸗ Braun, Lebensſucher 15 225 wiſſenſchaftliche Tatſachen! — Und zur Beruhigung furchtſamer Gemüter ſprechen die Herren Gelehrten vom Kreislauf des Lebens, obwohl es der des Todes iſt. Jetzt aber merken Sie gut auf, denn das, was nun kommt, hat Ihnen überhaupt noch keiner geſagt, auch nicht mit anderen Worten. Daß Kot und Kadaver Bedingungen allen Lebens ſind, erkennen Sie an. Ratur⸗ geſetze aber machen nirgends halt, ihnen iſt alles unter⸗ tan, was lebt und ſtirbt. Und ſo ſind auch Völker nur für andere Völker, Klaſſen nur für andere Klaſſen der Dung. Wir aber mit den Ergebniſſen unſeres auch nur durch Tote gefütterten Hirns gedenken dieſes Geſetz aufzuheben! — Es gibt Leute, die nicht mehr von Ge⸗ tötetem leben wollen. Sie eſſen Pflanzen ſtatt Kälber und Schweine. Als ob ſie nicht auch, die gezeugt werden und wachſen, und blühen und ſterben, Lebendige wären! Konſequenterweiſe alſo müßte verhungern, wer von nichts leben will, das lebte. Was meinen Sie“ — und er lachte ſchneidend auf — „was würde aus dieſer ganzen, von den Qualen Gemordeter und Verfolgter, vom Tode der Schwachen ſich nährenden Welt, wenn die Blaſen unſeres Gehirns, ſo wir Gedanken nennen, die Raturgeſetze beſiegten?! — Es gibt Leute, die an Gott glauben, als den Geſetzgeber. Wer alſo Menſchenliebe predigt, ruft zum Kriege auf wider Gott — wider Gott! Das Lachen, in das er ausbrach, verklang in blödem Kichern. Mit großen Schritten wandte er ſich, ohne Konrad noch zu beachten, dem Hauſe zu und ſchwang ſich, am Efeu emporkletternd, in ſein Zimmer. Konrad blieb noch lange wie angewurzelt ſtehen. „Er iſt wahnſinnig —“, ſagte er vor ſich hin, ſich ſelbſt zu tröſten verſuchend. Trotzdem bohrte ſich der Gedanke immer ſchmerzhafter in ſein Gehirn: Erlöſung der Menſchheit aus Knechtſchaft und Jammer iſt gleich⸗ bedeutend mit ihrem Todesurteil. Ihm grauſte von nun an vor jeder Begegnung mit 226 dem Gaſt. Als daher Macheart ſeine Aufforderung, ihn mit Leonie nach Oberammergau zu begleiten, wieder⸗ holte, ſagte er ohne Beſinnen zu. Es war eine feige Flucht, er fühlte es, und nicht nur eine Flucht vor Egil, ſondern vor ſich ſelbſt. Daß Leonie nur mit einem demütigen „ganz wie du willſt“ auf ſeine Mitteilung von der Autofahrt reagierte, bemerkte er nicht. Wie fern war ſie ihm, wie weltenfern! Sie fuhren mit Eilzugsgeſchwindigkeit bergauf, bergab. Wenn Konrad an irgendeinem ſchönen Punkte lang⸗ ſamer zu fahren oder gar auszuſteigen begehrte, ſo lä⸗ chelte Macheart ſpöttiſch über die „deutſche Sentimen⸗ talität“, oder ereiferte ſich über den deutſchen Mangel an Geſchäftsſinn, weil hier noch kein großes Hotel die gute Gelegenheit zum Geldverdienen ausnutzte. Als es ſich herausſtellte, daß die Bergſtraße über Ettal für den Autoverkehr geſperrt war, entrüſtete er ſich über dies „draſtiſche Zeichen von Unkultur“, und ihm fehlte jede Spur von Verſtändnis für Konrads gegenteilige Auf⸗ faſſung, der den Schutz der Wege vor dem Geſtank und Spektakel der Kraftwagen, wie den Schutz ſchöner Gegenden vor Fabrikſchornſteinen gerade als Kultur betrachtete. Sie gerieten unter Wahrung der höflichſten Formen in eine lebhafte Auseinanderſetzung, die Konrad ſchließlich kurz abbrach, als der Amerikaner begeiſtert als „Kulturtaten“ ſeiner Heimat die Erfindung des Parlographen, des Grammophons, die Vervollkommnung des Telephons und anderes mehr aufzählte, und Konrad ſah, daß es zwiſchen ihnen keine Brücke gab. Er beſchloß, während Macheart in weitem Bogen um die Berge fahren mußte, die alte Römerſtraße zu Fuß zu gehen, Leonies Begleitung mit faſt feindlicher Schroffheit ablehnend. Er wollte die heimlichen Wege ſuchen, wo Feld und Waſſer und Wald alte Geſchichten erzählen, wo die Armen und Andächtigen wandern, denen der Weg nach Oberammergau eine Wallfahrt iſt. 15* 227 Links durch die Schlucht führt die Straße zum Berg hinauf. Wie manchen Felsblock mögen die blonden Ba⸗ juwaren von oben hinab in die Tiefe gerollt haben, um die andringenden Feinde darunter zu begraben; wieviel Römerblut hat der brauſende Bach getrunken, ehe es ſich droben ſiegreich und friedlich mit dem Blut der Germanen miſchte, dachte Konrad. Und dieſelbe Straße ritt vor Jahrhunderten Ludwig der Bayer, jenes ſeltſam leuch⸗ tende Wunderbild im Mantel, das ihm einſt auf der Romfahrt, wie er in heißem Gebet die Wendung ſeines Geſchickes von der Gottesmutter erflehte, ein eisgrauer Mönch als von Gott geſandt zum Troſte anbot. Unter den großen Tannen auf dem Berge ſtürzte ſein Pferd dreimal, und er gründete dort das Kloſter Ettal. Von nun an ward die Straße belebt: weltliche und geiſtliche Herren, fürſtliche Jäger und kecke Edelfrauen kamen daher, hoch zu Roß; fromme Pilger mit Kutte und Stab, krank an Seele oder Leib, zogen Gebete mur⸗ melnd zur wundertätigen weißen Frau. Der Abend dämmerte ſchon, als Konrad den prunkhaften Barockbau betrat, die letzte Wandlung des ehrwürdigen Münſters, auf deſſen Hochaltar die kleine, zarte Geſtalt aus weißem Stein noch immer ſteht, dievor ſechs Jahrhunderten der kaiſerliche Hilger in die Wildnis trug. Aus indiſchem Porphyr, ſagt man, ſei ſie gebildet; dunkle, eingeſetzte Augen beleben das leiſe ſchimmernde Anlitz. „Eine andere heilige Mutter iſt's, die das Bild ur⸗ ſprünglich darſtellte“, las ein alter Mann mit eintöniger Stimme aus einem braunen Buche dem Kinde vor, das er an der Hand führte. „Iſis, die urälteſte Verkörperung der allen Zeiten und Völkern heiligen Mutter Ratur⸗ Auf ihren Knien ſteht ein Kind, von Kraft und Leben ſtrotzend — ſollte ſich auf dem Wege von Agypten über Rom ein Bachus zu ihr verirrt haben? Auf dem runden Geſichtchen ſpielte das Licht der Altarkerzen; war es nicht, als wolle der Kleine jedem ſtillen Betrachter 228 ſprühende Lebensluſt in das Herz lachen — Beſte das, was der Gott einem Irdiſchen geben kann? Aber Konrads Herz blieb verſchloſſen. Er wandte ſich ab. Es war jene ſchwermütige Stunde zwiſchen Tag und Racht. An ſeinem Wege reckten ſich geſpen⸗ ſtiſch die Kreuze mit dem blutigen Bilde des Erlöſers. Behäbig, mit gemalten Häuſern und geſchnitzten Ga⸗ lerien, breitet ſich das Dorf an der Ammer aus, vom ſpitzen Kofel überragt. In den Straßen brennen Bogen⸗ lampen, wie in der Großſtadt; aus den zahlloſen Wirts⸗ häuſern dringt vielfacher Stimmenlärm. Es wird überall engliſch geſprochen; ſelbſt die Kellnerinnen bemühen ſich mit eitlem Lächeln, die fremde Sprache zu radebrechen. Konrad fand Macheart und Leonie im Speiſeſaal des Wittelsbacher Hofs ruhig miteinander plaudernd, und freundlicher als ſonſt trennte ſich das Mädchen von dem Amerikaner. „Du haſt mich ihm überlaſſen“, ſagte ſie mit leiſem Vorwurf in der Stimme, als er gegangen war. „Verſtehſt du denn nicht, mein Kind, daß ich auch einmal gern allein bin?“ entgegnete er gequält, um, die jähe Angſt, die ſich in ihren Augen ſpiegelte, bemerkend, in aufrichtiger Beſorgnis fortzufahren: „er iſt dir doch nicht zu nahe getreten? Sie ſchüttelte den Kopf und ſagte kühl: „Selbſt eine anſtändige Frau könnte ſich ſeine Huldigungen ruhig gefallen laſſen. Eine bunte Menge ſtrömte zum Spielhaus durch die Dorfſtraßen, an den Läden vorüber mit den Holzſchnitze⸗ reien, die nur in der Technik die Werke alter Zeit über⸗ trafen, ſonſt aber in kalter Konvention ſtecken geblieben waren. Keine Rührung ſtrömte mehr aus den Wunden 229 Chriſti, dem Lächeln Mariä; zu keinem Händefalten zwang mehr der Anblick der Märtyrer, keine Seele erhob ſich mit den geflügelten Himmelsbewohnern. Auf den Schaufenſtern klebten Zettel: „Engliſh ſpoken“, auf den Türen friſch geputzter Bauernhäuſer: „Tearoom“. Der Zuſchauerraum, eine mächtige Eiſenhalle, ſtim⸗ mungslos wie ein Bahnhof, füllte ſich raſch: Da waren die ſtereotypen Engländer mit lüſtern⸗frömmelnden Mienen, die ebenſo ſattſam bekannten Berliner Par⸗ venüs: Frauen, die auf dem Dorf mit ſeidenen Klei⸗ dern rauſchen, Männer mit breiten Ringen auf kur⸗ zen, dicken Fingern, beide mit ſüffiſantem Geſicht, ohne eine Spur innerer Anteilnahme; da war die ganze internationale Bummlergeſellſchaft, die ihre Bildung nach der Zahl der Kirchen, Muſeen und Theater taxiert, die ſie in der kürzeſten Zeit abzumachen vermochte. Da waren ſchließlich die Landbewohner der Umgegend, kräftige Männer, früh gealterte Frauen, die ſich mit wenigen Ausnahmen zur Feier des Tages in ſtädtiſche Kleidung zwängten. Aber während die anderen rückſichtslos ſchwatzten und lachten, ſaßen dieſe von Anfang an ſtill mit gefalteten Händen da, eine heilige Handlung er⸗ wartend. Mit dem tiefen Orgelton ſeiner Stimme ſprach der Chorführer, mit hellem Klang, rein und fromm, fiel der Geſang der Kinder ein; Geſtalten voll naiver Aus⸗ drucksfähigkeit, in wundervolle, farbenglühende Ge⸗ wänder gehüllt, ſtellten in Bildern Chriſti Leben und Leiden dar. Leonie weinte leiſe, als die Paſſion zu Ende war. „Das vermag nur ein Volk, das noch mitempfindet und glaubt, was es darſtellt“, ſagte Konrad tief ergriffen. Der Amerikaner lächelte überlegen: „Wie lange wird es dauern, und ſie ſind Schauſpieler geworden und die Bühne Oberammergaus aus einem frommen Werk ein kapitaliſtiſches Unternehmen?! 230 Draußen ließen ſich die Engel und frommen Frauen von alten und jungen Snobs umſchmeicheln, und ſchwär⸗ meriſche Stadtbackfiſche, hyſteriſche alte Jungfern und abenteuerluſtige Frauen belagerten die gelockten Pro⸗ pheten und Apoſtel. Eine alte Bauersfrau in faltigem Seidenrock, die traditionelle Pelzmütze auf dem Kopf, zwiſchen den runzligen, braunen Händen den Roſenkranz drehend, ging mit abweſendem Blick durch die Menge. „Engel waren's, Ahndl, wirkli Engel?!“ ſagte der barfüßige Bub, der an ihrer Schürze hing, die glänzenden braunen Augen auf ſie gerichtet. Machearts Auto ſauſte durch die Racht, ein Urwelt⸗ ungeheuer. Die ſchneidende Luft nahm den Inſaſſen faſt den Atem. Keiner ſprach. Als ſie vor dem Hauſe hinter dem Efeuturm hielten und Leonie über die Roſenterraſſe verſchwunden war, bat der Amerikaner den ſchweigſamen Gefährten um eine kurze Unterredung. „Meine Verehrung für Madame Leonie,“ begann er ruhig, „wird Ihnen, Herr Baron, nicht unbekannt ge⸗ blieben ſein. Ich hätte keine Veranlaſſung, darüber zu ſprechen, wenn nicht meine Gefühle ernſtere geworden wären und ich vor der Frage ſtünde, mich in voll⸗ kommener Reſpektierung älterer Rechte zurückzuziehen, oder -" Konrad fuhr auf. „Madame Leonie iſt Herrin ihrer ſelbſt“, entgegnete er ſchroff. Miſter Macheart machte eine korrekte Verbeugung und ging. Am Abend danach fand Leonie mit der Karte des Amerikaners ein verſiegeltes Paket auf ihrem Zimmer, dem ſie eine Perlenkette entnahm. „Was meinſt du dazu?“ ſagte ſie langſam, das Schmuck⸗ ſtück in leiſe zitternden Fingern Konrad hinhaltend. 231 „Er iſt ſehr reich“, antwortete er ausweichend mit gepreßter Stimme. „Geſchenke, wie dieſes, ſind Anzahlungen auf -" murmelte ſie, müde in den Seſſel ſinkend, während ſie die Kette durch die Finger zog. „Was rätſt — du mir?! Minutenlanges Schweigen. Unten knarrte ein Fenſter, im Efeu raſchelte es. Leonie ſtarrte Konrad an, ent⸗ geiſtert, und ſchleuderte die Perlen, aufſpringend, zu Boden. Das Geräuſch weckte ihn aus ſeiner Verſunkenheit. Er hob den geſenkten Kopf. Die Falte auf ſeiner Stirn ſtand ſchwarz zwiſchen ſeinen Brauen, zwei ſcharfe Striche zogen ſich an Mund und Raſe hinab. „Du biſt — Herrin deiner ſelbſt“. — In dieſem Augen⸗ blick kam er ſich ſo verächtlich vor, daß er dankbar ge⸗ weſen wäre, wenn das Mädchen, aus deren weit auf⸗ geriſſenen Augen wilde Verzweiflung ſprach, einen Re⸗ volver gezogen und ihn niedergeſchoſſen hätte. Aber ſie ſchrie nur auf. Laut und gellend. Und flog die Treppe hinab — an die Bucht. Eine lange, ſchwarze Geſtalt richtete ſich jäh empor vor ihr, ſie mit beiden Armen wie mit Eiſenklammern umfaſſend. „Rur wer für andere ſtirbt, hat ein Recht zu ſterben“, ſagte eine glockentiefe Stimme. Die Arme löſten ſich — Schritte verklangen — ihr Kopf lag ſchwindelnd an Konrads Schulter. „Leonie, — mein lieber Kamerad —“ ſtöhnte er. Sie ſah auf, wehmütig lächelnd: „Verzeih, daß ich ich! — dir Böſes antun wollte! Heiter, als wäre die Racht nichts als ein Traum ge⸗ weſen, erſchien ſie am nächſten Tage unter den Haus⸗ bewohnern. Rur Sabine fiel irgend etwas Fremdes an ihr auf: „Haſt du nicht ein wenig zuviel Rot aufgelegt?“ meinte ſie nach einem freundlich prüfenden Blick. Als ſie Kon⸗ 232 rads übernächtige Züge geſehen hatte, forſchte ſie nicht weiter. Am Abend gab Macheart wieder ein Feſt, ſein Ab⸗ ſchiedsfeſt, wie er ſagte. Der Wagen, der Konrad und Leonie hinüberfahren ſollte, ſtand vor der Türe. „Willſt du mir noch einen großen Gefallen tun, Sa⸗ bine“, ſagte Leonie leiſe, ſich vor die Freundin nieder⸗ kauernd. „Roch?!“ meinte ſie erſtaunt. „Sage Egil, daß ich ihm immer danken werde!“ Und Leonie, deren Stimme unmerklich gezittert hatte, erhob ſich raſch. Ihr Mantel verſchob ſich dabei ein wenig und enthüllte eine Schnur mattſchimmernder Perlen, die Sabine noch nie an ihrem Halſe geſehen hatte. Aus allen Orten der Gegend waren Landleute und Sommergäſte an jenem Abend nach Urfeld geſtrömt. Man erzählte ſich Wunderdinge von all den Herrlichkeiten, die der goldne Stab des amerikaniſchen Hexenmeiſters in das kleine, weltverlorene Reſt gezaubert hatte. Und der Gaſthof war überfüllt von ſeinen Freunden, die aus München und Oberammergau, aus Garmiſch und Inns⸗ bruck ſeiner Einladung gefolgt waren. Der Wirt ſtrahlte. Die weiblichen Hotelgäſte ſaßen ſchon ſeit Stunden auf⸗ geregt vor dem Spiegel und putzten ſich. Vor dem Landungsſteg ſchaukelte die Segelyacht Machearts, von Blumengirlanden umkränzt, bunt be⸗ wimpelt, mit Hunderten vielfarbiger Lämpchen bis in die Maſten hinauf geſchmückt; zahlloſe große und kleine Boote ſchaukelten um ſie, und ein Weg, von lodernden Hechfackeln erleuchtet, führte vom Eingang des Gartens bis zu ihr. Eine Via triumphalis war es, durch die Leonie, von Macheart geleitet, ſchritt; auf ihren gelb⸗ ſeidnen Mantel, den ſie um den Körper zog, als wüßte ſie von jeder Falte, was ſie betonen, was verhüllen ſollte, 233 warfen die Flammen abwechſelnd züngelnde rote Lichter und ſchwarze Schatten. Bewundernd und ſtaunend, hämiſch und neidiſch ſtarrten ihr von rechts und links Hunderte von Augen entgegen. Macheart lächelte wie ein Sieger über ſeine Beute. „Ob ich ſie ihm doch wieder entreißen ſollte, mit dem einzigen Recht, das ich beſitze, dem der Freundſchaft? dachte Konrad gequält. Als ſie das Schiff betraten, krachten Raketen und praſſelten Leuchtkugeln gen Himmel; der milde Glanz der Sterne erloſch vor all den glänzenden künſtlichen Feuern; die Berge verhüllten ihr Antlitz; vor dem Knallen der Champagnerpfropfen verſtummte das leiſe Geflüſter der Wellen. Die Ratur ſchämte ſich. Aus ſeidenen Kiſſen und ſeltenen Blumen hatte Macheart für Leonie einen erhöhten Sitz errichten laſſen, auf dem ſie mit erfrorenem Lächeln thronte, ſtill und bleich, eine Siegesbeute. Ein wundervoller Teppich — Hunderte lebendiger Alpenroſen in ein Retz geflochten — hing vom Schiff hinab in das Waſſer wie eine Krönungs⸗ ſchleppe. Mit leiſem Grüßen dorthin, wo Konrad ſaß, hob ſie den gefüllten Becher. Aber er trank keinen Tropfen, denn der Wein widerſtand ihm. Was er tun wollte, mußte nüchtern getan werden, ganz nüchtern. Als die anderen alle in ſeligſter Selbſtvergeſſenheit nicht mehr wußten, was um ſie her geſchah, und der ſtets gleich beherrſchte Amerikaner das Umlegen der Segel beaufſichtigte, um den Landungsſteg wieder zu erreichen, Leonie aber müde mit geſchloſſenen Lidern in ihren Kiſſen lehnte, trat Konrad dicht an ſie heran und ſagte: „Gib ihm die Kette zurück, an der er dich fortführen wollte, Leonie, mein lieber Kamerad.“ Ein traurig⸗zärtliches Lächeln umſpielte ihre Lippen, während ſie antwortete: „Ich kann dein Kamerad nicht ſein, Konrad, mein 234 Geliebter. Die „dumme Liebe“ — du weißt! rächt ſich ob meines Hohns. Wohl bin ich nur ein armes Mädel — ein Dienſtmädchen war ich in deinem Dienſt —, kann den Körper geben für Perlen — gleichgültig wie man einem Bettler eine Münze zuwirft. Aber meine Liebe für — Freundſchaft, für Barmherzigkeit am Ende gar, — das — das kann ich nicht -" Das Schiff ſtieß an den Steg, der Anker raſſelte. Leonie ſtand, den Kopf in den Racken geworfen, neben dem Amerikaner, mit der Miene der Herrin vom Platze der Hausfrau Beſitz ergreifend, und reichte jedem der Gäſte die Fingerſpitzen zum Abſchied. Keiner wagte ein Wort, das die Grenze der Ehrerbietung überſchritten hätte. Konrad allein verneigte ſich tief und ſtumm, ohne ihre Hand zu berühren. Glutheiße Rächte kamen. Bleiern, wolkenlos ſpannte ſich der Himmel über dem ſtillen See. Die Büſche an der Chauſſee waren grau vor Staub, der Efeuturm und die Bucht dahinter waren noch ſchwärzer als ſonſt. Konrad hatte Sabine rückhaltslos, keine Selbſtanklage ſcheuend, erzählt, was ſich begeben hatte. Sie hatte nur genickt: „Egil wußte es.“ Und als der ſtille Gaſt abends erſchien, hatte er ihm warm die Hand geſchüttelt und geſagt: „Schickſal iſt keine Schuld. Lüge aus Mitleid aber eine unverzeihliche Grauſamkeit.“ Dann ſprachen ſie nicht mehr davon. Konrad mied den Weg nach Urfeld. Er dachte an ſeine Abreiſe. Rach Hochſeß wollte er. Ohne daß ſie je ein Verlangen nach ſeiner Gegenwart geäußert hätte, fühlte er aus den Briefen der Groß⸗ mutter, ihren andeutenden Bemerkungen über die Alters⸗ erſcheinungen, die ſich mehr und mehr bemerkbar machten, daß ſie wünſchte, ihn um ſich zu haben. Wenn er trotz⸗ dem noch zögerte, ſo geſchah's, weil der merkwürdig ver⸗ 235 änderte Zuſtand Egils eine faſt ganz begrabene Hoffnung wiedererweckte. Seine Angſtzuſtände, die bisweilen an den Beginn des Verfolgungswahnſinns erinnert hatten, ſeine verworrenen und von tiefer Verbitterung zeugenden Selbſtgeſpräche, die Konrad hie und da vom Fenſter aus belauſchte, waren gewichen und hatten einer ſtillen, ſelbſt⸗ ſicheren Ruhe Platz gemacht; oft ſchien er ſogar von ſtarker Siegeszuverſicht erfüllt. Rur daß er ſich noch immer am Tage nicht zeigte, und aus lebhafteſtem Ge⸗ ſpräch plötzlich erſchlafft in ſich zuſammenfiel, bewies, daß er nicht völlig geneſen war. In einer jener Rächte, die keinerlei Kühlung brachte, ging Konrad zum Strande hinunter, um zu baden. Als er mit ein paar kräftigen Stößen hinausgeſchwommen war, bemerkte er einen nicht weit vor ſich, der dieſelbe Erfriſchung ſuchte. Er ſchwamm mit erſtaunlicher Sicher⸗ heit und Gewandtheit, ſo daß Konrad es aufgab, ihm zu folgen. Plötzlich tauchte der Fremde unerwartet dicht neben ihm auf. „Egil!“ rief Konrad überraſcht. „Eine alte Waſſerratte! Auf einem Kutter bin ich zur Welt gekommen“, antwortete der lachend. „Allnächtlich werfe ich mich wieder in die Arme meiner erſten Liebe und laſſe mir von alten Seegreiſen Geſchichten erzählen. „Weiß Sabine?“ frug Konrad, als ſie miteinander den Hügel aufwärts gingen; er dachte unwillkürlich, daß ſie ſich ſorgen müſſe. „Gewiß!“ ſagte Egil; und nach einer Weile, wobei ſeine Stimme wieder den Tonfall feierlicher Rede an⸗ nahm: „Das Waſſer, das mich geboren hat, wird mich erlöſen.“ Eines Abends — ſchon fingen die erſten gelben Blätter an, von den Bäumen zu fliegen — trat der Gaſt früher als ſonſt auf die Terraſſe, um die nun keine Roſen mehr blühten. Ein feines Rot färbte ſeine eingefallenen Wan⸗ gen und gab ſeinem ſchmalen Antlitz etwas Knabenhaftes. 236 Freudig erregt kam Sabine ihm entgegen, und zärtlich und vorſichtig, als wäre die zierliche Geſtalt ſehr zer⸗ brechlich, legte er den Arm um ſie: „Ja, du Beſte, Treuſte,“ ſagte er in einfacher Herzlichkeit, „nun wirſt du mich bald, — bald nicht mehr zu pflegen brauchen. Sie hob die Arme, um mit beiden Händen ſeinen Kopf umfaſſen zu können, dabei leiſe fragend: „Aber lieben immer?!" „Immer!“ hörte ihn Konrad inbrünſtig beteuern, während er leiſe davonſchlich, die beiden ihrem Glück überlaſſend. Später, als die Racht ſich tief herabgeſenkt hatte, und alle drei durch den Garten gingen, blieb Egil am Tor der alten Kapelle ſtehen. „Meine Kirche“, ſagte er an⸗ dächtig und drückte die eiſerne Klinke nieder. Sie gab nach. Sie drehte ſich, als wäre ſie immer benutzt ge⸗ weſen, lautlos in den Scharnieren. Er trat ein. Sabine legte in plötzlicher Angſt die Hand auf ſeinen Arm: „Wenn ſie über dir zuſammenſtürzt!“ Mit einem großen fremden Blick ſah er ſie an. „Bau⸗ fälliges muß ſtürzen, damit Lebendiges wachſe“, ſagte er und ging mit feſten Schritten, die in dem leeren Raum dumpf widerhallten, dem Altar zu. Es raſchelte und knarrte in dem dunklen Gotteshaus. Vor den Fenſter⸗ höhlen hing der Sternenhimmel wie ein Vorhang. Da erhob ſich ſeine Glockenſtimme, vor der jeder andere Laut verſtummte: „Wahrlich, ich ſage euch, die Zeit iſt nicht mehr ferne, da ihr jubeln werdet, wenn Schwerter klirren, und jauchzen, wenn eure Herzen bluten, — da ihr weinen müßt, wenn die Grillen friedlich in euren Feldern zirpen, von keines Feindes eiſengeſchientem Fuße zertreten. „Ihr wollt den Frieden und ſucht die Sattheit? Wehe, wenn ihr ſie finden werdet! „Von der Seligkeit des Leids predige ich euch! Vom Schmerz, der großen, ewig fruchtbaren Mutter — 237 „Behaltet eure klingenden Rechenpfennige des Glücks, Ihr Armen! „Den verborgenen Schatz des Leids will ich heben. „Weihe deinen Sohn dem Kampf, du Gebärende! „Und deinen Geliebten der blutigen Wahlſtatt, tanzen⸗ des Mädchen!“ Die Glockenſtimme ſchwieg. Eine andere, ſtöhnende, klangloſe ſchien es zu ſein, die fortfuhr: „Ihr wartet, daß ich euch das Ziel gebe für eure Güte und den Geiſt für euer Streben — ihr wartet umſonſt — „Und daß ich euch den Gott offenbare, den unbekannten Gott, dem eure Altäre ſchon rauchen“ - Sabinens Hand krampfte ſich in Konrads Arm. Die Stimme, die aus dem Dunkel kam, war kreiſchend ge⸗ worden. Etwas ſiel polternd zu Boden, — Konrad ſtürzte nach vorn, ſtolpernd und ſchwankend, Sabine hinter ihm — „Ich kann es nicht — ich kann es nicht!“ ſchrie es gellend. Egil lag lang ausgeſtreckt auf dem Boden. Sie brachten ihn ins Haus. Tagelang verſchloß er ſich wieder in ſein Zimmer. Bis er eines Rachts wieder heimlich aus dem Fenſter kletterte. Konrad hörte das Geräuſch und ſchlich ihm nach. Egil aber wandte ſich um und ging ihm entgegen. „Gut, daß Sie kommen, es iſt Zeit“; — ſein Geſicht, das fahl und eingefallen war, wie ein Totenkopf, ver⸗ verzerrte ſich vor Entſetzen. Mit den Händen, an denen die Adern wie Stricke ſchwollen, wies er um ſich: „Sehen Sie — ſehen Sie, wie ſie mich verfolgen und verhöhnen“, flüſterte er heiſer, „Buddha und Chriſtus und Muhamed. Weil ich nichts — nichts weiß — was ſie nicht ſchon gewußt haben — Und dort — dort —“ er ſchlug ſtöhnend die Hände vor das Geſicht — „dort lauert das aus⸗ gemergelte Heer der Hungernden, dem ich — ich das Brot verſprach! 238 Ein Weinen, wie das eines wimmernden Kindes, er⸗ ſchütterte ſeinen Körper. „Jörun Egil“, ſagte Konrad mitleidig und ſuchte ihn fortzuführen. Das Weinen verſtummte. Die verzerrten Züge glätteten ſich. Er folgte ruhig. Konrad aber fand von da an keinen Schlaf mehr. Sabine, die ſich allmählich von dem Schrecken der nächtlichen Predigt zu erholen begann, wagte er von ſeinem Erlebnis nichts mitzuteilen, um ſo weniger, als Egils Verhalten ihr gegenüber ſie zu neuen frohen Hoff⸗ nungen berechtigte. So verurteilte er ſich denn ſelbſt zu der Rolle des geheimen Aufſehers. Er ließ Egil nicht aus den Augen; er folgte ihm des Rachts, ohne ſich von ſeiner ſcheinbaren Ruhe und Beherrſchung täuſchen oder von ſeinem Zorn einſchüchtern zu laſſen. Sabine vor dem ſchrecklichſten Erleben zu ſchützen, ſah er als die Aufgabe an, die er hier noch zu erfüllen hatte. Es war ein milder Septembertag mit mattem Sonnen⸗ ſchein. Silberne Rebel wogten vom See herüber und legten ſich bald feſt wie ein Mantel um Häuſer und Bäume, bald flatterten ſie wie graue Fahnen von Dächern und Wipfeln. Den Kirchturm umſchlangen ſie beſonders zärtlich: oft ſchien's als leuchteten weiße Arme unter ihrem zarten Gewebe hervor, als zeigten ſich winkende Hände. „Die Schleier der Seejungfern“, ſagte Egil, der ſchon am Rachmittag das Zimmer verlaſſen hatte; „immer, wenn ich müde war, umhüllten ſie mich; in keinem Daunen⸗ bett ſchläft es ſich beſſer.“ Und er ſah mit großen, offenen Augen in die Ferne. Freudeſtrahlend betrachtete ihn Sabine. „Das Licht tut dir nicht mehr weh, Jörun?“ frug ſie zärtlich. „Selbſt blendende Helle kann ich vertragen“, entgegnete er, ſie auf die Stirne küſſend. „Ich hätte Luſt, mit 239 Ihnen ſpazieren zu gehen,“ wandte er ſich an Konrad, „wir kennen uns noch zu wenig. Und ſie gingen im Walde einſame Wege, auf deren weichem Boden der Ton des Schrittes erſtarb. „Sie verfolgen mich, Baron“, begann Egil, als ſie außer Hörweite waren. „Warum? „Um Sie zu ſchützen! „Vor wem?! „Vor ſich ſelbſt! Egil zuckte lächelnd die Achſeln. „Und wenn ſie über⸗ zeugt werden könnten, ſtatt eines guten Werkes, ein böſes zu tun?“ Seine großen glänzenden Augen bohrten ſich förmlich in ſeines Begleiters Antlitz. „So würde ich es unterlaſſen“, entgegnete Konrad feſt. „Kennen Sie die Legende von den beiden Propheten? Konrad ſchüttelte den Kopf. Und der andere erzählte im Weitergehen, wobei ſeine Schritte den Rhythmus der Rede ſkandierten. „Es lebten einmal zwei Weiſe im Morgenlande. Sie kannten alle heiligen Bücher und wußten um alle Ge⸗ heimniſſe. Viel Volks folgte ihnen, Offenbarung und Wunder erwartend. Und der eine trat auf den Felſen und predigte laut. Da er aber geendet hatte, lachten, die ihm zuhörten, und ſchrien: Er verſprach uns Ent⸗ hüllung der Tiefen des Seins, und redet wie andere Prieſter. Sie zogen darauf jenem nach, der noch immer ſchwieg. Denn ſie lechzten ſehr nach Erkenntnis. Er aber entwich, hauſte in Höhlen und kaſteite ſich. Und viele, die ihm nachgegangen waren, wurden irre an ihm und ſuchten wieder den anderen, der inzwiſchen die Künſte der Magier und Taſchenſpieler gelernt hatte und der wachſenden Menge ſeiner Jünger Kieſel gab für Edelſteine. Rach den Tiefen des Seins grub indeſſen der Ein⸗ ſiedler mit blutigen Händen. Und er fand nichts, als was er ſchon kannte: Erde und Würmer. Der Hoffen⸗ 240 den vor ſeiner Höhle wurden immer weniger. Sie jammerten ihn, denn ihr Leid war groß. Sollte er ſie in Glaskugeln blicken laſſen und ihre Sehnſucht betrügen mit eitel Blendwerk? — Danach, als die Racht kam, wurde es ſehr ſtill in der Höhle und die Wartenden hatten große Furcht. Und eine aus ihrer Schar ſah, daß der Krug, den ſie an den Eingang zu ſtellen pflegte, — denn ſie liebte den Heiligen ſehr und ſchleppte ihm Waſſer und Brot zu durch die brennende Wüſte, — voll blieb und der Korb unberührt. Und ſie trat mit ihrer Lampe tiefer in das Dunkel und fand, daß er, deſſen ſie harrten, geſtorben war — Sie ſchwiegen beide, der Erzähler und der Zuhörende. Bis Egil plötzlich händeringend aufſprang und ſchrie: „Und wenn ich alle — alle betrügen könnte, — ſie nicht — ſie nicht!“ „Sie ſind noch jung,“ ſagte Konrad gepreßt, „Sie haben noch Zeit, noch Kraft - „Rein, nein!“ rief der andere, „ich gehöre zu denen, die alt geboren wurden! Und dann —“ ſeine Stimme ſank zum Flüſtern hinab und in ſeine Züge trat jener Ausdruck, halb Wildheit, halb Blödſinn, wie in der Racht, da er von ſeinen Verfolgern ſprach. Er drängte ſich dicht an Konrads Ohr: „In die Wände des Zimmers haben ſie Löcher gebohrt und glotzen hindurch mit runden Glasaugen. Auf der Straße folgen ſie mir und brüllen: Betrüger! Und aus dem See ſteigen die Geiſter empor mit den Polypenarmen - „Jörun Egil!“ mahnte Konrad. Der Phantaſierende zuckte zuſammen und kam langſam wieder zu ſich. „Sie ſind gut — ein Menſch — und ſtark“, murmelte er. Dann legte er ihm ſchwer beide Hände auf die Schultern und ſagte laut: „Graben Sie nie — nie — als bis zu den Wurzeln der Eintagspflanzen!“ Sie gingen den Weg zurück am Ufer in dichtem Rebel. Da, wo er zur Kapelle umbog, blieb Egil noch einmal Braun, Lebensſucher 16 241 ſtehen, zog ein Etui aus der Taſche, dem er eine kleine Spritze entnahm, und ein Fläſchchen mit einer kriſtall⸗ hellen Flüſſigkeit. „Kokain, —“ ſagte er mit bitterem Lächeln; „davon lebe ich. Wie hätte ich ſonſt die letzten Jahre ertragen können. Der erſte Tropfen davon iſt Rauſch — der letzte, Wahnſinn. Wiſſen Sie nun, daß Sie mich nicht mehr verfolgen dürfen? Statt aller Antwort umklammerte Konrads Rechte die ſeine. Und ſo, Hand in Hand, gingen ſie bis nach Hauſe. Am Morgen darauf war Egil verſchwunden. Eine alte Frau hatte ihn in der Racht zum See hinuntergehen ſehen, und ein Fiſcher, der im Morgen⸗ grauen hinausgeſegelt war, hatte einen einſamen Schwim⸗ mer verfolgt, bis er verſank. Der See gab ſeine Leiche nicht zurück. Als Konrad, der die verzweifelnde Sabine nicht einen Augenblick verlaſſen hatte, in München von ihr Abſchied nahm, einen letzten, langen, ſorgenden Blick auf ſie werfend, ſagte ſie, zum erſtenmal den ſchmerzverzogenen Mund zu einem Lächeln zwingend: „Fürchten Sie nichts für mich, lieber Freund. Ich glaube an das Geheimnis, das er mit ſich genommen hat. Ich werde weiter den Menſchen dienen.“ Unterwegs erreichte Konrad Hochſeß die Rachricht der ſchweren Erkrankung der Gräfin Savelli. 242 Siebentes Kapite! Von Konrads Pilgerfahrt und den Wundern der heiligen Fiorenza Ein feuchter, kühler Vorfrühlingstag. Auf der Chauſſee von Hochſeß nach Ebermannſtadt — der nächſten Eiſen⸗ bahnſtation — die über das kahle Hochplateau hinüber⸗ führte, ſtanden kleine, ſchmutzige Waſſerlachen; langſam fielen ſchwere Tropfen von den ſpärlichen blätterloſen Bäumen am Wege; in ihren Wipfeln ſaßen die Krähen und kreiſchten. Der Wind pfiff und fauchte hier oben ungefeſſelt über den ſteinigen, dürren Boden, den nur eine dürre Grasnarbe überzog. Das klägliche Blöken der Schafe, die die Ode ein wenig belebten, klang da⸗ zwiſchen. Aus den Dörfern liefen die Leute zuſammen; ſie ſtanden und warteten, die Frauen in Tücher gehüllt, blaß, die Augen blau umrändert, die Männer in dicken Jacken, in deren Taſchen ſie die roten Fäuſte vergruben. Märzkälte iſt unbarmherziger als Dezemberfroſt; ſie iſt ein asketiſcher Mönch, deſſen Zerſtörungswut keine Schönheit widerſteht; unter ihrer Berührung wird alles häßlich. Von fern her bimmelte ein Glöckchen, ein zweites, ein drittes antwortete. Es klang nicht, wie ſonſt Glocken klingen: jubelnd, tröſtend, feierlich; es klang wie gleich⸗ gültiges Geſchwätz. „Sie kommen! Sie kommen!“ rief ein pockennarbiger Bub und ſprang vom Apfelbaum im Wirtsgarten, auf dem er geſeſſen hatte. Der Straßenſchmutz ſpritzte hoch auf um ihn. Und die Reugierde erhellte die mißmutigen 16* 243 Geſichter. Reugierde — ſonſt nichts. Die Gräfin Savelli in dem Sarge dort, der ſich in rieſiger Silhouette vom Grau der geraden Chauſſee und des bleiernen Himmels näher und näher kommend abhob, war ja nur eine Fremde geweſen! „Vor rund zwanzig Jahren kam ſie her, ich weiß es wie heute,“ ſagte ein alter Mann, ſich umſtändlich in ſein großes, rotes Sacktuch ſchnäuzend, „ſchön war ſie und ſtolz wie eine Königin, ſchöner als die Frau Baronin, die ſchon damals kein Pfund Fleiſch mehr auf dem Körper hatte.“ „Grad' hier an derſelben Telegraphenſtange ſtand ich,“ ſiel die dicke Wirtin ein, „als der Herr Baron ſie vom Bahnhof holte. Mit vier Füchſen, rot wie ſein Bart, fuhr er, und knallte mit der Peitſche, daß mir vor Schreck der Korb aus den Händen fiel, und alle Apfel ihm unter die Räder rollten.“ „Er hat ſie dir wohl mit ſüßer Münze bezahlt — was?!“ johlte ein junger Burſche, das eitel und viel⸗ ſagend lächelnde Weib in die wulſtig hängenden Wangen kneifend. Das Lachen der Umſtehenden verſtummte jäh. Schwer ſchwankte der Leichenwagen, von ſechs ſchwarz gedeckten Pferden gezogen, vorüber. Von Kränzen war er um⸗ hängt; die armen Blumen darin, die, wenn ſie noch dem Erdreich verbunden ſind, den Regen freudig auf⸗ blühend als ſehnſüchtig erwartete Rahrung empfangen, aber unter ſeiner Berührung zum zweiten Male ſterben, ſobald ſie gebrochen wurden, hingen welkend die Köpf⸗ chen. Ein zweiter Wagen folgte. Sonſt nichts. Irgendwo bimmelte ein Glöckchen, — blechern und gefühllos. „Iſt auch der Mühe wert geweſen,“ brummte eins der Weiber; die anderen nickten, zogen die Tücher fröſtelnd enger um die Schultern und trotteten davon. Rur ein paar Kinder ſteckten noch eifrig tuſchelnd die Köpfe zuſammen. 244 „Habt ihr's geſehen“, ſagte der Große mit den Pocken⸗ narben grinſend, „der Satan ſelbſt fuhr hinterdrein in der Kutſche!“ Die Kleinen ſahen ängſtlich hinab, wo die ſchwarzen Wagen Schritt vor Schritt ſich weiter bewegten. „Grasaff', dummer!“ ſagte ein Mädchen, „der alte Giovanni war's mit dem jungen gnädigen Herrn. „Iſt's etwa nicht der Gottſeibeiuns, der grausliche Welſche?“ meinte eine andere und riß die Augen weit auf, wie märchentrunken. „Von wo käm's denn ſonſten, das ſchrecklich viele Geld auf Hochſeß? Die Grete, die Magd vom Schloß, hat dem Vater erzählt, in Tonnen hätt's der Alte aus dem Keller hinaufgetragen, als die Frau Gräfin geſtorben iſt, und die Baroneſſen ſeien kalkweiß geworden vor Schrecken.“ „Der Kaufpreis iſt's für Herrn Konrads Seele ⸗ lachte dröhnend der Pockennarbige, — er war ein Auf⸗ geklärter und glaubte ſchon längſt nichts mehr. Die Kinder ſtoben auseinander. Ein Mädchen mit flachsblondem Kraushaar und Augen, blaßblau wie das Stückchen Himmel, das eben mit zögerndem Lächeln zwiſchen den ſich ballenden Wolken hervorſah, blieb allein zurück. Sie war eine Katholiſche und ein lediges Kind obendrein, und die anderen Dorf⸗ buben und ⸗mädchen, die Standesunterſchiede ſtrenger aufrecht erhalten als Schloßherren und Damen, ſtießen ſie ſtets beiſeite. Mit zuckenden Lippen blickte ſie noch einmal den Wagen nach, die fern, wie ſchwarze Punkte, im Rebel ſchwankten. „Wie der Erzengel Michael ſchaut er aus,“ flüſterte ſie und preßte die verfrorenen Finger aufeinander, „Heilige Mutter Gottes, rette ſeine arme Seele.“ Durch die Racht ratterte der Zug. An ſchlafenden Dörfern, die in den Armen ihrer Felder und Wieſen friedlich ruhten, an Städten mit zahlloſen, immer noch 245 wachenden, weiß, rot und gelb glänzenden Fenſteraugen ſauſte er vorbei. Mit triumphierendem Fauchen — denn er, das häßliche Ungeheuer, hat ſie alle bezwungen: die ſtarren Felſen, die ſchimmernden Gletſcher, die träu⸗ menden Täler, die drohenden Schlünde — kroch er durch die Berge, ſchwang er ſich über die vom ſchmel⸗ zenden Alpenſchnee gelb ſchäumenden Waſſer. Seine Räder aber ſangen, als ob die gräßlich gigantiſche Schlange eine Seele habe. „Wir tragen die Toten zu Grabe — zu Grabe,“ klang es Stunden um Stunden unabläſſig in Konrads Ohren. Ob das Pärchen nebenan, das ſein junges Liebesglück unter Italiens Himmel führte, dasſelbe hörte, oder ob ſein koſendes Gezwitſcher die Trauerhymne übertönte, die der Gräfin Savelli kalten Körper in die Heimat geleitete? Konrad lag lang ausgeſtreckt auf dem ſchmalen Bett des Schlafwagens, das Fenſter weit offen. In ſchwarzen Schatten, ſchmalen, geſtreckten, und wuchtigen, breiten, flog die Landſchaft draußen an ſeinen müden Augen vor⸗ über; nur der Himmel ſtand ſtill, und die Sterne ſahen in ruhigem Ernſt auf das haſtende Leben tief unten. Langſam ſtieg der Zug zur Höhe des Paſſes empor; die Maſchinen ſtöhnten, die Räder vergaßen ihr Lied; vor Anſtrengung heulten ſie. Konrad richtete ſich auf; ein Froſtſchauer ließ ihn zu⸗ ſammenfahren; er ſah hinaus. Um dunkle Berggipfel, die ſich immer dichter und drohender zuſammenſchoben, ſtrichen Wolken wie tanzende Gigantengeſpenſter. „Das ſteigt und ſteigt, in der Hoffnung droben der Sonne näher zu ſein,“ dachte er, „und iſt die Höhe er⸗ reicht, ſo hat ſie nichts als Eis und Einſamkeit.“ Der Zug hielt. Er mußte Atem ſchöpfen. Dichte Schneeflocken umtanzten ihn. Wer von den Reiſenden ſie geſehen haben mochte, ſank ſicherlich raſch in die Kiſſen zurück, ſich nur noch feſter in die Decken wickelnd. 246 Konrad allein ſtieg aus. Wie wundervoll ſtill es war! So weich und ſanft, ſo lind und liebevoll ſank der Schnee, als breitete über ihr ſchlummerndes Kind die Hand einer Mutter die Daunendecke aus. Ein wildes Schluchzen, jäh und urſprünglich, daß der Wille, es niederzuzwingen, zu ſpät kam, drang aus Konrads Kehle. Eine Mutter! Er hatte niemand, — niemand mehr! — Er ſah ſie in Gedanken vor ſich, die mit ihm fuhren: Die jungen, verliebten Hochzeiter, das alte Ehepaar mit dem zufriedenen Lächeln derer, die einen ſorgenloſen Lebensabend erreichten, die beiden im Überſchwang des Daſeinsgefühls ſtrahlenden Freunde — ſie waren alle zu zweien, Freude und Sehnſucht glänzte auf allen Ge⸗ ſichtern; Ströme von Lebensfülle ſchien dies ferne Land an ſich zu ziehen, das einmal im Leben geſehen zu haben, jedes Deutſchen Sehnſucht war. Rur er war allein, nur ihm ſchlug das Herz in der Bruſt wie eine auf⸗ gezogene Maſchine, nur er geleitete eine Tote. Eine Hand berührte ſeinen Arm; Giovannis faltiges Antlitz tauchte neben ihm auf. „Raſch, Herr Baron, wir fahren weiter! — Und jetzt — jetzt geht es hinab!“ Ein gurgelnder Ton, wie von erſtickten Tränen, klang in der alten Stimme. Konrad ſah ihn an, ehe er in den Wagen ſprang; das Leuchten heller Verklärung lag über dem gelben Geſicht, und gab den Augen den Glanz der Jugend wieder. „Unten blühen die Mandelbäume! Seltſam, wie jetzt das Lied der Räder anders tönte, „Unten blühen — die Mandelbäume!“ wiederholten ſie. Und es war wie ein Tanz in die Täler hinab. Konrad ſchlief ein; roſenrote Blüten ſah er vom Himmel gaukeln, ſie miſchten ſich leiſe unter die Winter⸗ flocken, ſie wurden dichter, immer dichter, ſie verdrängten den Schnee, ſie hüllten die ganze Erde in ein Feſtkleid von Seide. 247 Und weiter und weiter ging die raſende Fahrt. Schſon wurden die Linien der Berge ſtarrer, feierlicher, wie von eines klaſſiſchen Künſtlers Hand gezogen; die ro⸗ mantiſche Zerklüftung wich und mit ihr die Lieblichkeit der Dörfer im Tal. Es waren nicht die roten Giebel⸗ dächer mehr, die zwiſchen Obſtbäumen und Flieder⸗ büſchen behaglich hervorlugen; grau, wie gewachſene Felſen, drängten ſich die Häuſer eng zuſammen, jeder Ort eine Burg. Breiter wurde das Tal. In ſchweren, gelben Fluten rauſchte die Etſch bergab. Die Berge, die finſter drohenden, treuen Wächter am Zaubergarten Europens traten zurück. Der blaue Himmel umſchlang zärtlich die grüne Ebene. Wie ſie ſich dehnte und reckte, wie ſie ſiegreich die letzten Hügel zur Seite drängte — ein einziges hoffnungsſtarkes Sehnen! Soweit das Auge reichte: ſaftige Wieſen, von niedrigen Weiden und Maul⸗ beerbäumen gleichmäßig durchzogen, die Ranken ſproſ⸗ ſenden Weins in anmutigem Schwung miteinander ver⸗ knüpften; dazwiſchen kleine Gärtchen um kleine Häuſer voll blauleuchtender Schwertlilien, und Alleen königlich ſtolzer Pappeln. Konrad riß Fenſter und Türe auf. Fuhr er wirklich mit einer Toten?! „Ich werde dich nach Hauſe führen“, hatte ſie wieder und wieder geſagt, laut und angſtvoll, leiſe und hoff⸗ nungsfroh, während das Fieber ihre Sinne verwirrte und ihr Körper, leidenſchaftlich an das Leben ſich klam⸗ mernd, mit dem letzten Überwinder rang. Sie hatte ge⸗ lacht, triumphierend, wie eine ſiegende Amazone gelacht haben mochte, als ſie ihn in die Flucht geſchlagen zu haben glaubte, und die Krankheit wich. Doch heim⸗ tückiſch war er durch Hintertüren wieder eingeſchlichen, hatte ſich einen eiſigen, ſturmdurchtobten Winter und einen grauen, naſſen Frühling zu Helfern geholt, und die ſtolze Frau, da er ſie in offener Schlacht nicht hatte treffen können, wie ein Meuchelmörder rücklings überwältigt. 248 „Ich werde dich — nach Hauſe führen“, waren ihre letzten Worte geweſen. Und führte ſie ihn nicht heute? War ſie nicht neben ihm und in ihm? Oder war es nur das mütterliche Blut, das in ihm aufrauſchte und in ſeinen Ohren brauſte und ſang? Ihm war, als ſpränge plötzlich ein Eiſenband über ſeiner Bruſt, das er, von Geburt an daran gewöhnt, niemals geſpürt hatte. „Verona —“ der Zug hielt: ein kleiner, öder Bahn⸗ hof, die Stadt ſehr fern, in blendendes Licht getaucht, hinter ihr ein geſtreckter Hügel, und aufſteigend an ihm in geraden ſchwarzen Strichen zwei Reihen dunkler Zypreſſen. Führten ſie vielleicht zu Julias ſagenumwobe⸗ nem Sarkophage? Oder liegt ſie tief und heimlich im Arm des Todes wie einſt an der Bruſt des Geliebten? Wie hatte doch einmal jener berühmte Berliner Kritiker doziert, als ſie nach einer Vorſtellung von Shakeſpeares Liebesdrama im Kaffeehaus ſaßen und Konrad ſeinem Arger über den Darſteller Romeos, der die klingenden Verſe des Dichters heruntergeſchwatzt hatte, als gelte es, in einem parfümierten Salon von Berlin⸗W. geiſt⸗ reiche Konverſation zu machen, Ausdruck gab. „Mit ſolch einer Geſtalt kann ein moderner Menſch überhaupt nichts mehr anfangen. Mutet uns nicht die ganze Geſchichte an, als ob man Erwachſenen ein Weih⸗ nachtsmärchen vorſpielen wollte? Die Zeit dürfte nicht mehr fern ſein, wo ein moderner Menſch für die Sen⸗ timentalitäten der Liebe nur noch ein Lächeln übrig hat, wo man ſich des ſogenannten Bedürfniſſes nach ihr ent⸗ ledigt wie anderer animaliſcher Funktionen, und mit ruhiger Bewußtheit Kinder zeugt auf Grund wiſſen⸗ ſchaftlicher Unterſuchungen und Prognoſen. Riemand widerſprach ihm damals; wenn er ſich zu ſo einer langen Rede herbeiließ, galt, was er ſagte, wie ein Orakelſpruch. Dunkle Schamröte ſtieg Konrad in Erinnerung daran in die Stirne, — denn auch er hatte geſchwiegen! 249 Wie weit lag ſie hinter ihm, die entgötterte Welt! Die Sonne ſtand jetzt im Zenith. In breiten ſilbernen Waſſern ſpiegelte ſie ihr glühendes Angeſicht. Es war, als verlange ſie ſehnſüchtig danach, in der geheimnisvoll ſtillen Tiefe zu verſinken. Schwere, dunkle Mauermaſſen ſtiegen aus ihnen empor. Mit vergitterten Fenſtern — geſchloſſenen Pforten. Graue Paläſte; die Steine wie von harten Fäuſten grimmig aufeinandergefügt: Mantua. Verſe Virgils — längſt vergeſſene Verſe — zogen im gleichmäßigen Takt des Hexameters durch Konrads Er⸗ innern. Unter dem hellen Licht, das draußen von Himmel und Erde ſtrahlte, ſanken die Lider ihm tiefer über die Augen. Er ſah Iſabella d'Eſte, die göttliche. Ob ſie hinter den verſchwiegenen Mauern dort, in einer heimlichen, heißen Stunde nicht doch dem Allbeſieger Ceſare zu eigen geworden war? Gehörten ſie nicht zuſammen, dieſes Weib und dieſer Mann? Wog eine Stunde überſtrömen⸗ der Luſt, die ihnen gemeinſam gehörte, nicht die kärg⸗ lichen Freuden eines ganzen Lebens auf? Durch die ge⸗ ſchloſſenen Lider meinte er an ihren weißen Händen die grünen Smaragde wie Schlangenaugen leuchten zu ſehen. Feucht und heiß ſtrich die Luft der Muränen um ſeine Stirne. Tief in ihrem Moorgrund ſtand die Totenurne Livias, der großen Hetäre: unter den Küſſen ihres Ge⸗ liebten war ſie geſtorben, in ihr Todesröcheln hatten ſich die Seufzer beſeligter Liebe gemiſcht. Konrad hörte das Rattern der Räder nicht mehr. Schwer lag die Hitze auf ſeinen Gliedern und lullte ihn ein. Auch ſeine Träume waren ſchwer, — er hörte die Tote mit harten Knöcheln an den Sargdeckel ſtoßen. In einen Schrein aus Glas bei offenen Fenſtern hätte man ſie betten ſollen, denn ihre Augen, ihre großen Augen ſuchten ſehnſüchtig das Licht. Und dann ſaßen ſie plötzlich neben ihm — alle drei: Elſe, hauchdünn und zerbrechlich, den ganzen Arm voll 250 weißer Huppen mit goldenen Krönchen im Flachshaar, — Renetta, im Ballkleid, die weiße Seidentaille voll ſchmutziger Fingerſpuren; Leonie, als wäre ſie eben aus dem Bade geſtiegen, das Waſſer hing noch in ſilbernen Perlen an ihrem ſchwarzen Trikot. Was wollten die?! Er war ja fort — weit fort — mit einer Toten —. Ein tiefer Seufzer der Befreiung hob ſeine Bruſt. Er erwachte. „Bologna!“ klang es kreiſchend von draußen an ſein Ohr, und hin und her eilende Schritte und Ge⸗ lächter und Geſchrei! Er ſah auf: wie fröhlich bewegt hier die Menge war! Auf einem deutſchen Bahnhof ſetzte jeder eine geſchäftsmäßig⸗trübſelige Miene auf. „Chianti, Herr Baron!“ In der einen Hand das volle Glas, in der anderen die ſtrohumſponnene Flaſche, ſtand Giovanni vor ihm. Seine Augen blickten verklärt, ſeine zuſammengeſchrumpfte Geſtalt ſchien ſich mit jeder Sta⸗ tion mehr gereckt zu haben. Jedem Vorüberhaſtenden warf er ein paar Worte zu und lächelte entzückt, wenn er als Antwort immer wieder die gleichen Laute der eigenen geliebten Sprache vernahm. In langen Zügen trank Konrad den roten Wein. Hatte er nicht einmal jedwedem Alkohol abſchwören wollen — aus ſozialen Gründen, des guten Beiſpiels wegen? Wie unlebendig, wie nicht zu ihm gehörig, erſchien das alles, — Staub, der, alle bunten Erdenfarben verhüllend, auf Blättern und Blüten lag, und den der hervor⸗ brechende Sturzbach des Lebens hinwegſpülte. Er hob das Glas. Die Menſchen auf dem Bahnhof lachten ihm zu. „Eviva Bologna la grassa!“ rief ein alter Pack⸗ träger luſtig. Bologna? Hatten ſie nicht hier König Enzio, den jungen bis an ſein Ende, faſt drei Jahrzehnte lang, gefangen gehalten? Ein prunkender Palaſt, deſſen hohe Säle von ſeinen Liedern widerhallten, war ſein Kerker geweſen, die roſigen Arme, die blauſchwarzen Haare Lucia Viadagolas ſeine Ketten! Und hatte nicht hier 251 Rovella d'Andrea die Rechte gelehrt, deren Schüler in Liebeswahnſinn raſten, wenn ſie nur einmal den Schleier von den brennenden Augen hob? Konrad ſtrich ſich über die Stirne: er geleitete eine Tote und Bilder heißen Lebens verfolgten ihn. Die Luft ſchien erfüllt von jenem Frühlingszauber, dem ſich alles Lebende unterwirft, jeder Strahl der Sonne ein Pfeil des allbeherrſchenden Gottes. Giovanni ſtand auf dem Gang vor dem Kupee ſeines Herrn. Er riß unermüdlich die Fenſter hinauf und herab, je nachdem der Zug im Dunkel der Tunnel verſchwand oder wieder emportauchte. Von einer einzigen Farbe goldigen Grüns überzogen, leuchteten die Berge; ſie waren vor kurzem kahl geweſen wie Greiſenhäupter, jetzt ſproßten ſie von jungen Eichen, ſtolz der geſicherten, mit feſten Wurzeln in ihrem üppigen Schoße ruhenden Zukunft. Aufblitzend, wie Traumbilder zwiſchen den Tunneln öffneten ſich tiefe Täler, ſchwangen ſich in kühnem Bogen hohe Viadukte über brauſenden Berg⸗ bächen. Weiße Häuſer, graue Wehrgänge um alte Schlöſſer, eng wie Lämmer einer Herde zuſammenge⸗ ſchmiegte Hütten tauchten minutenlang auf und ver⸗ ſchwanden wieder. Giovanni kannte jeden Weg, jeden Ort; er erzählte und merkte kaum, wie die Menge der Zuhörer um ihn her wuchs. Dort hatte die blaſſe Lina, des Lehrers Tochter, ihm ſelber den Wein geſchenkt für ſein Spiel mit den Glas⸗ kugeln; dort hatte die ſtolze Marqueſa ihm einen Sack voller Silberſtücke zugeworfen, als er den ſchwindelnden Weg um die alte Schloßmauer in langen Sätzen zurück⸗ gelegt hatte; dort, dicht unter dem Holunderſtrauch gab ihm die braune Loretta den erſten Kuß für den kecken Tanz durch die Meſſer. O, er war ein ſchmucker, ſchlanker Burſche geweſen! Es gab eine Zeit, da ſchlief er keine Racht in dem gelben Wagen, da betteten ihn zärtliche 252 Hände auf weiches Moos, unter Roſenhecken und Gly⸗ zinienlauben, auf buntgewürfeltes Bettuch und auf ſpitzen⸗ überſäte Daunenkiſſen —. Hier verſtummte er jäh, — in Träume verſunken. Plötzlich belebten ſich ſeine Züge wieder; ſein Auge, un⸗ ruhig flackernd, haftete an einem fernen weißen Punkt. Er umklammerte Konrads Arm mit den harten Knochen⸗ fingern. „Dort —“ kam es aus ſeiner Kehle, „dort ſtürzte ich zum erſtenmal! — Der Gendarm, der Schurke, hatte mein Weib um die Hüften gefaßt!“ Und dicht an Konrads Ohr: „Mein linker Arm zerbrach — mit der rechten Hand ſprang ich ihm an die Kehle, daß das Blut ihm aus Mund und Raſe troff und die Augen ihm aus den Höhlen traten —. Der nächſte Tunnel verdunkelte wieder das ferne Bild: ſcheu und erſchreckt waren die Paſſagiere wieder zu ihren Sitzen zurückgegangen. Konrad ſtreichelte des Alten eingeſunkene Wange. „Wann war das, Giovanni?“ frug er leiſe. „Wann? Wann?! —“ Er richtete ſich ſtraff auf, ein irres Lächeln um die ſchmalen blutleeren Lippen. „Vor hundert Jahren vielleicht! Sie haben mich ja zu ſchwerem Kerker verurteilt. Sitzen wir nicht beide drinnen — du und ich?! Lange blieb es ſtumm zwiſchen ihnen. Der Alte ſchien zu ſchlummern. Plötzlich fuhr er empor, — der Zug hatte ſich wieder tief in die Berge gebohrt. „Bambino mio,“ rief er „nun werden wir ſie wieder⸗ ſehen — ſie!“ Und er riß im erſten Strahl neuen Lichts das Fenſter hinunter. „Santa Fiorenze!“ ſchrie er auf und ſank in die Knie. Hoch oben hielt der Zug; er ſchien zu zögern, als habe auch er ein ſehendes Auge, ein pochendes Herz, denn unten im Tal, vom nahenden Abend in feine violette Schleier gehüllt, lag ſie, die Unſterbliche, die 253 ewig Sieghafte. Die Hügel wölbten ſich, den Linien ihres Körpers folgend, weich um ſie; ein Band von Gold umſchmeichelte ſie der Fluß und, anbetende Ritter, knieten die Berge vor ihrer lächelnden Schöne. Kein Wort mehr ſiel zwiſchen den beiden Reiſenden. Sie waren nicht Herr und nicht Diener. Rur zwei betende Pilger an der Schwelle des Heiligtums. Wenn Konrad in ſpäteren Jahren an ſeine Ankunft und die erſten Stunden ſeines Aufenthalts in Florenz zurückdachte, ſo war ihm, als erinnere er ſich nur ein⸗ zelner Bilder eines Traums, deren Zuſammenhänge ſeinem Gedächtnis vollkommen entſchwunden waren: er ſah, wie die ſchwarzvermummten Geſtalten der Brüder von der Miſericordia, — deren Köpfe unter ſpitzen Kapuzen, deren Geſichter unter ſeidenen Masken ver⸗ ſchwanden, — den ſchweren geſchnitzten Sarg davon⸗ trugen; er fühlte, wie er mit geſchloſſenen Augen in der Ecke des Wagens ſaß, ſo überwältigt von der Empfindung, in Florenz, der Stadt ſeiner Ahnen, ſeiner Kindheits⸗ träume, ſeiner tiefen, ihrer ſelbſt faſt unbewußten Sehn⸗ ſucht zu ſein, daß er außerſtande war, in dieſem Augen⸗ blick ihr lebendiges Bild in ſich aufzunehmen. Und dann war ihm geweſen, als ſchliefe er, ein kleiner Knabe noch, im Arm der Mutter und hörte ihre Stimme, die längſt verklungene, leiſe, leiſe ſingen: Fata la nanna ché possa dormire! II letto gli sia fatto di viole Ce lenzuola di quel panno fine A la coltrice di penne di pavone. Bis ihn eine Empfindung, halb Wonne, halb Ent⸗ ſetzen, emporgeriſſen hatte, denn greifbar deutlich klang es ihm jetzt ins Ohr: Fate la nanna che possa dormire! — 254 In einer ſchmalen Straße fuhren ſie; düſtere Paläſte faßten ſie zu beiden Seiten ein; geſchloſſene Fenſter ſtarrten wie tote Augen. Und plötzlich ſtand hinter einer ſehr hohen Mauer, drohend wie die Lanze eines Rieſen, eine einſame Zypreſſe vor dem dämmernden Abendhimmel. Die Mauer aber wuchs, der Garten dahinter ſandte nur wenige blütenloſe Zweige über ihre ſchwarze Wand in die gähnende Tiefe der Straße. Und dann, wo ſie am engſten war, hatte der Wagen mit einem harten Ruck ſtille geſtanden: Zu mächtigem Bauwerk ſchichteten ſich gewaltige, rauh behauene Steine, ein düſterer Torweg öffnete ſich dazwiſchen wie ein Höllenrachen und ganz oben über dem finſteren Kon⸗ dottieri⸗Antlitz des Hauſes ragte das ſchwarze Dach wie ein Eiſenhelm. Über einen Hof war er gekommen mit gedrungenen Säulen unter gewölbtem Kreuzgang und finſteren Schatten, die wie Klageweiber in den Winkeln hockten; — durch Flure — hoch wie Kamine — in ein Zimmer, das vier Lampen nicht zu erhellen vermochten. „Das Zimmer der Gräfin Lavinia Savelli —“, hatte irgendeiner geſagt. Seiner Mutter Zimmer! Weiße und rote Flieſen deckten den Boden, ſchwarz zogen ſich an der Decke die Balken hin, unter dem gewaltigen Kamin kauerten Karyatiden. Er kannte alles — er mußte es ſchon einmal geſehen haben! Auch den Blick aus den Fenſtern mit der verwitterten Sandſteinfigur — ein Erzengel oder ein Kriegsgott? — auf der Mauer drüben, die aus der Tiefe der Straße ſtieg, dem verwilderten Garten, den Dächern ferner Häuſer dahinter und dem Hügel, deſſen Umriß im dunklen Blau des Himmels verſchwamm, kannte er. Aber wo waren nur die Gobelins an den Wänden mit Andromedas Geſchichte, die ſich durch der Mutter Mädchenträume gezogen hatte, mit dem rotblonden Be⸗ freier Perſeus, der ſeines Vaters Züge trug? - 255 Er hörte noch den Widerhall der Schritte in vielen matterleuchteten leeren Räumen, durch die man ihn ge⸗ führt hatte und ſah den Saal mit dem verſchliſſenen roten Damaſt an den Wänden, den Oldruckbildern über ſeinen Löchern und den dünnbeinigen Goldſtühlchen vor den Kaminen, die das Spielzeug mit höhniſch aufgeriſſenen Mäulern zu verſchlingen drohten. — In Marmorſäulen ſpiegelte ſich das rote Licht von hundert gelben Kerzen, durch Weihrauchnebel blinkte in der Riſche des hohen Chors das aus Tauſenden bunter Steine zuſammengeſetzte Bild des Gottesſohnes; wie lauter Regenbogen leuchtete durch Fenſter aus orienta⸗ liſchem Alabaſter die Morgenſonne auf den dunklen Sarg, um den in weißen Gewändern viele kniende Ronnen beteten. Sie hatten Pſalmen geſungen mit hellen Knaben⸗ ſtimmen, wie Hymnen Apolls. Und die Prieſter hatten geſprochen wie Seher in fremden Zungen, deren Ton⸗ fall nur, — ein Rauſchen und Raunen aus der Tiefe — ins Ohr drang. Und in das dunkle Gewölbe der Krypta war der Sarg verſchwunden zwiſchen den zierlichen Säulen, die einſt der Demeter Tempeldach getragen hatten. In ſtillem Gebet waren ſie alle in die Knie geſunken — alle, die der Gräfin Savelli das letzte Ehren⸗ geleit gegeben hatten: Männer mit Geſichtern wie aus altem Elfenbein geſchnitzt, Frauen, deren matte Haut die Sonne Italiens durchglutete. Über Jahrzehnte des Fernſeins und des Vergeſſens ſpannten ſich zwiſchen ihnen und der Toten die uralt heiligen Bande des Bluts. Und als der Enkel, der große, blonde, der ihre Augen hatte, allein, verſteint, die Stufen zum Schiff der Kirche, aus deren geſchloſſenen Pforten die Racht noch nicht gewichen war, wieder aufwärts ſtieg, folgten ſie dem Voranſchreitenden, eine Geleitſchaft in das Leben. 256 San Miniato al Monte's Bronzetüren — aus dem Heiligtum Jupiters an das ſonnengeweihte Heiligtum Chriſti verſetzt — ſprangen auf. Und von da an wachte Konrad Hochſeß. Als wolle ſie triumphierend von allem Lebendigen wieder Beſitz ergreifen, ſtrömte die Sonne in die Finſter⸗ nis und, gebadet in ihrem Licht, lachte die ſelige Stadt zu denen empor, die ihrem Schoße die Tochter zurück⸗ gegeben hatten. Konrad ſtand wie betäubt. Bis eine Stimme in den Lauten der eigenen Sprache — aber mit dem weichen Akzent des Italieniſchen — zu ihm ſagte: „Ihr Mutterland!⸗ Rorina Camaldoli war es, die mit ihm redete. Graf Savelli, der Reffe der Begrabenen, der nach dem Tode ihres ohne männliche Rachkommen verſtorbenen Gemahls den alten Palazzo in der Via de Bardi über⸗ nommen hatte, und mit ſeinen Kindern, dem Grafen Carlo — Leutnant im Regiment Torino — und ſeiner verwitweten Tochter, der Marcheſa Rorina Camaldoli bewohnte, ſtellte den deutſchen Vetter den Verwandten vor. Seinem Vater waren ſie, ſoweit ſie ihn perſönlich gekannt hatten, nicht freundlich geweſen. Er war ein Fremder, ein Proteſtant. Mehr noch, als daß Lavinia die Seine geworden war, hatte es ſie gewurmt, daß ihm der Reichtum der Gräfin Savelli, den dieſe ihrem Gatten als Conteſſa Buondelmonte mit in die Ehe gebracht hatte, zuſiel. Aber Konrad war ein anderer, Konrad war ihres Bluts, und ſeine ſchlanke Schönheit, ſeine tief gebräunte Haut, ſeine dunklen Augen zeugten da⸗ von, und erinnerten in nichts an den deutſchen, bauernhaft derben Ritter, als der ihnen ſein Vater erſchienen war. Die Buondelmonti waren beſonders zahlreich erſchienen. Viel Blondheit war unter ihnen, viele, ein wenig wäſſerige Braun, Lebensſucher ² 257 blaue Augen. Der jetzige Senior der Familie hatte eine Amerikanerin geheiratet, die ihre Verwandten um ſich hatte, ein zierliches Mädchen unter ihnen, das Konrad mit kühlen, ſehr neugierigen Augen faſt zudringlichmuſterte, während Carlo Savelli ſich lebhaft bemühte, ihre Auf⸗ merkſamkeit auf ſich zu lenken. Als Konrad allen die Hand geſchüttelt, mit allen ein paar Worte gewechſelt hatte — „wahrhaftig, Sie be⸗ ſchämen uns durch Ihr vollendetes Italieniſch; wir lernen leider nur wenig fremde Sprachen, —“ ſagte ihm dabei jemand, und er hatte lächelnd erwidert: „Sie vergeſſen, daß es meine Mutterſprache iſt“, — führte ihm Rorina Camaldoli einen kleinen alten Mann in ſchäbigem Rock und altmodiſchem Zylinder zu, den die anderen ängſtlich zu meiden ſchienen. „Der Marquis Ritorni hat Ihre Mutter gekannt“, ſagte Rorina. „Ich habe ſie ſehr geliebt,“ flüſterte er mit zitternder Stimme, Konrad eine welke Hand reichend, „Sie haben ihre Augen.“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, trip⸗ pelte er eilig, faſt ängſtlich davon. Auf der Heimfahrt ſagte der alte Graf vorwurfsvoll zu ſeiner Tochter: „Wie konnteſt du Ritornis Taktloſigkeit, unter uns überhaupt zu erſcheinen, auch noch unterſtützen? „Iſt's eine Schande, daß er arm iſt?“ entgegnete ſie nicht ohne Schärfe. „Aber —“ fiel der Bruder ein. „Ich weiß,“ unterbrach ſie ihn, „was du ſagen willſt: er wurde es durch eigene Schuld, hat ſein eigenes Ver⸗ mögen und das anderer verſpielt und vertrunken. Iſt er, der die Folgen ſeiner eigenen Taten zu tragen hat, nicht bemitleidenswerter als einer, der ſich als unſchul⸗ diges Opfer gebärden kann? „Ich werde ihn beſuchen“, ſagte Konrad raſch, Ro⸗ rinas blaſſe, ſchmale Wangen überzogen ſich mit einem feinen Rot. 258 „Das wird kaum angehen“, meinte der alte Grat. „Ich will nicht davon ſprechen, ob er Ihnen noch einen Stuhl würde anbieten können, — ſeit Jahren verſucht er vergebens ſeinen Palazzo zu verkaufen; man wird heute nur durch alte Villen reich, um ſo mehr, als ſie natür⸗ lich alle Medizeervillen ſind! — aber ſeine Häus⸗ lichkeit iſt doch — nun, ſagen wir milde: etwas merk⸗ würdig.“ „Ich glaube, man ſpricht in Deutſchland offen von dieſen Dingen, Papa“, ſagte Rorina lebhaft, ſich dann an Konrad wendend. „Ritorni lebt mit der Frau, die, als er jung war, ſeinen Ruin herbeiführen half. Er iſt ihr und ſie ihm treu geblieben. Der Wagen hielt. Im Ausſteigen ſagte Konrad zu Rorina: „Ihre Mitteilung hat meinen Vorſatz nur be⸗ ſtärkt.“ Sie ſtand jetzt neben ihm, ſo groß wie er; ſie konnte ihm, ohne den Blick zu heben, gerade in die Augen ſehen, und tat es mit einer offenen Wärme, die ſich ſonſt ſo tief hinter dem Ausdruck hochmütig abwei⸗ ſender Kälte verbarg, daß ihr Vorhandenſein bezweifelt werden konnte. Sie gingen über den Hof, der ſelbſt unter dem blauen Mittagshimmel dämmerig war. Konrad fuhr ſtreichelnd über die kühle, glatte Fläche einer der Säulen. „Wie ſchön ſie iſt!“ „Richt wahr!“ lächelte Rorina, „und mit mütter⸗ licher Kraft und Güte trägt ſie, was ihr auferlegt wurde.“ Sie ging weiter die Steintreppe mit den niedrigen, breiten Stufen hinauf. Hut und Mantel hatte ſie ab⸗ genommen; das Licht ſpielte in blauen Reflexen auf ihrem ſchwarzen Haar, das, ſchlicht geſcheitelt, das ſchmale Oval ihres Geſichts umgab, und ſich hinten über dem ſehr weißen, vielleicht ein wenig allzu langen Hals in einen ſchweren Knoten ſchlang. Das lange, ſchwarze Kleid hatte ſie etwas gehoben; mit hoher 17* 259 Biegung des Spanns traten die ſchlanken Füße darunter hervor. Ihr im Steigen geneigter Oberkörper gab eine ſo weiche Linie, wie ſie nur dann möglich iſt, wenn er nie eines künſtlichen Halts bedurfte. Konrad ſah das alles nicht. Sein Auge hing mit einem erkennenden Staunen an ihrem Antlitz: der ungewöhnlich hohen Stirn, den fein gezogenen Augenbrauen, der kleinen Raſe, die viel⸗ leicht etwas zu breit, dem vollen Munde, der vielleicht etwas zu groß war. Das kannte er doch alles! Das hatte er geſehen! Und mehr als das: erlebt, emp⸗ funden! Er verfiel wieder in den dumpfen Traum des erſten Tages. Da hörte er einen Schrei — und gleich danach einen zweiten: Giovanni, der eben zur Türe am Ende der Treppe herausgetreten war, lag zu Füßen Rorinas, den Saum ihres Kleides an die Lippen preſſend. „Monna Lavinia!“ rief er, „Monna Lavinia“, einmal und noch einmal; die ganze Skala menſchlicher Emp⸗ findung lag in ſeinem Schrei; Entſetzen und Glückſelig⸗ keit, Hingebung und Leidenſchaft. Rorina hatte im erſten Schreck beide Hände an das Herz gepreßt. „Mein alter Diener“, rief er ihr zu, — er entſann ſich dunkel, geſtern, am Abend der Ankunft, jenem ſeltſam verworrenen, unwirklichen Abend, von ihm erzählt zu haben, — „Ihr wißt! Und ſie beugte ſich barmherzig über den Knienden und ſagte: „Steht auf, Giovanni! Ich bin's, Norina Camaldoli — die Richte Eurer toten Herrin. Er erhob ſich mühſam, dicke Tränen rollten durch die Furchen ſeiner Wangen. „So gütig war auch Monna La⸗ vinia zu mir armen, alten Narren“, murmelte er, der ſchönen Frau nachſtarrend, wie ſie, ihm noch einmal freundlich zunickend, hinter der Türe verſchwand. Gebeugter als ſonſt, mit ganz vergrämten Zügen, er⸗ ſchien er am Abend bei ſeinem Herrn. Stumm und 260 ſeufzend ſchlich er zwiſchen den Koffern und dem Schrank — einem nußbaumartig polierten Möbel mit Muſchelaufſatz, das verloren an einer Wand des rieſigen Raumes ſtand, — hin und her, um Konrads Abend⸗ kleidung zurecht zu legen. „Fehlt dir etwas?“ frug ihn dieſer. Er ſchüttelte den Kopf. Erſt nach einer Weile, während er den Armel Konrads gedankenverloren ſtets an derſelben Stelle bür⸗ ſtete, fand er die Sprache wieder. „Die Pferde vor dem Wagen, der uns holte,“ begann er ſtockend, „gehören dem — Droſchkenkutſcher nebenan. Und der Portier mit dem weißen Bart hat — im Sou⸗ terrain des Palazzos ſeine — Schuſterwerkſtatt!“ Konrad legte dem Alten die Hand auf die Schulter: „Wir werden davon — nichts bemerken, Giovanni! ſagte er eindringlich. Der ſah auf, ſeine kleinen Aug⸗ lein ſprühten förmlich. „In Goldbrokat ſollte Monna Lavinia gehen und unter einem Thronhimmel aus blauer Seide ſitzen!“ rief er pathetiſch. Auf der Suche nach dem roten Salon, den Carlo Savelli die „Hall“ zu nennen pflegte, verirrte ſich Konrad in den vielen Gängen und Zimmern zwiſchen auf und nieder führenden Treppchen und Stufen. Als vor Jahrzehnten die Uferſtraßen am Arno ge⸗ ſchaffen wurden, büßte der Palaſt, um an ſeiner Rück⸗ ſeite der Via Torrigiani Platz zu machen, einen guten Teil ſeines Umfangs ein, und es entſtauden ſeltſame Winkel und Kammern in ſeinem Innern. An einer davon, deren Türe offen ſtand, kam Konrad vorbei. Sie war dreieckig, zwei ihrer Wände waren mit farben⸗ leuchtenden Fresken bemalt, von deren Geſtalten man freilich nur die untere Hälfte ſah, denn eine neue Decke war quer durch den Raum hindurchgeführt, ſo daß den Menſchen Köpfe und Oberkörper, den Pferden die Hälſe, den Bäumen die Kronen fehlten. Durch den üppigen Leib eines liegenden Weibes war ein Fenſter 261 gebrochen, in den Brüſten nackter Rymphen ſtacken eiſerne Riegel mit alten Kleidungsſtücken daran; auf ſchmaler Feldbettſtelle aber lag der alte Graf Savelli und ſchlief. Ein dickes, altes Weib goß friſches Waſſer in den kleinen Blechnapf auf dem Waſchſtänder. Konrad eilte vorüber. Im Salon, den er endlich er⸗ reichte, erwarteten ihn die Geſchwiſter. Sie ſchienen eine Auseinanderſetzung gehabt zu haben, denn Rorina war ſtill und blaß; Carlo dagegen ſehr rot und von forcierter Luſtigkeit. „Übrigens traf ich Vanroſendahls beim Tee,“ ſagte er; „ſie baten darum, ob du und Papa ſie morgen nach⸗ mittag empfangen wollt, was ich natürlich ohne weiteres zuſagte.“ „Natürlich!“ wiederholte Rorina hochmütig. „Wie alles für uns natürlich ſein muß, was dieſe hergelaufene Geſellſchaft wünſcht! Vanroſendahl! Wie das klingt! Der Vater, den ſie dunkel halten, hieß ſicher Roſenthal und ſtammt aus Galizien.“ Konrad ſuchte einzulenken, denn er ſah, daß der kleine, lebhafte Graf ſich nur mühſam beherrſchte. „Nach dem Wenigen, was ich durch die Großmutter weiß,“ ſagte er, „hat Florenz den Engländern und Ameri⸗ kanern einiges zu verdanken „Eine Gräfin Savelli,“ entgegnete ſie raſch, „ſollte das behauptet haben?! Ich glaube, Sie wollen nur meinen Bruder ſchützen! Oder halten Sie es für dankenswert, daß jedes Stubenmädchen ein paar Brocken engliſch lernt, daß jede Öſteria ſich in einen Tearoom zu ver⸗ wandeln droht, daß ein Künſtler von der Würde und Tiefe wie Fra Angelico in der ganzen Welt mit der fürchterlichen Bezeichnung „ſüß“ abgeſtempelt wird, weil er auch ein paar goldhaarige Engelsköpfchen malte, daß Botticellis tragiſche Madonnen mit dem ſentimental⸗ verlogenen Ausdruck der Schönen eines Burne⸗Jones auf Broſchen und Gürtelſchnallen prangen, daß die 262 Stätten, wo ein Palla Strozzi, ein Magnifico, ein Boccaccio lebten — um aus der Maſſe nur dieſe wenigen herauszuheben — Italien von ihnen geſtohlen wurden! — „Aber Rorina“, fuhr der Bruder auf. Ihre Bruſt hob und ſenkte ſich in ſtürmiſchen Atemzügen, und ſie fuhr fort, im Saale, den ihre Stimme ganz erfüllte, hin und her gehend. „Meinſt du, es heißt weniger ſtehlen, wenn man einem Lande ſeine Heiligtümer mit Goldſtücken abſchachert? Und die ehrwürdigen Denkmale unſerer heroiſchen Ver⸗ gangenheit, — die nicht die der Medizeer, ſondern die der Ritter vor ihnen geweſen iſt — die Ruinen auf den Felſen und Bergen, die Zyklopen errichteten aus dem Inſtinkt von Schönheit und Größe heraus, bauen ſie mit Hilfe ihrer gelehrten Architekten — armſeliger Grundrißſchnüffler — zu leeren Theaterdekorationen wieder auf, ſie mit alten Geräten füllend, denen ſie bis in die Häuſer der Bauern nachgehen, und die für ſie nichts ſind, als Schauſtücke ihrer Eitelkeit, für jene aber heilige Erinnerungen an die Väter. Konrad lauſchte entzückt dem Pathos ihrer Rede, konnte ſich aber der kritiſchen Einwendungen nicht er⸗ wehren. „Sie vergeſſen, Frau Marcheſa“, ſagte er, „daß Italien ſich die Heiligtümer entreißen ließ! „O, ich weiß, ich weiß“, rief ſie, vor ihm ſtehen bleibend. „Wir waren wie die Kinder, die ſich reich, ſich glücklich fühlen und nicht wiſſen warum! Wenn jene erwachſenen Fremden wirklich das Große und Schöne, das wir beſaßen, erkannten, — in Ehrfurcht erkannten, nicht in Habſucht! — weshalb kamen ſie nicht, wie viele Deutſche es taten, und wurden die Erzieher dieſer Kinder? Wieder ſtand ſie vor ihm mit dem wundervoll belebten Antlitz, aus dem die ganze Heftigkeit der Antwort hei⸗ ſchenden Frage ſprach. 263 „Vielleicht iſt die Urſache ihrer Weltmacht, ihrer bru⸗ talen Vergewaltigung anderer Völker“, antworte er nach⸗ denklich, „gerade in dem zu ſuchen, was ich mit Ihnen auf das Tiefſte verabſcheue: dem Mangel an Ehrfurcht.“ Beſuche kamen, das Geſpräch unterbrechend. Auch der alte Graf erſchien wieder. Der rote Salon füllte ſich bis in all ſeine Winkel. Die lebhafteſte Unterhal⸗ tung kam raſch in Gang. Konrad, der nur zerſtreut zuhörte, und ſich nur aus Höflichkeit daran beteiligte, zog unwillkürlich Vergleiche mit den Hochſeſſer Rachbar⸗ ſchaftsviſiten. Hier wie dort dieſelbe Klatſchſucht, dieſelbe Oberflächlichkeit; nur daß man daheim die Blößen der Bildung als Mangel empfand und zu verbergen ſuchte, während man ſie hier mit naiver Selbſtverſtändlichkeit zur Schau trug, ja ſich beinahe ihrer freute. „Gott, wir haben es doch nicht nötig, das zu wiſſen, wir wohnen ja in Florenz!“ ſagte eine braunäugige, graziöſe Schöne, als er nach dem Erbauer eines Palaſtes frug, der ihm auf der Fahrt aufgefallen war. Um Rorinas Lippen zuckte jener hochmütige Spott, der ſie ſichtlich außerhalb der Intimität der andern ſtehen ließ. Konrad aber ſagte, mehr zu ihr als zu jener gewandt: „Sie haben ſo unrecht nicht. Wer die Kultur einer großen Vergangenheit in ſich aufnahm, hat ſicherlich mehr getan, als wer nur die Ramen ihrer Träger behielt.“ Rorina lachte mit unbeherrſchtem Hohn. „Sie ſind allzu liebenswürdig oder — allzu gut erzogen, Baron, ſagte ſie, „kulturelle Traditionen ſind noch keine Kultur; ſie befähigen nur dazu, Kultur in ſich aufzunehmen.“ Früchte und Wein, Eis und Kuchen wurden gereicht. Der alte Giovanni, der um den Dienſt wie um eine große Gunſt gebeten hatte, trug mit einer gewiſſen Feier⸗ lichkeit die ſilbernen Tablette mit dem Wappen der Sa⸗ velli. Es bildeten ſich immer kleinere Gruppen. Man flüſterte 264 und kokettierte. Die ſprechenden Augen, die nicht im⸗ ſtande zu ſein ſchienen, etwas anderes auszudrücken als alle Grade der Leidenſchaft, vom erſten Entflammtſein bis zum letzten Verzichten, erhoben das Liebesſpiel aus dem kühlen Bereich bloßen Flirts, und die Grazie, die es umgab, gab ihm eine ſeltene Schönheit. Rur Rorina blieb abſeits von allem. „Wie kommt es, daß Sie ſo anders ſind?“ frug Konrad mit einem bewundernden Blick auf ihre königliche Erſcheinung, den ſie ruhig annahm, weil er von jeder Schmeichelei fern⸗ blieb. „Meine Mutter ſtarb früh,“ ſagte ſie einfach, „ich hatte eine deutſche Erzieherin, die vieles, das in uns allen verborgen liegt, aufſchloß, wohl auch die tiefere Empfänglichkeit für den Schmerz. „Vergiß nicht,“ fiel der Bruder lachend ein, der mit hellem Ohr zugehört hatte, — er ſchien überhaupt den deutſchen Vetter und ſeine Schweſter aufmerkſam im Auge zu behalten, — „Vittorio Tenda, den Jugend⸗ freund, der ein Raffael werden wollte und jetzt viel⸗ leicht in Chikago Wände ſtreicht!“ Sie warf ihm einen finſteren Blick zu. Als die Gäſte gegangen waren, bat Konrad, ihn am nächſten Tag entſchuldigen zu wollen. „Ich muß an⸗ fangen, mir mein Mutterland zu erobern“, erklärte er mit einem warmen Blick auf Rorina. „Meine Tochter wird Ihnen eine glänzende Führerin ſein“, meinte der alte Graf freundlich. „Ich bedaure“, ſagte ſie in einem ſo ſchroffen Ton, daß Konrad die Abſicht, ihn verletzen zu wollen, heraus⸗ zuhören meinte und erſtaunt in ihrem Geſicht nach der Urſache zu forſchen ſuchte. Aber ſie hielt den Kopf hart⸗ näckig geſenkt. Sein Stolz empörte ſich. „Auch ich ziehe es vor, eine ſolch intime Bekanntſchaft ohne Zeugen zu machen“, kam es ſehr kühl von ſeinen Lippen. 265 Graf Carlo begleitete ihn bis zu ſeinem Zimmer. Erſt als ſie miteinander vor der Türe ſtanden, ſagte er mit einer Verlegenheit, die ſeinen leeren Zügen einen faſt kind⸗ lichen Ausdruck verlieh: „Würden Sie mir den Gefallen tun, nachmittags, wenn die Vanroſendahls kommen, hier zu ſein? Sie ſehen, meine Schweſter iſt unzugänglich, wenn ſie nicht will. Und Miß Maud iſt ſo ſehr gebildet. Sie könnten mir beiſtehen, nicht wahr? Konrad drückte ihm die Hand: „Aber mit Vergnügen, lieber Vetter.“ Rorina ſtand noch lange mit feſt aufeinandergepreßten Lippen an ihrem Fenſter; ſie lehnte die Stirne an die kühlen Scheiben und ſchaute mit ſtarren Augen hin⸗ über auf den ſchwarzen Fluß mit der blinkenden Lichter⸗ reihe, die ſich in ihm ſpiegelte. Daß Giovanni vorbeiſchlich, merkte ſie nicht. Leiſe und eintönig vor ſich hinmurmelnd, ſchlug er dreimal das Kreuz über ihrer Türe. Dann kauerte er ſich nieder und küßte inbrünſtig ihre Schwelle, wie der fromme Beter die Reliquie des Heiligen. Wenn die Sonne ſich aus dem Morgenbade des Adriatiſchen Meers erhoben hat, dann ſteigt ſie, ein jugendfriſcher Wanderer, über die kahlen Bergkuppen der Apenninen und läßt ihre breiten Strahlen, ſelig ob des luſtigen Spiels, um die hohen, ernſten Tannenwipfel des Prato magno tanzen, und zaubert mit ihrem Licht ſeine grauen Buchenſtämme zu ſchimmernden Marmor⸗ ſäulen. Dann aber ſieht ſie erſtaunt ihr Götterantlitz aus der Tiefe des Tals ſich entgegenlächeln, und nicht müde, die eigene Schönheit ſtets aufs neue zu bewun⸗ dern, folgt ſie von oben freudig den hundert und aber⸗ hundert Krümmungen und Windungen des ſmaragd⸗ grünen Waſſerſpiegels, den ihr der Arno, die holde Freundin grüßend, entgegenhält. 266 Und plötzlich treffen neugierige, nach neuen Spielen ſuchende Strahlen eine gewaltige Kuppel; unter ihr rauſcht es von Orgelklang. Hier gibt's keinen neckiſchen Tanz wie um zitternde Zweige — ehrfürchtig ſtreichen die Abgeſandten der Sonne an ihr entlang und hüllen den marmorweißen Leib von Santa Maria del Fiore in ein Gewand geſponnenen Goldes. Doch von drüben lockt der Glockenturm mit ſeinen vielen ſteingehauenen Menſchenbildern die fröhlichen Strahlen, und der andere hoch über dem Wehrgang mit ſeinem roten, roſtigen Kupferhelm. Es iſt, als ob die Sonne jauchzte über jeden neuen Fund, und weiter und weiter ſuchend vordringt. Die Sonne iſt gut. Sie küßt nicht nur Berggipfel, Baumwipfel und Kirchentürme, die ſich ihr ſtolz und fordernd und ſehnſüchtig entgegenheben, ſie ſtreichelt auch mitleidig die ihrer ragenden Häupter durch Feuer und Feindesgeſchoſſe beraubten Trutztürme der Paläſte, ja ſie wirbt ſchmeichelnd um die ſich grimmig von ihr abwen⸗ denden ſchwarzbraunen Dächer der Häuſer und wirft Bündel um Bündel flüſſigen Silbers auf die breiten Steinflieſen der Plätze, auf das graue Pflaſter der Gaſſen. Sie liebt dieſe Stadt mit der fordernden Liebe der Geliebten, mit der hingebungsvollen Treue der Mutter. Und die Stadt weiht ſich ihr zum Altar, von dem ſtatt des Geruchs brennender Opfertiere die berauſchen⸗ den Düfte blühender Roſen gen Himmel ſteigen. Konrad hatte im erſten Dämmer des Morgens von San Miniato aus, wo er ſich dem Traume hingab, daß die hier Schlummernde erwacht ſei und neben ihm ſtünde, das Kommen der Sonne erwartet. Run ſtieg er die breite Treppe zwiſchen hohen Zypreſſen und blühenden Lilien hinab und ging ziellos durch die erwachende Stadt, bei jedem Schritt mehr überwältigt von der vergangen⸗ heitgeſättigten Gegenwart. Es waren ja nicht nur berühmte Ramen, wie ſie das 267 Reiſehandbuch dem bildungsſüchtigen Europäer ver⸗ mittelt, die vor ihm auftauchten, es war nicht nur eine Epoche der Weltgeſchichte, deren überquellender Reichtum an Form und Geſtalt ihm vor Augen trat, — es war die Lebendigkeit fortwirkender Kultur, deren er ſich immer deutlicher bewußt wurde. Gab es überhaupt Tote in Florenz?! Der Atem dieſer Stadt iſt der Atem unſterblichen, ewig wirkenden Geiſtes. Was wäre unſere ganze Kul⸗ tur ohne ſie? Häuſer und Straßen und Plätze vergegenwärtigten ihm immer lebendiger ihre großen Söhne. Es hätte ihn nicht überraſcht, dem leidverwüſteten Antlitz Michel⸗ angelos, dem ganz zu Geiſt gewordenen Leonardos plötz⸗ lich gegenüberzuſtehen; dem ſcharfen Profile Dantes, dem Spöttergeſicht Boccaccios, dem lockenumwallten Haupte Picos, der in ihrer Häßlichkeit prachtvoll ſchönen Erſcheinung des Magnifico zu begegnen. Der Kunſt, der Wiſſenſchaft, dem Staat hatten ſie ihr Leben ge⸗ weiht; aber war es nicht doch die Einheitlichkeit einer umfaſſenden Idee geweſen, die ihren Werken Geſtalt und Dauer verlieh, wuchſen ſie nicht aus einem gemein⸗ ſamen Boden zu einem Himmel empor? Er war noch in Grübelei über die Antwort auf dieſe Frage verſunken, als er ſich einem freien Platze näherte. Das Denkmal Dantes, das ihm entgegenſah, — mit all jener froſtigen Theatralik, die ein Kennzeichen der modernen italieniſchen Plaſtik iſt — hätte ihn faſt ſcheu zurückgetrieben, wenn eine altertümliche Kirche dahinter ihn nicht wieder gefeſſelt hätte. „Santa Croce“, ſagte ihm jemand auf ſeine Frage. Er trat ein. Und unwillkürlich legten ſich ſeine Hände ineinander. Ganz ſtill und menſchenleer war es. Acht⸗ eckige Pfeiler, in ihrer Geſtalt ſo kraftvoll ernſt, als wüßten ſie um ihre Beſtimmung, tragen den Dachſtuhl, der die ſchlichte Schönheit ſeines Gebälks unverhüllt 268 zeigen darf; durch die hohen, bunten Glasfenſter des Chors ſtrömt gedämpftes Licht und umgibt das kühle Grau des Steins, das Braun der Balken mit milder Wärme, während es zugleich aus den tiefen Kapellen ein leiſes Leben lockt. Die Geſtalten an ihren Wänden erwachen. Aber ſie ſehen nicht hinab zu den Menſchen, als bedürften ſie ihrer. Denn ſie ſind weitab von der Welt. Da thront in einfacher Majeſtät der Sultan, das Antlitz voll ernſter Trauer ſeinen weißgewandeten Prie⸗ ſtern zugekehrt, die nicht wagen wollen, was der Mann in der ſchlichten Kutte des Franziskanermönchs tut, ohne die Pathetik des Heldentums: durch die Flamme zu ſchreiten. Und dort weinen die Brüder am Totenbette ihres Heiligen — in Leid und Liebe, aber ohne die Geſte der Verzweiflung; denn ihnen iſt offenbar, was die Un⸗ gläubigen erſt von der großen Lehrmeiſterin, der Zeit, lernen werden: daß der heilige Franziskus lebt, ob er gleich geſtorben iſt. Auf der anderen Seite erwartet des Täufers Mutter, ſtill ergeben in ihr gottgewolltes Frauenlos, geſtreckt auf weißen Linnen ruhend, die Geburt Johannis, und Frauen, den Körper in faltige Gewänder keuſch verhüllt, tragen das ſchickſalgezeichnete Kindlein dem prieſterlichen Segen zu. Am Pfeiler aber ſteht Ludwig, der heilige König, mit frommem, in ſich gekehrtem Blick über die Laſt der Aufgabe ſinnend, die ihm Gott der Herr mit der Krone auf das Haupt gedrückt hat. Das iſt weder entfeſſelte Leidenſchaft, noch künſtliche Bändigung. Das iſt nur die große Ruhe des Frommſeins. Konrad wandte ſich wieder dem Ausgang zu. Und nun erſt ſah er die Denkmäler und Grabſtätten an den Wänden der Seitenſchiffe: Michelangelo und Macchia⸗ velli, Marſupino, Aretino und Dante, — ein Dach über⸗ ſchattet ſie, deren Denken und Tun ſo weit auseinander⸗ 269 ging, eine Mauer umſpannt ſie, die ſelbſt Welten um⸗ faßten: Frommſein. War das die innere Einheit, aus die ihrer aller Stärke wuchs? Richt Hingabe an eine Idee, ſondern Unter⸗ werfung unter einen Glauben, den chriſtlichen? „Rein!“ ſagte Konrad laut, als ob er vor ihnen allen ſein Ketzertum bekennen müſſe. Zu den Höhen der alten Etruskerſtadt Faeſulae zog es ihn hinauf, als ob er da oben das Licht ſuchen müſſe. Verſchlungene Wege ging er: zwiſchen Mauern, durch graue Olivenhaine, an geheimnisvoll lockenden, grün überſponnenen Toren vorüber, während da und dort der Blick ſich öffnete, ein Bauernhaus mit gewölbter Loggia, eine Villa mit eckigem Turm erſchien. Wie ſchmiegten ſich daheim Dörfer und Gehöfte de⸗ mütig zu Füßen der Hügel, der Felſen, der Bäume, noch überdies unter ſpitzgiebelige Dächer verſteckt, — hier ſtand das Haus des Armſten aus ſtarken Mauern von gewachſenem Stein ſtolz auf der Höhe, ein Herr, ein Herrſcher. Widerſprach nicht die Lehre dieſes Wegs unter freiem Himmel, der Lehre aus der dämmernden Halle von Santa Croce — vom heiligen Kreuz? Den ſteilſten Weg aufwärts, wo zuletzt zwiſchen den dunklen Stämmen einer Allee von Zypreſſen das weite Tal lächelnd hindurchſchaut, erreichte Konrad die Höhe von Fieſole, und ſah die Stadt wieder vor ſich, für die jeder Hügel ringsum, als Ausblick zu ihr geſchaffen ſchien. Sie ſchwamm in einem Meere blendenden Lichts. Die Sonne umſchlang ſie ganz und verſteckte ihre heiße Umarmung unter Silberſchleiern. Es war ſpät am Rachmittag, als Konrad die enge via Calzaioli durchſchreitend heimwärts ging. Da tönte ihm 270 aus der Rebenſtraße von der Piazza Vittorio Emanuele aus Lärm und Geſchrei entgegen. „A basso il tedeschi!" gröhlte eine ſich überſchlagende Knabenſtimme, von Jubel umtoſt. Überraſcht trat er näher. „Studenten“, ſagte auf ſeinen fragenden Blick einer der Umſtehenden, den die improviſierte Straßenverſammlung beluſtigte wie irgendein anderer Spektakel. Auf einer kleinen Holz⸗ tribüne tobte ein ſehr blaſſes tiefbrünettes Kerlchen mit lebhaften Gebärden ſeine ſtürmiſche Leidenſchaft aus. Er ſprach pathetiſch von den „geknechteten Brüdern“ im Alpenland; von den „unerlöſten Kindern der heiligen Mutter Italien, — Trient und Trieſt.“ Konrad lachte unwillkürlich hell auf: ſo wenig wußten dieſe Studenten von der hiſtoriſchen Vergangenheit! Böſe Blicke trafen ihn; ein feindſeliges Gemurmel entſtand; ein leerer Raum bildete ſich um ihn her. Betroffen von dem Un⸗ erwarteten, verletzt durch ein Geſchehen, daß das Große, das er eben innerlich erlebte, zu verwiſchen drohte, wandte er ſich langſam zum Gehen. Als Konrad ſich dem Halazzo Savelli wieder näherte, hielt ein Auto vor der Türe. So waren die amerikani⸗ ſchen Gäſte, die ganz Italien darin „abmachten“, ſchon da. Ungerufen erſchien Giovanni, ſobald er in ſein Zimmer trat. „Die Frau Marcheſa hat heute geweint“, ſagte er in vorwurfsvollem Ton. „Bin ich daran ſchuld?“ frug Konrad, ſich zu einem gleichgültigen Lächeln zwingend, während er fühlte, wie nahe Rorinas Leid ihm ging. „Ja“, entgegnete Giovanni mit einem faſt feindſeligen Blick auf ihn. „Der Herr Graf tobte, weil die Frau Marcheſa den Herrn Baron „abgewieſen“ hat.“ Und nun fiel es wie ein Schleier über des Alten Züge, während er kopfſchüttelnd vor ſich hinmurmelte: „Was konnte mein Bambino von Monna Lavinia haben wollen?!" Konrad ſtieg das Blut ſiedend heiß ins Geſicht: war das der Grund ihrer ſchroffen Abwehr geſtern abend, 271 daß man ſie zwingen wollte — entgegenkommend zu ſein?! Zu Giovanni ſagte er erregt: „Du haſt gehorcht, — ich verbiete es dir! Der Alte zuckte zuſammen. Dann ſchob er mit der Linken den Armel von ſeinem rechten fleiſchloſen Arm weit zurück: viele breite Narben zogen ſich über die braune Haut. „Aus dieſen Wunden blutete ich für Monna Lavinia,“ flüſterte er, „und Blut — Blut bin⸗ det ewig!“ „Monna Lavinia ſtarb, Giovanni“, ſuchte Konrad den Verwirrten mit liebevoller Stimme aus dem Traum zu erwecken. Der aber warf kopfſchüttelnd einen verſtändnis⸗ loſen Blick auf ihn. „Bambino mio,“ ſagte er dann, die Hände flehend zu ihm erhoben, „hilf du, daß ſie nicht mehr weint! Ich — ich habe —“ und er zog mit verlegenem Lächeln ein abgegriffenes Büchlein aus der Taſche, das er zärtlich ſtreichelte, — „für mein Begräbnis, mit vielen Prieſtern, und Chorknaben und Geſang, allerlei zuſammengeſpart in den langen Jahren — Ihr ſeit auf Hochſeß immer ſehr gut, ſehr gnädig geweſen zu dem alten Giovanni! — Die Frau Marcheſa —“, gequält von der eigenen Verwirrung ſah er auf — „iſt zu ſtolz — ſie nähme es nicht von mir! Rur daß ſie dem Schurken, dem Battiſto die — die goldene Schlange mit den roten Augen wieder fortnimmt!“ Der Alte ſchlug die Hände vor das Geſicht und ſchluchzte. „Das Armband?! Was iſt's damit?!“ forſchte Konrad. „Er zeigt's in der Oſteria drüben — der Hund — er prahlt damit - Entſetzt umklammerte Konrad des Alten Arm. „Sprich weiter — ſprich!?“ rief er, während ein gräßlicher Ver⸗ dacht ihn zittern machte. Die kleinen Augen des Alten leuchteten triumphierend auf. „Mit dieſer Fauſt hab“ ich ihm das Maul geſtopft,“ ſagte er, und fügte, den gebrechlichen Körper aufrichtend und das Geſicht in 272 wildem Haß verzogen, faſt kreiſchend hinzu: „Kalt ge⸗ macht hätt' ich ihn, wenn er noch ein einziges Wort geſagt hätte.“ Konradverſtummte. Erwolltenichts mehrhören— nichts. Mit ſeinen eigenen Augen mußte er ſich überzeugen. Als er dem roten Saale näher kam, tönte ihm das laute Geſchwätz der Amerikaner ſchon entgegen. Miß Maud hob die goldene Lorgnette an ihre hellen blauen Augen, als er eintrat. Er verbeugte ſich ſteif. Rorina ſaß ſehr gerade auf einem der kleinen dünnbeinigen Stühl⸗ chen, die ſo gar nicht für ihre ſtolze Größe paßten. Man fühlte förmlich die Diſtanz, die ſie zwiſchen ſich und ihren Gäſten aufrecht erhielt. Die kleine Ameri⸗ kanerin ſtreckte ihm die Hand entgegen und begann mit ihrer hellen modulationsloſen Stimme erregt auf ihn einzureden. Sie wollte wiſſen, ob er auch im Bargello die „entzückenden“ Putten Donatellos geſehen habe, und im Palazzo Pitti das furchtbar intereſſante Bildnis Luigi Cornaros; dann frug ſie ihn unvermittelt, ob es wahr wäre, daß er eine wirkliche alte deutſche Ritterburg be⸗ ſäße, und riß die runden Augen vor Entzücken über ſeine bejahende Antwort noch weiter auf. Konrad bemerkte, wie Carlo Savelli unruhig wurde. Ach ſo, — er hatte völlig vergeſſen, daß er dem Vetter ſeine Hilfe verſprochen hatte! „Kann man Ihre Burg beſichtigen?“ forſchte Miß Maud, rot vor Eifer. „Sie iſt für Fremde nicht zugänglich“, antwortete er ſchroff, ſich im ſtillen über den Grad der Unhöflichkeit wundernd, den er ſich abgenötigt hatte. Carlos dank⸗ barer Blick traf ihn zugleich mit einem Aufleuchten aus Rorinas dunklen Augen. Er zwang ſich dazu, es nicht zu bemerken. Die Amerikaner rüſteten zum Aufbruch. „Sie haben mir verſprochen, Graf Savelli, uns Ihren Palazzo zu zeigen“, erklärte Miß Maud. Braun, Lebensſucher 18 273 „Es iſt wenig an ihm zu ſehen“, ſagte Rorina, ſich erhebend. „Und wohl auch ſchon zu dunkel“, fügte Konrad raſch hinzu, der ihre Empfindung verſtand. „Oh, ich habe gute Augen,“ meinte die Amerikanerin, „und —“ dabei traf ein langer koketter Blick den jungen Grafen, dem die Freude darüber das Antlitz dunkler färbte — „ich liebe es ſo ſehr, mit meiner Phantaſie ſo wundervolle Räume einzurichten.“ Schon öffnete Carlo Savelli die Türe. „Du geſtatteſt wohl, daß ich euch hier zurückerwarte, ſagte Rorina kalt und, zu Konrad gewendet, mit ſprechen⸗ der Bitte in den Augen: „Sie wiſſen ja auch Beſcheid⸗ In dieſem Augenblick erſchien Battiſto. Sein Mund war geſchwollen. Er räumte Teller und Gläſer fort. Rorina würdigte ihn keines Blicks. Eine Empfindung tiefſter Beſchämung ergriff Konrad. Wie hatte er ſie auch nur mit einem leiſen Gedanken verdächtigen können! — Die Amerikanerin war wie ein Wirbelwind. Sie öffnete eigenmächtig alle Türen. Wohltätiges Dämmer⸗ licht verhüllte, was des Verhüllens wert war, und ließ die Räume ſelbſt nur noch gewaltiger erſcheinen, ſo daß Miß Maud ihr zwitſcherndes „Wundervoll!“ nicht oft genug wiederholen konnte. Mrs. Vanroſendahl äußerte ſich kaum; nur einmal ſagte ſie zu Konrad: „Mit einigen tauſend Dollars ließe ſich hier eine fürſtliche Umgebung ſchaffen.“ Ihre Tochter durchſtöberte indeſſen alle Winkel. Ehe Graf Savelli hindernd dazwiſchenſpringen konnte, hatte ſie eine weitere Tür aufgeriſſen. Helles Licht ſtrömte in den Flur. „Meiner Schweſter Zimmer“, ſagte der Graf in ſicht⸗ licher Verlegenheit. Konrad hätte ſich am liebſten rückſichtslos den Ein⸗ gang wehrend in den Rahmen der Tür geſtellt. Aber 274 ſchon tönte ihm Miß Mauds „Ah“ und „Oh“ entgegen. Er war genötigt, ſo ſehr er ſich davor ſcheute, ſich umzuſehen. Es war kein Zimmer. Es war ein Altelier. Kopien alter Meiſter hingen an den hellen Wänden, ſtets das⸗ ſelbe Motiv in ſeinen hundert Variationen — die Ma⸗ donna mit dem Kinde — wiederholend, Skizzen italieni⸗ ſcher Landſchaften, mit einem Mut zur Farbe gemalt, wie er Frauen ſonſt zu fehlen pflegt, lagen auf ſchweren, alten Renaiſſancetiſchen, oder lehnten in den verblichenen Seidenbezügen hoher, in ihrem Holz vom Alter ſchwarz gewordener Stühle. Was aber dem Raum ſeinen eigent⸗ lichen Charakter verlieh, ihn wie einen Märchengarten erſcheinen ließ, den zu betreten nur Berufenen erlaubt ſein dürfte, — Konrad empfand ſein Hierſein wie eine Entweihung, und das der Amerikaner faſt wie ein Sakrileg — das war die Fülle der Blumen: Aus hohen Vaſen und breiten Tontöpfen wuchſen ſie empor, von Konſolen und Regalen rankten ſie ſich hinunter, mit ihren Düften und ihren Farben die ganze Luft erfüllend. Selbſt das ſchwatzhafte Mädchen fand minutenlang keine Worte. Bis ſie dicht ans Fenſter vor die Staffelei trat, die eben erſt verlaſſen zu ſein ſchien. „Sieh nur, Mutter, ſieh,“ ſchrie ſie auf, „das iſt ja faſt derſelbe Stoff, den wir heute morgen im Palazzo Strozzi gekauft haben!“ Konrad ſah, wie Savelli erblaßte und die Zähne in die Unterlippe grub. Er trat näher: wie Mondlicht ſchimmernde Seide war über die Leiſten geſpannt, und Blumen voll farbenglühenden Lebens hatte der Pinſel eines großen Künſtlers darauf geworfen. Konrad er⸗ ſchrak, war aber raſch wieder Herr ſeiner ſelbſt. Er lächelte die beiden Damen an und ſagte: „So wiſſen Sie noch nicht, daß die Florentiner Modedamen, ſoweit ſie nur den Pinſel führen können, es als eine Eitelkeitspflicht betrachten, ſich die Stoffe ihrer Soirée⸗ toiletten ſelbſt zu malen? Man verſteckt dabei ſorg⸗ 18* 275 fältig das gewählte Muſter vor den Augen der Freun⸗ dinnen, um vor jeder Kopie ſicher zu ſein. „Oh, ich verſtehe, ich verſtehe!“ rief Miß Maud, in die Hände klatſchend, „das muß ich auch lernen, — gleich! — Graf Savelli, Sie werden mir die Adreſſe eines Lehrers verſchaffen — heute noch!“ Mit einem erlöſten Aufatmen verſprach er es. „Aber Sie müſſen eine Bedingung ſtellen, lieber Vetter,“ wandte ſich Konrad ſcheinbar ſcherzend an ihn, „daß die Damen von ihrem heimlichen Einbruch in das Atelier der Frau Marcheſa nichts verraten. Sie würde ſicher untröſtlich ſein.“ Miß Mauds Geſicht überzog ein tiefes Rot und mit dem Ausdruck eines geſcholtenen Kindes, das in ſeiner Ratürlichkeit viele ſeiner Taktloſigkeiten vergeſſen ließ, ſchnitt ſie des Grafen Antwort ab, indem ſie haſtig hervorſprudelte: „Ich wollte Sie gerade um dasſelbe bitten. Es iſt meine Schuld, durchaus meine Schuld, wenn wir hier eindrangen. Die Frau Marcheſa würde mich, erführe ſie es, noch weniger leiden können, und das wäre mir ſehr, ſehr unangenehm. Konrad empfand, wie ein Gefühl von Freude ſein Herz erwärmte: ſo hatte er Rorina doch ein wenig ſchützen können! Am nächſten Tage kaufte er, was an gemalter Seide noch zu haben war, — er erkannte auf den erſten Blick Rorinas Kunſt, — und betrachtete dabei mit einer Emp⸗ findung, die zwiſchen Trauer und Staunen hin und her ſchwankte, die wundervollen Säle des Palazzo Strozzi: Ein Schloß für ein Geſchlecht geborener Herrſcher, die den Raum verſchwenden durften, wie die Wälder der Apenninen, deren Stämme einſt in dieſen Kaminen glühten, um ihre Füße zu wärmen. Und jetzt?! An⸗ gefüllt mit koſtbarem Hausrat der Väter, aus allen Adelspaläſten Italiens zuſammengetragen und für fremde Emporkömmlinge zum Kauf geſtellt! 276 „Mögen ſie es eintauſchen für blanke Münzen,“ dachte er, von einem vorübergehenden Gefühl müder Ergebung in das Unvermeidliche beherrſcht, „mögen ſie! Riemals werden ſie beſitzen, was ſich nur beſitzen läßt, wenn es mit der Erinnerung der Generationen verwuchs.“ Kurze Zeit ſpäter ſah er die goldene Schlange mit den roten Augen wieder am Arme Rorinas. Er hatte tagelang vermieden, ſie allein zu ſehen; zu⸗ weilen, wenn er früh fortging und abends wieder kam, ſah er ſie überhaupt nicht. Auch ſie ging ihm ſichtlich aus dem Wege; und immer wieder, vor allem dann, wenn der alte Graf beſonders freundlich war, hatte ſie Momente einer faſt abſtoßenden Kälte. In ihm aber wuchs ein Gefühl, wie er es in ſeiner Zwieſpältigkeit ſelbſt nicht verſtand: ſie erſchien ihm fremd und fern — ganz fern, und doch ſo vertraut, als wäre ihre ſtolze Seele ein Gefäß von Kriſtall; und ihr zu dienen hatte er das Bedürfnis, ſo wie der Ritter in Kampf und Turnier die Farben ſeiner Dame trägt, die jeder unedle Gedanke, jede feige Tat beſchmutzen, als wären ſie ſeine Ehre; dabei wurde ſein Wunſch immer ſtärker, ſo daß er die Gewalt imperatoriſchen Willens annahm, ihr ein Beſchützer zu ſein, eine Mauer um ſie zu bauen, wie der Roſenzüchter um ſeinen Garten, und allem zu wehren, das ihr Schaden zu tun vermöchte. Sie identi⸗ ſizierte ſich ihm täglich mehr mit der Stadt, um die er auf allen ſeinen Wegen warb; nicht um ſie in ihrer Körperlichkeit zu beſitzen, — welch wahnwitzig törichter Gedanke! — ſondern um ſie in ſich aufzunehmen, eins zu werden mit ihrem Geiſte, — einem Geiſte, der ihm mehr und mehr der des Lebens zu ſein ſchien, das er auch in den Zeiten tiefſter Verirrung nie aufgehört hatte zu ſuchen. Eines Abends — ſie waren ſeit langem zum erſtenmal allein miteinander, Norinas Vater, allmählich zu den alten Gewohnheiten zurückkehrend, die er des Gaſtes 277 wegen geglaubt hatte, aufgeben zu müſſen, war in ſeinem Klub, Carlo begleitete die Amerikaner auf einer Auto⸗ fahrt — begann er, von ſeiner „Eroberung von Florenz“, wie er es lächelnd bezeichnete, zu erzählen. Sie hörte aufmerkſam zu, in den ſchön gebauten, ſchlanken Händen, die ihr Weſen konzentriert zum Ausdruck brachten, — ſeinen Stolz und ſeine Vornehmheit, ſeine Zartheit und ſeine Kraft, — eine jener kunſtvoll feinen Spitzen⸗ arbeiten, die heute faſt nur noch aus den ſchwindſüch⸗ tigen Fingern unglücklicher Heimarbeiterinnen hervor⸗ gehen. „Wie ſchön es iſt,“ dachte er, ſich mit dem Gefühl einer Stille, die Körper und Seele umgab, in den Stuhl zurücklehnend, „vor einer Frau zu ſitzen, die zu⸗ hört, während ihre weißen Hände ſich rhythmiſch be⸗ wegen.“ Als er vom Suchen des Lebens ein flüchtiges Wort fallen ließ, ſank ihr die Arbeit in den Schoß, und ſie ſah nachdenklich auf. „Wenn ich glauben werde, daß ich zu leben gelernt habe, werde ich zu ſterben gelernt haben, erklärte Leo⸗ nardo einmal“, ſagte ſie langſam. „In dieſem Suchen beſteht wohl das Leben, und nur wer nicht ſucht, lebt nicht.“ Dann zog ſie wieder die dünne Radel durch die Fäden und ſchwieg. Auch er verſtummte. „Reben Rorina zu verſtummen, iſt ein Genuß,“ ging es ihm durch den Sinn; „Schweigen wirkt nicht wie lähmender Druck, ſondern wie inneres, weit intimeres Weiterreden.“ „Waren Sie ſchon in der Medizeerkapelle?“ frug ſie. Peinlich berührt ſah er auf; das klang ja doch wie Konverſation. „Wiederholt,“ entgegnete er, „aber auch dort fühle ich nur Rätſel. Tag und Racht, Abend und Morgen, welch triviale Bezeichnungen für dieſe Sphinxe. „Alſo auch Sie empfinden ſie als ſolche?“ meinte ſie 278 erfreut und fügte ein wenig zögernd, mit einem leiſe aufſteigenden Rot in den Wangen hinzu: „Sie lehren vieles vom Leben, wie ja auch die Sphinx der griechi⸗ ſchen Sage das Rätſel des Lebens löſen wollte. Ich möchte, falls es Ihnen recht iſt, einmal mit Ihnen hin⸗ gehen.“ Mit einer Freude, die zu zeigen er ſich nicht ſcheute, nahm er ihren Vorſchlag an, und freier, rückhaltloſer, als wäre eine Schranke gefallen zwiſchen ihnen, ſprach er ſich aus über alles, was er geſehen und empfunden hatte. Ihre Augen begannen zu leuchten, die Arbeit lag vergeſſen auf dem kleinen Tiſch. „Sie ſind ja einer, der erlebt, was er ſieht!“ ſagte ſie freudig überraſcht. Dann erzählte er, langſam und mit umwölktem Blick, von der Studentenverſammlung und dem Haß, der ihm allzu fühlbar aus ihr entgegengeſchlagen war. Sie run⸗ zelte die Stirn: „Öſterreich iſt unbeliebt,“ meinte ſie; „wir haben zu ſehr, beſonders hier in Toskana, unter ſeiner Herrſchaft gelitten. Traditionelle Antipathien ſind nicht leicht auszurotten.“ „Italien iſt Öſterreichs Bundesgenoſſe, wie der unſere,“ warf er ernſthaft ein; „ich verſtehe nicht, wie Staat und Stadt ſolche Aufreizungen zur Treuloſigkeit, die im Grunde ſchon Treubruch ſind, dulden können.“ Rorina lächelte ihn an, halb nachſichtig, halb beluſtigt: „Wie deutſch Sie ſind! Muß man jugendliche Über⸗ ſchwänglichkeiten ſo tragiſch nehmen?! Unſere Regie⸗ renden wiſſen, daß man unſerem Volk wie den Kindern billiges Spielzeug laſſen muß, damit ſie nicht, um ſich die Zeit zu vertreiben, als Unreife nach ernſteren Dingen greifen. Freilich,“ fügte ſie nachdenklicher werdend hinzu, „gibt es Leute, die meinen, daß auch dies Spiel den Kindern ſchon bezahlt wird. Doch ich glaub es nicht, will es nicht glauben! Schon vom nächſten Morgen an gingen ſie mitein⸗ 279 ander aus. Rorina war die Führende. „Ich will Ihnen zeigen, was mir das Liebſte und Tiefſte iſt“, hatte ſie geſagt, ehe ſie das Haus verließen. Giovannis altes Geſicht preßte ſich an die Scheiben des Küchenfenſters, als ſie die Steintreppe in den Hof hinunter gingen. Sie bemerkten ihn nicht. Rorina führte durch die Muſeen nicht wie eine Lehrende, die etwa Epochen hiſtoriſch zuſammenfaßt, auch nicht wie ein Kunſtliebhaber, der in jedem Saal ſeine Lieb⸗ linge vorweiſt. Sie zeigte vereint, was ſich ihr inner⸗ lich durch Fühlen und Erleben verknüpfte. Daher kam es, daß ſie häufig, nur um eines einzigen Bildes willen, von einem Muſeum zum anderen gingen. „Man hat meine Art einmal als „echt weiblich' be⸗ zeichnet,“ ſagte ſie lächelnd, „und eine Freundin von mir meinte, ich müſſe mich dadurch beleidigt fühlen. Als ob es nicht gerade das Schönſte wäre, zu ſein, was man iſt. Das Elend ſo vieler Frauen beſteht doch gerade darin, daß ſie es nicht ſein dürfen. Sie ſtanden im Botticelliſaal der Uffizien. „Kein Künſtler hat Seligkeit und Tragik des Weibes ſo tief empfunden, wie er“, meinte ſie. „Schauen Sie dieſe Madonnen; es ſind nicht die frommen Mägde nordiſcher Künſtler — denken Sie nur an den Van der Goes drüben! — es ſind nicht die Himmelsköniginnen der Alten; es ſind Mütter, die das ganze Mutterſchick⸗ ſal ahnungsvoll vorempfinden — das gräßliche Schickſal, das ihr Fleiſch und Blut erbarmungslos von ihnen reißt. Und nun ſehen Sie in das Antlitz dieſer den Fluten eben entſteigenden Göttin der Liebe und der Schönheit: Sie weiß, mit dem Augenblick, da ihr Fuß die Erde betritt, wird ſie Weib — wird ſie Madonna. Und Schwerter werden durch ihre Seele gehen! Sie ſchwieg und ſenkte die Lider tief über die Augen. Bald darauf zeigte ſie ihm in der Akademie Giottos thronende Mutter Gottes: „Das iſt eine Königin, aber 280 nicht die der Chriſten, denn Giotto iſt, obwohl er einer der Frömmſten und Gläubigſten war, der Antike weit näher als der Kirche. Dieſe dort iſt nicht Chriſti Mutter, die erſt der Sohn krönt, ſie iſt Demeter, die mütterliche Erde ſelbſt, in ſich ruhend, durch ſich vollendet. Sie müßte nicht ein Kind, ſie müßte viele auf ihrem breiten Schoße halten.“ Und mit verklärten Zügen ſah ſie dann zu Botticellis Primavera auf, als ob ſein Frühling in ihr wider⸗ ſtrahle. „Das aber iſt das Höchſte,“ ſagte ſie leiſe, „und nur wenigen ſpreche ich davon. Andere Künſtler ſehen in keuſchen Mädchen die Verkörperung des Lenzes. Hier ſtreut die Frühlingsgöttin ihre Blumen auf den Weg der geſegneten Frau, die Grazien tanzen vor der werdenden Mutter, und der kleine Liebesgott, deſſen Pfeil ſie ſo tief getroffen, flattert verheißungsvoll vor ihr her. „Wer ſagte Ihnen das?“ frug Konrad betroffen, dem ſich das rätſelvolle Bild, deſſen Geſtalten ihm ſo zu⸗ ſammenhanglos erſchienen waren, plötzlich in ſeiner Herr⸗ lichkeit offenbarte. „Mein Herz“, antwortete ſie einfach. Alles Empfinden ſchien bei dieſer kinderloſen Frau ihrer Mütterlichkeit zu entſpringen. Sie ſprachen auf dem Heimwege von vielem anderen. Aber bei ihr ſchienen ſich Gedanken innerlich immer weiter aneinander zu knüpfen, denn plötzlich ſagte ſie — einen Satz mitten durchbrechend: „Glauben Sie bitte nicht, daß ich ſo töricht wäre, anzunehmen, ein Künſtler, wie Botticelli zum Beiſpiel, hätte in ſeine Werke hin⸗ eingelegt, was ich herausleſe. Rein: nur, weil er ſo reich iſt wie die Ratur, ſo unbewußt ſchaffend wie ſie, gibt er wie dieſe, was wir brauchen. Zwiſchen Konrad und Rorina entſtand eine ſeeliſche Intimität, die allmählich zu einer gegenſeitigen Ein⸗ fühlung führte, deren Außerungen ihnen ſelbſt faſt un⸗ 281 heimlich erſchienen: Der eine ſetzte unwillkürlich den unausgeſprochenen Gedanken des andern fort oder gab einer Empfindung deutlichen Ausdruck, die ſich dem an⸗ deren noch nicht in Worte hatte faſſen können. Aus den Vormittagen, die ſie zuerſt miteinander zu⸗ brachten, wurden lange Tage. Sie bemerkten nicht mehr, was ſie im Anfang noch verletzen, ja gegenſeitig er⸗ kälten konnte, daß der alte Graf ſie mit einer gewiſſen Abſichtlichkeit allein ließ, daß die Dienſtboten ihnen mit vielſagendem Lächeln nachſahen und daß Giovannis Geiſt ſich mehr und mehr zu verwirren ſchien. „Lavinia Rorina,“ murmelte er oft verſtört vor ſich hin, „Lavinia iſt doch Bambinos Mutter?!“ Keinen Abend ließ er vorübergehen, ohne die Schwelle der Marcheſa zu küſſen. Sie empfing Konrad ſchon längſt in ihrem Atelier, ſtatt im roten Saal. Ihre Seele erſchloß ſich ihm; aber je tiefer der Einblick war, den ſie ihm gewährte, deſto unergründlicher erſchien ſie ihm, und deſto ſehnſüchtiger verlangte ihn danach, ſich ganz in ſie zu verſenken. Einmal fand er ſie in düſterem Schweigen verſunken am Fenſter ſtehen, kaum den umflorten Blick nach ihm wendend, als er eintrat. Schon wollte er die Türe wieder hinter ſich zuziehen, als ſie ihn anrief. „Bleiben Sie,“ ſagte ſie, und in ihrer Stimme lag eine weiche Bitte, „bleiben Sie und helfen Sie mir, Geſpenſter zu bannen.“ „Leiden Sie auch unter Geſpenſtern?“ frug er. „Geſpenſter der Vergangenheit — ja! Wer litte nicht unter ihnen?!“ entgegnete ſie. „Dort drüben —“ und ſie wies zum jenſeitigen Ufer des Arno, „ſprang einer ins Waſſer um meinetwillen.“ Dann ſchwieg ſie, die dunklen Augen ſtarr ins Weite gerichtet und ließ es geſchehen, daß Konrad ihre ſchlaff herabhängende Rechte leiſe zwiſchen ſeine Hände nahm. „Vittorio Tendo“, fuhr ſie ſchließlich fort, als ſpräche ſie ins Leere, „war mein 282 Spielkamerad und ich ſein erſtes Modell, deſſen Kopf er überall hinzeichnete — auf die Flieſen im Hof, auf die Mauer der Straße, auf jeden Fetzen Papier. Er war es aber auch, der mich die Schönheit meiner Vater⸗ ſtadt ſehen lehrte, der mir zeigte, mit Stift und Farbe wiederzugeben, was ich ſah.“ Ihre Stimme wurde leiſe, die Lider ſenkten ſich über die Pupillen, als ſchaue ſie nun ganz in ſich hinein. „Er liebte mich. Und ich — ließ es mir gefallen. Ich ſpielte. Richt mit ihm, aber mit meinem eigenen Gefühl. Denn mich erfüllte zu jener Zeit verzehrende Sehnſucht, unnennbar, ohne Gegen⸗ ſtand, ohne Ziel. Als Vittorios Leidenſchaft ihn zu ſtürmiſchen Bekenntniſſen hinriß, empfand ich ſie wohlig wie einen Mantel von rotem Samt auf meinem Körper. Doch als er dann meiner begehrte, warf ich dem Hand⸗ werkersſohn meine ganze Entrüſtung ins Geſicht. Er ſprang in den Arno.“ Sie ſeufzte tief auf, ein müdes Lächeln umſpielte flüchtig ihre Lippen. „Carlo würde nun ſpottend erzählen, daß dieſer „Selbſtmordverſuch“ am hellen Tage an der Uffiziengalerie vor ſich ging und einer der kleinen Dampfer gerade unten an der Treppe hielt, als das Waſſer über ſeinem Kopfe zu⸗ ſammenſchlug. Die Rettung war nicht ſchwer; vielleicht ſelbſtverſtändlich. Trotzdem: ich war aufs tiefſte erſchüt⸗ tert. Viel mehr über das grauſame wilde Tier, das ich plötzlich in mir entdeckt hatte, als über Vittorios Tat. Ich haßte ihn — haßte ihn leidenſchaftlich, denn er hatte mich lächerlich gemacht, und wünſchte doch nichts mehr, als ihm dienen zu können wie eine Magd, um ſeiner großen Liebe willen. Ein gut Teil meines kleinen mütter⸗ lichen Erbteils gab ich hin, um ihm die Reiſe ins Aus⸗ land zu ermöglichen — nicht aus Großmut, nicht weil ich ihn als Künſtler fördern wollte, wie man rührend von mir erzählte, ſondern weil ich ſeine Gegenwart nicht ertrug.“ Sie ſtrich ſich mit beiden Händen die vollen Scheitel 283 aus der Stirn und ſah Konrad mit einem Blick, der zugleich flehte und forſchte, ins Geſicht: „Verſtehen Sie das? „Wir haben Untiefen in uns,“ antwortete er lang⸗ ſam, „die unſer lebendiges Selbſt zu verſchlingen drohen, wenn — „Wenn?!“ wiederholte ſie; ihre Augen ſaugten ſich förmlich feſt an ihm. „Wenn —“, fuhr er fort, „wir nicht den großen Lebensinhalt finden, der alle Untiefen ausfüllt.“ „Oder die große Sehnſucht,“ unterbrach ſie ihn leb⸗ haft, „die uns auf weiten Flügeln über ſie hinwegträgt. Von da an erlaubte ſie, was ſie ihm bisher verwehrt hatte, daß Konrad ihr Zimmer täglich mit friſchen Blu⸗ men füllte. „In unſrer materialiſtiſchen Zeit“, erklärte ſie ihr Verhalten, „mißt man den Wert einer Gabe an ihrem Preis. Ich habe das nie verſtanden. Ich würde koſtbare Edelſteine von einem Fremden eher annehmen als Blumen.“ Jetzt begannen die Roſen zu blühen. Ganze Stämm⸗ chen, überſät mit roten und gelben Knoſpen, blühten um ihren Stuhl, nickten ihr zu Häupten über dem Diwan. Die Madonnen mit ihren lieblichen Knaben wurden zu lauter Madonnen im Roſenhag. „Wie das Mutterproblem Sie beſchäftigt“, ſagte er, als er an einem regneriſchen Rachmittag bei ihr ſaß und ein Skizzenbuch durchblätterte, das das Bild der Mutter aus allen Klaſſen des Volks ſtets variierte. Lange und forſchend lag ihr jetzt ganz umſchattetes Auge auf ihm. „Auch ich bin einmal Mutter geweſen“, kam es dann wie ein zitternder Hauch von ihren erblaßten Lippen. „O!“ rief er betroffen, ihre Hand zwiſchen die ſeinen preſſend; „ich wußte nicht! Verzeihen Sie, daß ich ſo Wehes berührte.“ Mit einem matten Lächeln erwiderte ſie ſeinen Blick. 284 „Ich habe nichts zu verzeihen,“ ſagte ſie, „ich habe Ihre Bemerkung faſt provoziert. Und es iſt gut, wenn ich einmal auch davon rede.“ Sie ſenkte den Kopf tief auf die Bruſt — „in meinem Leibe ſtarb mein Kind! Ohne noch ein Wort miteinander zu wechſeln, er⸗ warteten ſie zuſammen das letzte Dämmern des Abends. Dann ſtand er auf. „Rorina!“ ſagte er ganz leiſe. Es war ihr, als lege eine zarte Hand einen ſehr weichen Verband auf eine offene Wunde. In den nächſten Tagen ſchien ſie krampfhaft jede An⸗ knüpfung an ihr Geſtändnis unmöglich machen zu wollen. Mit fieberhaftem Eifer betrieb ſie ihre Wanderungen, und vermied es dabei, irgend etwas zu berühren, das eine Erinnerung daran hervorrufen könnte. Erſt als ihr deutlich wurde, daß er ſie darin unterſtützte, kehrte ihre ſchöne Ruhe voll zurück. „Heute,“ rief ſie ihm entgegen, als er an einem klaren Maimorgen ins Zimmer trat, „heute wollen wir nach San Lorenzo.“ Ein kaltes, blaſſes Licht herrſchte in der Medizeer⸗ kapelle, als ſie eintraten. Unwillkürlich überkam ſie beide, die wohltuende Wärme hinter ſich ließen, gleichzeitig ein Kälteſchauer. „Alle Höhen ſind eiſig“, meinte er. Die Erinnerung an die Totenfahrt über die Berge packte ihn wieder. „Darum verſtehen wir ſie ſo ſchwer, die wir alle in der Tiefe wohnen“, ergänzte ſie. Sie traten vor Lorenzos Grabmal. „Hier, ſagten Sie einmal, ſeien die Rätſel des Lebens verborgen?“ frug er. Sie nickte nur, die Augen groß auf den ruhenden Giganten geheftet, der mit dem weiten Blick in die Ewigkeit ſelbſt zu ſchauen ſcheint, während der Mund wie in einer Maske verſchloſſen liegt. 285 „Und Sie — ahnen die Löſung? Sie ſchüttelte heftig den Kopf und ſchaute zu der Gefährtin des Giganten auf der anderen Seite des Sarkophags empor, die mit tief geſenktem Haupt, ſo daß das Antlitz ganz im Schatten liegt, vom Schlummer umfangen iſt. „Ich ſehe nur, daß jene dort,“ ſagte ſie leiſe, „die ſie die Racht nennen, die vollen Brüſte der Säugenden hat, und daß ihr wunderbarer Körper die Zeichen vieler Mutterwehen trägt; und ihr tiefer, tiefer Schlaf voll der unergründlichen Geheimniſſe der Fruchtbarkeit iſt. Alles, alles Leben, glaub' ich, kommt aus der Tiefe des Schlafs, des Richtwiſſens. „Pero non mi destar, deh! parla basso“, würde ſie ſagen, wie ihr Meiſter, wenn einer ſie wecken könnte. Und ich ſehe, daß jener dort, ihr zur Seite, unter deſſen Simſonfäuſten dieſes Heilig⸗ tum einſtürzen müßte, erhöbe er ſich, von aller Erkennt⸗ nis geſättigt iſt und nicht ſagen kann, was er ſieht.“ Schwatzende Menſchen kamen, darunter ein Bebrillter, der zu dozieren begann. Norinas Finger, die fieberhaft glühten, umfaßten Konrads Hand und zogen ihn hinaus. „So bliebe alles Letzte, alles, wonach unſere heißeſte Sehnſucht ſtrebt, Geheimnis?“ ſagte er, als ſie draußen im engen Gange ſtanden. Sie ſah ihn an und erſtaunte, wie bei der Frage ſeine Züge erſchlafften. Und ſie entgegnete langſam: „Ich weiß nichts von philoſophiſchen Syſtemen, ich kenne keine andere Religion als die meine, mein Denken iſt nur ein Fühlen, und ſo fühle ich auch nur, daß die Tiefe des Geheimniſſes gerade ſeine Schönheit iſt. Nur in Bildern und Symbolen nähern wir uns ihm. Das Warum“ war für Michelangelo eine dürre, durch dichte Finſternis taſtende Geſtalt, mit vielen Schlüſſeln am Gürtel, von denen keiner in das Schloß paßt. Sie gingen die breite Treppe hinab in die Krypta von San Lorenzo. 286 Eine ungeheure, gedrungene Säule erhebt ſich in ihrer Mitte, atlashaft. „Coſimo der Alte liegt hier begraben,“ erklärte Rorina, „der Vater des Vaterlandes.“ „Der Vater des Vaterlandes, —“ wiederholte Konrad gedankenvoll. „Er wollte kein anderes Grabmal“, ſagte ſie. „Aus ihm wuchs der florentiniſche Staat empor, er trug ihn, Schöpfer und Diener zugleich,“ ſprach Konrad wie zu ſich ſelber redend weiter; „er iſt nur noch Aſche in ſeiner Gruft, aber die Säule ſteht. Der Staat zer⸗ ſtäubte, aber ſein Geiſt erfüllt eine Welt. Als ſie an dieſem Tage nach Hauſe kamen, lag ein ſo heller Glanz auf ihren Geſichtern, daß die Dienſt⸗ boten im Souterrain kichernd die Köpfe zuſammenſteckten, und der alte Graf ſich befriedigt die Hände rieb. Giovanni aber ſchlich Rorina nach, und pochte an ihrem Zimmer. Da ſtand er lange vor ihr, verlegen ſtotternd, mit einem flehenden Blick, den er auf ihre Züge heftete. Es bedurfte eines langen freundlichen Zuredens, ehe er ein paar zuſammenhangloſe Worte über die Lippen brachte. „Schon einmal blutete Giovanni für Monna Lavinia“, ſagte er, und verſtummte minutenlang wieder. Plötzlich warf er ſich, ihre Knie leidenſchaftlich um⸗ klammernd, ihr zu Füßen und ſchrie: „Die Wolken ſtreichen kalt um den Turm von Hochſeß, und graue Fledermäuſe flattern ſtatt der Vögel, — die Fräuleins aber haben den böſen Blick Es durchlief ſie ein Zittern. „Sie können bei uns bleiben, Giovanni“, ſagte ſie, ſich ſanft aus ſeiner Um⸗ klammerung löſend. „Sie — „Sie“ ſagt Monna Lavinia zu dem Seiltänzer — „Sie“?!“ Er erhob ſich, ſah Rorina groß an, machte eine lintiſche Verbeugung und bat mit ganz veränderter ruhiger Stimme: „Verzeihung, Frau Marcheſa!“ Dann ging er. 287 Am Rachmittag kehrte Carlo Savelli zurück, ſchon von weitem durch ſeinen lachenden Mund verkündend, daß er ſeinem Ziele nahe ſei. „Maud und ich ſind einig,“ erzählte er glückſtrahlend. „in den nächſten Tagen wird Miſter Vanroſendahl er⸗ wartet, und dann - „Wirſt du am Ziel deiner Wünſche ſein,“ unterbrach ihn Rorina ſchroff, „und einen Schwiegervater haben, der deine Schulden bezahlt.“ Carlos Augen blitzten. „Und unſer Geſchlecht vor dem Untergange retten,“ entgegnete er, „das ſollteſt du, die Stolze, nicht vergeſſen. „Lieber untergehen, als ſich mit ſolchem Blute miſchen“, rief ſie heftig. „Aber Frau Marcheſa“, miſchte ſich Konrad begütigend ein, doch ſie ließ ihn nicht weiter ſprechen. „Haben Sie vielleicht ſchon geſehen, was aus ſolchen Ehen entſteht?“ brauſte ſie auf. „Das Bauern⸗ und Pro⸗ letarier⸗ und Protzenblut triumphiert über das unſere! Die Kinder ſind keine Italiener mehr, ſondern Ameri⸗ kaner. Und wenn ſie es vielleicht im Ausſehen nicht ſind, ſo in den Lebensgewohnheiten, in der Geſinnung Sie ließ ſich nicht beruhigen, am wenigſten dadurch, daß Konrad von der welthiſtoriſchen Rotwendigkeit all⸗ mählicher Volkserneuerungen ſprach. „Sehen Sie ſich um bei uns,“ ſagte ſie, „Wert hat allmählich nur noch, was ſich kaufen läßt. Das erzieht unſer ritterliches Volk zu Betrügern. Der Bauer lernte ſchon, ſein armſeliges Haus als einſtige Medizeervilla anzupreiſen, weil es dann teurer bezahlt wird, und jeder kleine Graf ſtammt mindeſtens von den Gonzagas ab, — das bringt ihm eine um ein paar Millionen ſchwerere Miß ein.“ „Sie ſind ſehr hart“, meinte Konrad, er ſtimmte ihr innerlich zu, glaubte aber die Erregte beruhigen zu müſſen. „So hart, wie nur die tiefſte Liebe machen kann, 288 entgegnete ſie leiſe, um dann in ſteigender Leiden⸗ ſchaft fortzufahren: „Das ſind noch verhältnismäßig kleine Fehler. Aber die Korruption des Amerikanismus — ich habe keine andere Bezeichnung für den Geiſt, der umgeht — greift um ſich verderblicher wie der ſchwarze Tod. Richt nur die Campagna verſumpft, zu einem Odland wird der ganze Süden, denn der Edelmann jagt in der Stadt nach der guten Partie, und hat er ſie erobert, ſo verlangt die fremde Frau, für die dieſes Land nichts iſt, als ein Tummelplatz ihrer Vergnügungs⸗ ſucht, nur nach weiterem Amüſements; und den Bauer zieht's in die Fabrik, wo er mehr verdient und die Kneipe näher hat, als auf der harten, ſchwarzen Scholle. So tauſcht man gegen die ekelhafte, durch Millionen ſchmutziger Hände gegangene Münze die Liebe zum Vaterlande ein, und ſchließlich auch — die Geſinnung. Sie verſtummte. „Und die Rettung?“ frug Konrad. „Vielleicht ein großes Unglück — etwas, das ſich zwiſchen uns und der Fremde aufrichten müßte, wie eine unüberſteigliche Mauer, damit wir einmal ganz auf uns ſelber angewieſen ſind“, ſagte ſie. Beide ſchwiegen geſenkten Hauptes. Dann ſah ſie auf mit einem weichen Lächeln. „Ich bin kein Politiker, kein Rationalökonom,“ ſagte ſie mit einem bittenden Tonfall, als müſſe ſie ſich entſchuldigen, „nur eine Frau!“ „Rur eine Frau!“ wieder⸗ holte Konrad und zog ihre Hand ehrerbietig an die Lippen. Die Verlobung fand ſtatt; mit lautem Spektakel, — „wie das Rarrenvorſpiel zu einer Tragödie“, flüſterte Rorina Konrad zu. Des alten Vanroſendahls wuchtige Schritte klangen das erſte Mal auf den Steinſtufen des Palazzos. Er kam nicht mit der verlegenen Scheu des Richtdazu⸗ gehörigen, noch mit der Ehrerbietung des Emporkömm⸗ lings gegenüber dem alten Adel, ſondern mit der Selbſt⸗ verſtändlichkeit des Eroberers. Die kurze Geſtalt, der Braun, Lebensſucher 19 289 Stiernacken, die niedrige Stirn, die breiten Hände mit den abgehackten Fingerkuppen, — alles deutete auf den Mann der harten Arbeit. Jede Sentimentalität lag ihm fern, und ebenſo ſeiner Tochter. Kein Tag verging ohne lärmende Feſte im Hotel, im Palazzo, bei den künftigen Verwandten; in der Zwiſchenzeit beſtimmten Vater und Tochter kühl und geſchäftsmäßig über die Räume des alten Hauſes, ihren Umbau, ihre Einrichtung, als wären ſie kraft des Geldes, das ſie hineinſteckten, auch ſeine rechtmäßigen Beſitzer. Es gehörte für Rorina alle Verſtellung und Selbſtüberwindung dazu, um die Situation ertragen zu können. Immer häufiger und länger zog ſie ſich in ihre Räume zurück. Konrad fand ſie einmal gegen ihre ſonſtige Gewohn⸗ heit untätig im Seſſel zurückgelehnt mit rot umränderten Augen. „Sie haben geweint, Rorina“, ſagte er erſchüttert. Müde neigte ſie den Kopf. „Ich gebe mein Leben darum, Ihnen helfen zu können“, — ſeine Stimme bebte in unterdrückter Leiden⸗ ſchaft. Sie ſchien ihn zu überhören, denn ſie ſprang auf, ging zum Fenſter und umfaßte mit einem langen Blick das Bild, das ſich ihr bot: unter ihr der grüne Fluß, der in feierlicher Ruhe vom Ponte alle Grazie hin⸗ überſtrömte zum Ponte Vecchio mit ſeinen phantaſtiſchen Häuschen, aus denen bis in die tiefe Racht die vielen über fleißigen Goldarbeiterhänden glühenden Lämpchen leuchteten, und drüben die im Sommerſonnenglanz flim⸗ mernde Silhouette der Stadt, mit dem ſchlanken Glocken⸗ turm von Santa Croce, dem zinnengekrönten des Pa⸗ lazzo Vecchio, den offenen Arkaden der Uffizien. Darüber die Wölbung des Himmels, tiefblau und doch durch⸗ ſcheinend, als müſſe ſich der ganze Weltenraum mit dem Auge durchdringen laſſen. Es war wie ein Abſchied. 290 Aufſchluchzend ſank ſie in den Stuhl zurück. „Ich ertrag es nicht, ertrag es nicht“, flüſterte ſie zwi⸗ ſchen den Zähnen, während ihre Hände krampfhaft an dem weißen Tüchlein zerrten, das naß von ihren Tränen war. „Sie treiben mich heraus! Wo bleibt mir noch eine Heimat?!“ Konrads Herz klopfte zum Zerſpringen, er beugte ſich über ſie, denn er hätte laut nicht zu ſprechen vermocht: „Ich — ich wüßte eine Heimat für Sie, Rorina! Ihre Tränen verſiegten im Augenblick; ſie richtete das bis in die Lippen erblaßte Antlitz zu ihm auf, ein: „O, nicht doch — nicht doch!“ mühſam hervorſtoßend. Ihre Augen waren ganz erfüllt von Angſt. Da zog er die Türe leiſe hinter ſich zu und ging in ſein Zimmer. Sein Zimmer?! dachte er bitter. Schon hatte Miß Maud die Möbel dafür gewählt. Ihr Schlaf⸗ zimmer ſollte es werden. Das neue Geſchlecht der Sa⸗ vellis, blauäugig, mit derben Knochen, würde darin das Licht florentiniſchen Himmels erblicken. Die ganze öde Kahlheit des Raumes legte ſich ihm erkältend aufs Herz. Dort ſtand ſein Koffer — ob es nicht das beſte wäre, gleich zu gehen? Hochſeß erwartete die leitende Hand des Herrn. Ihm grauſte, wenn er an das Schloß ſeiner Väter dachte, wo niemand ihn empfangen würde, als die grauen Fräuleins. Und er konnte nicht fort — konnte nicht! Zu tief hatten Herz und Geiſt hier Wurzel geſchlagen. Er mußte ſie mit ſich nehmen können, — auf dieſen beiden ſtarken Armen! Sie unlöslich mit ſich verbinden: Fiorenza — Norina! Sie zur Mutter ſeiner Kinder machen: eines neuen Geſchlechts der Hochſeß, durch⸗ glüht von dem ewigen Lichte dieſer Stadt. Ihre Abwehr war keine Ablehnung, nur Überraſchung geweſen! Ihre Angſt nur ein Erſchrecken! Vielleicht auch ein Erſchrecken darüber, daß die neue Heimat, die er ihr 19* 291 bot, mit einer Trennung von der alten gleichbedeutend war. Er lag die ganze Racht wach, grübelnd, rechnend, bis er gegen Morgen mit einem Lächeln auf den Lippen einſchlief. Sein Entſchluß war gefaßt: Sie ſollte die Heimat nicht verlieren. Er ging früh aus, ohne zu ſagen, wohin, und erzählte bei Tiſch, als wäre es die gleichgültigſte Sache der Welt, daß er ſoeben den Palazzo Ritorni gekauft habe. Erſtaunt ließ der alte Graf Meſſer und Gabel ſinken, groß und dunkel ruhten Rorinas Augen auf ihm, die kleine Maud dagegen, die eine Trennung von ihrem Carlo immer weniger aushielt, und regelmäßig zum Lunch“ aus dem Hotel herübergelaufen kam, hörte nicht auf, zu lachen und zu kichern. „Ich bin nun doch einmal zur Hälfte Florentiner,“ ſagte Konrad ruhig, „und brauche darum eigenen Boden unter den Füßen. Man beſprach die Angelegenheit mit größtem Eifer. Rur Rorina beteiligte ſich nicht an der Unterhaltung. „Wir wollten morgen nach Montebuoni, Frau Mar⸗ queſa“, redete Konrad ſie an, als ſie ſich nach Tiſch in der dunkelſten Ecke des roten Saales niedergelaſſen hatte. Sie überhörte ſeine Bemerkung. „Wie wird der alte Ritorni dieſes letzte Opfer ertragen?“ frug ſie, ganz in der Haltung einer Dame, einem völlig Fremden gegen⸗ über. „Jedenfalls beſſer, als wenn er ſeinen Palazzo morgen den Gläubigern hätte überlaſſen müſſen“, entgegnete Konrad verletzt und wandte ſich ab. Sie ſprachen an dieſem Tage nicht mehr miteinander. Erſt am Abend — Konrad wollte ſich mit einer ge⸗ meſſenen Verbeugung eben verabſchieden — ſtreckte ſie ihm die Hand entgegen und ſagte mit offenem Blick: „Richt wahr, wir gehen morgen nach Montebuoni?" 292 Statt aller Antwort drückte er einen langen Kuß auf ihre ſchmale Rechte, und fühlte dabei, wie ihre Pulſe klopften. Es war die zweite Racht, in der Konrad nicht ſchlief. Er meinte ſogar, noch nie ſo wach geweſen zu ſein, denn Tageshelle lag auf dem Wege vor ihm. Immer wieder ſah er nach den Sternen, ob auch keine Wolke ſie verdeckte, und als der Morgen zu grauen be⸗ gann, fürchtete er ſtets aufs neue, an der Bläue des Himmels zweifeln zu müſſen. Und dann, als der erſte Sonnenſtrahl bis hinab in die dunkle Tiefe der Straße ſprang, konnte er das Wunder kaum faſſen. Über Racht, ſo ſchien es ihm, hatte ſich auch der Garten drüben ver⸗ wandelt; das Weiß runder Schneeballen wetteiferte mit dem fließenden Gelb des Goldregens, und üppig blühende Zweige dunkelroter Roſen fielen furchtlos über die ſchwarze Mauer. Er rief Giovanni. „Wenn wir fort ſind, — die Frau Marcheſa und ich,“ ſagte er, „ſo beſorge ſo viel an Roſen, als du bekommen kannſt, mein guter Alter. Ihr Zimmer ſoll eine Laube ſein, wenn ſie heimkehrt. „So viel der alte Giovanni bekommen kann?“ wieder⸗ holte der, als hätte er nicht recht verſtanden. „Sieben Roſen fand ich, nur ſieben Roſen, — ſchneeweiße. Die legt' ich Monna Lavinia in die gefalteten Hände. Jetzt gibt es keine mehr.“ Mitleidig ſtreichelte ihm Konrad den armen Kopf. „Er hat heute ſeinen wirren Tag“, dachte er und ging ſelbſt noch raſch zum Blumenhändler. Am frühen Rachmittag, — die Luft bebte von der Glut, die ſie erfüllte, — fuhren ſie fort. Sie kamen an der Certoſa vorüber, wo die weißen Mönche in ihren Zellen wohnen, aus Erkerfenſtern die ſtrahlende Ferne betrachten und zwiſchen Mauern ihr eigenes kleines 293 Gärtchen beſtellen oder unter ſchattenden Kreuzgängen hin und wieder wandernd, ſchweigſam meditieren. „Warum es für die Mönchszeiten des Lebens, die jeder hat oder haben ſollte, nicht überall ſolche Zufluchts⸗ ſtätten gibt?“ ſagte Konrad. Rorina lächelte ihn an: „Richt wahr?! Wie oft ſchon dachte ich's! Für ſchwangere Frauen baut man ſchon ſtille Heime, wo ſie ihr größtes Erlebnis in Ruhe erwarten können; warum baut man keine für Männer, deren Geiſt großer Gedanken und Werke ſchwanger iſt? „Wir —“, er ſtockte, dunkel errötend und verbeſſerte ſich raſch: „Ich könnte in Hochſeß einen kleinen Verſuch der Art machen.“ „Und,“ fuhr ſie fort, freudeſtrahlend, „im Palazzo Ritorni, wenn Sie fern ſind! „Wir haben ſo oft Gedanken, die einander ergänzen“, meinte er, ſeine Hand ganz leiſe auf die ihre legend, die ſie ihm nicht entzog. „Als wären wir eines Geiſtes“, ſagte ſie träumeriſch. In Tavernuzzo, da wo zwei Wege ſich teilen — die breite, alte Römerſtraße, die um den Monte del Diavolo rechts herumführt, und der ſteile Steig, der geradeaus den Berg emporklimmt — verließen ſie den Wagen. „Dort müſſen wir hinauf,“ ſagte ſie. „Wie gern und wie gut die Vorfahren ſteigen konnten! „Ohne das langſame bequeme Zickzack — immer ge⸗ rade drauf los!“ antwortete er fröhlich, ihr den Arm reichend. „Eine deutſche Frau würde wohl Ihre Hilfe nicht annehmen?“ frug ſie, den Schritt in rhythmiſcher Be⸗ wegung dem ſeinen anpaſſend. „Ich ſah einmal eine Deutſche, die mit der ſtolzen Bemerkung „ſelbſt iſt das Weib“ ihren Mantel einen ſolchen Berg in die Höhe ſchleppte. Der Italiener neben ihr ſchämte ſich. Dann ſchwiegen ſie. Denn heiß ſtand die Sonne über ihnen. An den Mauern zu beiden Seiten des Weges 294 liefen, glänzend wie Smaragden, grüne Eidechſen; die Blätter der Olivenbäume dahinter waren faſt weiß im Licht und ſtanden ganz ſtill in der Luft, als ob ihre Glut ſie trüge. „Montebuoni“, ſagte Rorina, Atem ſchöpfend, als ſie droben zwiſchen den eng aneinander gerückten Häuſern ſtanden. Sie bogen rechts ein paar Schritte höher, zur Kirche. „Hier“, fuhr ſie fort, „ſoll die Burg geſtanden haben.“ Sie ſetzten ſich auf die niedrige Eſtrade; aus dem Tale empor leuchtete Florenz. „Dort unten liegt ſie wieder, die ſchöne Frau, und badet ſich in der Sonne; — die Zauberin, die meine rauhen Vorfahren glaubten erobern zu können, und die ſie ſchließlich zu ſich hinabzog“, ſagte Konrad. „Sie kennen die Geſchichte?“ frug Rorina. „So recht nicht“, meinte er. Und ſie begann im Ton der alten Chronik: „Im Jahre des Herrn 1135 ſtand hier die ſtarke Feſte von Montabuoni, den Cattani von Buondelmonti zu⸗ gehörig, ſeit Urzeiten Herren des Landes, da die Burg unüberwindlich war und die große Straße der Römer an ihr vorüberführte. Die Florentiner aber, die unten am Fluſſe wohnten, wollten nicht länger die kriegeriſchen Rachbarn auf dem Berge dulden. Alſo ſammelten ſie viel wildes Kriegsvolk, ſtürmten die Feſtung, zerſtörten ihre Mauern bis auf den Grund und zwangen die Ritter Cattani von Buondelmonti, zwiſchen den Bürgern zu wohnen. Sie taten desgleichen mit den anderen Berg⸗ feſten ringsumher, und die Gemeine von Florenz wuchs durch Gewalt. Aber der Tag war nicht ferne, wo ſie für ihre Tat blutig zahlen mußte. Im Jahre des Herrn 1215 ritt Meſſer Buondelmonti, eine Rachkomme jenes Beſiegten, auf weißem Zelter, angetan in ſilbergeſtickte Seide, aus ſeinem Palazzo, um eine Edle aus dem Hauſe Donati zu freien. Am Ponto Vecchio aber, da wo die 295 Statue des Kriegsgottes ſtand, die ein Heiligtum der heidniſchen Florentiner geweſen war, überfielen ihn die Überti, die Amedei und Gangalandi, denn er hatte eine ihres Geſchlechts verführt. Sie riſſen ihn vom Roß, daß ſein Feſtgewand voll des Kotes wurde, und erſtachen den Wehrloſen mit vielen Dolchen. Die Edlen und die Bürger aber, die den Buondelmonti verwandt, befreun⸗ det und untertan waren, rächten mit neuen Mordtaten ſeinen Tod. Alſo entſtand um eines Weibes willen, wie weiland der Trojaniſche Krieg, der Kampf der Guelfen und Ghibellinnen, und ein Meer von Blut überſchwemmte die gute Stadt von Florenz.“ Konrad hatte die Augen geſchloſſen, während Rorina erzählte. „Ich wußte das alles,“ flüſterte er, als ſie ſchwieg; „es lebte in mir wie mein Blut — oder ich hörte es, als meine Seele noch ſchlief. Alles um ein Weib!“ Er ſah Rorina an, wie ſie da ſaß, den großen, dunklen Blick ſuchend in die Ferne gerichtet, die vollen Lippen zuſammengepreßt, die hohe Stirne ganz glatt und glän⸗ zend in der Sonne — ſo nah und ſo fern, ſo begehrt und ſo gefürchtet. „Alles um das Weib“, wiederholte er noch einmal. Sie gingen durch das Dorf in den jenſeitigen ſchmalen Taleinſchnitt hinab, durch den fröhlich plätſchernd, wie ein ſchwatzendes Kind, die Greve fließt. Ein ſchwerer Duft von Akazien ſchlug ihnen entgegen. Über die Steinbrücke, die zu wuchtig für das Flüßchen ſchien, führte der Weg. Eine einſame Mühle, in der das Rad ſtille ſtand, lag am anderen Ufer. Auf der kleinen Wieſe davor tummelten ſich Kinder zwiſchen roſigen Schweinchen, und drüben, wo der Fußpfad zwiſchen Akazien und ſchwarzen Piniendächern weiter⸗ führte, kletterte eine Herde blökender Schafe den Berg hinauf. Es war, als gäbe es keine Stadt weit und breit, ſondern nur friedliche Wildnis. 296 Blumen in allen Farben blühten auf dem Raſenhang, um ſie tanzten und buhlten hunderte bunter Schmetter⸗ linge, ihre geflügelten Ebenbilder. Konrad griff nach einer großen weißen Calla, die wie erſtaunt aus dem ſaftigen Gräſergrün in das Gewirr der Zweige emporſah. „Laſſen Sie,“ wehrte Rorina, „mir iſt, als wären ſie alle beſeelt.“ Als ſie die Höhe erreichten, zeigte ſich plötzlich ihnen zur Seite ein Berghang, überſät von blühenden Ginſter⸗ büſchen. Die Sonne ſtand darauf und wandelte alles in funkelndes Gold, während der Himmel dahinter ſich veilchenblau wölbte. In ſtummem Staunen ſtanden die beiden Wandernden. Dann ſanken ſie wortlos in das weiche Gras. Sie waren wie verzaubert. Bis drüben der Glanz erloſch. Dann erwachten ſie. Und kletterten, die Straße ſuchend — denn das Sinken der Sonne erinnerte an den Heim⸗ weg — gerade hinauf, wobei Konrad jeden Stein dankbar grüßte, weil er ihm den Vorwand bot, Rorinas Hand zu umfaſſen. „Wir ſollten uns ſtärken vor dem Heimweg“, meinte er, ſobald ſie die Straße erreicht hatten. „Stärken? Wo?“ lachte ſie. „Glauben Sie, hier gäbe es alle hundert Schritte ein Wirtshaus?! Da müſſen wir ſchon bis nach Tavernuzze zurück! Er ſah ſich um. Jenſeits, auf der höchſten Höhe, entdeckte er Mauerwerk zwiſchen Weinſpalieren. Und die Kinder, die unten am Waſſer mit den roſigen Schweinchen geſpielt hatten, kamen die Straße herauf und bogen um die Mauer in der Richtung auf jenes verſteckte Haus. „Habt Ihr da droben zu trinken?“ ſprach Konrad die kleinen Burſchen an. Sie lachten luſtig aus braunen Schelmenaugen. „Wir haben Wein, ſehr guten Wein“, meinte der älteſte ſtolz und winkte dazu mit den ſchmutzigen Händchen. 297 Konrad und Rorina folgten ihm. Sie kamen an ein Haus mit gewölbter, auf mächtigen Pfeilern ruhender Loggia. In ſchweren, dichten Trauben umſpannten üppige Girlanden blauer Glyzinien ihre Bogen; auf der einen Seite füllte ſie hochgetürmt duftendes Heu, um das ein ganzes Hühnervolk gackerte, auf der anderen ſaß auf geflochtenem Strohſtuhl eine ſehr alte, weiß⸗ haarige Frau mit einem kleinen, nackten Kinde auf dem Schoße. Als unſere Wandernden, von den Knaben an⸗ gekündigt, ſich näherten, traten aus der Türe im Hinter⸗ grund ein paar hochgewachſene Weiber, aus dem Garten liefen noch andere Kinder herzu, und langſam, mit arbeitsmüdem Schritt, kamen die Männer aus dem Stall und von der Wieſe. Einer, der letzte, ein dunkel ge⸗ bräunter Geſelle, trug über den breiten Schultern ſchwere Kupferkeſſel. Er hob ſich im Schreiten in großer Sil⸗ houette vom Abendhimmel ab, der jetzt einem ſtillen, grünen Meere glich. Sie ſcharten ſich, wie um ihres Lebens Mittelpunkt, um die Alte, die, während die anderen alle die Fremden grüßten, mit einer faſt ab⸗ weiſenden Würde ihnen entgegenſah. Rorina aber neigte ſich vor ihr. „Es ſoll Frauen geben,“ ſagte ſie dann zu Konrad, „die höhnend davon reden, daß man ſie zu einer „Ge⸗ bärmaſchine“ erniedrigen wolle. Was kann ein Weib mehr erhöhen, als am Ende ihres Lebens ihres ganzen Geſchlechtes Mutter zu ſein?! Sie ſtreichelte den Kindern die braunen und ſchwarzen Köpfchen und ſprach lächelnd mit den Frauen, während Konrad vom Bauer erfuhr, daß Wein und Ol, ſieben Eier und ein Laib alten Brotes alles ſei, was er im Hauſe habe. „Gern“, ſo ſagte er freundlich, „ſteht es den Gäſten zur Verfügung. Im Kamin loderte alsbald, von Holzblöcken genährt, ein mächtiges Feuer auf, am Keſſelhaken darüber hing die Eiſenpfanne, in der in brodelndem Öl Mehl und 298 Eier zu köſtlichen Kuchen brieten. Die roten und blauen Flammen erleuchteten den dunklen Raum, tauchten die vielen Geſichter, die ſich um die am Tiſche ſitzenden Fremden reihten, in ihre Glut. Schon lag ein reines Tuch über der geſchwärzten Platte, als von draußen einer der Knaben hereinlief und einen Strauß duftender Roſen in ihre Mitte ſtellte. Dann trug der Bauer die große, ſtrohumflochtene Flaſche herzu, die Mädchen brachten Teller und ungefüge eiſerne Gabeln und Meſſer, und ſchließlich ſetzte die Bäuerin ſtolz den dampfenden Kuchen vor ihre Gäſte. Die Flammen im Kamin ſanken zuſammen. In tiefem Violett, das nur die Sterne durchbrachen, ſah der Himmel durch das einzige kleine Fenſter. Norina und Konrad hoben die Gläſer, um ihren Gaſt⸗ gebern zuzutrinken. Sie dankten freudig. Dann aber füllte der Bauer noch einmal die Becher: „Madonna ſegne den Schoß der Frau!“ ſagte er feierlich. Und Konrad zog, als könnte es nicht anders ſein, Rorinas Kopf an ſeine Schulter und küßte ſie auf die Stirn. Als ſie in die Loggia hinaustraten, ſaß die Greiſin noch immer auf ihrem Seſſel. Das Kind auf ihrem Schoße ſchlief. Rorina neigte ſich abermals tief vor ihr. „Deinen Segen, Mutter“, bat ſie. Und die alte Frau hob ihre zitternde, von eines langen Lebens Arbeit rauh gewordene Rechte und legte ſie auf den Scheitel der jungen. Roch einen Blick auf das alte Haus, und ſie gingen dem Tale zu. Die Racht lag dunkel darin. Aber Miriaden Leucht⸗ käfer wetteiferten mit den funkelnden Sternen, um ſie hell zu machen. 299 „Mein Weib!“ flüſterte Konrad, ihre Lippen ſuchend. Rur ganz leiſe gaben ſie den Druck der ſeinen zurück. Als ſie wieder durch die ſchmale Gaſſe von Monte⸗ buoni kamen und den Aufgang zur Kirche erreicht hatten, öffnete ſich in dem Hauſe vor ihnen eine Tür. Chor⸗ knaben erſchienen, vermummte Geſtalten dann mit bren⸗ nenden Kerzen in den Händen, — ein Zug, der kein Ende nahm; und ſchließlich: ein ſchwarzer Sarg. Rorina erbebte. Konrad aber hatte den Arm feſt um ſie geſchlungen. „Mein Weib!“ flüſterte er noch einmal. Da ſchmiegte ſie ſich an ihn, Schutz ſuchend. Der Zug verſchwand durch die Kirchenpforte. Ihr Weg war wieder frei. Aber noch lange tönten die Totenlitaneien ihnen nach. 300 Achtes Kapitel Wie Konrad das Glück und das Ziel zu finden glaubte und wie es entſchwand Vom Domturm zu Bamberg läuteten die Glocken, — die kleinen, die eine ſüße, helle Stimme haben, als ſängen pausbäckige Englein über dem Chriſtuskind in der Wiege; die große, deren dunkler, tiefer Ton, ge⸗ tragen von den Wellen der Luft und vom Winde, bis weit über die Stadt hinaus in Wäldern und Wieſen widerklingt, wie die Poſaunen der Erzengel am Tore der Ewigkeit. Aus all den vielen, engen Straßen, die von der Stadt hinauf zum Domplatz führen, ſtrömten die Kirchgänger, alte Weiblein, die die Gewohnheit eines langen Lebens führte, ſchon auf dem Wege den Roſenkranz gedankenlos drehend; junge Mädchen, ſich ihres weißen Kleides freuend, das für ſie des Feſttags frohes Zeichen und wichtigſtes Ereignis war; würdige Männer, für die dieſe Teilnahme an der Sonntagsmorgenandacht einen ſtets erneuten Beweis für ihre ſtaatserhaltende Geſin⸗ nung bedeutete; dazwiſchen Kinder und Soldaten, die dem Befehle gehorchten, während ihre Gedanken auf den Spielplätzen und in den Wirtsſtuben waren. Sie gingen alle mit geſenktem Kopf; erfüllt von ihren Werktagsſorgen, die nur hier und da auf jungen Ge⸗ ſichtern eine kleine, dünne Sonntagshoffnung verklärte. So kamen ſie über die Regnitzbrücke, die einſt eine kraftvolle Bürgerſchaft kühn über den Fluß geſpannt hatte, in deſſen Mitte, eine ſtolze Trutzwehr wider die befeſtigte Domburg droben, ſie ihr Rathaus als ein 301 uneinnehmbares Waſſerſchloß auf Pfahlroſte ſetzten. Kein dankbarer, kein bewundernder Blick ſah zu ihm auf, keiner verlor ſich nach drüben zu den winkeligen Fiſcherhäuſern am Fluß mit den braunen Booten davor, über denen zwiſchen hohen Stangen die Retze trockneten. Riemand blieb in der ſchmalen Gaſſe ſtehen, um ſich in die Terraſſengärten zu träumen, die hinter den Mauern und Baluſtraden am Stephansberg aufwärts ſteigen, oder ſtaunend an dem alten Patrizierhaus daneben empor zu ſchauen, deſſen Maſſe eines Künſtlers reiche Phantaſie aufgelöſt hatte in ein Gewoge von Ranken und Muſcheln und bewegten Geſtalten. Und keiner der Kirchgänger dachte daran, angeſichts ſeines Ziels, des hohen, viertürmigen Domes, auch nur einmal den Kopf zu wenden, um, rückwärts blickend, über die zackigen Giebel und Türme der Stadt hinweg ſeine Gedanken zu den waldigen Höhen drüben wandern zu laſſen, die in- leichter Wellenbewegung den Horizont begrenzten. Sah) ſich einer oder der andere um, ſo reichte Blick und Gedanke nicht weiter als bis zum Kleide oder bis zum Hute der Rachbarin oder zum neuen Ordensband im Knopfloch des nächſten. Rur zwei, die mitten unter ihnen desſelben Weges gingen, trugen das Haupt erhoben, die Augen offen, um allen Zauber ringsum in ſich aufzunehmen. „Fremde!“ meinte ein wenig geringſchätzig, wer ihr Stehenbleiben, ihre Freude, ihr Staunen bemerkte. Wer müßte ſich ſolcher Gefühlsäußerungen nicht ſchämen, wenn er ein Einheimiſcher wäre! Sich niemals verwundern, iſt das eigentliche Kennzeichen kleinbürgerlicher Bildung. Konrad Hochſeß aber war kein Fremder. Er kannte hier jeden heimlichen Winkel, jede verborgene Gaſſe, jeden altertümlichen Hof, und er führte Rorina, ſeine junge Frau, in alles ein, was ihm heimatlich war, daß es auch ihr eine Heimat werden möchte. 302 Seit der ſtillen Trauung in Florenz waren ſie langſam, überall auf dem Wege Tage, ſelbſt Wochen weilend, nordwärts gezogen. Von Carlo Savellis lärmendem Hochzeitsfeſt hatten ſie Rachricht erhalten, als ſie an⸗ geſichts der Dolomiten hoch oben auf weichem Berg⸗ moosteppich, unter hellgrünen Lärchen den Sommer verträumten. Rur ganz flüchtig hatte ſich dabei Norinas Stirn in finſtere Falten geſchoben. War es das Glück, in das Konrads Liebe ſie hüllte wie in einen Panzer, waren es die weißleuchtenden oder rotglühenden Felſen⸗ türme, die ſich zwiſchen ſie und die Heimat geſchoben hatten? — Sie wußte nicht, was es war, ſie fühlte nur, daß kein Weh ſie mehr berührte. Am ſtillen, weſtlichen Ufer des Tegernſees, dieſem lieblichſten unter allen Seen Bayerns, in deſſen hellem blauem Spiegel die Gebirgslandſchaft zu einer Idylle wird, hatten ſie zuletzt viele Wochen zugebracht, ganz glücklich, ohne jede Berührung mit der Welt nur ſich ſelbſt leben zu können. Von da aus war Konrad einmal allein nach Hochſeß gefahren, um zum Empfang der Herrin alles vorzubereiten. Dabei hatte er auch durch⸗ geſetzt, daß die Tanten in den ſeit dem Fortzug der freiherrlichen Familie leergebliebenen Eckartshof hinunter⸗ zogen. Obwohl ihnen nunmehr ein ganzes Haus allein zur Verfügung ſtand, fühlten und gebärdeten ſie ſich doch wie gewaltſam Vertriebene: Sie, die auf Hochſeß geborenen, mußten der Fremden — wieder einer Fremden, wieder einer Katholikin! — weichen. Es konnte nicht ausbleiben, daß hinter Konrads Rücken die ganze Rach⸗ barſchaft gegen ihn und ſeine Frau Partei nahm. Er empfand davon nichts, denn die kurze Zeit, die er in Hochſeß blieb, war mit Überlegungen und Anordnungen für eine Rorinas würdige Einrichtung des Schloſſes ganz ausgefüllt geweſen, und ließ ſeine Tätigkeit ihm Stunden der Muße, ſo waren Gedanken und Gefühle ſo ganz bei ihr, daß er alles um ſich her vergaß. Die 303 Tage der erſten Trennung zeigten ihm, was er bis da⸗ hin nicht gewußt hatte: daß ſein Glauben ein Glauben an Rorina, ſein Leben ein Leben in ihr geworden war; daß ſeine Sehnſucht ſie — nur ſie — immer ſuchen würde. Sie war nicht wie andere Frauen, deren erſte Hingabe eine Preisgabe iſt, die dem Manne allzu raſch nichts mehr zu wünſchen, nichts mehr zu enträtſeln übrig laſſen; ſie mußte ſtets aufs neue erobert werden; um ihren Beſitz würde er immer ringen müſſen. Ihrer Ehe drohte nicht die Gefahr, eine Alltagsgewohnheit zu werden. Um einen Tag früher, als Rorina erwartet hatte — jede weitere Stunde fern von ihr dünkte ihm wie ein Raub an ſeinem Leben — war er zurückgefahren. Und als er ſpät am Abend wieder in Tegernſee angekommen war, hatte er geglaubt, ſein Herz müſſe zerſpringen vor Freude: drüben über dem Waſſer, mit deſſen kleinen Wellchen die letzten Sonnenſtrahlen ſchäkerten, entdeckten ſeine ſcharfen Augen das Häuschen, und in dem Häus⸗ chen wußte er ſie, ſein Weib! Sie mußte ſeine Heimkehr geahnt haben; mit einem jubelnden: „Ich wußte, daß du kommen würdeſt, kommen mußteſt!“ war ſie ihm in die offenen Arme geflogen. Roch nie hatte er ſie jubeln hören, noch nie war ſie ſo zärtlich geweſen! Als ringsum alles ſchlief, auch die vielen Lichter des jenſeitigen Ufers erloſchen waren, und nichts vom Leben Zeugnis gab als das kichernde Plätſchern der Wellen, hatte ſie ſich an ihn geſchmiegt, ganz dicht — wie damals in Montebuoni, als der Schreck ſie Schutz ſuchen ließ bei ihm, — und wie ein Hauch war es über ihre Lippen gekommen: „Mutter werd' ich ſein — Mutter!“ Von da an ging ſie umher wie eine, die eine unſicht⸗ bare Krone trägt. Richts vermochte mehr das ſüße Lächeln um ihren Mund zu verſcheuchen, nicht einmal Maud Savellis Brief, der ihren baldigen Beſuch an⸗ 304 kündigte. Ihre Abreiſe nach Hochſeß konnte ſie nicht mehr erwarten. „Unter dem Eindruck der Heimat ſoll mein Kind ſich entwickeln“, hatte ſie zu Konrad geſagt, ihre Wange ſchmeichelnd an die ſeine lehnend. Denn ſie war zärt⸗ lich zu ihm geworden — weich und zärtlich und von einem ſo lebendigen Eifer beſeelt, ihm jeden Wunſch von den Augen abzuleſen, daß er nur immer Mühe hatte, ihrem Dienenwollen zu wehren. Und doch war es ſo ſchön, ſie dienen zu ſehen: ihre Demut ſchien ſie noch mehr als ihr Stolz zur Königin zu erheben. Konrad wäre in dieſer Zeit reſtlos glücklich geweſen, wenn nicht ein Wort wie ein Pfeil ſich ihm immer wieder ins Herz gebohrt hätte: „Mein Kind“, ſagte ſie zehnmal, hundertmal am Tage. „Mein Kind.“ Riemals „unſer Kind!“ Hätte er ſie mit einer Frage nach dem Warum kränken ſollen? Viel⸗ leicht wäre dann, wenn auch nur für eine Sekunde, ihr Lächeln erſtorben! Er ſchwieg. Die letzte Etappe vor der Heimkehr war der Beſuch eines Münchener Arztes geweſen, zu dem die Sorge um Rorina Konrad getrieben hatte. „Was wollen Sie eigentlich bei mir?“ hatte der alte joviale Herr lachend ausgerufen, ſobald ſie vor ihm ſtanden. „Sie wurden wohl nach allen Regeln der Eugenik füreinander ausgeſucht? Erſt nachdem ihm Rorina von ihrem erſten Unglück leiſe und zitternd erzählt hatte, war er ernſter geworden. „Iſt Ihr erſter Gatte geſund geweſen?“ frug er. „Ich glaube — nein“, antwortete ſie zögernd. „Er ſtarb nach einem Jahr.“ „Na, alſo!“ rief der Profeſſor erleichtert. „Und nun ſehen Sie ſich den da an —“ und er lächelte Konrad zu; „wenn Sie nicht gerade den Anſpruch machen, daß Ihre Kinder Ackergäule werden —“ Seine kleinen klugen Augen waren prüfend von einem zum anderen Braun, Lebensſucher 20 305 gewandert. Dann hatte er ſich ſelbſt unterbrochen und in etwas gedehnterem Ton geſagt: „Sie haben beide dieſelben Augen? „Wir ſind verwandt, Herr Profeſſor“, war Konrads Antwort geweſen. „Rahe? „Unſere Großväter waren Geſchwiſter. „Hm, hm!“ machte der Profeſſor. „Alte Familie? „Sehr alt — ſo wie die Hochſeß ungefähr. Der alte Herr hatte gelacht — ein wenig gezwungen, wie es Konrad vorgekommen war —: „Deren erſter nachweisbarer Ahnherr bekanntlich Jeſum Chriſtum in den Sattel half, als er in Jeruſalem einzog.“ Dann hatte er ſich Rorina zugewandt, die ihn mit tiefernſtem Frageblick nicht aus dem Auge gelaſſen hatte. „Keine Sorge, Frau Baronin, keine Sorge. Ich freue mich ſchon des ſtrammen Stammhalters, zu dem ich werde gratulieren dürfen. Auf Rorinas Glücksglanz war ein Schatten gefallen, wie ſchon eine kleine Wolke am blauen Himmel ihn auf die blühende Wieſe wirft. Aber wie die leiſe erſchauern⸗ den Blumen ihre Kelche wieder der Sonne öffnen, ſo⸗ bald ſie lachend unter dem ſcherzend vorgezogenen Schleier hervorſieht, ſo verflog jede Erinnerung daran unter dem Einfluß von ihres Herzens ſtrahlender Seligkeit. Kurz ehe ſie weiter gereiſt waren, kam ihnen die Rach⸗ richt, daß der alte Giovanni, den ſie im Palazzo Ritorni als Türhüter zurückgelaſſen hatten, und der damit ſehr zufrieden geweſen zu ſein ſchien, verſchwunden ſei. Rie⸗ mand wiſſe, wohin er ſich begeben habe; nur Battiſto gegenüber habe er am Abend vorher geäußert, daß es Zeit ſei, die Fledermäuſe aus dem Turm zu jagen, ſonſt würden ſie ſich in Monna Lavinias Haare hängen. Konrad war ernſtlich beunruhigt um den Alten. „Ich weiß gewiß, daß er in Hochſeß ſein wird, wenn wir kommen“, ſagte Rorina überzeugt. 306 „Wußteſt du denn von ſeiner Abſicht? Hatteſt du Rachricht von ihm?“ frug Konrad, nicht wenig erſtaunt über die Beſtimmtheit ihrer Ausſage. „Rein,“ gab ſie lächelnd zur Antwort, „aber ich kenne unſer Volk: je geringer ſeine Bildung iſt, deſto ſicherer führt der Inſtinkt es ſeinen Weg. Und ſolch ein „Schwach⸗ ſinn“ wie der Giovannis iſt vielleicht nur die Entwick⸗ lung eines höheren Sinns! „Du würdeſt ihn auch nicht um unſeres Kindes willen fürchten? Sie lachte hell auf, ihre Arme zärtlich um ſeinen Hals legend. „O du aufgeklärter Deutſcher!“ rief ſie, „was biſt du töricht! Keinen beſſeren Schutz wüßt' ich für mein Kind, als ihn!“ Und nun läuteten vom Domturm zu Bamberg auch ihnen die Glocken — die kleinen mit den hellen Kinder⸗ ſtimmen, die großen mit dem Poſaunenton. Sie waren ſchon in vielen deutſchen Kirchen mitein⸗ ander geweſen. Rirgends hatte Rorina zu beten ver⸗ mocht, wie ſie es in Florenz täglich zu tun gewohnt war. „So düſter ſind eure Kirchen — als wäre Religion nur für Büßer und Leidtragende,“ hatte ſie erklärt, „ſie drücken nieder, und dann am meiſten, wenn ihre Spitz⸗ bögen alle Schwere des Steins aufgelöſt zu haben ſcheinen. Sie machen es genau wie eure ſpitzen Kirch⸗ türme — die wir auch nicht kennen, — ſie weiſen alle nach oben, von der Erde fort, als hätten wir hier unten nichts zu ſuchen.“ „Und iſt nicht der Inhalt und Sinn aller Religion ein Führen und Weiſen nach oben, über uns hinaus? hatte Konrad gefragt. „Rein, nein,“ hatte ſie erwidert, um dann nachdenk⸗ lich, die Augen ins Weite gerichtet, fortzufahren: „Wie der Mann ſich ein Haus baut, wenn er eine Familie 20* 307 gründet, Mauern um ſein Leben errichtet, ſeinem Umher⸗ ſchweifen eine Ende bereitend, ſeiner Arbeit einen be⸗ ſtimmten Kreis anweiſend, ſeine Freiheit, die ihn viel⸗ leicht bisher über alle Grenzen hinweg, ziellos umher⸗ trieb, freiwillig beſchränkend, ſo bauen wir wohl auch ein Haus für unſere Seele, die ſich im Weiten verlor, denn was ſie fand, wenn ſie ſuchte, das waren doch immer nur neue Weiten geweſen. Ein Haus zur Ruhe, zur Sammlung — eins der bewußten Beſchränkung vielleicht auch hier — eines, in dem jeder die Symbole deſſen errichtet, was ſeinen Hoffnungen und Sehnſüchten als das Höchſte erſchien. Meinſt du nicht —“ und ſie hatte dabei jenes demütige Lächeln, das ihr, ſeitdem ſie ſich Mutter fühlte, einen ſo wundervollen neuen Reiz verlieh — „daß dies Religion iſt? Er hatte ihr damals, betroffen von einer Auffaſſung, die ihn um ſo ſchmerzvoller berührte, als ſie ihm richtig erſchien, nur ausweichend geantwortet. Heute war ihm als ſängen die Glocken, was ſie geſprochen hatte, aber es klang ihm nicht wie Unterwerfung, ſondern wie Sieg und Jubel. Poſaunen der Erzengel am Tore der Ewigkeit — . Ewigkeit — ein Geheimnis, deſſen dunkle Pforte er nie zu berühren gewagt hatte, aus Angſt, nur eine Spalte könne ſich öffnen und der Blick durch ſie ihn zerſchmettern. „Sind wir nicht ſelber ewig?“ dachte er jetzt. Und mit einem ſeligen Blick umfaßte er ſeines Weibes Ge⸗ ſtalt, während ſie an ihm vorüber durch das offne Portal des Domes ſchritt. Sie traten leiſe zwiſchen die große Menge der Betenden, hinter den Sarkophag, der Kaiſer Heinrichs II., des letzten und größten Sachſenkaiſers, und ſeiner Gemahlin, der heiligen Kunigunde, Gebeine trug. Rechts und links von ihnen knieten in Reihen betende Ronnen. Über ſehr jungen, unſchuldigen Geſichtern trugen die einen 308 große, weiße Flügelhauben; mit ſchwarzen Schleiern deckten die anderen ihre grauen Scheitel; und goldene Kreuze glänzten über den breiten, ſchneeigen Schulter⸗ kragen. Auf den Geſichtern aber lag ein Frieden, der ſich bei den einen als ein Auslöſchen alles Lebens, bei den anderen als ein Erwachen tieferen und reicheren Lehens offenbarte. Die Litaneien wechſelten mit dem Geſang. Viele Prieſter ſtanden droben auf dem hohen Chor, fernab der Gemeinde, ſo daß nur das Weiß und das Rot und das Gelb ihrer Gewänder erkennbar war und ihr feier⸗ liches Hin⸗ und Wiederſchreiten, Beugen und Aufrichten. Einer trat in ihre Mitte mit weißem Haar; Chorknaben trugen ſeinen ſchweren, goldgeſtickten Mantel, andere ſchwangen Weihrauchfäſſer, ſo daß ſein ehrwürdiges Haupt aus lichten Wolken hervorſchien. Und er trat weit vor auf der höchſten Stufe des Altars und hob die goldene Monſtranz. In breiten Strahlen leuchtete in dieſem Augenblick die Morgenſonne durch die Fenſter über ihm. Zu einem lichten Schleier wurde der Weihrauch, des Prieſters weiße Haare zu einem Heiligenſchein, zu einer Flamme die Monſtranz; niedergezwungen von frommem Ent⸗ zücken und heiliger Scheu ſanken die Andächtigen in die Knie. Rorina mit ihnen; und tief, ganz tief, als könne ſie ſich an der Gebärde vollkommener Hingabe nicht genug tun, beugte ſie noch den Kopf auf die gefalteten Hände. Eine Flut weißen Lichtes füllte das Schiff der Kirche, ſtreckte ihre mächtigen grauen Pfeiler, weitete ihre Wöl⸗ bung. War's nicht als zuckten die Lider des ſchlummernden Kaiſerpaars? Reckte der ſteinerne Reiter drüben ſich nicht im Sattel? Groß und ſtaunend, die Unterlippe mißbilligend vorgeſchoben, richtete ſich der Blick des ritterlichen Königs auf ſein Ebenbild, das da unten allein noch aufrecht ſtand. 309 In Konrads Stirn ſtieg die Glut der Beſchämung. Sie alle hatten die Mauer um ſich gebaut und ihr Allerheiligſtes hineingetragen. Brauſend ſetzte die Orgel ein. Der Geſang der Frauen miſchte ſich in ihre vollen Akkorde. Ein Stimme darunter — es war die der jüngſten der Ronnen mit den Flügel⸗ hauben — erhob ſich jauchzend wie ein Lerchenlied über allen: „Jungfrau Maria, wir grüßen dich, Heilige, gnadenreiche⸗ Und Konrad Hochſeß kniete neben Rorina, ſeinem ge⸗ ſegneten Weibe. Sie fuhren mit vier Füchſen durch das Wieſental. Ein friſcher Oktoberwind ſchüttelte die Bäume über ihnen, daß es goldene Blätter regnete. Und was der Himmel der Tochter Italiens an Farben ſchuldig blieb, das gab ihr der Wald in märchenhafter Fülle. Immer wieder mußte der Kutſcher die erregten jungen Pferde bändigen, denn Rorinas Augen wurden nicht ſatt, zu ſehen. In allen Schattierungen von Braun und Gelb und Rot leuchteten die Höhen. Zu Ehren der Ein⸗ ziehenden trugen ſie ihr Feſtgewand. Es war Sonntag heute. Von Wandernden war die Straße belebt. Aus allen Wirtshäuſern am Wege ſchallte Muſik; die hellen Kleider der Mädchen, die bunten Schärpen der Kinder belebten die Wieſengrüude wie große Blumen. Und je näher ſie dem Tale der Hochſeß kamen, — ſie fuhren nicht über die kahle Hoch⸗ ebene, denn nur der ſchönſte Weg ſollte Rorina in die Heimat führen — deſto mehr ſammelten ſich die Land⸗ leute an der Straße, das junge Paar neugierig er⸗ wartend. Im Wirtsgarten von Gaſſelsdorf unter der rieſigen Kaſtanie, deren Aſte ſich über ihn und noch weit über 310 die Straße reckten, — ein Dach von ſchimmerndem Golde heut, — ſtand die dicke Wirtin, einen Korb rot⸗ backiger Äpfel in den Wagen reichend. „Gottes Segen zum Einzug“, ſagte ſie. Rorina begriff nicht, warum Konrad ihr kaum Zeit ließ zum Danken. Am nächſten Dorf, wo das Schulhaus für die Hoch⸗ ſeſſer Jugend lag, ſtand der Lehrer, umringt von Buben und Mädels, die Fahnen ſchwenkten und Hurra riefen; — Rorina in ihrer Freude hätte am liebſten jedem einzelnen die roten Wangen geküßt. Dann wurde das Tal ganz ſtill, ganz eng und heim⸗ lich. Hier war kein Platz für ein Haus. Ernſthaft, ſchon im beginnenden Abenddämmern, ſtanden die wal⸗ digen Höhen, die zerklüfteten Felſen, dem leiſe ſich ſelbſt in den Schlaf ſingenden Bächlein zur Seite, wie treue Wächter an der Wiege des Thronerben. Rorinas Kopf lehnte an Konrads Schulter. „O, du — du,“ flüſterte ſie, während ihre Augen durch Tränen der Seligkeit glänzten, „wie ſchön, wie wunderſchön iſt unſres Kindes Heimat! „Unſres Kindes!“ Ein erſtickter Schrei war's, mit dem Konrad ſie an ſich zog, ihre Stirn, ihre Augen, ihre Lippen mit Küſſen bedeckend, um ſchließlich den Mund in heißer Leidenſchaft auf den Racken zu preſſen, da, wo der Anſatz der blauſchwarzen Haare ihn am weißeſten erſcheinen ließ. „Konrad, Konrad!“ mahnte ſie leiſe, dunkel erglüht nach dem Kutſcher weiſend. „Der Johann?!“ lachte er übermütig auf, „der hat an die Füchſe zu denken und dann, — meinſt du nicht, daß er weiß, was ein junger Ehemann tut, der eine wunderſchöne Frau hat?!“ Er verſuchte ſie wieder zu küſſen; ſie aber bog ſich weit zurück, „du weißt doch, Konrad —“, mit leiſem Vorwurf ſagend. „ch weiß!“ entgegnete er, ſie frei gebend, — eine 311 unſichtbare Hand ſchien die Falte zwiſchen ſeinen Brauen wieder tief in die Stirne zu modellieren; — „ich weiß, daß du nur dem Kinde gehören willſt.“ Um dann, als bereue er den Ton von Unmut, den er angeſchlagen hatte, mit innigem Ausdruck in Stimme und Gebärde hinzuzufügen: „Unſerem Kinde! Ein Seitenſprung der beiden Vorderpferde riß ihn aus dem Sitz empor. „Was ſtehſt du da, dummes Gör, und erſchrickſt die Gäule“, ſchimpfte der Kutſcher, der die Tiere raſch wieder in ſeine Gewalt bekam. Rorina hatte ſich heraus⸗ gebogen. Ein blondes Mädchen mit hellen, zärtlichen Blauaugen ſtand am Wege, einen großen Strauß bunter Herbſtblumen, den ihre beiden Hände kaum zu um⸗ klammern vermochten, in den Wagen hineinſtreckend. „Ich habe zur heiligen Jungfrau gebetet — alle Tage — flüſterte ſie aufgeregt und ließ ihn auf Norinas Schoß fallen, über dem die Blumen ſich breiteten wie ein Teppich. Sie wollte danken, doch die Kleine war auf und davon. „Der Greislerin ihr lediges Kind“, brummte der Kutſcher ärgerlich. Der Weg ſtieg an. Schon grüßte von der flatternden Fahne die rote Roſe von Hochſeß. Und die unter⸗ gehende Sonne ſpiegelte ihre Glut in allen Fenſtern des Schloſſes. „Lauter Roſen leuchten dir!“ rief Konrad ſelig. Sie aber wandte ihm das Antlitz zu. Es war todblaß. „Es ſind Roſen, nicht wahr?!“ kam es bebend von ihren Lippen. „Kein Blut? — Kein Blut?! Sie mußten an Eckartshof vorüber. Konrad hatte nicht gewagt, durch ein Verbot des Empfangs den Arger der alten Damen noch mehr zu ſteigern; mit er⸗ leichtertem Aufatmen ſah er nun die geſchloſſenen Türen, die verhängten Fenſter. Schon waren ſie am Garten vorbeigefahren, als Rorina, die Menge der Dahlien 312 darin bewundernd, ſich nochmals umwandte; da ſaßen auf der Hecke zwei Köpfe wie körperlos, jeder ein Ab⸗ bild des anderen: graue Scheitel um farbloſe Geſichter — hämiſch herabgezogene Mundwinkel, graugrün von Reugierde, oder von Haß — oder von beidem? — funkelnde Augen. Sie bohrten ſich alle vier in Rorinas Antlitz. „Mal oggio!“ ſchrie ſie auf, das Geſicht mit beiden Händen bedeckend. Sie ließ es ruhig geſchehen, daß Konrad ſie in die Arme nahm und ihr zuredete wie einem verängſtigten Kinde. Er erzählte von den Tanten als verbitterten alten Jungfern, die ſchon auf dem Leben der Großmutter gelaſtet hätten, das ihre aber nicht verfinſtern dürften. „Darum bat ich ſie, von Hochſeß hinunter, hierher zu ziehen, wo du ihnen nur begegnen wirſt, wenn du willſt“, ſchloß er. Mit einem beruhigten Lächeln richtete ſie ſich auf. „Wie gut das iſt!“ ſagte ſie. „Run liegt es an mir, den Bann des böſen Blickes zu brechen und wieder gut zu machen, was du in blinder Sorge um mich ſchlecht gemacht haſt. Morgen ſchon bitt' ich ſie, wieder droben zu wohnen.“ Sie näherten ſich dem Schloßtor. Pechfackeln leuch⸗ teten an ſeinen beiden Seiten. Lichtergirlanden über⸗ ſpannten den ganzen Hof. Und als Rorina den Fuß auf die Schwelle der Haustür ſetzte, krachten Böller⸗ ſchüſſe, zehnfaches, weithin hallendes Echo weckend, vom Schloßturm. Mit einem Lächeln, das ihr alle Herzen gewann, ſo ſehr ihre hohe Geſtalt und ihre königliche Haltung auch ehrfurchtgebietend erſchien, wollte ſie an Konrads Arm an den Reihen der Bedienſteten vorüber in die hell erleuchtete Halle treten. Da vertrat eine groteske Erſcheinung, halb Clown, halb Geſpenſt, ihr den Weg: in gelbem, fleckigem, vielfach geflicktem Pierrot⸗ 313 koſtüm ein uralter Mann. Sie ſchwankte, entſetzt nach dem Herzen greifend. „Giovanni, was ſollen die Poſſen!“ dröhnte Konrads zornige Stimme. „Fort mit dir!“ Und er packte ihn an beiden Armen. Der Alte aber ſah ihn nicht und fühlte ihn nicht; ſeine Augen hingen wie gebannt an Rorind. „Mein Seil iſt geſpannt, Monna Lavinia,“ ſagte er mit der klangloſen Stimme der Greiſe, „ſoll ich nun tanzen, damit Ihr lacht?! Wütend wandte ſich Konrad an die Diener: „Was haltet ihr Maulaffen feil?! Schafft ihn fort!“ Schon ſprangen ſie vor, ſich des luſtigen Spaßes freuend, als Rorina, wieder ganz beruhigt, den Blick lächelnd zu Konrad erhob. „Schilt ihn nicht, Liebſter,“ bat ſie weich; „er hat mich lieb. Er kommt aus der Heimat. Laß ihn mir!“ Und ſie legte die ſchlanke Rechte ſchützend auf den Kopf des Alten. Der aber ſank unter dieſer Berührung zuſammen; mit einem knarrenden Tone aufweinend wie ein kleines Kind, kauerte er, ſich in die Falten ihres weiten, weißen Mantels vergrabend, ihr zu Füßen. Stumm ſtarrten die Diener. Anbetend umfaßte Kon⸗ rads Blick die geliebte Frau. Die Bogenlampe über der Türe warf ihr mildes, weißes Licht auf Rorina und den Narren. Die Monde, die kamen, von mildem Herbſthimmel überdacht, von Schneewinterflocken eingeſponnen, waren geweiht von einem einzigen ſtillen Warten. Eine in Mutterſeligkeit verklärte Frau, ging Rorina durch Haus und Hof. Selbſt die Knechte und Mägde in Ställen und Scheunen ſpürten etwas von dem Glanz und dem Frieden, der von ihr ausging. Sie vergaßen ihres Zanks und mäßigten ihre lauten Reden, wenn ſie auch nur von ferne vorüberkam. 314 Mit ſauerſüßem Lächeln waren die Tanten — die ihr Märtyrertum nicht ſelbſt in Frage ſtellen wollten, und ſich darum nicht merken ließen, wie ſie ſich im Grunde ihres Lebens auf dem Eckartshof gefreut hatten, wie die Teilnahme der Rachbarſchaft an ihrer „Verbannung ihnen zur Daſeinsbereicherung geworden war — in ihren alten Hochſeſſer Räumen wieder eingezogen. Durch tägliche kleine Aufmerkſamkeiten warb Rorina förmlich um ſie, und wenn ſie nachmittags mit ihnen am Teetiſch ſaß — ſie hatte die Gewohnheiten der Gräfin Savelli wieder aufgenommen —, und zarte Spitzen um all die vielen winzigen Hemdchen und Jäckchen ſetzte, dabei den guten Ratſchlägen der alten Fräuleins freund⸗ lich zuhörend, wurden ſelbſt die Züge Nataliens und Eliſens ſtundenweiſe ganz weich. „Eine Zauberin biſt du!“ ſagte Konrad zu ihr. Sie ſchüttelte lächelnd den Kopf: „Rur eine ganz von Liebe Erfüllte.“ Zu Fuß und zu Wagen machten ſie täglich weite Aus⸗ flüge. „Ich muß meines Kindes Land entdecken, wie du dein Mutterland“, verſicherte Rorina. Aber ihr Entdecken war zugleich ein Erobern. Denn die Fülle ihre Liebe ließ ſie im ärmlichſten Hauſe Eingang finden und mit den geſchärften Blicken der Liebenden die verſteckteſte Rot entdecken. Wie eine fremde Königin kam ſie und überſchüttete mit Gaben was litt und darbte. „Ich will meinem Kinde die Wege bereiten,“ ſagte ſie leuchtenden Auges, „die Welt ſoll ihm entgegen⸗ lachen, wohin es blickt. „Mein Kind!“ — Es traf ihn immer wieder wie ein Radelſtich. Er entſann ſich nicht, daß ſie das „unſer Kind“ je wiederholt hätte, und es gab Augenblicke, wo etwas wie Haß gegen dieſes Kind, das nicht eine innigere Bindung, ſondern eine Schranke zwiſchen ihnen zu werden drohte, in ihm aufſtieg. 315 Er liebte Norina. Seit ſie ſein Weib geworden war, begehrte er ſie immer leidenſchaftlicher. Und immer mehr verſagte ſie ſich ihm. Eines Abends überraſchte er ſie, wie ſie vor dem Spiegel ihre Haare kämmte, aus deren ſchwarzer Fülle Hals und Schultern wie Mondlicht leuchteten. Kaum daß ſie den heißen Blick ſeiner Augen ſah, als ſie ſich, dunkel errötend, wie ein ſcheues Mädchen in die Falten des herabgeglittenen Kimonos wickelte. „Sag mir die Wahrheit, Geliebte,“ flehte er, ihre beiden Hände umklammernd, „und wenn ſie noch ſo bitter iſt. Liebſt du in mir nur den Vater deines Kindes? Da lächelte ſie ihr unbeſchreibliches, ſeliges Mutter⸗ lächeln. „Rur, ſagſt du, nur?!“ flüſterte ſie und lehnte den Kopf an ſeine Schultern, „weißt du denn nicht, daß das die allergrößte Liebe iſt? Als im Spätherbſt Carlo und Maud Savelli nach Hochſeß kamen, — ſie hatten gleich nach ihrer Hochzeit die Saiſon in Deauville mitgemacht und waren dann in Paris geblieben — beſchlich ihn ein leiſes Gefühl von Reid. Sie waren ein Liebespaar. Maud unterſtrich mit allen Mitteln der Koketterie dieſen Eindruck. „Gräßlich, verheiratet zu ſein,“ rief ſie gleich am Abend ihrer Ankunft und ſchüttelte ſich, „nichts hat mehr den entzückenden Reiz des Unerlaubten! Wenig⸗ ſtens hab' ich es ſo weit gebracht, daß man mich überall für ſeine Mätreſſe hält.“ Dabei ſchaukelte ſie auf Carlos Schoß, der ſie lachend in die Wange kniff. „Die Perfektion, mit der ſie ihre Rolle ſpielt,“ ſagte er, „iſt ſo groß, daß ein verrückter Amerikaner tatſäch⸗ lich meine Erlaubnis einholen wollte, um ſie — werben zu dürfen.“ „Macheart doch nicht etwa?“ frug Konrad überraſcht. „Ach richtig!“ ſagte Carlo gedehnt und zwinkerte luſtig mit den Augen; „ihr kennt euch ja! Inzwiſchen zog Maud die Schwägerin in eine Ecke. 316 „Schon jetzt, du Arme?“ — ein bedeutungsvoller, er⸗ ſtaunt mitleidiger Blick ruhte bei der Frage auf Rorinas Geſtalt —. „Konrad hätte ſich wirklich in acht nehmen können!“ Rorinas Freude über ihre Hoffnung ver⸗ blüffte ſie förmlich. „Übrigens,“ flüſterte indeſſen Carlo Konrad zu, „die Leonie Doris läßt dich grüßen. Ein Prachtweib, ſag ich dir. Aber nicht zu bezahlen. Rur darum mußte Macheart ſie abtreten. Irgendeinem Großfürſten, er⸗ zählt man ſich.“ Leonie! War's nicht die Geſchichte eines anderen, an die ihn dieſer Rame erinnerte? Er ſah nur Rorina. „Denke dir, Carlo,“ hob das Vogelſtimmchen Mauds wieder zu zwitſchern an, „ſie wollten das Kind!! Ra, chaqu'un à son goüt! Wir gönnen uns den notwendigen Stammhalter erſt, wenn wir aufgehört haben werden, ineinander verliebt zu ſein. Ihr macht's umgekehrt, was? Bei euch ſoll der Rauſch der Liebe nachher kommen?! Dann denk' ich mir freilich ein Kind als Zeugen und Anhängſel äußerſt unbequem! Rorina ſchwieg hartnäckig. Als ſie ſich getrennt hatten, ſagte ſie zu Konrad: „Du ſiehſt, wie weltenfremd wir einander ſind. Mir käm's wie Entweihung vor, mit ihr von meiner Liebe zu reden. Konrad zog ſie in die Arme: „Liebſt du mich denn, Rorina?“ All ſeine brennende Sehnſucht lag in ſeiner Frage. „Wäre ich ſonſt dein Weib?“ antwortete ſie weich, dem Druck ſeiner Arme nachgebend —. Am nächſten Morgen, als ſie erwachte, ſchien die helle Sonne auf das Antlitz des ſchlafenden Mannes neben ihr. Wie vergrämt es ausſah! Wie tief die Falte zwiſchen ſeinen Brauen ſtand! Sie erſchrak ſo ſehr, daß ihr Herz wild zu pochen begann. Hatte ſie ihm weh getan? Ihr blaſſes Geſicht überzog ſich mit dunklem Rot. War ſie ihm irgend etwas ſchuldig geblieben? Was hatte Maud 317 geſagt? — Der Liebesrauſch, der vor dem Kinde kommt, oder nach ihm kommen muß! Auch ſie hatte einmal Träume gehabt — heiße Träume, als ſie noch ein kleines Mädchen geweſen war! Und hatte ſich dann dem erſten Manne vermählt, ganz gleichgültig. Darum war wohl auch das Kind in ihrem Leibe geſtorben! Aber dieſes Kind würde leben — leben! „Denn ich liebe ihn“, ſagte ſie unwillkürlich laut, als müſſe ſie es vor ſich ſelbſt bekräftigen. Die ganze Zeit, die ſie einander kannten, erwachte vor ihr: wie ein ſonnenheller Frühlingstag war ſie. „Wie ein Frühlingstag —“ wiederholte ſie langſam, vor ſich hinſtarrend. Kein Sommer! Und ihre Liebe, die Frucht tragende Liebe, war ſie nicht eine wilde Roſe mit ihren fünf kleinen Blättchen, den blaſſen, leicht zer⸗ flatternden; der Liebesrauſch aber, den ſie nicht kannte, den er erſehnte, — ſie wußte es plötzlich, als hätte er es ſelbſt geſagt — war er jene wundervolle gefüllte Gartenroſe, die um ihrer Schönheit willen keine Früchte tragen darf?! „So hab' ich ihn nicht genug geliebt?!“ ſchrie es auf in ihrem Herzen; „gib mir ein Zeichen, ein einziges Zeichen deiner Gnade, heilige Mutter Gottes! Da hüpfte das Kind in ihrem Leibe, ganz deutlich, zum erſtenmal. Mit einem ſeligen Lächeln ſank ſie wie⸗ der in die Kiſſen zurück, den Kopf an Konrads Schul⸗ ter, und ſchlief ein. Am nächſten Tage — ſie trug ein Kleid aus dunkel⸗ grüner Seide, das in tiefen Falten an ihr niederfiel, nur mit einem Kragen alter Spitzen geſchmückt, — war ſie ſo ſchön, daß ſelbſt Maud, die ſonſt viel zu ſehr mit ſich beſchäftigt war, um für den Reiz anderer Frauen einen Blick übrig zu haben, in hellſtes Entzücken geriet. „So, gerade ſo müßteſt du dich malen laſſen;“ rief ſie aus; „alle Frauen würden berſten vor Reid an⸗ geſichts eines ſolchen Bildes! Strahlſt du doch wie ver⸗ 318 klärt zu einer Zeit, wo ſie ſamt und ſonders ſcheußlich ſind!“ „Und wir hätten auch ſchon den rechten Maler für dich“, warf Carlo ein. „Vittorio Tenda! Rorina ſah verwundert auf: „Vittorio Tenda lebt?! Carlo nickte lächelnd: „Vittorio Tenda — ja! Er lebt nicht nur, er iſt ſogar ein Maler geworden! Wie wär's, Konrad, willſt du Rorinas erſten Verehrer zu ihrem Porträtiſten machen?! „Warum nicht?“ entgegnete der, auf den Scherz ein⸗ gehend, „bin ich doch ſicher, daß es ein abgewieſener Freier war. Carlo lachte hell auf: „Freier! Ausgezeichnet! — Der Sohn des alten Lucca vom Ponto Vecchio der Freier der Conteſſa Savelli!“ Maud wurde neugierig: „Das iſt ja ſchrecklich roman⸗ tiſch! Erzähle Rorina — bitte, bitte wie war's?“ quälte ſie. „Es iſt nichts zum Lachen, Maud“, antwortete Rorina ablehnend. Und Konrad kam ihr zu Hilfe, indem er, zu Carlo gewendet, frug: „Was weißt du von ihm? Am Ende wäre dein Scherz ernſthaft zu erwägen? „Ich ſah bei einem Kunſthändler ein paar Porträts mit ſeinem Ramen gezeichnet“, begann der Graf. „Wißt ihr, ſo ganz verrückte,“ unterbrach ihn Maud lebhaft, „Menſchen mit grünen Backen und blauen Haaren. Konrad notierte ſich die Adreſſe. „Ich werde mich nach ihm erkundigen laſſen“, ſagte er, und fügte, mit einem Blick auf Rorina, hinzu: „Was meinſt du, wenn er der erſte Anwärter auf eine unſrer Kloſterzellen wäre? „Kloſterzelle?!“ Maud horchte auf, und Konrad er⸗ zählte ihr von dem Plan, den Eckartshof erholungs⸗ und ruhebedürftigen Künſtlern zur Verfügung zu ſtellen. Sie klatſchte vergnügt in die Hände. „Rorina als Köni⸗ gin eines Muſenhofes — wundervoll!“ rief ſie, „aber 319 nicht wahr, ihr ladet mich ein, wenn ſchöne Frauen unter die edlen Sänger die erſten Kränze verteilen? Und ſcherzend gingen ſie auseinander, ohne des Malers noch einmal Erwähnung zu tun. „Ich danke dir;“ ſagte Rorina warm, als ſie allein mit Konrad war; „Mauds Gelächter und Carlos Spott vertrag' ich nicht immer.“ Konrad drückte ihr die Hand. „Ich verſtehe“, ent⸗ gegnete er zärtlich. „Was meinſt du: wollen wir deinem alten Freunde weiter helfen?“ Ein dankbarer Blick lohnte ihn. Als ſie aber dann allein in ihrem Zimmer war, das nur ein paar Kerzen flackernd erleuchteten und vor den Spiegel trat, ſah ihr ein Geſicht entgegen, vor dem ſie erſchrak. Waren das ihre Augen, die ſo unruhig flackerten? War es ihr Herz, das aus ihnen ſprach? Und was pochte plötzlich ſo ungeſtüm in ihren Adern, daß ſie an den Schläfen in blauen Strichen ſcharf hervortraten? — Vittorio Tenda, der Handwerkerſohn, der die bren⸗ nende Glut ſeines Herzens im Arno löſchen wollte, — der Bettler, dem ſie Geld hinwarf ſtatt ihres Herzens, und der es nahm?! Sie wollte eben die Lippen hoch⸗ mütig ſcherzen, den Kopf ſtolz in den Racken werfen, als die Tränen ihr aus den Augen ſtürzten, unaufhalt⸗ ſam. Warum nur, warum? Während des Aufenthalts der Savellis, der nicht un⸗ bekannt blieb — die Tanten hielten einen brieflichen Verkehr mit den Rachbarn um ſo eifriger aufrecht, je mehr der perſönliche unterbrochen war, — machten die Greifenſteiner ihren Gegenbeſuch. Sie hatten ihn lang genug aufgeſchoben, waren doch die Hochſeſſer von der alten Tradition abgewichen, indem ſie ihre Antrittsviſite nicht angekündigt und einfach ihre Karten zurückgelaſſen hatten, und man ſich notgedrungen, — man war ja ſo gar nicht in Toilette geweſen! — verleugnen laſſen mußte! Die Baronin Rothauſen hatte bei dem nach dieſem Er⸗ 320 eignis raſch zuſammen geladenen Teebeſuch der Rachbarn energiſch erklärt, daß man der „hochmütigen Ausländerin“ beweiſen würde, wie wenig geſpannt man auf ihre Be⸗ kanntſchaft ſei. In der Tat war die Bezähmung der allgemeinen Reugierde nur das Reſultat äußerſter Selbſt⸗ beherrſchung. Sie wäre unmöglich geweſen, wenn man nicht durch die alten Fräuleins ſo genau über alle De⸗ tails der jungen Ehe unterrichtet geweſen wäre, und ſie hatte jetzt — wo die Kunde von der amerikaniſchen Mil⸗ liardärin und ihren fabelhaften Toiletten überall ver⸗ breitet war — ihre äußerſte Grenze erreicht. „Wie ſie Ihrer verſtorbenen Frau Schwiegermutter ähnlich ſehen!“ flötete die Baronin nach überaus zärt⸗ licher Begrüßung der „lieben, jungen Rachbarin“, und fügte augenverdrehend hinzu: „daß die Arme ein ſo trau⸗ riges Ende nehmen mußte! Vergebens erwartete ſie — was bisher von keinem jung⸗ vermählten Paar umgangen worden war — den Rund⸗ gang durch Haus und Wirtſchaft. Rorina dachte gar nicht daran, fremden Menſchen einen weiteren Einblick in ihre Häuslichkeit zu gewähren, als den in ihre Emp⸗ fangsräume, und da ſie ſich ebenſo in ihnen bewegte, wie in den großen hohen Sälen des Palazzo Savelli, ſo war das Urteil über ſie, das binnen kurzem das Ur⸗ teil der ganzen Rachbarſchaft ſein würde, raſch gefällt: „hochmütige, kaltſchnäuzige Pute“, dachte Frau von Rot⸗ hauſen biſſig und ſetzte ſich oſtentativ zu den alten Fräu⸗ leins. Rorina verſuchte indeſſen, Hilden in ein Geſpräch zu ziehen. Das junge Mädchen, die in den wenigen Jahren ſeit Konrad ſie nicht geſehen hatte, raſch gealtert war,— wie Frauen altern, die nichts haben, als ihre Jugend — tat ihr leid. Sie wußte, daß ſie Konrad beſtimmt ge⸗ weſen war; vielleicht hatte ſie ihn ſogar geliebt, ſo ge⸗ liebt, wie ſie ſich erinnerte von ihrer Erzieherin gehört zu haben, daß deutſche Mädchen lieben: bis zur völligen Braun, Lebensſucher 21 327 Aufopferung ihrer ſelbſt. Sie verſuchte alle Taſten auf der Klaviatur des Herzens anzuſchlagen, vergebens. „Wie verſtimmt dieſes Inſtrument ſein muß,“ dachte ſie, bis Hilde plötzlich aus faſt peinlicher Einſilbigkeit her⸗ aus, von ihrer Kinderfreundſchaft mit Konrad, ihrem letzten längeren Beſuch auf Hochſeß, — „wo alle Fäden ſich zwiſchen uns wieder anknüpften,“ wie ſie geziert be⸗ merkte — eifrig zu erzählen begann. „Was wohl aus dem Fräulein geworden ſein mag, meinte ſie dann, ihre Stimme erhebend, „die mich da⸗ mals durch ihr taktloſes Benehmen zwang, meinen Aufenthalt abzubrechen? Wie hieß ſie doch?! Ach ja — Gerſtenbergk — glaube ich, oder Gerſtental“. „Gerſtenbergk?“ wiederholte Rorina fragend. In den matten Augen Hildens zuckte es triumphierend auf: Sie wußte alſo offenbar nichts von ihr. „Ja, Elſe Gerſtenbergk,“ entgegnete ſie dann; „ein Mädchen, die für irgend ein Geſchäft Puppen anzog, und die in unbegreiflicher Güte von der alten Frau Gräfin zu ihrer Erholung hierher geladen worden war. Sie war wohl in Berlin, wo dergleichen möglich ſein ſoll, Ihrem Herrn Gemahl nahe getreten.“ Rorina lächelte. „Gewiß, Konrad erzählte mir von ihr,“ ſagte ſie, den Kopf hochmütig in den Racken wer⸗ fend, „und ich freue mich, auch von Ihnen beſtätigt zu hören, daß die Gräfin Savelli uns mit gutem Beiſpiel voranging. Wir werden den ganzen Eckartshof nun⸗ mehr Erholungsbedürftigen zur Verfügung ſtellen.“ Da⸗ mit ließ ſie das Mädchen ſtehen und ging in Konrads Zimmer, wo Maud als einzige Dame zigarettenrauchend zwiſchen den Herren ſaß. Sie ſah nur noch, wie Alex Rothauſen Konrad lachend auf die Schulter ſchlug und hörte, als er ſagte: „Spiel doch nicht den Säulenheiligen, Vetter! Du wirſt doch nicht leugnen können, Frau Renetta Veit auf Mord den Hof gemacht zu haben. 322 Wurden alle Geſpenſter wieder wach? dachte Kon⸗ rad müde. Da trat Rorina an den Tiſch. Alex ſchwieg betreten; eine Verlegenheitspauſe trat ein, die Mauds Lachen unterbrach. „Was die Deutſchen komiſch ſind!“ ſagte ſie; „Rorina iſt doch kein Kind mehr. Sie weiß ſo genau wie ich, daß alle Männer vor der Ehe ihre Aven⸗ türen haben.“ Und Rorina ſtimmte in ihr Gelächter ein. Rur Konrad ſah ihre Bläſſe und daß ſie ſeinen Blicken auswich. Warum hatte er ihr auch nicht früher von ſeiner Vergangenheit erzählt, — ſeiner Vergangenheit, die ihm gar nicht mehr gehörte, ſeitdem Gegenwart und Zukunft und die ganze Ewigkeit nur unter einem Ramen ſtand: Rorind. Endlich gingen die Gäſte, nachdem ſie wiederholt auf „gute Rachbarſchaft“ angeſtoßen und von dem „reizen⸗ den Abend“, dem „entzückenden Zuſammenſein“ geſprochen hatten. „Wie müde du biſt, Liebling“, ſagte Konrad, als er danach in Rorinas völlig erſchlaffte Züge ſah. Sie nickte nur. Wenn er ſie doch jetzt allein laſſen wollte! Aber er ging ihr nach. „Haſt du noch ein wenig Zeit für mich?“ frug er zärtlich. Wie hätte ſie „nein“ ſagen können, — ſie wollte ihn ja nicht verletzen. Sie nickte wieder. Und vor dem Kamine ſitzend, vor dem er ſo oft mit der Großmutter geſeſſen hatte, erzählte er ihr von Re⸗ netta — kurz und kühl, ohne ſich anzuklagen oder ſich zu entſchuldigen, eine fremde Geſchichte. Rorina ſchwieg, den Fuchsſchwanz des Pelzes, der um ihre Schultern lag, immer wieder durch die Hände ziehend. Ihr Herz zog ſich ſchmerzhaft zuſammen. Sie wußte genau, wie töricht es war. Was gingen ſie Konrads vergangene Reigungen an? ſagte ihr Verſtand deutlich genug. Dennoch! — Sie dachte ihres erſten Mannes, von deſſen leichtfertigem Leben ſie zu ſpät erfuhr, — als 21* 323 die Arzte das tote Kind ihrem qualvoll zuckenden Leibe längſt entriſſen hatten, und Wochen der Verzweiflung, der Selbſtvorwürfe hinter ihr lagen. Alle Dirnen von Florenz rühmte er ſich beſeſſen zu haben! Sie ſah mit ſcheuem Blick zu Konrad hinüber. Warum ſprach er nicht weiter? Dieſes Weib wird das einzige nicht geweſen ſein! Er hatte die Lippen feſt aufeinander gepreßt. An Elſe dachte er. Durfte er Geheimniſſe preisgeben, die die ihren waren? Den Schleier heben, den von ihren Tränen geweihten, den ſie ſelbſt darüber gelegt hatte? „Wer war Elſe Gerſtenbergk?“ fragte ihn in dieſem Augenblick Rorinas hart gewordene Stimme. Da erzählte er auch von ihr. Und Rorina hörte auf, den Fuchsſchwanz durch ihre Hände zu ziehen; ſie lagen ihr ganz ſtill im Schoß. „Und — du weißt nichts von ihr? Gar nichts? frug ſie dann. „Rein — nichts! Rorinas dunkle Augen ſtarrten ſekundenlang ins Feuer. „Ob ſie ein Kind haben mag von dir?“ flüſterte ſie vor ſich hin. Es wurde einſam auf Hochſeß. Die Gäſte reiſten ab. Der Winter kam. Und immer mehr ſchien Rorina ſich in ſich ſelbſt zurückziehen zu wollen. Konrad fühlte es, aber er bemühte ſich, jedes Gefühl der Kränkung zurück⸗ zudrängen. Er ſuchte ſie zu verſtehen, ihren unaus⸗ geſprochenen Wünſchen Rechnung zu tragen, auch wenn ſie ſich oft heimlich davonſchlich, um allein in den Wald zu gehen. Und ſo folgte ihr nur ſein ſehnſüchtiger Blick, ſo oft ihre hohe Geſtalt in den Zobelmantel gewickelt den Windungen der Hügel entlang auf den verſchneiten Park⸗ wegen ſchritt, oder drunten im Tal dem Lauf des ver⸗ eiſten Baches folgte. Er neidete es dem alten Giovanni, 324 daß er ihr keine Störung war, wenn er, ein treuer Hund, jedem ihrer Schritte leiſe nachging. Und er atmete er⸗ leichtert auf, ſah er ſie von ihm begleitet in einſame Wege biegen. Er wußte: war des Alten Hand auch zu ſchwach, ſie zu ſchützen, ſein bloßes Erſcheinen genügte um alles in die Flucht zu ſchlagen. Bei den Aufgeklärten galt er für wahnſinnig; die meiſten aber — auch ſolche, die es nicht Wort haben wollten — glaubten ihn im Beſitz hölliſcher Kräfte und Künſte. War es nicht ſeltſam, daß er überall erſchien, wie aus dem Boden gewachſen, wo Rorinas Rame anders als in tiefſter Ehrerbietung genannt wurde? Daß er den Greifenſteinern auf ihren abendlichen Spaziergängen plötzlich begegnete, ſo daß ſie entſetzt zuſammenfuhren, und mitten in den intimſten Unterhaltungen der alten Fräuleins auftauchte, ihnen mit einem Grinſen, das höflich ſein ſollte, irgendeinen verlorenen Handſchuh überreichend? Und niemand wagte, ſich über ihn zu beklagen, kam er doch immer nur dann, wenn das Ge⸗ ſpräch vor dem Hochſeſſer ſich nicht hätte verteidigen laſſen. Kürzlich — ſo erzählten ſie ſich in allen Geſinde⸗ ſtuben — war ſein Schatten, klein und krumm und ſchwarz, an den Fenſtern des Pfarrhauſes vorüber⸗ geſchritten, als der Herr Haſtor juſt am Schreibpult ſtand, um der Frau Baronin auf ihre Bitte, das kleine Gotteshaus auch außerhalb der Predigt offen zu halten, ablehnenden Beſcheid zu geben. Greulich gekichert habe er. Der würdige Geiſtliche ſei darob tief erſchrocken geweſen! Und nun grübe er allnächtlich im flackernden Lichte einer Bergmannslaterne den verſchütteten Eingang der alten Höhle aus, in der vor Zeiten die alte italieniſche Gräfin zu ihren Heiligen gebetet habe. Die Greislerin, die katholiſche, wußte es ganz genau und erzählte es triumphierend: Da unten vor dem holzgeſchnitzten Bild eines nackten Weibes, hatte der Konrad heimlich die erſte Taufe empfangen; ihre Mutter ſelig wußte den 325 Zug der Prieſter und der Chorknaben noch gut zu be⸗ ſchreiben, der in der Mainacht leiſe von Vierzehnheiligen herüber durch die Wälder gewandelt ſei. Gewiß: auch das Kind, das Rorina unter dem Herzen trug, würde dort unten der allein ſeligmachenden Kirche geweiht werden. Rorina ging nicht mehr — nachdem ſie es zweimal getan hatte — in die proteſtantiſche Kirche. Der Herren⸗ ſitz in dem weißgetünchten Raum unter dem großen braunen Kruzifix blieb leer. Aber zwei Stunden weit in das nächſte katholiſche Pfarrdorf fuhr ſie immer häufiger, der Herr Baron mit ihr und der welſche Teufel auf dem Bock. Und der Paſtor unten predigte ſchon von der „Gefahr der Seelen.“ Und die Tanten prophe⸗ zeiten heimlich den Untergang der Hochſeß durch die Abkehr vom rechten Glauben. Rorina wußte von all dem Geflüſter nichts, denn Giovanni verſchloß in ſich, was er hörte. „Der Wald iſt wie ein Dom aus Alabaſter,“ ſagte ſie einmal, als ſie an einem weißen Wintermorgen in Konrads Zimmer trat, „komm mit!“ und bittend erhob ſie den Blick zu ihm. „Mit tauſend Freuden!“ rief er. An dieſem Tage blieb Giovanni im Turm. Die beiden aber ſtanden andächtig, Arm in Arm, unter den ſchnee⸗ ſchweren Zweigen, die in zitternden Sonnenſtrahlen er⸗ glänzten. „Run kommt bald der Tau und zerſtört meine Kirche“, meinte Rorina betrübt. „Und dann kommt der Frühling und baut ſie aus Blättern und Blumen für unſer Kind“, flüſterte er ihr zu. „Und in dieſer Kirche, nur in dieſer, wollen wir es dem Höchſten weihen!“ rief ſie begeiſtert. „Da unten, mein' ich, wohnt er nicht!“ Und ſie zeigte auf den ſpitzen Turm, der dunkel aus den weißen Wäldern ragte. Zu Hauſe, am Kamin, ſpann ſie ihre Gedanken weiter 326 „Haſt du wohl bemerkt, um wieviel fröhlicher die Men⸗ ſchen in den katholiſchen Dörfern ſind?“ ſagte ſie. „Selbſt ihre Kleider ſind bunter!“ Er nickte beſtätigend: „Man glaubt vielfach, es ſei das leichtere Wendenblut, das ſich bemerkbar mache! „Ich weiß eine andere Erklärung,“ entgegnete ſie, „bei euch herrſcht der Gekreuzigte. In allen Kirchen eine Mahnung an den Tod. Bei uns die Mutter — in jedem Bauernhaus, wo unter ihrem Bilde das Lämpchen glüht, eine Mahnung an das Leben!“ „Warum ſprichſt du von „euch“ und „uns',“ meinte er mit einem tiefen ernſten Blick, „haben wir — du und ich — nicht ein Symbol des Heiligſten? Sie ſchmiegte ſich an ihn, ſo zärtlich wie ſeit Monden nicht. „Ich weiß,“ ſagte ſie, „und darum bitt' ich dich: laß unſer Kind nicht unter dem ſchwarzen Kreuze taufen. „Unſer Kind!“ jubelte er: „am liebſten trüg' ich's nach San Miniato — mitten hinein in Glanz und Licht. Von jenem Abend an hörten Rorinas einſame Winter⸗ wanderungen auf. Im Schloſſe aber entſtand ein reges Leben. Maurer und Zimmerleute gingen aus und ein; es wurde geklopft, geweißt, gehämmert — „Die Kapelle der Baronin!“ flüſterten ſich die Leute vielſagend zu. Und die Geſichter der alten Baroneſſen wurden lang, ihre Augen verloren wieder jeden freund⸗ lichen Schimmer. Giovanni ſchlug das Kreuz, wenn er ſie ſah. „Wir ſind die letzten, die die Traditionen der Hoch⸗ ſeß aufrecht erhalten“, erklärten ſie, nachdem ſie ſchon tagelang dem Rachmittagstee ferngeblieben waren und ſich nun feierlich zu einer wichtigen Unterredung bei Konrad eingefunden hatten. „Wir fordern Rechenſchaft. Willſt du, der Rachkomme eines der erſten evangeli⸗ ſchen Ritter Frankens, dein Kind zu einem Abtrünnigen machen? „Abtrünnig aller Finſternis — ja!“ ſagte er, die Stirne 327 runzelnd, um, als ſie verſtändnislos von einem zum andern ſahen, mit leichtem Spott hinzuzufügen: „Be⸗ ſänftigt euren Zorn, liebe Tanten, und den des Herrn Paſtors: er mag den Staatstalar für die Taufe ruhig aus dem Schranke nehmen. Aber die Leute tuſchelten einander trotzdem weiter zu: „Die Kapelle der Baronin“, und die Katholiken trium⸗ phierten, als von dem Muttergottesbilde die Kunde kam, auf das der leere Raum über dem Altar wartete. Rorina malte in der Kapelle. An den vier runden Säulen rankten ſich phantaſtiſch ihre Blumen empor bis in die blaue Wölbung mit den Goldſternen. Aus den Riſchen in den Wänden blickten Madonnen; Jeſuskinder lächelten vom Schoße der heiligen Mütter. In den kleinen, bunten Fenſtern leuchtete dunkelrot die rote Roſe von Hochſeß. Indeſſen übte unten in der Dorfſchule der Kinderchor alte Marienlieder. Und in der Akademie von Florenz ſaß vor Giottos Demeter⸗Maria ein junger Maler und ſuchte das Wunder⸗ werk auf ſeiner Leinwand zu wiederholen, — Vittorio Tenda. Ohne Rorina davon zu ſprechen, hatte Konrad ihn, nachdem die eingeholten Auskünfte die beſten geweſen waren, mit der Arbeit beauftragt, indem er ihm zugleich im Palazzo Ritorni die Wohnung anwies. Und nun taute der Schnee ſelbſt auf den Höhen; zum Wildbach wurde die Quelle; mit Geſchrei und Ge⸗ zwitſcher ſuchten die heimkehrenden Vögel die alten Plätzchen für ihr Reſt. Der Frühlingsſturm peitſchte die Fahne und ſang in den Kaminen ſein Schlachtlied. Rorina legte die Pinſel fort. Sie ging durch den Garten und ſtreichelte leiſe die kleinen, braunen Knoſpen an den Sträuchern und bückte ſich nach den blaſſen Schneeglöckchen. 328 Wenn Konrad ſie nicht ſah, wußte er, wo er ſie finden würde: im hellen Zimmer droben vor der weißen Wiege, an deren Decken und Bettchen noch immer irgend etwas zu zupfen und zu neſteln war. Kam er, ſo ſchmiegte ſie ſich ſtumm in ſeine Arme. Sie ſprach überhaupt kaum mehr. Es gab keine Worte für ihr Empfin⸗ den. Rur ihre Augen vermochten ihm noch Ausdruck zu geben. Die Kapelle war fertig. Rur der Platz über dem Altar war noch leer. Der alte Giovanni hatte ſich ſelbſt zu ihrem Wächter geſetzt. Er ließ keinen hinein und war immer da; ſeine Tiere in der Turmſtube ver⸗ gaß er. Riemand wußte, ob er wohl jemals ſchlief. An einem der erſten Tage waren die Tanten gekommen, herriſch Einlaß begehrend. Der Herr Paſtor wollte wiſſen, ob es auch mit ſeinem Glauben vereinbar ſein würde, dort zu taufen. Ein krähendes Gelächter ant⸗ wortete ihnen von innen, als ſie den Türgriff nieder⸗ drückten. Sie fuhren entſetzt zurück. So oft ſie auch wiederkamen, ſtets ſtand Giovanni davor, den Eintritt hindernd. Bei einem heftigen Wortwechſel zwiſchen ihnen kam Konrad dazu. „Mach Platz, Giovanni!“ gebot er und verſuchte den ſchwachen, alten Mann beiſeite zu ſchieben. Der aber klammerte ſich verzweifelt an die Türpfoſten, in ſeiner Mutterſprache laut ſchreiend: „Laß die böſen Augen nicht herein!“ Als er ſchließlich überwältigt beiſeite taumelte, füllte ſein Schluchzen den ganzen Raum. Die Fräuleins aber ſtanden kühl und gerade mitten darin, nur ihre Blicke bewegten ſich hin und her, ſpöttiſch, mißbilligend, und die Mundwinkel ihrer farbloſen Lippen zogen ſich tief herab. Von da an brannten Tag und Racht ge⸗ weihte Kerzen in der Kapelle, und Giovanni führte noch erbitterter den Kampf gegen die Reugierde. Sobald er von innen die Fenſter öffnete, ſtellten ſie von außen Leitern an, um hineinzuſpähen. Ließ er ſie geſchloſſen, 329 ſo flog über Racht ein Stein durch die Scheiben, ohne daß der frevelhafte Schleuderer zu entdecken war. Gerade über dem Altar befand ſich ein kleines Fenſter, aus blauem und rotem Glas kunſtvoll zuſammengeſtellt, das aus der oberen Galerie der Halle ſein Licht empfing. „Es ſollte vergittert werden“, ſagte Giovanni zu Rorina, als ſie ihrer Gewohnheit gemäß in der Frühe in die Kapelle ging. Sie wandte ſich lächelnd nach dem Alten um: „Warum gerade dies, das noch niemand zerbrach? „Es ſollte vergittert werden“, beharrte er hartnäckig. Jeden Morgen nach der ſtillen Andachtsſtunde trat ſie ins Freie hinaus und betrachtete ſehnſüchtigen Blickes Bäume und Sträucher. Es war ihr erſter Frühling im Rorden. Und ſie, erfüllt von der Erinnerung an ſeinen raſchen Siegeslauf daheim, wo Roſen und Lilien unter jedem ſeiner Schritte blühen, erkannte ihn nicht. „Wie lange das dauert!“ flüſterte ſie vor ſich hin, und aller Glanz wich aus ihren Zügen. „Hier kommt er nie“, hörte ſie hinter ſich ſagen und erſchrak. An einem Apriltag, als der Weſtwind Schnee und Regen gegen die Fenſter peitſchte und die Flammen im Kamin nur mühſelig ſchwälten, ſaß Rorina an der Stätte ihrer Mutterträume. Sie hatte die Läden zu⸗ gezogen, um das Wetter nicht zu ſehen, und im Licht der Lampen Hemdchen und Jäckchen ausgebreitet, um ſie Schweſter Thereſa, der kleinen Ronne mit der großen Flügelhaube, zu zeigen, die ſeit geſtern im Schloſſe war und mit immer gleichem Lächeln und gleichem leiſen Schritt ordnend und vorbereitend im künftigen Reiche des Kindes hin und her ging. Sie waren beide ſo vertieft in ihr Tun und ſo weit ab von allem Lärm des Hofs und der Wirtſchaft, daß die fernen Geräuſche kaum an ihr Ohr drangen. Mit jenen weichen, zärtlichen Stimmen, die alle Frauen 330 haben, wenn ſie dem Wunder neuen Lebens nahe ſind, ſprachen ſie miteinander. „Coſimo ſoll er heißen“, antwortete Rorina auf eine Frage der Schweſter. „Coſimo!“ wiederholte ſie lächelnd; „und wenn es ein Mädchen iſt? „Fiore“ — wie ein Seufzer der Sehnſucht kam der Rame über Rorinas Lippen; „auf den Hügeln und Feldern um Florenz ſteht jetzt alles voll bunter Blumen“, fuhr ſie langſam fort, die Hände um die Knie gefaltet, und ſah ins Weite. Ein aufheulender Windſtoß ant⸗ wortete ihr. Sie ſchwiegen. Räder rollten ſchwer über den Hof. Pferdegeſtampf — Peitſchengeknall. Dann Stimmen — die Konrads zuerſt — eine fremde dann. Aber Rorina war viel zu müde, als daß ſie hätte hinausgehen und aus dem Flurfenſter blicken mögen. Dann hörte ſie noch ein Hämmern — wie von der Kapelle herauf — „Das Bild?!“ rief ſie Konrad voll freudigen Ver⸗ ſtehens entgegen, als er nach geraumer Zeit zur Türe hereintrat. Er nickte lächelnd. „Dann —“ und ihre Finger ſchlangen ſich wie zum Gebet ineinander, „iſt alles bereit für mein Kind!“ In der Kapelle brannten viele gelbe Kerzen, aber es ſchien, als zöge das Bild auf dem Altar alles Licht an ſich, um dann wie durch ſich ſelbſt allein zu leuchten. Die wundervolle mütterliche Frau in dem ſchimmernden weißen Hemd, das die vollen nährenden Brüſte ahnen läßt, dem ſchweren blauen Mantel darüber, der den breiten Schoß, die kraftvollen Knie deckt, ohne ſie zu verhüllen, erfüllte den ganzen Raum in ihrer einfachen, beherrſchenden Größe. Konnte ſie in anderer Umgebung noch Maria ſein, hier war ganz und allein Demeter — das Kindlein auf dem Schoß nichts als ein Symbol ihrer Fruchtbarkeit. Rorina ſprach kein Wort; ihre Augen begegneten ſich 331 mit der Allmutter ſtillem, großem Blick. Sie fühlte ihn, wie ſie keines Prieſters Segen gefühlt haben würde. Dann erſt ſah ſie die Menge der bunten Frühlings⸗ blumen, deren Duft ſich mit dem der Kerzen zu ſüßen Opfergerüchen miſchte. Der ganze Altar war bedeckt mit ihnen. „Fiorenze“, flüſterte Rorina, ihr Antlitz tief in die blühende Fülle preſſend. Tränen hingen ihr in den Wimpern, als ſie es wieder hob. „Du weinſt?!“ Konrad ſchlang beſorgt den Arm um ſie. Sie lächelte: „Vor Freuden. „Und du fragſt nicht einmal nach dem Künſtler, dem wir dies Werk verdanken?“ meinte Konrad lächelnd, als ſie die Kapelle verließen. „Die Kopie iſt ſo glänzend, daß ſie den Kopiſten ver⸗ geſſen macht“, entgegnete ſie, „immerhin: wer iſt's? „Vittorio Tenda.“ Überraſcht blieb Rorina ſtehen. „Vittorio Tenda?!" wiederholte ſie und fügte mit dem Ton aufrichtigen Bedauerns hinzu: „Alſo iſt er doch kein großer Künſtler geworden!“ Fragend ſah Konrad ſie an. „Wer in einer Kopie mit keinem Strich ſich ſelbſt verrät,“ erklärte ſie, „kann doch ein Eigener nicht ſein! „Vielleicht haſt du recht,“ ſagte er, „aber ihm ſelbſt mußt du es nicht verraten. „Ihm ſelbſt?!“ Es klang wie ein Schrei. „Er bat mich, da er ſowieſo nach Berlin zu reiſen gedachte, das Bild perſönlich überbringen zu dürfen.“ Sie betraten die Halle; aus einem der tiefen Leder⸗ ſtühle erhob ſich die Geſtalt eines Mannes. Rorina fuhr zuſammen, den Fremden anſtarrend wie eine Er⸗ ſcheinung, während ſie ſich ſchwer auf Konrads Arm ſtützte. „Kennſt du ihn nicht mehr, Rorina?“ ſagte dieſer, „Vittorio Tenda, der für dich Demeter⸗Maria malte. 332 Der Fremde verbeugte ſich. Mit einem ſcheuen, flüch⸗ tigen Blick ſah ſie ihn an und ſchüttelte kaum merklich den Kopf. „Sie glauben mir nicht, gnädige Frau?“ klang eine Stimme wie der tiefe Alt einer Frau. „Ich danke Ihnen“, ſagte ſie mit einem leichten Reigen des Hauptes und wandte ſich der Pforte zu. Konrad, erſtaunt über ihre ablehnende Kühle, hielt ſie ſanft zurück. „Auch die Blumen, die dich ſo entzückten, ſind von ihm“, erklärte er in zuredend⸗eindringlichem Tone. „Von Ihnen, wirklich von Ihnen?“ rief ſie aus und ihre Hand, weiß leuchtend im Kerzenlicht, ſtreckte ſich ihm entgegen. „Ich bin derſelbe, ganz derſelbe, der ſie Ihnen einſt gepflückt, dem Sie erlaubten, ſie Ihnen zu ſchenken“, ſagte er mit dem vollen Pathos des Italieners, der jedem Worte durch den Ton erſt den Sinn verleiht. Dabei zog er ihre Hand ſehr langſam an ſeine vollen, roten Lippen. Mit der Geſte einer Königin ging ſie an ihm vor⸗ über, ohne ein weiteres Wort mit ihm zu wechſeln. Am Abend bat ſie den Gatten, auf ihrem Zimmer ſpeiſen zu dürfen. „Ich vertrage fremde Menſchen nicht mehr,“ ſagte ſie, beide Arme um ſeinen Hals legend, mit einem freien Blick in ſein Geſicht; „laß mich dieſe Tage ganz allein mit dir ſein.“ „Aber Abſchied wird er doch von dir nehmen dürfen? meinte Konrad voll zärtlichen Danks für dies Zeichen ihrer Liebe. „Abſchied?!“ ſie atmete wie erleichtert auf. „Er mag kommen! Ich fürchtete ſchon, du hielteſt ihn länger zurück. „Wie könnte ich?!“ Und er küßte ſie zärtlich auf die Augen, „wo wir — ſeiner warten, der uns vollenden ſoll! 333 „Zur Dreieinigkeit,“ ergänzte ſie leiſe. Als Vittorio Tenda in ihr Zimmer trat, ſaß ſie am Kamin, die ſchmalen Füße dicht an der Flamme. „Wie Sie frieren müſſen!“ ſagte er, lebhaft auf ſie zutretend, ſtatt aller Begrüßung. Sie zog die Füße zurück, warf den Pelzkragen von den Schultern und entgegnete hochmütig: „Gar nicht! „Ich habe Sie nie vergeſſen, Rorina“, fuhr er fort, den Stuhl näher rückend, während ſeine Augen die ihren ſuchten. Sie wich ihnen aus, wie ein gejagtes Wild den Hunden, die auf ſeinen Ferſen ſind. Dann maß ſie ihn von oben bis unten mit einem kühlerſtaunten Blick. „Ich wurde an Ihre Exiſtenz erſt erinnert, als mein Bruder von Ihnen erzählte“; — hart fielen die Worte von ihren Lippen: „Sie haben auch hier Kloſterzellen für — Verbannte, nicht wahr? Darf ich kommen, Rorina?“ ſprach er unbeirrt weiter; wieder verſuchte ſein Blick, ſie zu bannen. Es war wie ein ſtummer Kampf. Plötzlich griff ſein Auge zu, eine Diebeshand. Sie erblaßte, erhob ſich und — mit der Rechten auf die Stuhllehne ſich ſtützend, als fürchte ſie zu fallen — ſagte ſie ruhig: „Es iſt ſpät, Herr Tenda. Es wäre mir peinlich, Sie vor Ihrer Abreiſe Ihrer Rachtruhe beraubt zu haben.“ Roch eine ſtumme Verbeugung und er ging. Als aber die Türe ſich öffnete, prallte er zurück, und ſchreckhaft zuckte Norina zuſammen: Giovanni richtete ſich auf vor ihm, als habe er auf der Schwelle gelegen. In der Racht darauf gab Rorina einem Knaben das Leben. Richt einen Wehlaut hatte ſie nötig gehabt, aus⸗ zuſtoßen. Keinen Augenblick lang war der Ausdruck lächelnder Freude von ihrem Antlitz gewichen. Das Kind aber war am Körper ganz weiß, hatte den Kopf 334 voll geringelter, goldener Löckchen, und ſchlug ernſt und ſtumm ein paar große tiefblaue Augen auf. Während des ganzen folgenden Tages blieben ſie offen mit einem großen, fremden Staunen und quälenden Grübeln, als müßte das Seelchen, das ſie belebte, in dieſen Stunden des Daſeins Rätſel löſen. Erſt als die Sonne, gelb und feindſelig, hinter matten Frühlingsnebeln erloſch, legte ſich ein dunkler Schleier über ſie. Das Kind war tot. lind die Mutter wollte ſterben. Aber das Leben hielt ſie unerbittlich in ſeinen Krallen. Tage⸗ und nächtelang ſaß Konrad an dem Bett der Fiebernden. Sie erkannte ihn nicht. „Kerkermeiſter,“ flüſterte ſie flehend, während er ſorgſam die Eisblaſen auf ihrem Kopfe wechſelte, „nimm mir die Krone vom Haupt. Ich bin keine Madonna.“ — „Kerkermeiſter,“ kam es mit rührendem, verhaltenem Jubel von ihren Lippen, während er ihren abgemagerten Körper aus dem Bette hob, „trag mich hinaus — hinaus zu meinem Kinde! Immer rannen ihr die Tränen über die blaſſen Wan⸗ gen wie aus einem unerſchöpflichen Born. Einmal ſchlüpfte Giovanni, den Konrad ſorgfältig ferngehalten hatte, weil ſein Verſtand ganz verwirrt war, und er die Kranke hartnäckig Lavinia nannte, unbemerkt in ſeinem alten fleckigen Pierrotkoſtüm in Rorinas Zimmer und tanzte vor ihrem Bett. Da lachte ſie hell auf. Von nun an durfte er täglich zu ihr. Er war ſehr komiſch: er ſpielte auf der Gitarre luſtige Melodien und krähte wilde Liebeslieder dazu, er machte Harlekinſprünge mit ſeinen dünnen, zitternden Beinen, und deklamierte dabei Erklärungen glühender Leidenſchaft.— Und Rorina lachte. Man würde den Alten gerufen haben, wenn er nicht ſtets, ſeiner Stunde wartend, ſchon vor der Türe geſtanden hätte. Konrad hatte verſchiedene Autoritäten an das Lager 335 des geliebten Weibes geholt und alle empfohlenen Mit⸗ tel und Methoden verſucht, obwohl einer der Arzte dem anderen ſtets widerſprach. Dann ſchrieb er an War⸗ burg. Der Freund ließ ihn nicht lange warten. Als er kam, brach Konrad zum erſtenmal zuſammen. Bis dahin hatte er ſich beherrſchen müſſen, jetzt endlich, endlich durfte er verzweifeln! Er ſprach rückhaltlos von allem: von ſeiner Liebe und ſeiner Enttäuſchung, ſeiner un⸗ erlöſten Sehnſucht, ſeinem Hoffen, das nun ſeines Lebens einziger Inhalt ſei. Und mit jener ſtummen Anteilnahme, die wohltuender iſt als Worte, die dem Leidenden immer nach Phraſen klingen, und als Fragen, die immer wie Reugierde wehe tun, hörte Warburg zu. Dann ſagte er, des Freundes Hand feſt in der ſeinen haltend: „Er⸗ innerſt du dich eines Ausſpruchs von Pawlowitſch und deiner Antwort darauf?“ — Konrad ſchüttelte den Kopf — „Rur ein ſinnloſer Spieler ſetzt alles auf eine Karte“, ſagte er, oder ein Held“, antworteteſt du. Und ein Held, mein lieber Konrad, wird immer ſiegen.“ „Auch wenn er untergeht“, ergänzte dieſer ernſt. Warburg unterſuchte und beobachtete Rorina lange, ehe er ein Urteil abgab. „Ich glaube, ſie wird dir er⸗ halten bleiben“, ſagte er ſchließlich. Ein Ausruf des Glücks drängte ſich auf Konrads Lippen, aber ein Blick in des Freundes ernſte Züge wandelte raſch ſeine Freude. „Du verheimlichſt mir etwas?“ frug er beſorgt. „Rein, denn jede Verheimlichung wäre in dieſem Augenblick ein Unrecht gegen dich“, entgegnete Warburg ruhig. „Des Fiebers wird ihre ſtarke Natur Herr werden, beſonders wenn wir den alten verrückten Seiltänzer ent⸗ fernen. Aber nach allem, was ich von dir weiß, ſchließe ich, daß ſie, die ganz auf die Erfüllung ihres Mutter⸗ traums eingeſtellt war, ſich ſeeliſch ſchwer erholen und — du ſiehſt, ich bin bis zur Härte offen — dich als eine der Urſachen ihres Unglücks anſehen wird.“ „Sage nur ruhig: als die Urſache“, erwiderte Konrad, 336 aber ſein Blick blieb hell, faſt froh dabei. „Ich werde ſie zurückerobern, und wenn ich meine Kräfte verdoppeln ſollte.“ Warburg ſah ihn prüfend an: „All deine Kräfte, deine reichen Kräfte für — ein Weib“, murmelte er mit leiſem Tadel. Konrad lächelte wehmütig: „Du haſt anderes von mir erwartet, ich weiß. Ich ſollte ein Krieger werden, einer, der um Menſchheitsgüter kämpft. Gibt es die Güter nicht — oder bin ich kein Krieger, — wer kann es ent⸗ ſcheiden?! Eins nur weiß ich: daß mir Rorina die Ver⸗ körperung alles Größten und Schönſten wurde, daß meine Unraſt in ihr Ruhe, meine Sehnſucht in ihr Er⸗ füllung findet; daß vielleicht, und dies mag dir zum Troſte dienen, durch ſie der Krieger in mir erwacht, und ich mit ihr die Güter finde, um die das Leben ein⸗ zuſetzen ſich lohnt.“ Aber trotz des Freundes Zuverſicht wurde Warburg die Sorge nicht los und beſchloß, zunächſt in ſeiner Rähe zu bleiben. Seiner kühlen Ruhe gelang, woran Konrad immer wieder ſcheiterte, weil er Rorina keine Freude zu rauben vermochte: Giovanni nicht mehr zu ihr zu laſſen. Wohl tobte der Alte und drohte mit Ge⸗ walt. „Hundert Jahre dien' ich um Monna Lavinia,“ ſchrie er, „nun will ich meinen Lohn: ihre ſchwarzen Haare und ihre weißen Füße. Der Tod dem, der ihn mir raubt!“ — Aber Warburg nahm ihn mit einem ein⸗ zigen feſten Griff beim Arm und führte ihn in ſein Turmzimmer, ihn in den alten wurmſtichigen Lehnſtuhl niederdrückend. Aus dem ſtaubigſten Winkel des völlig verwahrloſten Raums kroch eine große Schildkröte mit verrunzeltem Greiſengeſicht unter des Seiltänzers Füße, und ein kläglich miauender Kater, der graue Haare hatte, rieb den krummen Buckel an ſeinem Arm. Mit den beiden unterhielt ſich Giovanni von da an unab⸗ läſſig. Denn ſie antworteten ihm, obwohl es niemand hörte. Braun, Lebensſucher 22 337 Konrad beſuchte ihn oftmals am Tage, um ſich zu verſichern, daß er noch da war. Der Alte lachte ihn ſtets luſtig an und erzählte, was er von den Tieren er⸗ fahren haben wollte. „Signor Tenda,“ flüſterte er einmal geheimnisvoll, während ein gelbes Funkeln ſich in ſeinen kleinen Augen entzündete, „geht des Rachts durch den Park auf leiſen Sohlen, und ſeine Seufzer ſchweben wie große, ſchwarze Rachtſchmetterlinge durch Monna Lavinias Fenſter -" „Signor Tenda?!“ wiederholte Konrad überraſcht, „du irrſt, Giovanni, er iſt längſt in Berlin.“ Der Alte kicherte: „Willſt du klüger ſein, Bambino mio, als der Kater?! Der ſchlich auf der Terraſſe den vielen Wühlmäuſen nach, die das Haus unterhöhlen, und ſah den Fremden leibhaftig.“ Giovanni rutſchte vom Seſſel auf die Knie und hob flehend die dürren Greiſenhände zu ſeinem Herrn. „Laß den alten Seil⸗ tänzer frei,“ bettelte er, „daß er dir Monna Lavinia hütet.“ Mit einem peinlichen Gefühl, daß er nicht zu bannen vermochte, verließ ihn Konrad. Er forſchte nach dem Maler. Vergebens. Und erleichtert atmete er auf. Rorina erholte ſich zuſehends. Als das Fieber ge⸗ wichen war und die wirren Phantaſien verſtummten, begann ſie langſam, mit ſcheuer, fremder Kühle, an dem Geſchehen um ſie her wieder Anteil zu nehmen. „Du wirſt viel Geduld haben müſſen“, ſagte Warburg zu Konrad. Der nickte: „Meinſt du, ich wüßte das nicht?!“ Mit zarter Sorgfalt, jede leidenſchaftliche Aufwallung, die ſie verletzen könnte, unterdrückend, umgab er Norina. Und ſie war wie ein ungeſchicktes, verlegenes Kind im ſtillen Dank, den ſie äußerte. Aber wenn er nur ihre Hand berührte, wurden ihre 338 ſchmalen Wangen fahl. Und wenn er ſie ſanft mit einer brüderlichen Gebärde auf die Stirn küßte, preßten ſich ihre Lippen krampfhaft zuſammen. Sie verlangte nach Giovanni; „er ſpricht toskaniſch“, meinte ſie ſchüchtern, als müſſe ſie ſich um ihrer Bitte willen entſchuldigen. Von da an ſchenkte der Alte wieder wie einſt den Wein in die Gläſer. Und jeden Mittag prangte ein Strauß friſcher fremder Blumen vor ihrem Teller, die er irgendwo in einem ſonnigen Winkel heim⸗ lich gezogen hatte. Er ſtrahlte, wenn er ſie ſah, zitterte, wenn ſie ihm dankte, und mit tiefem, unheimlichen Feuer verfolgten ſie ſeine Augen, wo ſie ging und ſtand. „Fürchteſt du ihn nicht?“ frug Warburg ſorgenvoll, als ſie eines Abends, nachdem Rorina ſich wie gewöhn⸗ lich früh zurückgezogen hatte, zuſammen ſaßen. Konrad lachte: „Der arme Narr! Er würde ſich eher vierteilen laſſen, als daß er uns etwas zuleide täte.“ Sie kamen auf die verſchiedenen Formen menſchlicher Liebesleidenſchaften zu ſprechen und ihre Unterhaltung wurde allmählich intimer. „Je differenzierter wir werden, um ſo ſeltener ſcheint die eine große Liebe zu ſein, die uns ganz ausfüllt, Seele, Geiſt und Körper in gleicher Weiſe ergreift“, ſagte Warburg. „Ich glaube, du biſt ein lebendiger Widerſpruch deiner Theorie“, antwortete Konrad, zum erſtenmal ſeit ihrem Zuſammenſein eine Anſpielung auf Walters nie erloſchene, gleichmäßig tiefe Reigung wagend. „Du irrſt, lieber Freund,“ antwortete der, „denn ich bin nicht differenziert, bin vielmehr eine einfache Ratur — ein Alltagsmenſch, ſozuſagen. Darum liebt ſie mich auch nicht, ſie, deren Weſen ſo gar nichts vom Alltag weiß.“ „Wie aber konnte ſie jemals einen Gerhard Fink lieb⸗ gewinnen!“ rief Konrad aus. „Ich gebe mich als der ich bin; in ihn, der ſeine Be⸗ 22* 339 ſchränktheit als einen Theatermantel um ſich zu drapieren verſtand, konnte ſie alles mögliche hineingeheimniſſen. „Sie konnte, ſagſt du? — Iſt ihre Ehe wieder ge⸗ trennt?“ frug Konrad überraſcht. „Sie wurde niemals geſchloſſen. „Wie?! Warburg lachte bitter. „Die Eltern Finks nahmen Anſtoß an der Jüdin und an dem ſchlechten Ruf, den ſie haben ſoll! Er aber — zu allem kraftlos, ſowohl zum Widerſtand den Eltern wie zum Bruch Frau Sara gegenüber — fügte ſich.“ „So iſt es eine freie Ehe? „Ich — weiß es nicht“, entgegnete Warburg zögernd. „Ich weiß nur, daß ſie leidet — ſehr leidet. Aus allen Enttäuſchungen des Herzens und Geiſtes flüchtete ſie in dieſe Liebe. Vielleicht —“ und er ſchloß die Augen mit einem wehen Lächeln — „flüchtet ſie noch einmal, Schutz vor ſich ſelber ſuchend, zu mir. Erſtaunt, faſt verletzt, ſah Konrad ihn an: „Und ein ſolches Geſchenk könnteſt du nehmen?! Warburg erhob ſich und legte die Hand auf die Schulter des ihn weit überragenden Freundes, während ein müder, geſpannter Zug ſich um ſeine Mundwinkel grub. „Wir werden uns alle beſcheiden müſſen,“ ſagte er, „keine unſerer Jugendhoffnungen hat ſich erfüllt. Unſere Ideale ſind ſchal geworden. Dann nickte er verſonnen und ging durch das große Zimmer, das die verlöſchende Glut im Kamin nur noch mit leiſe flackernden blauen Flammen ſpärlich. erhellte, hinaus, wo der dunkle Flur ihn verſchlang. Konrad ſtarrte ihm nach. „Unſere Ideale ſind ſchal geworden“, wiederholte er ſehr langſam. Jedes der fünf Worte bohrte ſich ihm wie ein Pfeil ins Herz. Da öffnete ſich die Türe wieder. „Bambino,“ ziſchte es, „er iſt wieder da — er — der Maler! Konrad fuhr auf und ging dem Voranſchleichenden 340 nach. Wahrhaftig: Draußen auf der Terraſſe, auf die Rorinas Fenſter ſtill und dunkel herabſahen, drückte ſich Vittorio Tendas Geſtalt in den Schatten der Lorbeer⸗ bäume. Mit einem feſten Schritt ſtand Konrad vor ihm und bohrte ſeinen funkelnden Blick in das erblaſſende Antlitz des Italieners. „Was ſuchen Sie hier bei Racht und Rebel wie ein Einbrecher?!“ Er dämpfte die Stimme um Rorinas willen, wo er ſie am liebſten zum Brüllen geſteigert hätte. Tenda rührte ſich nicht. Ebenſo leiſe, die haßerfüllten Augen auf den anderen gerichtet, ſagte er: „Richts.“ Roch näher trat Konrad dem Ertappten, ſo daß er ſeinen heißen Atem zu ſpüren glaubte, während Gio⸗ vanni geduckt, beide Hände geſpreizt, zum Zuſpringen bereit, ſich dicht neben ihm hielt. „Durch ihre nächtlichen Spaziergänge kompromittieren Sie meine Frau.“ Tenda warf den Kopf in den Racken: „Ich bin zu jeder Genugtuung bereit.“ Mit einem Blick eiſigen Hochmuts maß ihn Konrad von oben bis unten: „Damit durch das romantiſche Er⸗ eignis Dienſtbotenklatſch zum Skandal der ganzen Gegend wird, und Sie ſich in Ihrem Heldentum ſonnen?! „Soll ich ihn würgen, Bambino mio?!“ ſchrie in dieſem Augenblick Giovannis Stimme grell dazwiſchen. „Still!“ ziſchte Konrad. Der Alte prallte zurück. Sie horchten ſekundenlang alle drei zu den Fenſtern hinauf. Richts rührte ſich. „Sie kommt zuweilen und ſchluchzt in die Racht hinaus,“ murmelte Tenda vor ſich hin, „mich bemerkte ſie nie.“ „Das weiß ich,“ ſagte Konrad laut und hart, „ſie hätte Sie ſonſt davongejagt.“ Dann nahm ſeine Stimme wieder den Ton beherrſchter Ruhe an: „Sie ſind von 341 morgen ab auf dem Eckartshof mein Gaſt. Ich werde Sie, um jedes Gerede im Keime zu erſticken, ein paar Tage lang an meinem Tiſche dulden und dann —“ er machte eine verächtliche Gebärde, die nicht mißzuver⸗ ſtehen war. Tenda zuckte zuſammen und ballte die Fäuſte. Ohne einen Gruß, erhobenen Hauptes, wandte ſich Konrad dem Hauſe zu. Rorina empfing die Rachricht von dem Gaſt mit ſteinerner Ruhe. „Ich werde auf meinem Zimmer eſſen“, ſagte ſie. „Ich wünſche das nicht,“ entgegnete Konrad kurz und feſt. Sie neigte den Kopf tief auf die Bruſt. Erſchüttert von dieſer Bewegung eines Gehorſams, der nichts als Gehorſam war, verſuchte er ſie behutſam an ſich zu ziehen. „Es war nur eine Bitte, Geliebte,“ flüſterte er. Sie entzog ſich ihm nicht, aber ſie blickte ihn an, groß und fremd, als ſähe ſie ihn zum erſtenmal. Als der Gaſt gekommen war und ſie ins Zimmer trat, blieb ſie ſekundenlang in der Türe ſtehen; ihr weißes Geſicht leuchtete wie der blaſſe Mond in dunklen Herbſt⸗ nächten aus dem Schwarz ihrer Haare, ihrer Gewänder. Tenda ſtarrte ſie an, ſelbſtvergeſſen, mit einem Ausdruck ſo ſchmerzreicher Liebe, daß Konrads Zorn vor dieſem Anblick langſam zu weichen begann. Was konnte der Arme dafür, daß er ſie liebte, hoffnungslos liebte — faſt wie er?! Und er verſuchte, etwas wie ein Geſpräch in Gang zu bringen. Es ſiel ihm nicht ſchwer, denn Tenda übernahm alle Koſten der Unterhaltung. Er er⸗ zählte. Von Paris zuerſt. Aber nicht von ſeinem Glanz und ſeinen Freuden, ſondern von der ſtillen Schönheit ſeiner Gärten mit ihren grauen Bildſäulen und gelb⸗ roten Pflanzenkübeln, von dem melancholiſchen Reiz des linken Seineufers mit den verſtaubten alten Büchern und Bildern auf den verwitterten Ufermauern, vom Park von St. Cloud mit ſeinen geraden Kaſtanienalleen, die ſich im Himmel verlieren, und dem Blick auf die ferne 342 ruhende Stadt, die die ſilberne zitternde Luft zärtlich umhüllt. Er ſprach als male er. Rorinas Blick wurde um ein weniges heller. Sie ſah ſeine Bilder. Von Trouville erzählte er dann. Wo um die hoch⸗ hackigen Schuhe geſchminkter Frauen der weiche weiße Seeſand ſich ſchmiegt, in überladenen Kaſinoſälen das Gold über die grünen Tiſche rollt, wo der Wind wütend das nordiſche Meer mit ſeinen immer graugrünen kalten Wellen peitſcht und an den Schleiern der Schönen un⸗ wirſch zerrt, wo von den prunkenden Villen auf der Höhe enge ſchmutzige Gaſſen herunterführen, in denen die teuerſten Dirnen der Welt ſich ausſtellen. Er machte eine Pauſe und ſah zu Rorina hinüber. Ihr Mund verzog ſich — aber ſie lauſchte. „An Italiens Meer, Signora, floh ich von dem ſtrengen Geſtade,“ fuhr er fort, „dahin, wo ſeine dunkel⸗ blauen Wogen San Marcos heilige Füße küſſen, wo große Künſtler, voll Ehrfurcht vor der Ratur, nicht wagten, im Angeſichte ihrer Majeſtät etwas anderes zu bauen, als Dome und Paläſte. Und Italiens Frauen ſah ich wieder, vom ſonnendurchglühten Waſſer die ſchlanken Glieder umſchmeichelt, geſchmückt mit der Fülle unſerer Blumen, —“ Er verſtummte, von der eigenen Leidenſchaft erſchüttert. Auf Rorinas Wangen lag purpurne Röte. Da brach ein Glas klirrend ent⸗ zwei; Giovannis zitternde Hände hatten es beim Ein⸗ ſchenken umgeſtoßen. Später als es ihre Gewohnheit war, zog ſich Rorina an jenem Abend zurück, und es war als ob ihr Fuß noch auf der Schwelle zögere. Auf dem Flur ſchlich ihr der Alte nach, und im Augenblick, da ſie die Türe ihres Schlafzimmers öffnen wollte, warf er ſich ihr, wild aufheulend, in den Weg. „Hundert Jahre diente ich, Monna Lavinia — hundert Jahre —“ ſchluchzte er, ihre Knie umklammernd. Ein Gefühl, aus Ekel und Mitleid gemiſcht, kräuſelte 343 ihre Lippen. „Armer Narr, —" ſagte ſie und befreite ſich mit einer einzigen Bewegung von den dürren Armen, die ihr den Eingang wehrten. Kaum war ſie hinter der Türe verſchwunden, als er ſich ächzend aufrichtete. „Armer Narr, ſagſt du —“ murmelte er, während die tauſend Falten auf ſeinem Geſicht ſich verzerrten und ſeine Geſtalt ſich reckte, „weh mir, daß ich weiſer bin als alle.“ Am nächſten Tage bediente er nicht bei Tiſch. Da und dort hatte man ihn im Schloſſe ſchlürfen hören, aber niemand bekam ihn zu Geſicht. Auch Rorina blieb auf ihrem Zimmer. „Fühlſt du dich nicht wohl, geliebte Frau?“ frug Konrad, dem ſie ihren Entſchluß ohne Begründung hatte mitteilen laſſen. Mit einem langen zärtlichen Blick — dem erſten ſeit vielen Wochen — ſah ſie ihm gerade ins Geſicht. „Ich darf mich nicht ſo viel erinnern, Konrad“, und ganz ſchwer, wie belaſtet von Gedanken, ſiel jedes Wort aus ihrem Munde. „Seit mir das Kind nicht blieb, bin ich ſo fremd geworden — mir ſelbſt — dir — allen! Hilf du mir,“ — flehend und wie von Angſt geweitet, ruhten ihre Augen auf ihm, — „daß ich nicht noch weiter fort muß.“ Von ungeweinten Tränen ge⸗ ſchüttelt, barg ſie den Kopf an ſeiner Schulter. Und er preßte ſie an ſich, von neuer, heißer Hoffnung durch⸗ ſtrömt, daß ſie ihm wieder gehören würde. Warburg atmete förmlich auf, als er erfuhr, daß Rorina zum erſtenmal von ihrem Unglück geſprochen hatte. „Jedes Redenkönnen iſt ſchon eine Befreiung, ſagte er, „nur das tiefſte Leid, das noch unerlöſte und nicht zu erlöſende, bleibt ſtumm. Während Konrad mit ſeinen Gäſten bei Tiſche ſaß — eine gequälte Tafelrunde, bei der ſchließlich keiner mehr ſich die Mühe gab, ein Geſpräch aufrechtzuer⸗ halten — betrat Rorina die kleine Kapelle. Die Türe knarrte im Schloß, irgendwo knirſchte der Fußboden. 344 Sekundenlang hob ſie in erſchrecktem Lauſchen den Kopf. Riemand ſollte ihr folgen. Sie mußte allein ſein. Alles blieb ſtill; was ſie noch hörte, war wohl nur das Klopfen ihres eigenen Herzens geweſen. Die Luft im Innern des geweihten Raumes ſchlug ihr atembeklemmend ent⸗ gegen, denn ſeit dem Tage vor der Geburt des toten Kindes war die Kapelle nicht mehr geöffnet worden, und vor Demeter⸗Maria ſtanden noch in ihren Schalen die armen, welken Frühlingsblüten Italiens; ihre feuchten, faulenden Stengel, ihre trockenen, verweſenden Blätter breiteten einen Geruch nach Sumpf und Moder aus. Rorina aber griff mit einem Blick ſehnſüchtigen Ver⸗ langens mit beiden Händen in das dürre Laub und preßte es krampfhaft an ihr blaſſes Geſicht; in grauen Staub zerfallend, zerrann es zwiſchen ihren Fingern. An dem kleinen Fenſter über dem Altar raſchelte es. Wie lebendig funkelnd die roten und blauen Gläſer nieder ſtarrten! „Es ſollte vergittert werden —“ hatte das nicht ein⸗ mal irgendwer geſagt? Ihre Augen, um die ſich tiefe Ringe legten, wanderten durch den Raum: wer hatte die bunten Blumenbilder um die Säulen geſchlungen? Gab es noch eine Erde, der ſie lächelten?! Wer hatte die blaue Wölbung mit den goldenen Sternen darüber geſpannt? Gab es noch einen Himmel, der alſo leuchtete?! Vom Schoße Demeter⸗ Marias ſchien der üppige Knabe die ganze Welt jubelnd umarmen zu wollen — er hatte die Augen ſo blau wie die Adria und Haare wie die Sonnenſtrahlen, wenn ſie Santa Maria del Fiore küßten. Rorina brach lautlos zuſammen. Das Fenſter über dem Altar ſplitterte. Sie hörte es nicht. Rote und blaue Scherben regneten herab. Sie merkte es nicht. Ein faltiges Greiſengeſicht erſchien in der Offnung, mit Pupillen in den Augen wie gelber Bernſtein. Sie ſah es nicht. 345 Von draußen her klangen Schritte. Da horchte ſie auf, die Hände krampfhaft ineinander verſchlungen. „Sie erreichen den direkten Zug nach Italien“, ſaate Konrads Stimme; die höflich⸗kühle Warburgs danach: „Werden Sie ſich aufhalten unterwegs?“ Und ſchließlich Vittorio Tendas weicher Bariton: „Rein. Wie könnte ich auch nur eine Stunde verlieren wollen? Rorina war aufgeſprungen, mit fliegenden Pulſen, glutheißen Wangen — ſchon griff ſie nach der Türe, da zuckte ihre Hand, als hätte ſie in Feuer gefaßt, zurück, ihre Augen ſtarrten entgeiſtert. Der Kopf zwiſchen dem Fenſterrahmen über dem Altar verſchwand. Ein Strom fahlen, weißen Lichtes zerſchnitt die warme Dämmerung der Kapelle. Aufſtöhnend ſchwankte Rorina dem Altar zu. Hart ſchlug ihr Kopf auf die Stufe. Und die Pforte ſprang auf mit beiden Flügeln. Und ein Etwas ſtürzte herein —, und im Racken Rorinas ſaß ein Dolch. Und rot ſprang ihr Blut wie ein Quell über ihre lange, ſchwarze Schleppe — — — 346 Reuntes Kapitel Vom großen Sterben Die Vögel ſangen am frühen Morgen in Buſch und Baum, der Bach im Tale rauſchte zu ihrer hellen Melodie die tiefe Begleitung. Das war Rorinas Grabgeſang. Sechs Männer trugen den blumenüberſchütteten Sarg durch die Parkalleen. Die kleinen Chorknaben von Vier⸗ zehnheiligen mit den Weihrauchbecken ſchritten voran; vier greiſe Prieſter folgten, wie fremde Könige anzu⸗ ſchauen in den langen, geſtickten Gewändern der ehr⸗ würdigen Wallfahrtskirche, und eine Schar ſchneeweißer Ronnen dann, wie ſanfte, verflogene Vögel. Dahinter einer, der allein ging. Es war wie ein weiter, leerer Raum um ihn. Er ſah geradeaus mit dunklen, glanz⸗ loſen Augen, die ſtill unter den Lidern ſtanden, wie die der Blinden. Seine blonden Haare waren hell ge⸗ worden von den weißen Fäden, die ſie durchzogen. Als der älteſte unter den Prieſtern ihn tröſten wollte, weil ſie ihm entriſſen worden war, hatte er ihm ſtaunend ins Antlitz geſehen und geſagt: „Ich bin es ja, der ge⸗ ſtorben iſt.“ Und in der ſchwarzen Menſchenſchlange, die ſich zum Geleit der Toten langſam hinter ihm durch die grünen Laubgänge ſchob, war, was er ſagte, flüſternd von Mund zu Mund gegangen mit einem einzigen Beben des Grauens. Erde fiel auf den Sarg — dreimal und wieder dreimal und noch einmal und ſo ins Unendliche fort . . . Roch monatelang hörte Konrad das Pochen, und meinte die ſchwarze Scholle zu fühlen, die über ihn rie⸗ ſelte, bis er ganz und gar unter ihrer Decke verſchwand. 347 Rur ſein Herz wollte zu ſchlagen nicht aufhören. Trübe Herbſtabenddämmerung lag in Frau Sara Rub⸗ ners grauem Salon. In einen dunkelrot geblümten Ki⸗ mono gewickelt, hockte ſie im Winkel des Sofas und folgte mit den merkwürdig geſchlitzten Augen in dem Mon⸗ golengeſicht dem unruhig auf und nieder ſchreitenden Warburg. Vom Drama auf Hochſeß hatte er erzählt. Jetzt ſtockte er, tief aufatmend. „Und dann?“ frug ſie mit geſpannter Miene. „Die Leute im Hof bemerkten noch, wie die Fahne auf dem Turme ſank, aber als ſie den Alten ſuchten, war er verſchwunden“, antwortete Warburg. „Vergebens durchforſchte die Gendarmerie die ganze Gegend. Er hat ſich gewiß in irgendeinem Winkel umgebracht.“ Und wieder durchmaß er raſtlos das Zimmer. „Wollen Sie ſich nicht endlich ſetzen, lieber Freund“, ſagte ſie gequält. „Ihre Unruhe wirkt wie eine Peitſche auf meine Rerven.“ Er ließ ſich gehorſam ihr gegenüber in einem der tiefen Seſſel nieder. „Verzeihen Sie, ich dachte einen Augenblick nicht an Ihre übergroße Empfindlichkeit. Sie leiden mehr als ſonſt, Frau Sara?“ Sein forſchender Blick blieb auf ihr haften. Sie machte eine raſche, abwehrende Bewegung: „Sprechen wir nicht von mir. Das iſt zwecklos. Er⸗ zählen Sie mir lieber mehr von Konrad. Iſt es Ihr Verdienſt, daß er noch lebt?! Warburg legte die Hand über die Augen. Den herben Spott, der in ihrer Frage lag, verſuchte er zu über⸗ hören. „Er lebt nur, — ſo ſeltſam das klingt — um Rorina zu neuem Leben zu erwecken. Sie darf nicht ſterben — wiederholte er immer wieder. Zuerſt wurde 348 Tenda telegraphiſch zurückgerufen. Er machte eine Skizze von der Toten und danach ein Bild, das ein wunder⸗ volles Kunſtwerk iſt: eine ſchwarzgekleidete Frau mit einem zarten weißen Schleier über dem Kopf, den Blick ſehnſüchtig und doch entſagungsvoll in eine weite, lachende Landſchaft gerichtet. Es iſt vielleicht kein Porträt, doch Rorinas Erſcheinung und ihr Weſen ins Typiſche, faſt Klaſſiſche erhoben. Während der Arbeit wich Konrad nicht aus dem Atelier; die beiden Männer befreundeten ſich, und Rorina war immer bei ihnen. Mir ſchien's zuweilen, als verſcheuchte ich ihre lebendige Gegen⸗ wart, — dennoch glaubte ich um Konrads willen bleiben zu müſſen.“ Frau Sara Rubner ſaß noch immer auf demſelben Platz. Sie hatte die Arme um die hochgezogenen Knie geſchlungen und ſtarrte vor ſich hin. „Wir alle, die wir uns ſelbſt zum Mittelpunkt wurden, gehen daran zugrunde“, ſagte ſie mit abweſendem Ausdruck und fügte leiſe hinzu, als müſſe ſie einem unausgeſprochenen Ein⸗ wurf begegnen: „Denn die wir lieben, als gehörten ſie uns, ſind doch auch nur wir ſelber.“ Draußen ging die Eingangspforte. Sie ſprang auf, und ſah mit kaum beherrſchter ſehnſüchtiger Erwartung zur Türe. Auch Warburg erhob ſich. Gerhard Fink trat ein. „Pardon — ich ſtöre wohl“, ſagte er mit einer korrekten Verbeugung; keine Muskel in ſeinem glatten, ſchmalen Sportmannsgeſicht zuckte. „Bitte — ich war im Begriff zu gehen“, entgegnete Warburg eiſig. „Laſſen Sie ſich ja nicht ſtören, um ſo weniger, als ich mich nur verabſchieden wollte“, warf der andere ein. Frau Rubner preßte ihre großen weißen Zähne in die Unterlippe: „Sie fahren? „Zu den Eltern, heute abend noch“, und mit aber⸗ maliger leichter Verbeugung, wobei ein faſt unmerklicher, 349 prüfender Blick von einem der Zurückbleibenden zum anderen flog, ging er wieder. Sie trat zurück, Warburg den Rücken drehend, und zerzupfte langſam die gelben Blüten einer langſtieligen Orchidee, die in brauner Bronzevaſe auf dem Tiſche ſtand. „Wird er —?!“ frug Warburg leiſe. Sie nickte: „Ich habe eine Entſcheidung verlangt. Ob er ſie bringen wird?! — Sagte ich Ihnen ſchon, daß die Albatroßwerke ihm einen glänzenden Poſten an⸗ geboten haben?“ Und ſie lachte rauh und mißtönig. „Sie wiſſen, daß Sie immer auf mich rechnen können — immer!“ rief Warburg, einen leidenſchaftlich⸗pathe⸗ tiſchen Klang in der Stimme, der ihm ſonſt fremd war. Sie wandte ſich ihm wieder zu: „Ich weiß,“ ihre Hand ſtreckte ſich ihm entgegen, „aber im Allerhei⸗ ligſten der Seele und im Schwerſten des Erlebens bleibt man doch immer allein.“ Dann wechſelte ſie raſch, wie auf der Flucht vor intimerem Geſpräch, den Ton: „Baron Hochſeß kommt morgen, wie Sie ſagten? „Er hat ſich jedenfalls für einen dieſer Tage bei Bern⸗ hard angemeldet, um ſeine Denkmalsentwürfe zu ſehen. Es zuckte ſpöttiſch um ihren Mund. „Sagen Sie ſelbſt, lohnt ſich ein Leben, das nur noch mit ſolchen Richtigkeiten erfüllt iſt?“ ſagte ſie, um nach einer kurzen Hauſe haſtig fortzufahren: „Run aber gehen Sie, lieber Freund, gehen Sie! Wir geraten ſonſt in Gefahr, Ausgrabungen vorzunehmen, in denen man Welten er⸗ wartet und Scherben findet.“ Und faſt gewaltſam ſchob ſie ihn zur Türe hinaus. Auf den Wegen der Erinnerung ging Konrad Hoch⸗ ſeß; er ging allein. Denn niemand wußte, daß er in Berlin war, und keiner hätte ihn erkannt, der ihm be⸗ gegnet wäre. Er war noch nicht dreißig Jahre, aber ſeine Züge hatte das Schickſal ſo herb und hart ge⸗ 350 meißelt, als bliebe nun nichts mehr übrig, in ſie ein⸗ zugraben. Seltſam, wie alles, was er ſah und hörte, ihm fern und fremd und tot erſchien, während nur Eins ihm wahrhaft lebte: die Tote. Es gab Augenblicke, wo er vor ſich hinlächelte in Gedanken an die Armen rings⸗ um, die nicht wußten, wie reich er war in ihrem Beſitz. Dann freilich gab es andere, wo ihn die ungeheure Einſamkeit überkam, jene erhaben⸗fürchterliche Einſam⸗ keit der Gletſcher, die nichts kennt als Fels und Eis und Schnee, und zuweilen den Schrei des Adlers um ihre Gipfel. Während der vergangenen Monate hatte er Zeiten gehabt, wo er meinte, das Leben riefe nach ihm, und ein Fahnenflüchtiger, der Ehre und der Freiheit ver⸗ luſtig, würde er ſein, wenn er ſich dem Befehl wider⸗ ſetzte. Run ſah er mit einem Gefühl, aus Selbſtqual und Genugtuung gemiſcht, daß ihn das Leben nicht hatte rufen können, — weil es nicht da war. Beim Wandern zu den Stätten ſeines vergangenen Daſeins kam er dorthin, wo Gina gläubigen Herzens den alten Zauberer geſehen hatte, der die Sterne in ſeiner großen Kuppel fing. Aber der kleine ſtille Platz war nicht mehr, und der alte Garten, der einſt die Stern⸗ warte dicht umſchloſſen hatte, lag begraben unter den ſchweren Pflaſterſteinen und dem grauen Aſphalt der neuen Straße. Hier ſuchte niemand mehr nach den Sternen. Alſo war das Leben tot. Irgendwo in der Stadt feſſelte ihn die Auslage eines Spielwarengeſchäftes: große Kinderpuppen, wie Elſe ſie einmal geſchaffen hatte. Er ging hinein und ſah genauer zu: ſie hatten gleichgültige Fabrikwarengeſichter, und irgendeine Firma lieferte ſie. Sollte er ſich näher er⸗ kundigen? Aber was war ihm Elſe, als eine wehmütige Erinnerung mehr, und was, vor allem, vermochte er ihr noch zu bieten. Denn das Leben war tot. 351 Er geriet immer mehr in das Gewühl der Straßen. War es ſtets das gleiche geweſen, oder bemerkte er nur zum erſtenmal, wie die Menſchen durcheinanderhaſteten mit ſorgenvollen Geſichtern, als ob jeder ſich fürchte, der andere könne ihm die Beute abjagen, der er nach⸗ lief? Wozu blühten die leuchtenden Herbſtblumen auf den Beeten der Plätze; wozu glänzte der grüne Raſen wie ein Smaragd; wozu wölbten die Baumkronen ihr Blätterdach? Riemand achtete der Pracht, niemand ließ ſich Zeit, in ihrem Schatten zu ruhen. Riemand?! Doch: die Kinder! Konrad blieb wie angewurzelt ſtehen: da ſaß ein blondes Bübchen auf dem Sandhaufen und griff mit der kleinen, weichen Hand nach dem Sonnenſtrahl, der durch die Blätter fiel und auf ſeinem Blecheimerchen glitzerte, und lachte den verſpäteten Schmetterling an, der über der roten Aſter neben ihm gaukelte. Durch⸗ tränkt von Leben war das Kind, und Leben ſtrömte aus von ihm. Konrads Herz krampfte ſich zuſammen. Er ſtrich ihm mitleidig über den Lockenkopf: es würde auch einmal bei lebendigem Leibe ſterben. Wie gut, daß ſein Sohn vorher gegangen war! Am Tiergarten kam er entlang. Dort drüben hatte ein ſchlichtes, vornehmes Haus geſtanden, wie eine ver⸗ irrte Edelfrau zwiſchen Marktgeſindel. Er ſuchte es. An ſeiner Stelle erhob ſich jetzt ein Palaſt in großen, ſtarken Linien, eines Herrſchers würdig. „Veit von Voß⸗ berg“ ſtand in großen Lettern am Granitpfeiler des Tor⸗ wegs. Konrads Stirnadern ſchwollen; er ſchämte ſich: daß er, der Rorina lieben durfte, ſich jemals ſo hatte verlieren können. Dann aber war ihm plötzlich, als ſchaue er durch die Wände dieſes Hauſes, das der Künſtler nicht für den kongenialen Bauherrn, ſondern für den Meiſtbietenden gebaut hatte. Die drinnen wohnten, lebten nicht, ob ſie gleich von früh bis ſpät in Bewegung waren. An der Spitze zahlloſer Vereine ſtand Renetta, das wußte er durch die Zeitungen; aus 352 Sitzungen, Wohltätigkeitsfeſten, Flirts und Schneider⸗ proben ſetzte ſich die Hetzjagd ihres Daſeins zuſammen; und nichts haftete mehr an ihr als der Handſchuh, den ſie trug. Eben ſtieg eine Dame die Freitreppe am Seiten⸗ flügel des Gebäudes hinab dem harrenden Auto zu; ſie hatte roſtbraune Haare und eine gelbliche Haut; nur die meergrünen Augen verrieten noch, wer ſie war. Konrad muſterte ſie wie eine völlig Fremde. „Sie würden auch ihre Augen wechſeln, wenn ſie könnten, dieſe Menſchen von heute“, dachte er, „die niemals vom Leben zur Einheit geformt worden ſind.“ Eines Abends ließ er ſich durch ein großes Plakat verleiten, in eine Arbeiterverſammlung zu gehen, in der jener junge Arbeiter, den er einmal in Pawlowitſchs Bildungskurſen kennen gelernt hatte, über den Balkan⸗ krieg und ſeine Folgen ſprechen ſollte. Der mit ver⸗ ſtaubten, im Luftzug der auf⸗ und zugehenden Türen trocken raſchelnden Girlanden vom letzten Tanzfeſt her geſchmückte Saal war kaum halb gefüllt. Zwiſchen dem Redner, der den Eindruck eines Privatdozenten machte, und ſehr nüchtern und leidenſchaftslos begann, indem er die Entwicklung des Balkankrieges bis zu ſeinem Abſchluß, dem Zuſammenbruch der europäiſchen Türkei ſchilderte, und dem Publikum kam es nicht zu jenem geiſtigen Zuſammenfließen des Gebens und Rehmens, aus dem allein Lebendiges zu entſtehen vermag. Erſt als er den Militarismus im allgemeinen angriff und einige ſcharfe Bemerkungen gegen den preußiſch⸗deutſchen im beſonderen hineinverflocht, der „dem Volke ſoeben neue, unerträgliche Laſten auferlegt hatte“, ſpendeten die Zuhörer ihm lebhaften Beifall und warfen höhnend ein „Zabern!“ — „Kruppſkandal!“ — „Knittel!“ — da⸗ zwiſchen, an all jene Skandalgeſchichten erinnernd, in die Offiziere verwickelt geweſen waren, und die in einem Augenblick die öffentliche Meinung bis tief in die bür⸗ gerlichen Kreiſe hinein erregt und entrüſtet hatten, wo Braun, Lebensſucher 23 353 die Regierung mit neuen Militärforderungen vor den Reichstag trat. „Die Anſprüche der Offizierkaſte haben Dimenſionen und Formen angenommen, die nicht bloß für die arbeitenden Klaſſen, ſondern auch für die Maſſe des Bürgertums verletzend, ja gefährlich ſind —“ rief der Redner, und der Agitator brach plötzlich aus dem Privatdozenten hervor. Das Publikum johlte. Dann fiel er wieder in das Dozieren zurück, keine der bekannten ſozialdemokratiſchen Wendungen von den wirtſchaftlichen Urſachen allen Geſchehens, vom nahen Zuſammenbruch des kapitaliſtiſchen Staats, von der alles und alle er⸗ löſenden Aufhebung des Privateigentums an den Pro⸗ duktionsmitteln außer acht laſſend; er leierte ſie herunter wie der Kantor den Katechismus. Riemand hörte hin. Auch hier ſind die Ideale ſchal geworden, dachte Konrad; das Leben iſt tot. Er wollte ſich leiſe entfernen und gelangte bis zur Türe. Es hatte ſich inzwiſchen ein wenig mehr gefüllt, und er kam an Gruppen von Arbeitern vorüber, die ſich im Hintergrund hielten und ſich eifrig über gewerkſchaft⸗ liche Angelegenheiten, über die Ereigniſſe des letzten Zahlabends und ähnliches unterhielten. „Halt's Maul,“ rief ein Junger mit fanatiſchen Augen einem zu, der lauter wurde, ſo daß die an ſich ſchwache Stimme des Redners ihre letzte Wirkung verlor. „Gott's Donner, das Hemd iſt einem näher als der Rock“, brummelte der Angefahrene in den ſtruppigen Bart. „Aber die Haut dürfte dir noch näher ſein,“ höhnte der Junge, „und ob du die zu Markte tragen willſt, davon iſt hier die Rede.“ Jetzt verſtummten die Um⸗ ſtehenden und hefteten ihre Blicke, in denen mehr Reu⸗ gierde als Anteilnahme zu leſen war, dem Redner zu. Auch Konrad blieb noch einmal ſtehen. „Richts iſt in dieſem Augenblick ſo billig, als die Weisſagung vom kommenden Weltkrieg“, tönte es lauter 354 durch den Saal. „Serbien, dem der Bund der ſiegreichen Balkanſtaaten zur Seite ſteht, drängt zum größeren Ser⸗ bien, das bis ans Meer reicht, unwiderſtehlich hin. Gegen dieſe Aſpirationen muß Öſterreich das Schwert ziehen. Rußland aber kann nicht zugeben, daß ſein Schutzſtaat zer⸗ ſtampft wird. Und Deutſchland wieder kann ſeinen Bundes⸗ genoſſen nicht im Stiche laſſen. Iſt es aber einmal in einen Krieg auf Tod und Leben verwickelt, ſo naht für Frankreich die gute Gelegenheit, ſeine alte Rechnung mit dem Todfeind zu bereinigen — natürlich auch für England, das den Augenblick nicht vorübergehen laſſen wird, um den unbequemen Konkurrenten ins Mark zu treffen. Dasſelbe gilt Oſterreich gegenüber für Italien —". Die Stimme des Redners wurde heiſer, er geſtikulierte heftig, auf ſeiner Stirn ſtanden die Schweißtropfen. Un⸗ willkürlich ſcharten ſich die wenigen Zuhörer dichter um ihn. Im Hintergrund klafften die Flügeltüren breit auf. Die Girlanden an den Wänden hoben und ſenkten ſich, vom Luftzug bewegt; dürre Blätter wehten hinab. „Unſere Stunde aber iſt gekommen, — der große Augenblick, an dem die internationale Sozialdemokratie ſich bewähren, ihre Macht in die Wagſchale ungeheuren Weltgeſchehens zu werfen hat. Mit dem Dampfhammer, den Marx ein⸗ mal beſchreibt, hat man unſere Bewegung verglichen. Er vermag mit leichten Schlägen kleine Rägel in weiches Holz zu treiben. Stürzt er aber, ſeine ganze Schwere ausnutzend, wuchtig herab, ſo ſplittert Granit zu Staub unter ihm. Behalten wir Beſinnung, Bewußtheit, Einig⸗ keit! Der internationale Sozialismus iſt der Friede. Erſchöpft fiel der Redner in den Stuhl zurück. Man applaudierte lebhaft. „Hoch die internationale Sozial⸗ demokratie!“ rief einer mitten im Saal. Aber alles ge⸗ ſchah wie nach einem Schema, ohne innere Anteilnahme. Der Weltkrieg! Wie oft wurde davon geredet! Von nüchternen Politikern und ſpiritiſtiſchen Schwärmern; von Imperialiſten, die Deutſchlands überragende Welt⸗ 23* 355 machtſtellung, von Sozialiſten, die die Weltrevolution von ihm erwarteten. Daß er kommen werde, kommen mußte, war zur Formel geworden, wie das Warten auf den Meſſias bei den Juden zur Formel geworden war. Richts Lebendiges, nichts, das Kräfte zeugt oder ſteigert, lag mehr darin. Konrad aber fühlte ſich ſeltſam aufgewühlt: Krieg — konnte das mehr ſein, als die Rauferei von ein paar wilden Tieren um die Beute, als das Riederknütteln von Schwächeren durch der Stärkeren Habgier, als ein Spektakelſtück auf einer der tauſend Weltbühnen, bei dem der Gebildete halb gelangweilt, halb mitleidig zuſieht? Krieg — verbarg ſich unter dieſem Ramen noch eine Macht, die den einzelnen ſich ſelbſt entreißen, in die Sintflut eines einzigen Geſchehens hineinzuſchleudern vermöchte, ſo daß er wieder ein Teil würde, ſich als Teil empfände, erlöſt von der Grauſamkeit eigenen Lebens? Das wäre — Leben! Die Flamme, die flüchtig in ihm aufgeſchlagen war, ſank raſch in ſich zuſammen. „Tor, der ich bin,“ dachte er, „mit der draſtiſchen Darſtellung ewiger Höllenſtrafen ſuchten noch immer kluge Pfaffen die ihnen entweichen⸗ den Seelen wieder zu ködern. Die Schrecken des Ka⸗ pitalismus verfangen nicht mehr, ſeitdem man anfing, ſich mit Hilfe von Genoſſenſchaften und Gewerkſchaften und ſozialer Geſetzgebung halbwegs bequem in ihm ein⸗ zurichten, jetzt verſucht man's mit dem neuen Geſpenſt. Sehr müde, wie immer, wenn er geſchlafen hatte, — denn das Erwachen zur Wirklichkeit erſchöpft den Un⸗ glücklichen mehr, als das ſtete wache Bewußtſein ihres Schreckens, — entſchloß ſich Konrad am nächſten Morgen endlich, die Menſchen aufzuſuchen, die er ſehen wollte. Den kleinen Bildhauer zuerſt. Er war inzwiſchen eine Berühmtheit geworden, und von ihm erhoffte Konrad jenes Denkmal, das Rorinas würdig wäre: einen ſchlichten antiken Grabſtein träumte er ſich mit der Geſtalt einer 356 Frau, die ruhevoll in tiefem Seſſel lehnt, die Augen auf einen zu ihren Füßen ſpielenden Knaben gerichtet und in Ausdruck und Gebärde wie Rorina hätte ſein müſſen, wenn das Kind nicht geſtorben wäre. So ſollte man, meinte er, alle Toten ehren: indem die Kunſt vollendete, was das Schickſal ſtümperhaft unterbrach. Als er vor Bernhards Villa trat, leuchtete ihm aus dem herbſtlich bunten Garten jene Statue entgegen, die des Bildhauers Ruf begründet hatte: ein nacktes Weib, ſehr ſchmal, ſehr ſchlank, von der keuſchen Unnahbarkeit gotiſcher Heiligen. Er vergewiſſerte ſich daran aufs neue, daß Bernhard ſchaffen würde, was er hoffte, und nun überkam ihn wieder jene freudige Gewißheit von Rorinas Rähe, von dem Vollbeſitz ihres Weſens. Der Künſtler begrüßte ihn mit übertriebener Herzlich⸗ keit und vielem Geſchwätz, das offenbar irgend etwas ver⸗ decken ſollte. Sie kamen ins Atelier. Da ſaßen und ſtan⸗ den und lagen dieſelben Frauen, wie die im Garten, nur daß die Oberkörper noch kleiner, die Beine dafür noch länger und ſchlanker geworden waren. Das war nicht künſtleriſche Entwicklung, ſondern Manier. Bernhard errötete unter Konrads fragendem Blick, und lachte ge⸗ zwungen. „Sie ſehen,“ ſagte er, „ich bin bereits in jenes Sta⸗ dium der Berühmtheit getreten, die es mir erlaubt, mich ſelbſt zu wiederholen, ja gewiſſermaßen zu karikieren. „Schade“, meinte Konrad trocken und ſehr ernüchtert. „Was wollen Sie?“ fuhr Bernhard fort. „Das große Hublikum gewöhnt ſich am raſcheſten an beſtimmte Aus⸗ drucksformen, und liebt den Künſtler, den es durch ſie immer wieder erkennt. Unbequem, faſt ſuſpekt iſt ihm einer, der ſtets aufs neue Probleme ſtellt. „Das große Publikum!“ rief Konrad gereizt, „was geht es den großen Künſtler an! Der andere lächelte überlegen: „Der große Künſtler will leben, lieber Baron. Und ſeitdem ich mir dies 357 Haus baute und dazu den Luxus einer armen Frau ge⸗ ſtattete, iſt die Erfüllung dieſes berechtigten Wunſches nicht leicht. Überdies: was hat man ſonſt vom Daſein, wenn das bißchen äußerliche Behaglichkeit nicht wäre? Dann zeigte er Konrad einige kleine Modelle für das Grabmal: gemeißelte Tragödien — kein Bildwerk. Kon⸗ rad fühlte, daß für ihn hier nichts zu erwarten war. Sie trennten ſich kühl und verſtimmt. Anf dem Wege zum Gartentor ſprachen ſie noch flüchtig über alte Be⸗ kannte. Auch Eulenburgs Name wurde erwähnt. „Wiſſen Sie noch nicht, daß er geheiratet hat, — Veits Stieftochter, über deren Häßlichkeit ihn ihre Millionen tröſten ſollten?“ ſpottete der Bildhauer. „Verdiente er nicht viel? Brauchte er ſich in ſo ekel⸗ hafter Weiſe zu verkaufen?“ frug Konrad in unbeherrſchter Empörung. „Viel, — aber nicht genug! Übrigens hat ſich der arme Kerl greulich verrechnet. Für Papa Veit iſt das Dichten ſo was wie ein Makeln mit Börſenpapieren, und das Herſtellen von Material für Druckerſchwärze nicht viel anders wie das Weben von Leinwand, das man nach der Elle mißt und bezahlt. Sein Zuſchuß an den Schwiegerſohn richtet ſich nach deſſen prompter Lieferung von Geiſtesprodukten. Darum iſt er jetzt bis zum Zirkus und zum Kino gelangt — darum, mein lieber Baron, —“ und der kleine Bildhauer, der ſich offenbar lange im Zaum gehalten hatte, wurde feuerrot, „kommen wir alle auf den Hund.“ Konrad atmete auf — alſo lebte doch noch etwas in dem Künſtler — und drückte ihm freundſchaftlich die Hand. „Darum werden wir mit Gewalt aus dieſem Sumpf geriſſen werden“, ſagte er mit ungewöhnlicher Zuverſicht. „Oder ſanft in ihm erſaufen; wenn er auch dreckig iſt, ſo iſt er doch mollig und warm“, ergänzte Bernhard in bitterer Selbſtironie. 358 Als er im Bedürfnis, ſich auszuſprechen, zu War⸗ burg kam und an der Türe ſchon wieder umkehren wollte, da er die ärztliche Sprechſtunde zu ſtören ver⸗ meinte, trat der Freund ihm entgegen, — ſehr blaß, mit Augen, die tief und glanzlos in den Höhlen lagen. „Bleib nur,“ ſagte er müde, „die Sprechſtunde wird uns nicht ſtören, ich habe meine Kaſſenpraxis aufgegeben und meine Tätigkeit auch ſonſt erheblich eingeſchränkt. Rur ſolchen Leuten helfen zu können, die ſich Eſſen und Trinken, Luft und Licht, Ruhe und Bewegung zu be⸗ zahlen vermögen, und nicht imſtande zu ſein, denen, die es am nötigſten brauchen, dieſe Bedingungen allen Geſundens zu verordnen, das paßt mir nicht, das iſt ein Hohn auf meine Wiſſenſchaft und meine Ideale. Doch das nur nebenbei.“ Und er erzählte, daß Gerhard Fink ſeine Beziehungen zu Sara Rubner endgültig gelöſt habe. „Sie hatte ihn vor die Wahl geſtellt zwiſchen ſich und den Eltern. Da ſpielte er zuerſt den ſchmerzvoll Entſagenden vor ihr, den gehorſamen Sohn, der Vater und Mutter nicht un⸗ glücklich machen dürfe. Es muß darauf zu einer böſen Szene gekommen ſein, nach dem zu ſchließen, was Sara noch bebend vor Zorn und Aufregung mir andeutete. In ihrem Verlauf hat er die Haltung völlig verloren und ſcheint ihr — ich habe auch das aus ihren wilden Reden nur herausgefühlt — zyniſch erklärt zu haben, daß er,“ Warburgs Stimme ſank und das Blut ſchoß ihm jäh in die Stirn, „nicht mehr nötig habe, ſie zu heiraten.“ „Elender Schurke!“ ſtieß Konrad zwiſchen den Zähnen hervor. „Sie iſt ganz vernichtet“, fuhr Warburg fort. „Von Ausbrüchen elementaren Haſſes und pathetiſcher Ver⸗ zweiflung wird ſie hin⸗ und hergeriſſen. „Man muß ſie vor ſich ſelber retten, ihr die Hand bieten, daß ſie zurückfindet,“ warf Konrad lebhaft ein, 359 „eine Aufgabe, die in dieſem Augenblick niemand erfüllen kann als du.“ Warburg nickte. „Ich habe von Anfang an eine Kataſtrophe kommen ſehen; wie eine Schildwache habe ich darum immer vor ihrem Leben geſtanden. Rur, daß der Kerl ſie einmal ſo — ſo wegwerfen könnte, -" er brach ab, um nach einer Pauſe leiſe und langſam fortzufahren: „Sie fühlt ſich vor ſich ſelbſt und vor der Welt — entehrt. Konrad ſprang ſo heftig auf, daß der Stuhl zu Boden krachte. „Weil ein Schuft ſich als ſolcher enthüllte, — entehrt?!“ rief er. Warburg hatte ſich gleichfalls erhoben, ſchritt ein paarmal ſtumm mit geſenktem Kopf im Zimmer auf und ab und blieb dann dicht vor dem Freunde ſtehen, ihm feſt ins Auge blickend. „Ich will ihr dienen, Konrad, dienen, wie bisher," ſagte er leiſe, „vielleicht — vielleicht —“ und er legte die Hand über die Augen. „Armer Freund“, murmelte Konrad. Dann ging er, um, von einem unbewußten Entſchluß getrieben, Frau Sara Rubner aufzuſuchen. Er erſchrak, als ſie ihn empfing. Sie war blaß und ſchmal geworden. Die breiten Backenknochen ſtanden ſcharf aus ihrem Geſicht. „So ſehen wir uns wieder —“, ſagte ſie. Er beugte ſich über die dargebotene Hand, um ſie zu küſſen. Sie entzog ſie ihm haſtig. „Sie wiſſen?!“ Er nickte. „Auch, daß ich — beſudelt bin?“ und ihre dunklen, ſieberglühenden Augen richteten ſich auf ihn. „Sie — beſudelt?!“ Er lächelte ein wenig. Frau Sara ließ ihn nicht weiter ſprechen. „Ich warf mich immer weg,“ begann ſie mit krampf⸗ haftem Verſuch, einen ruhigen, überlegen⸗ſpöttiſchen Ton 360 anzuſchlagen, „an eine Sehnſucht, die in den Sumpf führte, an ein Ideal, das ſich als Fata morgana erwies, an einen Menſchen, der ein Schurke iſt. Meinen Sie, man könne dabei reinlich bleiben? Man käme nicht ſchließlich um vor Ekel? „Das iſt, wie mir ſcheint, übertriebene Selbſtqual; es kommt doch wohl nur darauf an, ſich nichts vor⸗ werfen zu müſſen“, meinte er, die ganze Kläglichkeit ſeines phraſenhaften Einwurfs, den er an Stelle eines Troſtes fand, peinlich empfindend. Ihr Lachen verletzte ihn darum nicht. „Gibt es einen ſtärkeren Vorwurf gegen ſich ſelbſt, einen deutlicheren Beweis für die eigene Richtigkeit, als ſolche Sehnſüchte, ſolche Ideale und Reigungen zu haben?“ antwortete ſie. „Wahrhaft große, ſtarke Men⸗ ſchen verlieren ſich nicht!“ Er ſuchte vergebens nach einer Erwiderung, — er war ſich noch nie ſo hilflos vorgekommen. Sie empfand offenbar ſeine Verlegen⸗ heit. „Was plagen Sie ſich, Baron,“ ſagte ſie, „es tut mir wohl, daß Sie mir nichts ſagen können, — ich ſehe daraus, daß Sie mich verſtehen, und das brauche ich mehr als alles. Doch genug, übergenug der Geſtänd⸗ niſſe.“ Auf ihren Glockenruf brachte das Mädchen den Tee, und ſie ſaßen einander gegenüber als korrekte Geſell⸗ ſchaftsmenſchen, die Konverſation machen, auch wenn ſie wiſſen, daß ſie eine unwiederbringliche Stunde ver⸗ paſſen, in der ſie einander ſo viel zu ſagen gehabt hätten. Konrad erzählte ihr von den Eindrücken der letzten Tage. Sie hörte aufmerkſam zu und ſagte dann: „Schon lange fühl' ichs: es liegt ein großes Sterben in der Luft.“ „Aber auch eine große Sehnſucht nach Auferſtehung“, meinte Konrad. Ein ironiſches Lächeln flog um ihren Mund: „Glauben 361 Sie? Mir ſcheint vielmehr, daß Ideen und Menſchen ſich noch im Grabe wehren würden, wenn ein grau⸗ ſamer Gott ſie aus dem Schlafe wecken wollte.“ Und raſch, als fürchte ſie jede Möglichkeit einer Vertiefung, lenkte ſie das Geſpräch wieder in die ausgefahrenen Gleiſe der Konvention. Konrad verließ ſie nicht weniger enttäuſcht, als er vorher Warburg verlaſſen hatte. Aber ſchon am nächſten Tage bat ſie ihn ſchriftlich um ſeinen Beſuch. „Ich habe gezögert, ob ich es tun ſollte“, ſchrieb ſie. „Wir lieben uns nicht, ſind nicht einmal befreundet, — die übliche Schlußfolgerung daraus wäre, daß wir einander Fremde ſind. Es gibt jedoch, wie mir ſcheint, Situationen, in denen dies Fremdſein zum größten Raheſein berechtigt und befähigt, weil keine Empfindung Blick und Urteil trübt und zu Schonung und Lüge verleitet. Ich muß jemanden haben, der offen und unbeſtechlich iſt wie das, was mich in der Wirrnis der letzten Tage im Stiche ließ: mein Gewiſſen . . . Konrad eilte zu ihr. Eine einzige, große, gelbe Kerze brannte in Frau Saras grauem Salon. Darunter lag ihre ſchwarz ge⸗ kleidete Geſtalt lang ausgeſtreckt auf dem niedrigen Diwan. Ihre Lider waren gerötet, zwei dunkle Flecken brannten auf ihren Wangen. „Ich habe keine Zeit zu verlieren“, ſagte ſie. Erſt jetzt bemerkte er die Unordnung auf ihrem Schreibtiſch, in ihrer Umgebung. In wirrem Durcheinander befanden ſich Bücher und Papiere. „Sie wollen fort?“ frug er, umſchauend, dabei fiel ſein Blick auf die Kerze, die feierlich, wie in einer Altar⸗ niſche, ſin der einen Ecke des Zimmers ſtand, und mit den zarten Rauchſchleiern den feinen Duft friſchen Wachſes um ſich verbreitete. „Vielleicht“, antwortete ſie gleichmütig und dann, ſeinem Blicke folgend: „Meiner Schweſter Todestag, 362 im vorigen Jahre vergaß ich, ihn zu feiern. Um ſo in⸗ brünſtiger geſchieht es heut.“ Sie kämpfte mit den Tränen. Er ſtreichelte unwillkürlich ihre Hand, wie einem kranken Kinde. „Richt weich werden, Baron, bitte nicht,“ fuhr ſie fort, „wenn Sie mir helfen wollen, müſſen wir Fremde bleiben. Denn eine deutliche Ant⸗ wort erwarte ich — keine Ausrede — auf das, was ich Sie fragen will. Ich brauche Grauſamkeit, keinen Troſt. Und mit einem jäh hervorbrechenden Schluchzen ver⸗ grub ſie den Kopf in die Hände. „Sprechen Sie,“ ſagte er erſchüttert, „wenn Ihnen Wahrheit helfen kann, wie könnte ich ſie Ihnen vorent⸗ halten? Sie hob den Kopf: „Ich danke Ihnen.“ Dann fuhr ſie mit vollkommen gefeſtigter Stimme fort: „Rach meiner Frage, Baron Hochſeß, — das wird Ihnen, ſobald ich ſie geſtellt habe, ohne weiteres verſtändlich ſein — werden wir uns nicht wiederſehn. Sie dürfen mir, mag Ihre Antwort ſo oder ſo ausfallen, mag ich ihre Richtigkeit durch mein Handeln anerkennen oder nicht, danach nicht mehr begegnen. Und nun merken Sie gut auf: es ſtürzte ſich jemand nächtlicherweile, in Fieberhitze glühend und faſt erlöſchend vor Durſt in dunkles Waſſer, das ihm Erlöſung ſchien. Dann erſt, im Tageslicht, entdeckte er, daß es ſchmutzig war und häßliche Zeichen davon auf ſeinem Körper hinterließ. Und er lief weit fort. Und Scham und Verzweiflung liefen mit ihm. Trotzdem trieben ihn Fieber und Durſt immer wieder zurück zu dem Waſſer -" Draußen knarrte die Eingangspforte; es ging ein Schritt. Sara ſchnellte empor, ſtarrte mit regloſen Pu⸗ pillen zur Türe und ein Schrei tiefſter Verzweiflung entrang ſich ihrer Bruſt: „Wenn er käme, wenn er in dieſem Augenblick käme, er, an dem ich mir ſelbſt zum Spott und zur Verachtung geworden bin, — ich ſtürzte ihm in die Arme — ich küßte ſeine Füße -" 363 Sie ſank zuſammen. Draußen war es ſtill. Konrad hatte ſich abgewandt, bis Saras rauh gewordene Stimme ſein Ohr traf. „Kann ſo jemand weiter leben, Baron Hochſeß?“ frug ſie laut und ſcharf. Er öffnete ſchon den Mund zu raſcher, beſchwichtigender Antwort, als ſein Auge dem der gequälten Frau vor ihm begegnete. Aus ſeiner dunklen Tiefe flehte eine in Ketten ſchmach⸗ tende reine Seele um Erlöſung. Da verſtummte er, verbeugte ſich tief und ehrfurchsvoll, ohne daß er gewagt hätte, auch nur die Fingerſpitzen derjenigen, von der er Abſchied nahm, noch zu berühren und ging. In derſelben Racht erſchoß ſich Frau Sara Rubner. Die große, gelbe Kerze brannte noch immer ihr zu Häupten, als man ſie fand. Konrad legte Warburg ein rückhaltloſes Geſtändnis von allem ab, was ſich zwiſchen ihm und ihr begeben hatte. „Du wirſt verſtehen,“ ſagte ihm dieſer mit jener Kühle, die er jetzt ſtändig wie eine Maske trug, „daß auch wir geſchieden ſind.“ Auf dem Totenbett, wohin er blaſſe Spätherbſtroſen trug, ſah er Frau Sara zum letztenmal. Man hatte ihr nach jüdiſchem Brauch die dichten, ſchwarzen Haare in kleine, feſte Zöpfchen geflochten; zwei alte, häßliche Klageweiber plärrten Gebete und aßen dazwiſchen ihr Frühſtück aus fettigem Zeitungspapier. Und nicht einmal mit Blumen durfte man das Lager bedecken. Das war gegen die rituellen Geſetze. Lange ſtand Konrad neben der Toten, verloren in Phan⸗ taſien. Das war ja gar nicht Frau Sara, die dort geſchloſſenen Auges ruhte, jedes Reizes beraubt, den ſie einſt beſeſſen hatte, faſt unſchön. War das die Zeit, die ſich aus Ekel vor ſich ſelbſt entleibt hatte, — die Vergangenheit, die an ihren unerfüllten Sehnſüchten ver⸗ welkt war? Und waren die draußen, die noch herum⸗ liefen und lärmten, als lebten ſie, nichts als ihre Geſpenſter? 364 Schon am nächſten Tage fuhr er nach Hochſeß zurück, glücklich, mit der wieder allein zu ſein, die ihm einzig noch lebte. Da er weder einen Bildhauer noch einen Baumeiſter für das Werk, durch das er ſie verewigen wollte, gefunden hatte, ließ er von einem alten Maurer aus dem Dorf aus unbehauenen heimiſchen Dolomit⸗ blöcken über ihrem Grabe im Hark einen kleinen Tempel errichten. Rur eine Platte brauchte man in ſeinem Innern hochzuheben, um ihn zu ihr herabzulaſſen. Daß es nicht lange dauern würde, wußte er. Was konnte dem Leben an ihm noch liegen, nachdem ihm am Leben nichts mehr lag? Im Laufe des Winters ſtarben die Tanten, ohne viel Geräuſch zu machen. Run war er ganz allein auf Hochſeß. Am Wechſel der Jahreszeiten allein merkte er, daß ſich die Zeit be⸗ wegte. Unabläſſig fiel der Schnee. Die Hochebene der Langen Meile, wo die ſchwarzen Wacholderbüſche verſtreut auf der Ode ſtehen, wie zerzauſte Lebensbäume auf vergeſ⸗ ſenen Gräbern, und die kleinen, einſamen Häuſer, die im Herbſt, wenn in den dürftigen Gärtchen davor alles Blühende kahl und welk geworden iſt, mit der Scham⸗ loſigkeit des Bettlers ihre Wunden und Blößen ent⸗ hüllen, hatte er ſchon in den weißen Samt ſeiner könig⸗ lichen Herrſchaft geborgen. Und nun ſchlug er glitzernde Sternenſchleier um die Bäume auf den Bergen, und breitete unten im Tal die prunkende Schleppe ſeines Brautkleides aus. Er duldete nichts Dunkles. Wenn Wagenräder, Pferdehufe, Menſchenſchritte ſein Feſt⸗ gewand befleckten, ſo löſchte er in einer Racht jede Spur davon; wenn der Schneepflug mühſelig durch die Dorf⸗ ſtraßen knirſchte und der Landmann ſich ächzend Fuß⸗ ſteige grub, ſo triumphierte er, ein Herrſcher von Gottes 365 Gnaden, ſchon in den nächſten Stunden über die Kärrner. Und danach gaben ſie ihren Widerſtand auf, ſaßen mit gefalteten Händen hinter den eisblumigen Scheiben und ſahen zu, wie die Flocken fielen. In der offenen Säulenhalle über Rorinas Ruheſtätte bedeckten blühende Blumen den Boden. Sie blieben lange Zeit hindurch das einzig Farbige. Bis der Schnee eines Rachts den Wind zuhilfe gerufen und auch dieſen letzten Gegner überwunden hatte. Run war alles weiße, reine Unendlichkeit. Und eine große Stille kam und verſchlang jeden Laut. Unwirklich erſchien Konrad der Frühling, als er da⸗ nach wieder begann, wie eine Komödie mit gemalten Kuliſſen. Allmählich ſtellten ſich die Rachbarn bei ihm ein, um ihn zu tröſten, „herauszureißen“, „dem Leben zurückzu⸗ gewinnen“. Er hätte ihnen am liebſten ins Geſicht gelacht, als ſie davon ſprachen. Ihr Leben: Wirtſchaftsſorgen, Fa⸗ milientratſch, Parteihader, und daneben — um dieſes unheilvolle Dreigeſtirn vergeſſen zu laſſen — offene und verſteckte, von Spiel, Wein und Weibern beherrſchte Amüſements! Als ihm überdies Hilde Rothauſen, die Verblühte, Verbitterte, mit deutlicher Abſicht wieder zu⸗ geführt wurde, zog er ſich in faſt verletzender Weiſe zurück. Daß er der letzte ſeines Stammes war, — das wußte und das wollte er. Rachkommen in die Welt zu ſetzen, denen nur ein Erbe, in dieſem mechaniſierten Leben aber keine Aufgabe mehr zufiel, die mehr bedeutete als ein bloßes Erhalten dieſes Lebens, — wie hätte er das verantworten können? 366 Die Kletterroſen um Rorinas Tempel begannen zu blühen. Das war der Sommer, der kam. Roch nie war er ſo reich an Blumen und Erntehoffnung geweſen. Aber eine bleierne Schwüle lag in der Luft, die laſtete ſchwer auf allem, was wachſen wollte, die verſchleierte den Himmel, dämpfte die Farben, und ließ die kleinen neſter⸗ bauenden Vögel unruhig flattern. Als in der Johannis⸗ nacht die Feuer von den Höhen flammen ſollten, — es war zum Brauch geworden, daß die Jugend ſie überall ſchürte, ein Fanal ihres Frohſinns und ihrer Hoffnungen — und die entfachte Glut ſchon zu kniſtern begann, brach ein Unwetter aus und Ströme rauſchenden Regens er⸗ ſtickten jeden Funken, wenn er auch noch ſo hartnäckig zu zünden begehrte. Ein paar Tage ſpäter ſprengte ein Reiter in den Hof von Hochſeß: Alex Rothauſen. Er war heiß und rot und überhörte völlig Konrads gemeſſene Begrüßung. „Weißt du ſchon?“ rief er, ſein Pferd zügelnd. „Eben telegraphierte der Amtsrichter an den Vater: Ein Atten⸗ tat! — Der öſterreichiſche Thronfolger iſt ermordet! Beim Einzug in Sarajewo von einem Ruſſophilen, wie es ſcheint! Das iſt das Signal⸗ „Zum Kriege!“ fiel ihm Konrad ins Wort; ſein Antlitz ſtrahlte — „nun hat das große Sterben ein Ende!“ Entgeiſtert ſah der Reiter den Schloßherrn an: ſollte die Rachbarſchaft dennoch recht haben, wenn ſie nur noch vom verrückten Hochſeß ſprach?! Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. „Ich trag's weiter, um alle Schlafmützen wach zu rütteln“, rief er lachend und ſtob zum Tore wieder hinaus. Danach ſtand der letzte des alten fränkiſchen Ritter⸗ ſtamms vor dem Bilde deſſen, der auf dem weißen Mantel das große ſchwarze Kreuz trug und hielt Zwieſprache mit ihm. 367 Vom nächſten Morgen ab aber beſtellte er Haus und Hof, war von früh bis ſpät auf Feld und Flur zu finden, den Knechten und Mägden ein ſtrenger Herr, den Bauern ein Vorbild. Alles regte wetteifernd die Hände, als gelte es zu ſchaffen und zu bergen auf mehr als ein Jahr hinaus. Und er ſelbſt hißte auf dem Turm von Hochſeß wieder die Fahne. 368 Zehntes Kapitel Von der Auferweckung In der Sommerſchwüle unter den hohen Kaſtanien auf dem Hof von Hochſeß ſummten und ſurrten Fliegen und Weſpen, und die Pferde vor dem leichten Selbſt⸗ fahrer am Portal ſtampften ungeduldig. Konrad ſtand auf der Schwelle, der alte Greifenſteiner neben ihm. „Es bleibt mir wohl kaum noch etwas zu ſagen übrig“, begann er, mit einem raſchen, hellen Blick, der wie von Zärtlichkeit glänzte, um ſich ſchauend. „Nur, daß ich noch immer nicht begreife,“ brummte der andere. Ein Lachen, klar und froh, wie ſorgloſe Jugend zu lachen pflegt, unterbrach ihn: „Renn's eine Schrulle, — eine neue Verrücktheit — wie du willſt! Hochſeß ſteht auf zwei Augen. Da iſt's immerhin gut in dieſen romantiſchen Zeitläuften, ein paar andere in die Ver⸗ hältniſſe einzuweihen. „Du tuſt, als wärſt du ein fahrender Ritter und wollteſt dich vom öſterreichiſchen Bundesbruder zum Kampf gegen die Serben und ſonſtige dreckige Balkan⸗ völker werben laſſen“, erwiderte Rothauſen, noch immer voll Mißmut. Roch einmal lachte Konrad: „Das Schlechteſte wär's nicht!“ um dann ernſter hinzuzufügen: „Beſinnſt du dich auf die Verwandtſchaft zwiſchen Adel und Abenteurer, die die Großmutter einmal definierte? Der alte Kreuz⸗ ritter droben zog auch aus keiner anderen als der inneren Berufung ins Preußenland wider die Polen. Im übri⸗ gen: du kennſt ja meine Anſichten über die Weltlage.“ Braun, Lebensſucher 24 369 Und er ſprang elaſtiſch auf den Bock, noch einmal die Hand herunterreichend. Kräftig in ſie einſchlagend, ſagte der Greifenſteiner: „Gott verzeih' mir meine Schnauze, die ich in der letzten Zeit nicht im Zaume hielt, wenn ſie über dich herzogen; biſt doch ein Kerl vom alten Schrot und Korn, Konrad. Wir ſehen uns vielleicht noch in Berlin, wenn du recht behältſt und es wirklich losgeht, — müſſen doch auch von dem Jungen, dem Alex, Abſchied nehmen. Leb wohl indeſſen und Glück auf den Weg! Die Pferde zogen an. Da ſiel Konrads Blick auf den Turm mit der flatternden Fahne. Er wandte ſich noch einmal um. „Ich vergaß —“ rief er zurück, ſeine Stimme hallte laut unter dem Torweg, — „daß ſie mir keiner herunterholt, — jetzt blühen die Roſen! In ſcharfem Trabe ging es den Berg hinab. Erſt unten zügelte Konrad die Füchſe. Denn vom Parkhügel leuchtete, überſchüttet von brennenden Blütenbüſcheln, Rorinas Tempel ins Tal. Und langſam, ganz langſam, geſenkten Kopfes, als ſchritten ſie im Trauerkondukt, zogen die Pferde den Herrn vorüber. Und nun umfing ihn der Wald und es war, als ob die Bäume mit ihrem trauten, tiefen Schatten ihn wie mit zärtlichen Armen halten wollten. Dann kam die Wieſe und lachte ihn an, und der Bach, der ſie durch⸗ zog, lud ihn zum Plaudern. Doch immer nur raſcher griffen die Pferde aus. Da — welch ein Hindernis? Roch raſch zog der Fahrer die ungebärdig ſich bäumenden Tiere zurück. Vor dem Wirtshaus von Gaſſelsdorf unter dem Kaſtaniendach ſtauten ſich die ländlichen Gefährte, die vom Markte kamen, und um einen, der vorlas, drängten ſich Männer und Frauen mit heißen Geſichtern. Kaum, daß jemand dafür Gedanken hatte, beiſeite zu treten. „Hallo! rief Konrad. „Hallo!“ ſekundierte der Reitknecht, der neben ihm ſaß, mit gewohntem rauheren Tonfall. „Laß 370 das, Johann,“ verwies ihn der Herr, „heut hat jeder ein Recht auf die Straße. „Der Hochſeß iſt's“, ſchrie einer erregt. „Der fährt ſchon?!“ ſiel eine zitternde Weiberſtimme ein. „Gibt's Krieg, Herr Baron?“ und ein Alter mit ſchlohweißem Haar, die Greiſenhände über der Bruſt gefaltet, trat vor. Konrad beugte ſich nieder und reichte ihm die Hand. „Biſt noch einer von Siebzig, Vater Lorenz, und fürchteſt dich?“ ſagte er. Der Alte warf den Kopf in den Racken: „Fürchten?! Re! — Rur daß ich im Winkel hock' —“ und er wiſchte ſich mit der riſſigen Fauſt über die Augen. Jetzt umringten junge Burſchen den Wagen. Sie riefen alle durcheinander: „Wann geht's los? „Bald!“ Da machten ſie mit einem Hurra die Straße frei. Rur ein blondhaariges Mädchen — mußte ſie immer am Wege ſein, wenn er kam? — lehnte am Zaun und weinte. Auf dem Bahnhof in Bamberg liefen die Reiſenden hin und her, viele Frauen und Kinder darunter, die mit Koffern und Schachteln und Sträußen beladen, aus den Bergen kamen. Aller Mienen ſchienen geſpannt, alle Augen eine Frage. Rur langſam ſetzte ſich die unend⸗ liche Wagenreihe des Zuges in Bewegung. Weich und zärtlich ſchmiegten ſich die Umriſſe der fränkiſchen Höhen an den in der flirrenden Hitze ſilbern glänzenden Hori⸗ zont, während die vier Türme des Doms ſich ſeltſam nah und ſchwarz in den Himmel ſtreckten wie Lanzen⸗ ſpitzen. Konrad ſah ihnen nach, bis eine Biegung des Zugs ſie verſchwinden ließ. Daß ihn das plötzlich ſo ſchmerzen konnte, als wären ſie etwas Lebendiges, etwas, das ihm gehörte! Er ſchloß die vom grellen Licht geblendeten Augen. Wirbelnde Funken und Sterne und Kreiſe ſah er. Sie 24* 371 ſchmolzen ineinander, verdichteten ſich. Und dann war es, als ritte der ſteinerne Ritter vom Dom vor ihm her im leeren, im pechſchwarzen Raume, weiß und leuch⸗ tend, — bis er kleiner und kleiner wurde — immer kleiner — ein gleitender Schwan — ein ſchwebender Vogel — zuletzt nur noch ein Stern — und im nachtdunklen Meer der Unendlichkeit verſank. Es wetterleuchtete fern am Horizont. Aber in den abendlichen Straßen der Stadt brütete die Glut des Tages; jede Mauer ſtrömte die Hitze der Sonne aus, die ſie ſtundenlang in ſich geſogen hatte. Und wo Men⸗ ſchen in Gruppen beieinander ſtanden, war es, als wäre eine unſichtbare Flamme mitten unter ihnen. Man ſprach nicht viel — man lauſchte mit geſpannten Rerven — ſelbſt im Rollen der Räder lag ein gedämpfter Ton. Da: — von fern her ein Ruf, unverſtändlich zunächſt, dann deutlicher: „Öſterreich macht mobil!“ Und unten, am Ende der Straße, flutete es hervor mit ſchwarz⸗ gelben Fähnchen, in feſtem Schritt, dem der Geſang den Rhythmus gab: „Gott erhalte Franz den Kaiſer ⸗ Konrad war bis zum Potsdamer Platz vorgedrungen, als der Zug ſich näherte. Die Bogenlampen überſtrömten ihn jetzt mit ihrem weißen Licht: es war Jugend, lauter Jugend, rundbäckige Knabengeſichter darunter, Jugend, durch die Wonne des Erlebens allein beſeligt. Singend verlor ſie ſich wieder, raſch übertönt von entfeſſelten Stimmenfluten ringsum, die vom nächſten Kaffee aus brauſten und praſſelten, ſich ſelbſt überſtürzend. Konrad ging vorüber. „Rieder mit Serbien!“ klang es. „Hoch Öſterreich!“ vom nächſten Tiſch, und die Bierſeidel klapperten aneinander. „Expanſionspolitik —“ „Platz an der Sonne —“ fing er weitere Geſprächsfetzen auf. Er eilte weiter; in allen Rebenſtraßen war es leer, — an den Ecken ſtanden Dirnen und lachten ihm ins Ge⸗ 372 ſicht — Bettler traten aus dunklen Türen. Sein Schritt wurde ſchneller. War er gekommen, um Geſpenſter von einſt zu ſehen? Da und dort, wie die letzten Raketen eines Feuer⸗ werks, ſtiegen noch abgeriſſene Klänge gen Himmel. Und der nächſte Tag erwachte, noch leuchtender als der vorangegangene. Aber niemand in der Stadt hatte irgendeinen Sinn für ſeine blaue, glühende Sommer⸗ ſtille. Die Straßen, die Kaffees waren von früh an überfüllt. Aber nicht mehr von jener Jugend, die ſich in der Racht zuvor an dem erſten großen Ereignis ihres Daſeins berauſcht hatte. Reife Männer waren es, die in aller Frühe von der Sorge von ihrem Lager getrieben worden waren, und mit übernächtigen Geſichtern überall beieinander ſtanden, um ihre Anſichten und Befürchtun⸗ gen über die politiſche Lage auszutauſchen. Wenn ſich auch die Hoffnungen vieler an die Friedensbemühungen des Kaiſers knüpften, von denen die Preſſe erfüllt war, ſo ſchienen die meiſten am Kriege kaum noch zu zweifeln. Krieg! — Wer von der Generation der Gegenwart wußte noch etwas von ihm? Der ängſtlichen Gemüter bemächtigten ſich faſt mittelalterliche Vorſtellungen. Be⸗ ſonders die Frauen ſchienen einen Zuſammenbruch des geſamten wirtſchaftlichen Lebens für möglich zu halten und ſuchten mit einer Aufregung, die oft an Paroxis⸗ mus grenzte, Einkäufe für den Haushalt zu machen, als gelte es, ſich für eine Belagerung vorzubereiten. Aber auch ruhige Männer wurden vom Fieber ergriffen. Krieg! — Für die Generation des Friedens bedeutete dieſes Wort ein dunkles Rätſel, erfüllt von tauſend Schreckniſſen. Konrad gehörte zu den Zuſchauern dieſes Schauſpiels. Er fürchtete nichts. Er hoffte nur. Wie der Landmann angeſichts der durſtenden Felder den ſchwarzen Wolken hoffend entgegenſieht, die ſich drohend am Himmel ballen. Je höher die Sonne ſtieg, deſto mehr ſchien ſie die 373 Luft zwiſchen den Häuſern zu etwas greifbar Schwerem zuſammenzupreſſen. Sie laſtete förmlich auf den Köpfen und beengte den Atem. Die Schatten ſchrumpften verängſtigt zuſammen. Auch der Tiergarten, in den Konrad einbog, — den alten Weg zu Walter Warburg ging er — bot keine Kühle. Kein Luftzug regte ſich. Jedes Blatt am Baum ſtand wie gebannt im blendenden Glaſt der Mittagshitze. „Ich ſuche den Arzt, wenn ich den Freund nicht finde“, ſagte Konrad, als Warburg, den unerwarteten Patienten erkennend, mit raſch verhärtetem Geſichtsaus⸗ druck vor ihm zurücktrat. „Bitte,“ erwiderte er kühl, ihn mit flüchtig einladen⸗ der Handbewegung zum Sitzen nötigend. „Du weißt,“ begann der Ankömmling, mit einem Blick voll Schmerz und Mitgefühl des Arztes durchfurchtes Antlitz ſtreifend, „daß ich ſeinerzeit wegen eines Herz⸗ fehlers für dienſtuntauglich erklärt wurde. Jeder, der was auf ſich hielt, bereitete ſich damals“ — und er lächelte leiſe — „mittels einer durchſchwärmten Racht wirkungsvoll auf die Unterſuchung vor. Jetzt“ — mit einer energiſchen Gebärde richtete er den Oberkörper auf — „wünſche ich nichts mehr, als geſund zu ſein und hoffe, deine Unterſuchung wird das ergeben. Warburg hielt den Blick hartnäckig geſenkt, keine Muskel in ſeinem Geſicht zuckte. Er kramte zwiſchen den Rotizen auf ſeinem Schreibtiſch und ſagte dann geſchäftsmäßig, wie zu einem völlig Fremden: „Hier iſt die Adreſſe eines Militärarztes, der für dieſe Frage allein in Betracht kommt.“ Er umging ſichtlich jede Anrede, um das „du“ nicht ausſprechen zu müſſen. Konrad ſprang auf, er atmete ſchwer, und die drohende Falte zwiſchen ſeinen Brauen ſtrafte den freundlichen Ton, mit dem er ſich zu ſprechen zwang, Lügen. „Danke. Ich werde zu ihm gehen — nachher. Mit deinem Atteſt — dem meines Hausarztes, verſtehſt du? -" 374 Warburg hatte mit einem Bleiſtift geſpielt, jetzt warf er ihn heftig auf die Tiſchplatte, aber er antwortete nicht. Und eindringlicher fuhr Konrad fort: „Kleine Unregelmäßigkeiten, die etwa noch an meinem Herzſchlag zu ſpüren ſein ſollten, wird er weniger beachten, wenn ich ihm dein Atteſt vorlegen kann.“ Er machte eine Pauſe. Als der andere beharrlich ſchwieg, näherte er ſich ihm mit einem raſchen Schritt und ſagte laut, jedes Wort betonend: „Denn ich muß felddienſtfähig ſein — ich muß!“ Warburg lachte kurz auf. „Ach ſo!“ erwiderte er mit ſchneidender Schärfe, „du gehörſt neuerdings zu den Aſtheten, den Expreſſioniſten und Futuriſten, die den Weltbrand ſchüren helfen, um der neuen unerhörten Senſation willen, die auch die ſchlaffſten Rerven auf⸗ zupeitſchen vermag!“ „Walter!“ rief Konrad vorwurfsvoll. Er kam nicht weiter. Es war als durchbräche eine lang zurückgehaltene Leidenſchaft alle Dämme; Warburg, der ſonſt ſo gehaltene, faſt ſteife, Warburg, der nie ſo recht jung geweſen zu ſein ſchien, geriet außer ſich. „Der Krieg iſt's, den ihr wollt, ihr Verfeinerten, ihr, die ihr Krämpfe bekommt, wenn ein Tiſchtuch nicht zur Tapete paßt,“ fuhr er los, „wißt ihr denn nicht, was er iſt, was er bedeutet?! „Rot und Tod, — Hunger und Peſtilenz,“ ſagte Konrad tiefernſt; „aber wir ſind es nicht, die ihn herauf⸗ beſchwören. Rur fürchten wir ihn nicht, nur aus dem Wege gehen wir ihm nicht.“ „Wir ſollen ihm aber aus dem Wege gehen, wenn nicht anders, ſo mit der Preisgabe von irgendeinem Stück dummen Stolzes; wir ſollen ihn fürchten, auch auf die Gefahr hin, daß irgendein Narr uns feige ſchilt, begann Warburg aufs neue, „denn alles ſteht auf dem Spiele, nicht nur Leben und Geſundheit, — alles, was wir jahrzehntelang mühſam bauten an Völkerverſtän⸗ 375 digung, an innerer und äußerer Kultur. Das mußt du doch einſehen, Konrad, gerade du!“ Und ſeiner ſelbſt unbewußt lag der alte vertraute Ton der Freundſchaft in ſeinen letzten Worten. Ein warmer Blick aus Konrads Auge ſtreifte den Sprecher. „Wir ſind reich geworden, aber nicht glücklich; klug, aber nicht weiſe, geſchickt, aber nicht ſchöpferiſch“, ant⸗ wortete er. „Ein Teich, der in der Tiefe liegt, wohin der Wind nicht trifft, verſumpft, und Schilf und Enten⸗ flot täuſcht nur Kurzſichtigen eine blühende Wieſe vor. Es bedarf des aufwühlenden Sturms, um ihn rein und klar zu machen — auch wenn dabei den Libellen die Flügel zerriſſen, den Waſſerroſen die Blätter befleckt werden.“ „Dein Bild iſt vortrefflich,“ warf ihm Walter heftig entgegen, „nur daß der Sturm, von dem du Reinigung erwarteſt, ſtatt des Blühens, das er zerſtört, die Ver⸗ weſung, den Schmutz der Tiefe an die Oberfläche trägt. Alle rohen Inſtinkte werden wie Verbrecher die Kerker⸗ türen ſprengen. Schon feiert engherzigſter Rationalis⸗ mus ſeine Orgien; er iſt wie eine ſchwärende Krankheit, die plötzlich am Körper Europas ausbricht.“ „Und darum — das ſollteſt du als Arzt beſſer wiſſen als ich — ſeine Geſundung herbeiführt“, wandte Konrad ein. Aber den Gedankengang Walters ſchien nichts aus der Richtung zu bringen. „Haſt du heut nacht gehört, wie ſie ihr „Heil“ durch die Straßen brüllten, all die Germanen, die nicht ein⸗ mal ihres Vaters Herkunft zu kennen pflegen?!“ ſpottete er. „Unter jedem ihrer Rufe hörte ich ein: „nieder mit den Juden —!“ Ich ſage dir, wenn dieſer Krieg Wahr⸗ heit wird, es wird im eigenen Lande ein moraliſches Morden geben ohnegleichen!" Konrad ſchüttelte den Kopf: Wie kannſt du nur die in ſolchen Augenblicken natürlicher Überhitzungen Un⸗ reifer tragiſch nehmen, und nationale Geſinnung mit 376 dem Fanatismus der Raſſenpuriſten identifizieren?! Ra⸗ tional empfinden heißt doch nur, ſich mit Bewußtſein wieder einordnen in die Gemeinſchaft.“ „Und im Ramen dieſer Gemeinſchaft den niederknallen, der einer anderen angehört und dir nichts getan hat; oder als Arzt dazu verurteilt ſein, den Getroffenen mit allen Mitteln unſerer Kunſt ſchleunigſt zu heilen, damit er wieder fähig iſt, auf andere, auf die „Feinde“ zu zielen!“ rief Warburg leidenſchaftlich. „Du haſt recht, wenn du das „im Ramen der Gemein⸗ ſchaft' ſtärker betonen wollteſt“, antwortete Konrad. „In ihr hören wir auf, einzelne zu ſein, ſind nicht mehr die Täter unſerer Taten, nicht mehr die Opfer perſönlicher Schickſale. Wir ſind Werkzeuge, Träger einer höheren Idee.“ Warburg hob ungeduldig die Schultern: „Eine höhere Idee: andere niederzuknütteln!" „Alles Leben nährt ſich vom Tode, lehrte mich Jörun Egil, —“ ſagte Konrad verſonnen. „Sollen wir um des Friedens willen tatenlos dabeiſtehen, wenn die Koſaken unſere Felder zertrampeln, wenn die Franzoſen im Rhein ihre Roſſe tränken, wenn die Engländer unſeren Handel, unſere Kolonien ſchmunzelnd in ihren weiten Geldſack ſtecken? Er ſah, daß Warburg allmählich müde in ſich zu⸗ ſammenſank und umfaßte leiſe ſeine nervöſe, blutleere Hand, die auf der Stuhllehne lag. „Walter,“ ſagte er, in ſeine Stimme alle Weichheit ſeines Empfindens legend, „wir haben beide viel, haben alles verloren. Meinſt du nicht, daß wir zu allererſt dieſem Leben, das einen ſubjektiven Wert für uns nicht mehr beſitzt, einen tieferen Inhalt geben ſollten, daß wir ja ſagen ſollten zum Schickſal, rückhaltlos ja? Ich glaube, wir haben noch etwas zu tun. Und au“ etwas zu finden, das wir wie arme Blinde ſuchten. aſie Löſung des Zwieſpalts zwiſchen uns und der Welt, die innere Einheit allen Lebens. Die 377 alten Ideale ſind ſchal geworden — weißt du noch, daß du mir das ſagteſt? Es gilt, für neue, die vielleicht die kommenden Geſchlechter zu göttlicher Begeiſterung berauſchen werden, die Trauben zu keltern.“ Er ſtockte. Walters Kopf ſenkte ſich tief. „Kannſt du mir heute nicht verzeihen, daß ich dich einmal kränkte? Sieht nicht aller perſönlicher Hader, an dem Ungeheuren gemeſſen, beſchämend klein aus? In dieſem Augenblick fühlte er, wie des Freundes Hand ſich mit feſtem Druck um die ſeine ſchloß. Er atmete auf wie befreit. „Und nun erfüllſt du auch die Bitte, die mich zu dir geführt hat, nicht wahr? Warburg nahm das Hörrohr und erhob ſich. „Du willſt —?!“ frug er, den Blick ſeiner Augen ſuchend, als traue er der Sprache des Mundes nicht. „Den Tod ſuchen? Rein!“ antwortete Konrad; „das wäre vermeſſen, wo das Leben jedes einzelnen einen höheren Wert, eine tiefere Bedeutung bekommen hat. Aber mich ihm ſtellen — gewiß! Und nun ſchwiegen beide. Ohne auf Konrads ſtei⸗ gende Ungeduld acht zu geben, unterſuchte ihn Warburg gründlich. Endlich ſteckte er die Inſtrumente ein. „Du biſt geſund“, ſagte er, „bis auf Aber Konrad ließ ihn nicht weiterſprechen. „Geſund! wiederholte er jubelnd, „nun aber komm, komm! Viel zu lange waren wir zu zweien, wo man nur noch zu Hunderten ſein darf!" Jene große Straße, — die einzige der jungen Welt⸗ ſtadt, die geſättigt iſt von Erinnerungen, und ſonſt ſelbſt an Sonntagen die königliche Würde, die ſie wahrt, auf die Ströme derer überträgt, die ſie durchwandern — lag heute wie ein Kranker im Fieber. Es entfeſſelte in jenen Gruppen dort, die einander in kreiſchender Er⸗ regtheit zu überſchreien verſuchten, wilde Phantaſien; 378 es löſte in den Menſchenzügen, die ſich aus den Reben⸗ ſtraßen ergoſſen, heldiſche Begeiſterung aus; es ſchlug andere, die beiſeite ſchlichen, mit ſtumpfer Apathie; es erfüllte ſchließlich die ganze Atmoſphäre mit einer Un⸗ ruhe, vor der nichts mehr zu ſchützen vermochte. Sie packte die Männer bei der Arbeit, die Frauen am Herd, ſelbſt die Kinder beim Spiel; die Werkſtätten, die Zimmer, die Höfe wurden ihnen zu eng; ſchwer wie ein Alp lag's auf der Bruſt eines jeden. Rur hinaus — hinaus, wo man atmen konnte, — und einer lief dem anderen nach, getrieben von einer Macht, die keinen Namen hatte. Aber nichts ereignete ſich, gar nichts. Das erlöſende Wort blieb unausgeſprochen. Der Abend kam. Doch wer hätte es vermocht, heimzukehren in die Stube, ins Bett, während draußen der unſichtbare gigantiſche Würfel noch immer rollte! Das Volk wartete weiter. Und fern aus den Vorſtädten entließen die Fabriken neue Scharen, die ſich ſchwarz und ſchwer zum Zentrum wälzten. Da und dort löſten ſich zwei oder zwanzig von der Menge ab, die ohne Kommando wegſicher ihre Straße zog, und verſchwanden hinter den Pforten der Verſamm⸗ lungsſäle. Konrad und Walter, die ſich bisher vom Strom hatten treiben laſſen, blieben unwillkürlich vor einer von ihnen ſtehen und laſen das große Plakat, das daran hing: „Was haben wir Frauen zu tun?“ Irgendein unbe⸗ ſtimmter Wunſch nach einer Pauſe, mehr als der nach einer Antwort auf die geſtellte Frage, ließ ſie eintreten. Auf der Rednertribüne ſtand eine hagere Frau, die mit überſchriener Stimme „den Landſturm unſerer Schwe⸗ ſtern in allen Ländern gegen den einzigen Feind, den Krieg“ zu entfachen und zu verkünden verſuchte. Aber ihr leidenſchaftlicher Appell verhallte faſt wirkungslos; und die nach ihr ſprachen, ſchlugen einen ganz anderen, milderen Ton an. 379 zu einer Stellungnahme zu überreden verſucht . . ." „Fräulein Dr. Mendel,“ begann die eine, „hat uns „Fräulein Dr. Mendel — Hedwig Mendel?“ flüſterte Konrad fragend einer neben ihm Sitzenden zu. Die nickte. Und allmählich erkannte er in dem ſpitzen Ge⸗ ſicht die Züge der einſtigen friſchen Studentin wieder. Er verlor ſich für Augenblicke in ferne Erinnerungen. „Mögen wir noch ſo ſehr für die Erhaltung des Frie⸗ dens ſein,“ ſchloß die Rednerin eben ihre Polemik, „gegen den Krieg zu proteſtieren wäre nur dann mehr als eine ſchöne Geſte, wenn wir die Macht unſeres poli⸗ tiſchen Einfluſſes zugleich in die Wagſchale zu werfen vermöchten. Darum muß unſer A und O im Krieg wie im Frieden immer dasſelbe bleiben: her mit dem Frauen⸗ wahlrecht!“ Auch auf dieſen Ton ſchienen die Zuhörer nicht ge⸗ ſtimmt, nur wenige klatſchten Beifall. „Frau Berg hat das Wort“, verkündete die Vorſitzende. Und eine weißgekleidete, ſchlanke Geſtalt ſtieg die Stufen empor, um, oben angekommen, ein von aſchblonden Scheiteln weich umrahmtes Geſicht der Menge zuzu⸗ kehren. Konrad packte Walters Arm, „Elſe!“ überraſcht her⸗ vorſtoßend. „Elſe Gerſtenbergk“, beſtätigte dieſer. „In dieſem Augenblick, dünkt mich, ſollten wir weder richten noch fordern,“ begann ſie, und ihre volle, tönende Stimme ſchien die Wogen der Erregung zu glätten, „ſondern nur daran denken, bereit zu ſein. Denn eines iſt gewiß: muß der Mann hinaus, um Haus und Hof zu verteidigen, wie es ſeit undenklichen Zeiten ſeines Geſchlechts Recht und Aufgabe war, ſo werden auch wir Frauen uns wieder derjenigen zu erinnern haben, die die Ratur ſelbſt uns geſtellt hat, und ſie auf uns nehmen nicht wie eine Laſt, unter der wir uns nur widerwillig beugen, ſondern wie eine heilige Verpflich⸗ tung, in der wir uns ſelbſt erfüllen werden. Die 380 Wunden, die ein Krieg ſchlägt, ſolch ein Krieg, wie er zwar noch verhüllt, aber doch in dem Tritt ſeiner eiſernen gigantiſchen Sohlen ſich ſchon ankündigend, hinter dem Vorhang der Weltbühne erſcheint, ſind nicht nur die in die Körper der Kämpfer grauſam geriſſenen, die unſere Hände verbinden und heilen ſollen. Wo der Mann ins Feld zieht und die Seinen zurückläßt, werden Rot und Armut nach unſerer Fürſorge ſchreien; wo die Arbeit ſtockt, werden wir eingreifen müſſen; ach, und wo die vielen, vielen Kinder darben, werden wir keinen Augenblick mehr Zeit haben, etwas anderes zu ſein als Mütter!“ Ein Murmeln freudigen Beifalls unterbrach ſie, alle Mienen belebten ſich, in Augen, die verſchleiert geweſen waren, kehrte ein Glanz von Hoffnung, von Mut und Glauben zurück. Sie ſtand da, verklärt von einer Aureole demütig⸗ſtolzer Weiblichkeit. Konrads Blick hing an ihr. Ein Gefühl von tiefer, innerer Zuſammengehörigkeit übermannte ihn, das er ſich nicht zu deuten wußte, da es mit Liebe, mit verlangender Mannesliebe gar nichts zu tun hatte. Im weiteren Verlauf ihrer Rede entwickelte Elſe jeden einzelnen ihrer Gedanken und entwarf in großen Zügen den Plan einer Organiſation, die alle den Kriegsdienſt der Frau in ſich ſchließenden Tätigkeitsgebiete umfaſſen ſollte. Immer lebhafter wurde der Ausdruck der Zu⸗ ſtimmung von allen Seiten. Da ſchien ſie plötzlich zu ſtocken. In dieſem Augenblick war es Konrad, als habe ihr Auge ihn entdeckt, als erblaſſe ihr Antlitz wie vor einer Erſcheinung, als zucke ein jähes Erſchrecken durch ihren Körper. „Wir wollen fort“, flüſterte er Warburg zu; „ſie iſt gewiß eine glückliche Frau. Es wäre ein Verbrechen, wenn ich ſie durch meinen Anblick entſetzen wollte.“ Aber ſchon klang ihre Stimme, nur feſter und voller noch, wieder an ſein Ohr, und ihre Augen waren über 381 alle Köpfe hinweg mit einem Ausdruck des Ergriffen⸗ ſeins in die Ferne gerichtet. „Eine alte Geſchichte, die in uns allen vergeſſen ruht, wie ſo viele Geſchichten aus heiligen Büchern, für die wir keine Feierſtunde mehr hatten, weiß ich noch. Als die Stunde der großen Rot aufgegangen war über ſeinem Volke, kam Mardochai, der Prophet, zu Eſther, der Königin, und forderte von ihr, daß ſie um der Be⸗ drohten willen hintrete vor den König. Sie aber zau⸗ derte. Denn mit dem Tode wurde beſtraft, wer unge⸗ rufen den Stufen des Thrones ſich näherte. Doch Mar⸗ dochai ſagte zu ihr: „Vielleicht biſt du um eines ſolchen Tages willen Königin geworden, o Eſther.“ Da ſchmückte ſie ſich mit allen Kleinodien, ſalbte ihren Körper, flocht Perlen in ihr Haar, wie damals, als ſie erhoben wurde, und ging ...“ Und abermals ſuchte das Auge der Rednerin den ſtillen Mann in der Menge. Ganz leiſe, als wollte ſie nur zu ſeinem Ohre ſprechen, wiederholte ſie: „Vielleicht biſt du um eines ſolchen Tages willen Königin geworden, vo Eſther. Sie traten ſchweigend in die Racht hinaus, die beiden Freunde. „Die Gedanken der Fernſten klingen heut zuſammen. Es iſt eine große Harmonie“, ſagte Konrad ſchließlich. Stimmengewirr, Pferdegetrappel, Rufe, Geſchrei — ſchienen im gleichen Moment ſeine Worte widerlegen zu wollen. Ein Zug von Arbeitern kreuzte die Linden — waren es Hunderte, Tauſende? Ließ nur die Racht ihn ſo endlos erſcheinen? „Rieder der Krieg!“ tönte es vorn — „nieder der Krieg!“ klang das Echo vier⸗, fünfmal, weit am Ende der Straße verhallend. Und berittene Poliziſten durchbrachen die Reihen. Die blanke Scheide eines Säbels blitzte. Konrad und Walter ſahen ſich in einen Torweg gedrängt, ein Haufen Verfolgter ſchob nach, ſo daß ſie bis in einen engen, dunklen Hof 382 gelangten, über den als einziges Licht der Schein einer kleinen Lampe lag, die im Erdgeſchoß hinter rot ver⸗ hangenem Fenſter brannte. Die Verſprengten ſprachen leiſe mit dem verhaltenen Ziſchen äußerſter Heftigkeit, bis einer, der den anderen bekannt zu ſein ſchien, auf ein umgeſtürztes Faß ſtieg und Ruhe gebot. „Bewahrt euch euren Zorn und euren Eifer auf die Stunde, wo es not tut“, rief er. „Unſere Söhne ſind kein Kanonenfutter“, kreiſchte eine Frauenſtimme aus dem Dunkel. „Roch fordert ſie keiner“, ſuchte der erſte Sprecher ſie zu beruhigen. „Überall ſind unſere Genoſſen an der Arbeit. In Rußland bedroht die Revolution die Hetzer, in Frankreich ſchützt unſer Freund, der größte Apoſtel des Friedens, deſſen Stimme ſelbſt unſere Feinde nicht überhören, die Sicherheit des arbeitenden Volkes: Jean Jaurés!“ „Hoch, hoch Jaurés!“ Laut klang es und prallte an den hohen Mauern ab und hallte wieder. Der Vorhang des erleuchteten Fenſters bewegte ſich ein wenig. Dann er⸗ loſch die Lampe. Man ſuchte ſtolpernd den Ausgang. Da bahnte ſich einer von draußen her mit den Ellen⸗ bogen einen Weg durch die Maſſe: „Jaurés iſt tot!“ Keiner rührte ſich mehr vom Fleck. „Wer ſagt das?! Ein weißes Papier ſchien über den Köpfen zu flattern bis zu dem, der gefragt hatte. Run blitzte ein Streich⸗ holz auf, beleuchtete unſicher ein Geſicht, eine knochige Hand: „Ermordet!“ Roch ein einziger Aufſchrei. Dann Stille — und tiefe, ſchwarze Finſternis. Auf die Straße trat alles, ſtumm, mit geſenkten Köpfen, denn das Licht der Bogenlampen blendete. „Der Traum iſt aus“, ſagte ein Alter und nickte 383 Konrad zu, wie einem Freunde, dann fiel ihm der Kopf tief auf die Bruſt. An der nächſten Ecke lehnte todmüde eine Zeitungs⸗ frau. Sie ſchrie mit rauher Stimme: „Eine ruſſiſche Patrouille in Eydtkuhnen eingeritten — das Poſtamt von Schmidden verbrannt- „Kanaillen —“, „Mordbrenner. —“ Es waren junge Burſchen, die als letzte aus dem Torweg traten und nun mit blitzenden Augen ſchrien: „Rieder mit dem Zaren — mit dem Knutenregiment!“ Und ſie liefen dem Zuge nach, der eben, die ganze Breite der Straße be⸗ herrſchend, alles mit ſich fortriß. „Deutſchland, Deutſchland über alles —“ brauſte es in vieltauſendſtimmigem Chor. Aus den Fenſtern winkten ſie überall mit weißen Tüchern, aus den Wirtshäuſern ſtrömten ſie hinaus und Geſchrei und Geſang erfüllte die ganze Stadt. Da ſchlug es ein Uhr, ſchwer, weithin ſchallend. Es war, als käme der neue Tag, ein Herold, belaſtet mit großer Kunde. Es gibt Städte, die ſchlafen des Rachts wie Kinder: früh und feſt und ohne Traum; wer im Dunkel durch ihre Gaſſen geht, der dämpft den Schritt und hält den Atem an. Aber Berlin ſchläft nie. Denn erſt wenn der rohe Lärm des Tages ſchweigt, kommt der Rauſch des Lebens über die Menſchen: die Geiſter erwachen um Mitternacht, wie in alten Geſpenſtergeſchichten, Gedanken bekommen Geſtalt, Gefühle Glut. Grau und fahl und froſtig kommt mit dem erſten blaſſen Tageslicht die Rüchternheit.. Wer dann des Morgens, ſein eigener Schatten, ſcheu durch die Straßen heimwärts ſchleicht, der begegnet denen mit den rauhen Fäuſten, die der Daſeinskampf in den Dienſt des Tages zwingt. Und feindſelig faſt ſchaut einer den anderen an; es gibt kaum ein Verſtehen zwiſchen ihnen. In jener letzten Julinacht aber, die gewitterſchwül 384 über dem Lande lag, hatten ſelbſt die verſchlafenſten Städte unruhige Träume, und viele Fenſteraugen in den Dörfern glänzten furchtſam über erntereife Felder. Berlin ſchlief nicht; doch in ſeinem Wachen war etwas von Schlaf, der die Glieder zur Einheit bannt, den Atem zu einem Rhythmus bändigt. Richt der Rauſch in ſeinen tauſend ſinnverwirrenden Formen, nicht die Sorge in ihren zahlloſen, quälenden Geſtalten hielt die Augen der Millionen offen. Es war ein Gefühl, ein Gedanke — unnennbar noch — tief und heiß, von dem Glanz ferner Sternenwelten erhellt, wie die Sommer⸗ nacht. Und als dann der Morgen kam und die Men⸗ ſchen auf den Straßen einander begegneten, lag ein gutes Grüßen in jedem Blick, als wären ſie Brüder geworden. Konrad verbrachte den Vormittag mit den notwen⸗ digſten Geſchäften und den Vorbereitungen zu ſeinem Eintritt in die Armee. Viele, ſehr viele, weit mehr als er irgend erwartet hatte, begegneten ihm mit den gleichen Abſichten, und ſie betrachteten einander jetzt ſchon wie Kameraden. Und die Rachrichten und die Kommentare und die Vermutungen flogen von Mund zu Mund: von Frankreich, das ohne Kriegserklärung die Grenzen nicht mehr reſpektierte, von der verräteri⸗ ſchen Haltung Rußlands, deſſen Patrouillen ſchon plün⸗ derten und ſengten, während der Kaiſer mit dem Zaren noch Friedensdepeſchen wechſelte. Von Friedensmöglich⸗ keiten ſprach niemand mehr; die Sehnſucht nach Ent⸗ ſcheidung, nach der erlöſenden Tat beherrſchte alle. Und nicht nur einzelne Züge waren es heute, die ſingend die Straßen beherrſchten. Aus ſtillen Häuſern kam es wie Ameiſengewimmel, um die elektriſchen Wagen ſchwirrte es, ein Schmetterlingsſchwarm, es ergoß ſich wie ein Waſſerfall über die Treppen der Bahnhöfe, und kroch, eine endloſe, ſchwarze Schlange, aus den Erdlöchern der Untergrundbahn. Und der gleiche Ge⸗ Braun, Lebensſucher 25 385 danke, das gleiche Ziel ſchufen den gleichen Rhythmus des Schritts. Roch immer hatte Konrad die Menge als die größte Einſamkeit empfunden; heute fühlte er ſich weder als einer allein, noch als einer unter vielen; ſein Ich ſchien ihm in all die Tauſende geteilt, die mit ihm gingen, und in ſeinem Ich ſchienen ſie wieder wie in eins zu verſchmelzen. Wie lange wanderte er ſchon im Takt ihrer Füße auf und nieder? Wie lange ſchon warf die Sonne ihre Strahlenbündel über all die heißen Hirne? Wölbte ſich nicht ſeit einer Ewigkeit der gleiche ſilber⸗ blaue Himmel über ihm — ſtill, feierlich, unerbittlich? Oder war er eine rieſige rotierende Kugel, die ihren ganzen Inhalt zu einer Maſſe zuſammenwirbelte? Und was war er, Konrad Hochſeß, in dieſem Augenblick noch, das ganz er ſelber war? Da — er ſpürte etwas wie einen elektriſchen Schlag, der den ungeheuren Körper, als deſſen winziger Teil er ſich bewegte, irgendwo weit vorn getroffen hatte. Und es war, als ob ein Wind ſich erhöbe, die Blätter an den Bäumen aus ihrer Starrheit zu rütteln. Das Trompetenſignal einer Autohupe durchſchnitt ſchmetternd die bleierne Luft. Und der Wind ward zum Sturm, in den Kronen unſichtbarer Wälder rauſchend. Vor dem grauen Wagen her, der ſich in die Menge bohrte, ſie auseinanderriß, zur Seite warf und einen zuckenden Schweif hinter ſich herzog, gellte die auf⸗ peitſchende Fanfare der Hupe. Aber eine junge, ſtarke Menſchenſtimme übertönte ſie: „Krieg!“ Und zum Orkan ward der Sturm. Er drang in alle Gaſſen, in alle Höfe, er ſchlug Fenſter und Türen auf, und wer noch verborgen im Winkel ſchlief, den ſchnellte er auf die Füße. Wo ein Feuer in Herzen und Hirnen glühte, fachte er es zur lodernden Flamme. Er riß von gebeugten Schultern die ſtaubige Laſt der Tagesmühen, 386 daß ſie ſich reckten, er ſprengte die eiſernen Ringe über der Bruſt der Haſſenden, daß ſie frei wurden, und vor ſeinem Atem zerſtoben die Schleier, die Sorge und Über⸗ ſättigung zwiſchen Welt und Menſch gewoben hatten. Und ihre Befreiung und ihre Kraft, ihren Zorn und ihre Zuverſicht trug der brauſende Ruf der Maſſe gen Himmel. Ihre Füße aber waren beſchwingt. Unbekannte führten einander vertraut an den Händen. Kinder ſchwebten auf Armen und Schultern fremder Männer, damit ſie, die Kommenden, ihre Augen ſättigten mit dem Licht dieſes Tages. Sie zogen zum Schloß in breiten, alles mit ſich fort⸗ reißenden Scharen. Es bedurfte keines rauhen Kom⸗ mandoworts, um jedes Räderrollen von dieſen feierlich Bewegten fern zu halten. Und dann ſtanden ſie, Kopf an Kopf, ein Menſchenmeer, das den rieſigen Platz er⸗ füllte, das an die grauen Mauern der ehrwürdigen Königsburg ſchlug, das emporflutete über die Stufen des Doms, und in mächtiger Woge des alten Muſeums hohe Freitreppe überſchwemmte, deſſen Brandung über⸗ mütig aufwärtsſchäumte bis in die Aſte der Bäume. Waren es Tauſende? Hunderttauſende? Und es ſang, es rief, es jubelte. Von den Kandelabern herunter, auf die ſie geklettert waren, ſprachen junge Studenten. Auf den Stufen des Doms ſtimmte ein Chor weißgekleideter Mädchen alte fromme Lieder an, und unter dem Kaiſerdenkmal erzählte einer, der ſehr alt war, von den Taten der Ahnen. Unſichtbar wandelten ſie, von den Verzückten dieſer Stunde heraufbeſchworen, unter der Menge: die Luther und Goethe, die Fichte und Kant, die Bismarck und Rietzſche. Auf der Treppe des Muſeums ſtand Konrad. Ge⸗ ſchloſſenen Auges hörte er die Töne, die aus der Tiefe aufwärts rauſchten; beſchwingte Fabelweſen der Vorzeit waren es, deren Flügelſchlag er zu hören meinte. Dann 25* 387 plötzlich tiefe Stille — er ſchlug die Augen auf: hatte der Zauberſtab des unſichtbaren Dirigenten die un⸗ geheure Symphonie der Maſſe gewaltſam unterbrochen? Auf dem weiten, von der Abendſonne goldüberſtrömten Platz ſtanden ſie Kopf an Kopf regungslos, mit dem Boden verwurzelt, und ſchwiegen. „Der Kaiſer ſpricht“, flüſterte jemand. Konrad hörte nichts; niemand hätte von hier zu hören vermocht, was weit drüben am Schloß, wo die Geſtalten kaum zu erkennen waren, geredet wurde. Und doch hielt jeder den Atem an. Und Konrad fühlte das Lauſchen der Hunderttauſende. Eines Myſteriums Zeuge erſchien er ſich: denn in dieſem Augenblick nahm das Volk ſeinen Herrſcher, um den der blendende Glanz der Krone einen weiten leeren Raum, eine große Fremdheit geſchaffen hatte, in ſich auf. Und einen Herzſchlag lang, der, mag er auch nur Sekundendauer haben, in der Wage der Zeit ſchwerer wiegt als viele Jahre, waren alle Menſchen Brüder. Da huben die Glocken des Doms zu läuten an; ihre Stimmen von Erz wurden die Sprache dieſer Stunde. Die Menge erwachte aus tiefer Verſunkenheit. Auch Konrad hob den Kopf. War es nicht Elſe, die über ihm im weißen Kleid an der bräunlichen Säule lehnte? Und ſagte ſie nicht laut, daß es mächtiger als die Stimme des Kaiſers über den Platz bis zum Schloß hinüberſchallte: „Vielleicht biſt du um dieſes Tages willen Königin geworden, o Eſther? Er fuhr ſich mit der Hand über die Stirne; ſtunden⸗ lang hatte er in der glühenden Sonne geſtanden. „Haben wir wieder heiße Träume gehabt, bambino mio?“ hörte er eine alte Stimme mit zärtlichem Tonfall ſagen. Er ſah ſich um. Es war leer geworden auf der Treppe. Langſam ſtrömten unten die Menſchenfluten zurück. Roſig färbte ſich der Abendhimmel über ihnen mit langgeſtreck⸗ ten weißen Wolken darauf wie Kometenſchweife. 388 Und im Schritt mit den anderen ging er unter den Bäumen der großen Straße. War ſie da nicht ſchon wieder dicht vor ihm, die Weiße? Mußte er ihr begegnen und vielleicht ihren Frieden ſtören? „Frau Berg,“ dachte er, „ſie ſcheint mehr als glücklich, ſie ſcheint —“ und vergebens ſuchte er nach einem Ausdruck für das, was er bezeichnen wollte — „erfüllt zu ſein, Erfüllung gefunden zu haben.“ Es wurde ihm warm ums Herz, denn der Gedanke, ſie könne leiden, vielleicht gar einſam ſein und verlaſſen, hatte ihn oft gequält. Er ſpürte ſogar etwas wie Reu⸗ gierde; gern hätte er den Mann geſehen, dem ſie gehörte. Und er ging unwillkürlich raſcher. „Konrad!“ rief ihre Stimme, ganz deutlich. Er prallte zurück. Aber ſie ſah ſich nicht um nach ihm. „Konrad!“ klang es noch einmal, ein wenig ängſt⸗ licher. Da ſtürmte ein ſchlankes Bübchen, das wohl zu weit vorangeeilt war, der Rufenden entgegen, die es lachend auffing. Blonde, wehende Haare hatte es — tiefe, nachtdunkle Augen. Der Mann, der jetzt dicht hinter der Frau mit dem Kinde ſtand, ſchwankte wie von plötzlichem Schwindel gepackt. Hatte er Fieber, gingen Geiſter um?! Dieſer Knabe war doch kein anderer, als — er ſelber! Die Umſtehenden wurden auf ihn aufmerkſam. Er riß ſich zuſammen. „Mutti —“ ſagte in dieſem Augen⸗ blick eine ſüße Kinderſtimme und die dunklen Augen hefteten ſich weit und erſtaunt auf ihn. Da wandte auch die Frau den Kopf. Das Blut wich aus ihren Wangen. Aber ſie faßte ſich raſch, denn ſchon fühlte ſie, wie die Reugierde ringsum ſich auf ſie richtete. „Baron Hochſeß“, ſagte ſie förmlich. Er verbeugte ſich korrekt: „Ich freue mich, Sie zu ſehen, Frau . ..“ „Gerſtenbergk,“ ergänzte ſie raſch, „wie immer“. In ſeinen Schläfen hämmerte das Blut. 389 „Geſtatten Sie mir, einen Wagen zu nehmen?“ brachte er ſtockend heraus. Sie gingen über die Straße. Eine kleine warme Kinderhand ſchob ſich in die ſeine. Feſt, ganz feſt klammerte er die Finger um ſie. In wilden Schlägen pochte ſein Herz. „Wohin?“ frug er, das Kind in den Wagen hebend. Seine Stimme klang rauh, er zitterte, wie unter einer ungeheuren Laſt, als die Wärme des jungen Körpers ſich ihm mitteilte. „Nach dem Wannſeebahnhof“, ſagte ſie. Unterwegs unterhielten ſie ſich über das Rächſtliegende, den Krieg, da des Kindes Gegenwart jede Berührung deſſen, was ihnen im Augenblick das Herz bewegte, un⸗ möglich zu machen ſchien. Allmählich ſchwand die Span⸗ nung zwiſchen ihnen. Konrad erzählte, daß er ſie geſtern habe ſprechen hören; die Bewunderung, die er ihr zollte, lehnte ſie beſcheiden ab, denn ihre Rede ſei nicht der momentane Ausdruck einer ſpontanen Stimmung ge⸗ weſen, ſondern entſpräche ihren praktiſchen Vorſchlägen nach den Richtlinien, welcher ein großer Teil der organi⸗ ſierten Berliner Frauenbewegung ſeit dem erſten Auf⸗ tauchen der Kriegsgefahr als für ihre künftige Tätigkeit maßgebend anerkannt habe. „Fräulein Dr. Mendel ſteht offenbar auf anderem Standpunkt?“ ſagte er, ohne mit einem Gedanken bei ſeiner Frage zu ſein, denn ſeine Augen hingen verloren an dem Knaben ihm gegenüber, der hartnäckig ſchwieg, hier und da einen verſtohlenen Blick, ſo erſtaunt wie der erſte geweſen war, auf ihn werfend. „Sie gehört zu den Verbitterten und Enttäuſchten, wie faſt alle Frauen, die in ihrem Heiligſten, in ihrer Liebe verraten wurden“, entgegnete Elſe. Er wandte ſich ihr mit einer raſchen Wendung des Kopfes wieder zu, und es lag etwas Gequältes in ſeinem Ausdruck, als er frug: „Und — Sie?! Ein helles Lächeln verklärte ihre Züge. „Ich?“ Sie 390 ſah ihn an, groß und gütig. „Bin ich verraten worden?! Ich wählte freiwillig meinen Weg, und ich habe ⸗ ihre Stimme ſank zu faſt unhörbarem Flüſtern — „unſer Kind.“ Sie ſchwiegen lange. Daß er mit ihr und dem Knaben den Zug beſtieg, der nach dem weſtlichen Vorort hinaus⸗ fuhr, wo ſie wohnten, daß er, dort angekommen, mit ihnen ging, des Kindes Hand nicht aus der ſeinen laſſend, ſchien wie ſelbſtverſtändlich. Als ſie auf der geraden Straße durch den Ort gingen, — einen jener Rieder⸗ laſſungen, die ihre unorganiſche Häßlichkeit dem Umſtand verdanken, daß ſie aus einem abgelegenen Dorf zu einem Außenteil der Weltſtadt wurden — erzählte ſie von ihrem Leben. Mit einer bewußten Kühnheit, der viele ein böſes Ende prophezeiten, hatte ſie eine Werkſtatt gegründet, in der die Herſtellung der Puppen, die ihre Erfindung waren und ihr früher eine Rebeneinnahme ſicherten, im großen betrieben wurde. Sie hatte ſie, dank der auch aus dem Ausland raſch zunehmenden Be⸗ ſtellungen mehr und mehr vergrößern müſſen. „Freilich, ſchloß ſie lächelnd, „ſo hübſch wie früher ſind meine Puppen nun nicht mehr. Sie ſehen einander immer ähnlicher. Sie haben auch Soldaten werden müſſen, und verteidigten tapfer unſer Leben gegen Kummer und Rot, und eroberten uns Frieden nach innen, Unabhängig⸗ keit nach außen. Run kann ich ſogar für den Buben Prinzen und Prinzeſſinen machen — nicht wahr, Konrad? Der Kleine nickte nur. Sie hatten die Straße ver⸗ laſſen. Vor ihnen dehnte ſich die gerade, ſchattige Allee. Da und dort lugte ein anſpruchsloſes Sommerhäuschen, oder ein einſtiges Bauerngehöft mit tiefem Dach aus dem Grün der Gärten heraus, dann kamen Felder und Wieſen. „Roch weiter?“ frug Konrad. „Ein wenig,“ ſagte Elſe, „unter freiem Himmel und hohen ſtarken Bäumen wuchs er auf. Darum iſt er ſo geſund!“ Und ein zärtlicher Blick umfaßte den Knaben. 391 Glutrot war die Sonne verſunken. Ihr letzter Abend⸗ gruß wandelte das weite reife Roggenfeld in ein wogen⸗ des Meer flüſſigen Goldes, hinter dem der Wald in großen dunklen Konturen feierlich aufſtieg. Zwiſchen den weißen Marmorſäulen junger Birken, die ſich nach oben zu lichten Spitzbogen wölbten, führte der Pfad in die mächtige Halle brauner Eichenſtämme, die mit großen weitverzweigten geſchwungenen Aſten ein Dach wie von durchſichtigem Smaragd gen Himmel hoben. Hatte ſich der Frieden in dieſes Heiligtum geflüchtet? Verſunken war die Welt für den, der eintrat. „Hier wohnt Gott“, ſagte Konrad leiſe und entblößte un⸗ willkürlich das Haupt. Der Knabe an ſeiner Seite, der jede ſeiner Bewegungen aufmerkſam verfolgte, jedes ſeiner Worte einſog, tat desgleichen. Des Mannes Seele aber ward plötzlich erfüllt von großer Sehnſucht. Durch den weißen Winterwald⸗Dom von Hochſeß ſah er ſich mit Norina wandern. Und nun — ſann er darauf, ihr die Treue zu brechen angeſichts der grünen Kirche?! Wer kann treulos werden, der liebt?! Aber eine andere Liebe hatte der Krieg, dieſes Erdbeben, das ſo viele verſchüttete Keime bloßlegte, ſo viele morſche Stämme niederriß, im verſteckteſten Winkel ſeines Herzens aufgedeckt und nun in der Treibhausluft der neuen Zeit, die in Tagen wachſen und reifen ließ, wozu die Ver⸗ gangenheit Jahrzehnte brauchte, zu üppiger Blüte ſich entfalten laſſen: Die Liebe zur Heimat. Waren die vielhundertjährigen Stämme ihres Waldes nicht ge⸗ wachſen mit ſeinem Geſchlecht? War es nicht heiliges Korn, das die Väter geſäet und geerntet von je und je? Feſter faßte ſeine Hand des Kindes weiche Finger. „Siehe, ich ziehe das Schwert für dich, meine Heimat, ſprach ſeine Seele, „damit kein Fremder deinen Boden entweihe; und ich gebe dir den, deſſen tiefſtes Sein im geheimnisvollen Urgrund allen Lebens mit den Wurzeln deiner Bäume verwachſen iſt. 392 Sie kamen zu einem kleinen Hauſe, das zwiſchen Erlen und Weiden am Rande des Eichenwaldes lag. In ſeinen niedrigen Fenſtern ſpiegelte ſich der helle Abendhimmel, ſo daß ſie waren wie lebendige freude⸗ ſtrahlende Augen. Hohe Malven wuchſen davor, deren Spitzen das weit überhängende graue Dach faſt er⸗ reichten, und Dahlien, deren bunte Blütenköpfe den Eintretenden freundlich willkommen nickten. Jetzt riß das Kind ſich von Konrad los und lief voran durch den kleinen, wohlig kühlen Flur in das Zimmer mit den alten Birnbaummöbeln. Vor einem Bilde, das an der Wand neben dem Schreibpult hing, ſtand es, als die Mutter mit dem fremden Manne näher trat. „Mein Bild!“ dachte Konrad überraſcht; nach dem Gedächtnis mußte es Elſe gezeichnet haben. Er wandte ſich ihr zu, eine Frage auf den Lippen. Da öffnete der Knabe zum erſtenmal den Mund, der trotz aller kindlichen Weiche ſchon die herbe Feſtigkeit des werdenden Mannes verriet, und ſagte laut, den Fremden vor ihm mit dem vertrauten Bilde vergleichend: „Biſt du mein Vater? „Mein Sohn!“ jauchzte Konrad, ihn mit beiden Armen zu ſich emporhebend, und ſeine Küſſe bedeckten die runden Wangen, die dunklen Augen, das ſeidige Haar. Elſe hatte ſich leiſe in die dämmernde Tiefe des Zimmers zurückgezogen. Aber ſchon ſprang der lebhafte Kleine aus den Armen des Gefundenen und ſtürmte hinaus, wo ihm freudig bellend ein großer Wolfshund entgegenlief; den umfaßte er mit beiden Armen und rief glückſelig: „Denk' nur, Rolf: der Vater iſt wiedergekommen!“ Dann tollte er durch den Flur in die Küche, und wenn er gleich die Türe krachend ins Schloß warf, ſo drang ſeine helle Stimme doch bis zu den beiden Zurückgebliebenen, die einander in tiefer Bewegtheit gegenüberſtanden: „Marie 393 — Marie — ſo hör' bloß — welch ein Glück: Der Vater iſt wiedergekommen! „Das Kind hat entſchieden, Elſe,“ ſagte Konrad, ihre Hand ergreifend, „ehe ich bat, und ehe du antworten konnteſt.“ „Entſchieden?! Er überhörte die Frage, in der viel Zweifel, viel 2b⸗ lehnung lag. „Ich kann nicht zu dir ſprechen wie ich ſprechen ſollte,“ begann er, „und dich einfach bitten: gib mir das Recht, meines Sohnes Vater zu ſein. Denn was ich dir bieten kann, iſt ſehr, ſehr wenig: nur meine Bruderliebe, — nur meine Freundſchaft —, nur mein Rame. Und du tauſchſt deine ſtolz verteidigte Freiheit dafür ein.“ Sie ſchwieg, tief in dem alten Seſſel zurückgelehnt, und der Abend hüllte barmherzig ihr blaſſes Antlitz in ſeine Schleier. „Ich liebe —“ fuhr er leiſer fort, „ich liebe mit jener Liebe, die, wenn ſie den Menſchen begnadete, immer eine einzige iſt. Sie ergreift nicht nur das Herz, die Sinne, ſie erfüllt nicht nur die Gedanken, die Erinnerung, ſie nimmt reſtlos vom ganzen Sein und Weſen Beſitz. Sie iſt nicht nur wie ein roter Streifen im Tuch, verwoben mit dem ganzen Geſchick, ſie iſt das Leben, ſie iſt der rote Saft, der durch die Adern fließt, der Rerv, der das Hirn bewegt. Darum ändert es auch nichts an ihr, ob der Menſch, der ſich alſo dem anderen ver⸗ mählte, lebt oder ob er geſtorben iſt. Darum kann ſolch ein Liebender auch nicht vergeſſen. Für ihn gibt es keine Untreue, weil es auch keine Treue für ihn gibt. Um den zu überwinden, der in ihm lebt, gibt es nur ein Mittel: Die letzte Vereinigung mit ihm — den Tod. Er atmete tief auf; nun mußte ſie ſprechen. Und ihre Stimme kam aus dem Dunkel, wie körperlos: „Ich weiß das alles, Konrad. „Du weißt?“ machte er überraſcht. 394 „Von Warburg — ja. Ich traf ihn zuweilen. Und mußte doch jemanden haben, der von dir ſprach. „Und er ſagte mir nichts?! „Ich bat ihn darum, — es war für dich beſſer, daß ich nichts als ein Traum für dich blieb“, antwortete ſie mit verſchleierter Stimme. „Übrigens: von unſerem Kinde wußte er nichts. Ich nahm ja auch vor der Offentlichkeit einen anderen Ramen an, um mich zu ver⸗ ſtecken, und — aus einer letzten, unüberwundenen Schwäche heraus,“ — die Stimme aus dem Dunkel wurde noch leiſer — „damit das Kind ſeine Mutter nicht „Fräulein nennen hörte.“ „Elſe! -" Der wiederkehrende Knabe, das Mädchen, das mit der Lampe das einfache Abendbrot brachte, unterbrachen das Geſpräch, und des Kindes lebhaftes Geplauder half den beiden über die unausgeglichene Stimmung hinweg. Von all ſeinen Freuden und Leiden, ſeinem Spiel und ſeinen Träumen erzählte es, als habe es für dieſe Stunde den Schatz ſeines Erinnerns auf⸗ geſpeichert, um all ſeinen Reichtum dem Erſehnten, lange Erwarteten zu Füßen zu legen. Daß Elſe dem Sohne vom Vater geſprochen, Liebe und Vertrauen zu ihm von früh an in ſein Herz gepflanzt hatte, hörte Konrad aus allem mit tiefer Rührung heraus. „Und nun gehſt du nicht wieder fort, nun bleibſt du immer bei uns, nicht wahr, Vater?“ ſchloß der Kleine, auf des Mannes überſchlanke Rechte ſein feſtes Fäuſt⸗ chen legend, während ſeine Augen mit ängſtlicher Frage auf ihm ruhten. Konrad ſah im Augenblick nur die Kinderhand; ſein Antlitz ſtrahlte. „Sieh nur, Elſe,“ ſagte er, jedes Fingerchen zärtlich ſtreichelnd, „wie der einmal wird faſſen und halten können!“ „Richt wahr, Vater, du bleibſt?“ wiederholte dring⸗ licher das Kind. 395 Konrads Blick umflorte ſich. Mußte er dem Sohne gleich beim erſten Begegnen ſo wehe tun? Er zögerte mit der Antwort. „Biſt du nicht heut in Berlin geweſen?“ hörte er Elſe ſagen, „und weißt, daß die Ruſſen und die Franzoſen uns heimtückiſch überfallen haben, gerade wie der Buſ⸗ ſard, wenn er im Eichwald auf die friedlichen, neſter⸗ bauenden Vögel ſtößt?“ Der Kleine nickte ernſthaft. „Ich weiß, Mutti, ich weiß,“ ſagte er eifrig, „daß jeder Mann ein Soldat ſein muß. „Und iſt dein Vater nicht auch ein Mann?!“ frug ſie, ihm mit der Hand, die ſo weich und zart war wie einſt, über den Blondkopf ſtreichelnd. Sein Blick wandte ſich wieder Konrad zu und füllte ſich, je länger er ihn anſah, mit Tränen. „Richt weinen, mein Junge,“ ſagte dieſer, „einer, der ein Mann werden will, weint nicht, wenn ſein Vater tut, was nicht zu tun Schmach und Schande wäre. Er zog den Kleinen auf ſeine Knie und drückte ſein Köpfchen an ſeine Bruſt, wo es ſtill, von dem allzu reichen Tage ermüdet, liegen blieb. „Während ich draußen bin und die böſen Feinde verjage, wirſt du mit der Mutter im Hauſe deines Vaters wohnen, das dein Haus iſt. Und aus dem alten Turm über der ver⸗ witterten Mauer wirſt du die Fledermäuſe vertreiben und dafür ſorgen, daß die große Fahne darauf feſtſteht. Wenn dann die Soldaten unten im Tal mit lautem Siegesgeſang heimwärts marſchieren, — dein Vater mitten unter ihnen — wirſt du der erſte ſein, der ſie ſieht, und ich werde von der wehenden Fahne wiſſen, daß du ein treuer Wächter geweſen biſt. Da legten ſich des Knaben Arme um ſeinen Hals, und ſein Stimmchen flüſterte ſchlaftrunken: „Die Fahne — und die Fledermäuſe — Vater, ich paß auf! Sie brachten ihn gemeinſam zur Ruhe. Als ſie wieder am runden Tiſch vor der Lampe ſaßen, erſchrak Konrad 396 vor Elſens verändertem Ausſehen. Sie war weiß im Geſicht, und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. „Du biſt ſchon einberufen?“ frug ſie, das Zittern ihrer Stimme mühſam unterdrückend. Er ſah ſie verwundert an: „Einberufen? Rein! Aber ich gehe freiwillig mit — ſelbſtverſtändlich! Du haſt es ja eben ſtatt meiner dem Kinde erklärt.“ „Ich wollte ihm dein Scheiden begreiflicher und — weniger ſchmerzhaft machen“, murmelte ſie ohne ihn an⸗ zuſehen. „So biſt du entſchloſſen, meine Bitte — abzulehnen? zögernd, angſtvoll kam ihm die Frage von den Lippen. Sie vergrub den Kopf in die Hände und ſchwieg. „Ich werde mich fügen müſſen, Elſe,“ begann er tief aufſeufzend aufs neue, „das Opfer iſt doch wohl zu groß für dich, — ich kann nicht verlangen, daß du Ronne wirſt, um meinetwegen. Ich habe keinerlei Recht auf dich. Aber ich habe es auf meinen Sohn, und vor allem: er hat ein Recht auf ſeinen Vater und auf ſein Erbe. Hochſeß iſt Majorat; ich kann es ihm nicht einfach hinter⸗ laſſen; ich muß ihn anerkennen als mein Fleiſch und Blut. Rur, daß ihn das, wenn die Mutter Fräulein Gerſtenbergk bleibt, früher oder ſpäter in ſchweren Zwie⸗ ſpalt ſtürzen müßte.“ Er ſah, daß ſie weinte; vielleicht löſten die Tränen ihre Starrheit; und hoffnungsvoller fuhr er fort: „Ich werde fort ſein, ſehr lange vielleicht, und Hochſeß bedarf eines Herrn, der es liebt, ſo wie ich jetzt, — eben jetzt erſt — es zu lieben lernte. Weißt du noch, wie du wünſchteſt, daß auf die kahlen Höhen Waſſer geleitet werde, um ſie fruchtbar zu machen? Damals ſchon liebteſt du das Land, während ich -" er ſtockte ſekundenlang, und tief, ganz tief ſtand die Falte zwiſchen ſeinen Brauen. „Wir alle hatten keinen Boden mehr unter den Füßen. Jetzt wirft uns das Schickſal gewaltſam an die Bruſt der verlaſſenen Mutter Erde. Und ſie — reicht uns in 397 ihrer Allgüte die Rahrung, die wir verſchmähten, und an der wir geſunden und erſtarken werden.“ Er ſtrich ſich über die Stirn; Elſe ſah ihn groß an, ihre Tränen waren getrocknet. „Verzeih,“ fuhr er fort, über den Tiſch hinweg ihre Hand ergreifend, „wenn ich abſchweifte. Die Luft iſt jetzt ſo erfüllt von neuen Erkenntniſſen! — Das Vaterland wird jeden Fußbreit Boden brauchen. Aus Odland fruchtbare Erde zu machen, mit gefüllten Scheuern die Dankesſchuld an diejenigen einmal abzu⸗ tragen, die unſere Heimat vor der Brandfackel der Feinde ſchützten, — wäre das nicht eine Aufgabe, würdig deiner Kraft?! Und ich weiß nicht, ob ich wieder⸗ kehre —“ Sie fuhr auf. Er machte eine freundlich abwehrende Handbewegung. „Riemand weiß das! — Dann wäre, was von mir bleibt — das Land der Väter — verlaſſen und würde vielleicht verkommen, bis der kleine Konrad es zu übernehmen vermöchte. Und es würde ihm fremd ſein, — nicht lieb haben würde er es.“ Mit einer raſchen Bewegung erhob ſich Elſe, ihre Wangen hatten ſich gerötet, ihr Körper ſchien geſtrafft. „Ich will, was du willſt, Konrad,“ ſagte ſie einfach. Und er küßte ſie auf die Stirn: „Rie wirſt du dich deſſen zu ſchämen haben. Er ging allein den Weg zurück, den ſie zuſammen ge⸗ kommen waren. Durch den nachtdunklen Wald, zwiſchen ſeinen feierlichen Baumpfeilern, an dem Felde vorbei, das tief im Schlafe lag. Vorſichtig, als ob er ſie zu wecken ſich fürchtete, ſtrich er über die vollen, gerade um ihres Reichtums willen demütig geſenkten Ahren am Wege. „Du heiliges Leben!“ flüſterte er mit der Inbrunſt eines Betenden. Erſt unterwegs fiel ihm ein, daß er für heute abend eine Zuſammenkunft mit Warburg verabredet hatte. Für 398 heute?! Und war es denn wirklich geſtern, daß ſie zu⸗ letzt zuſammen geweſen waren? Dies Geſtern — war es nicht Jahrzehnte alt?! Er ſah nach der Uhr. Bald Mitternacht. Roch hoffte er, ihn zu treffen. Sein Herz war ſo übervoll, er mußte dem Freunde ſagen, was ihm begegnet war, und ihn gleich — dabei lächelte er ein wenig verwundert, als ob man ihm die unwahrſcheinliche Geſchichte eines an⸗ deren erzählte — zum Trauzeugen bitten. Der niedrige Saal des Kaffees mit den vielen kleinen Tiſchchen war dicht gefüllt. Täuſchte ihn ſein Ohr oder ſprach man wirklich ringsum gedämpfter als ſonſt? Kein ſchrilles Schreien, kein Gelächter, das mit frecher Deut⸗ lichkeit dem unbeteiligten Hörer ſeine Urſache verrät, machte ſich bemerkbar. Selbſt die Mädchen, die ihm begegneten, bewegten ſich mit ſtiller Würde, ihre unter⸗ malten Augen ſuchten nicht einmal mehr. In einer Ecke fand Konrad den Freund, bei ihm einen Kreis alter Bekannter. Wie belebt ſie waren und wie ausgelöſcht von der Tafel ihrer Intereſſen, worüber ſie ſich früher geſtritten, worüber ſie ſich erhitzt hatten. Man ſprach von Kriegsausſichten und Hoffnungen, und all⸗ mählich miſchten ſich alle Umſitzenden in die Unterhal⸗ tung. Es war als ob das mit kataſtrophaler Plötzlich⸗ keit zum Ausbruch gekommene Zuſammengehörigkeits⸗ gefühl in jeder Lebensäußerung nach Ausdruck ver⸗ langte; und ſo abweichend voneinander auch die Anſichten im einzelnen ſein mochten, ſie entſprangen alle dem gleichen, erdhaft feſten Grundgefühl, wie die verſchieden⸗ artigſten Pflanzen dem gleichen Boden entſpringen: furcht⸗ loſer Siegeszuverſicht. Als der frühe Sommermorgen zu dämmern begann, wurden die Geſichter ringsum ſeltſam fahl und die Lippen ſtumm. „Erſter Mobilmachungstag“, ſagte jemand. Da und dort ſtanden die Gäſte auf und gingen ſchweren 399 Schritts hinaus. „Auf Wiederſehen!“ riefen ſie. „Auf Wiederſehen!“ tönte es vielſtimmig nach. Keines der Worte, das zwiſchen den Kaffeehausgäſten noch gewechſelt wurde, klang pathetiſch. Und kurz und phraſenlos erzählte Konrad dem Freunde, als ſie miteinander durch die Straßen gingen, von ſeinem Sohn und von Elſe und dem, was er zu tun beſchloſſen hatte. Auch Warburg, der zwar im erſten Augenblick ein leiſes Erſchrecken vor neuen Lebenskonflikten für den Freund in ſich aufſteigen fühlte, war raſch beruhigt und machte nicht viele Worte. Perſönliche Erlebniſſe, die ſonſt er⸗ ſchütternd wie ein Schickſal gewirkt und ſchwere äußere und innere Kämpfe zur Folge gehabt hätten, waren auf einmal ſo einfach geworden. „Auf deine väterliche Freundſchaft für meinen Sohn rechne ich auf alle Fälle!“ ſagte Konrad ſchließlich mit einem langen, ernſten Blick auf Walter. „Es bedarf wohl nicht der Verſicherung zwiſchen uns“, antwortete der, dann röteten ſich ſeine Wangen ein wenig und er fuhr fort, als gelte es etwas Beſchämendes ein⸗ zugeſtehen: „Ich habe mich auch geſtellt. Beim Sanitäts⸗ korps. Mein altes begrabenes Ideal iſt über Racht wieder auferſtanden: die Wiſſenſchaft. Ich brauche jetzt nicht mehr den einzelnen zu retten für ſich ſelbſt, für ſeine eigene klägliche Lebensmiſere, — die, weiß Gott, oft genug der ganzen Anſtrengung nicht wert war! — ſon⸗ dern als Glied des Ganzen, als Werkzeug für Deutſch⸗ lands Exiſtenz. — Ich habe mein Vaterland gefunden, Konrad.“ Statt aller Antwort preßte ihm der Freund bewegt die Hand. Erſt nach einer Weile, als ſie abſchiednehmend vor dem Hotelportal ſtanden, ſagte er: „Alſo trennt uns nichts mehr? „Richts. Konrad warf ſich aufs Bett. Aber nur ſeine Glieder 400 waren müde und ſchwer wie Blei und erzwangen ſich einen kurzen Schlummer. Doch die Seele wachte. Stand nicht Konrad, der kleine, auf dem Turm von Hochſeß und winkte mit der Fahne, die nicht nur eine Roſe trug, ſondern von Hunderten, lebendig blühender, umwunden war? Er hatte wohl gar Rorinas Tempel geplündert? Denn der erhob ſich, nur im Schmuck der eigenen Schöne leuchtend, in die Luft und wuchs und wuchs; der kleine Raum weitete ſich, die Säulen ſtiegen empor, ſtrahlend wölbte ſich die gewaltige Kuppel über dem lichterſchim⸗ mernden Altar. Santa Maria del Fiore? Brauſend ſetzte die Orgel ein. Über ihren tiefen Ak⸗ korden ſchwebten die hellen Stimmen des Knabenchors. Ein Schlachtlied ſangen ſie ſtatt des frommen Chorals. Und ein myſtiſcher Glanz erfüllte das mächtige Schiff der Kirche. Er breitete ſich aus, er verdichtete ſich — von ihm getragen ſchwebte die Gottesmutter mit dem blauäugigen Kinde lächelnd hernieder. Die Gottesmut⸗ ter?! Rein! Demeter — Rorina — die heilige Mutter der Welt. Und er war ihr Kämpe und trug des Kreuz⸗ ritters weißen Mantel und beugte die Knie vor ihr. In Scharen folgten ihm ſeine Gefährten. Er hörte die Hufe der Roſſe ihrer Reiſigen und den dumpfen, hallenden Tritt ihres Troſſes; aus dem blendenden Kreis der Aureole aber grüßte ihn die weiße Hand der Heiligen — Da ſchlug er die Augen auf. Hell ſchien die Sonne ins Zimmer. Durch die Straßen marſchieren Soldaten, traben Reiter, raſſeln Kanonen; Trainkolonnen drängen ſich dazwiſchen, Autos, über Racht in Grau gekleidet wie die Männer, ſauſen vorbei. Und Hupenſignale, Geſang und Geſchrei, Gepfeif und Getrommele erfüllen die Luft. Sie treffen ſich, von allen Seiten ſtrömend, auf dem Platze, wo die Straßen ſternförmig zuſammenlaufen. Mit bunten Blumen ſind ſie geſchmückt, die Männer, die Pferde, die Geſchütze; aus den Gewehrläufen funkeln Braun, Lebensſucher 26 401 die Roſen, von den Spitzen der flatternden Fähnchen grüßen blaue Vergißmeinnicht. Im Takt der Muſik, die lauter und lauter ſchwillt, ſchieben ſie ſich ineinander, auseinander, jetzt zum Chaos geballt, dann harmoniſch zu Zügen nach dahin und dorthin entwirrt, als wäre das ganze eine rieſige, lang vorbereitete Quadrille. Es klopfte: ein Telegramm. Vom Regiment, das ſich Konrad gewählt hatte: „Angenommen“. „Angenom⸗ men!“ wiederholte er jauchzend, und der kleine Bote lachte dazu; er verſtand, um was es ſich handelte und hatte in dieſen wenigen Tagen die unerſchütterliche Würde der guten Hotelerziehung ſchnell abgeſtreift. Wie der Knabe von einſt, der mit den langen ſchlanken Beinen zwei und drei Stufen auf einmal nahm, ſtürmte Konrad die Treppe hinunter. Jetzt galt es, keine Zeit zu verlieren, jeder Tag, jede Stunde war koſtbar. Und ſo vieles, ſo wichtiges war noch vorzubereiten und aus⸗ zuführen: die Rottrauung, die Anerkennung des Kindes und — es durfte nichts verſäumt werden, obwohl das Leben ihm plötzlich nicht nur wertvoll, ſondern unver⸗ lierbar erſchien — das Teſtament. Er kam auf die Straße. Vergebens verſuchte er zwiſchen dem Schwarm von Menſchen, der die Straße bevöl⸗ kerte, raſcher vorwärts zu kommen. Dort blieben ſie in Gruppen mitten auf dem Wege ſtehen, um einem vor⸗ überfahrenden Omnibus, der bis zum Dach hinauf mit Soldaten beſetzt war, zuzujubeln. Hier drängten ſie ſich um einen, der das Reuſte, Allerneuſte eben erfahren hatte. Und dann kamen ſie ihm entgegen in Scharen, und faſt überall wiederholte ſich das gleiche Bild: der Mann, mit dem Jungen an der Hand, der nie ſo ſtolz auf den Vater geblickt hatte wie heute, als er in den Krieg zog, die Mutter, beladen mit all dem Guten, was ſie im letzten Moment noch raſch für ihn zuſammen⸗ gekauft hatte; mit faſt bräutlicher Zärtlichkeit hing ihr Auge an ihm, vergeſſen und verwunden war, was der 402 Alltag der Ehe an grauem Staub über ihre Liebe ge⸗ weht hatte. Aber trotz aller Hinderniſſe gelang es Konrad, ſeine Geſchäfte allmählich zu erledigen, denn wohin er auch kam, überbot ſich ein jeder in zuvorkommender Hilfsbereit⸗ ſchaft. Er befand ſich ſchon auf dem Rückweg, als ihm Alex begegnete, von einem jungen Mädchen in der Tracht der Rotekreuz⸗Schweſtern begleitet: Hilde. Kaum, daß er ſie wieder erkannt hätte, ſo milde leuchtete ihr Geſicht mit dem ſchlicht zurückgeſtrichenen Haar unter dem weißen Häubchen hervor. Sie ſchien die heitere Friſche ihrer erſten Jugend wieder erlangt zu haben und kam ihm freimütig, ganz ohne die Scheu, mit der ſie ihm ſonſt begegnet war, entgegen. Ihr ganzes Weſen ſchien ge⸗ hoben. Freudig erregt berichtete ſie von der Tätigkeit, die ihr bevorſtand. „Ich habe den längeren Ausbildungskurſus gewählt, erzählte ſie nicht ohne einen Anflug von Stolz auf die Selbſtändigkeit ihrer Handlungsweiſe, „das andere kommt mir vor wie Spielerei, und ich möchte doch wirklich nützen können, nachdem ich ſo alt geworden bin, ohne für irgend etwas in der Welt da zu ſein.“ Alex übertraf ſie noch in der Gehobenheit ſeiner Stimmung. „Man kam ſich ſelbſt nachgerade lächerlich vor mit dem ewigen Kriegsgeſpiele,“ ſagte er, „darum verfielen auch ſo viele von uns auf den größten Blödſinn. Man mußte doch mit irgendetwas die Zeit ausfüllen, ſeine mit allen Mitteln entwickelte Kraft, ſeinen großgezogenen Wagemut an irgendwelche Ziele ſetzen. Jetzt endlich wiſſen wir, wozu wir da ſind und werden's beweiſen, ſo daß die älteſten Mummelgreiſe noch kniefällig Ab⸗ bitte leiſten! — Ra — und du?! In ſeiner Frage lag eine nicht zu unterdrückende Miß⸗ achtung, denn daß der Vetter nicht Offizier geworden war, ſich ſogar vor dem Einjährigendienſt zu drücken 26* 403 gewußt hatte, erſchien ihm heute ganz beſonders als ein Makel. Statt aller Antwort reichte ihm Konrad das am Morgen erhaltene Telegramm. „Angenommen als Kriegsfreiwilliger. Kulmer Infan⸗ terieregiment 141. Graudenz“, las Alex laut. Er war zuerſt ſprachlos. Dann lachte er gezwungen und ſagte: „Wie kamſt du nur auf dieſe verrückte Idee?! Kriegs⸗ freiwilliger bei irgendeinem obſkuren tauſendneunund⸗ neunzigſten Regiment in einem Dreckneſt der Waſſer⸗ polackei, wo die vornehmſten Kavallerieregimenter es ſich zur Ehre gerechnet hätten, den Freiherrn von Hochſeß als Fahnenjunker aufzunehmen! Unglaublich, unglaub⸗ lich!“ „Meine Beweggründe,“ antwortete Konrad mit kühler Ruhe, „wirſt du ja wohl nicht ganz zu würdigen wiſſen, ich will ſie aber trotzdem rückhaltlos ausſprechen. Die Infanterie wählte ich, weil ſie, wie mir Sachverſtändige ſagten, diejenige Waffe iſt, an die der Krieg aller Vor⸗ ausſicht nach die größten Anforderungen ſtellen wird. Die Stadt ſuchte ich mir aus, — Ihr dürft ruhig meiner Phantaſterei ſpotten, ſie liegt mir nun einmal im Blut! — weil vor mehr als einem halben Jahrtauſend ein Hochſeß gen Preußen zog, um, angetan mit dem weißen Mantel des Kreuzritters, wider Polen, Ruſſen und Tar⸗ taren die ferne Oſtmark zu verteidigen. Er wurde Komtur der Veſte Graudenz und verſchwand ſpurlos, als er an Witort, dem verräteriſchen Großfürſten, die Schand⸗ taten ſeiner räuberiſchen Horden rächen wollte. Die Sage erzählt, er ſei gefangen worden und habe ſich, als man ihn juſt im Triumph der ſchönen Polenkönigin zuführte, die Pulsadern aufgebiſſen. Ihr ſeht alſo und Konrad lächelte ein wenig —, „es blieb mir mit den öſtlichen Rachbarn noch eine alte Rechnung zu be⸗ gleichen übrig! Und Kriegsfreiwilliger wurde ich -" ſeine Augen ſahen verſonnen in die Ferne, und was er 404 ſprach, ſchien nicht mehr an die gerichtet, die neben ihm gingen, — „weil ich untertauchen will, reſtlos unter⸗ tauchen in dieſer Zeit und in dieſem Geſchehen. Es gibt Menſchen, die wollten Quellen werden, Quellen für dürſtende Höhenwandrer, Quellen, die Felſen durch⸗ bohren, und ſind doch nur Wellen im Meer. Ich will ſein, was ich bin.“ Die Geſchwiſter ſchwiegen zunächſt. Dann ſchob Alex vertraulich ſeinen Arm in den Konrads und meinte mit einem unſicheren Lächeln: „Weißt du, im Grunde iſt mir das alles zu hoch. Aber — was für ſich hat es ja, ſtramm zum Kommis zu gehen. Eine neue reſpektable Sorte Verdrehtheit. Und einen Sparren haben die Hochſeß ja alle. Wer weiß: vielleicht wirſt du ſogar noch zu denen gehören, die den Marſchallſtab im Torniſter tragen.“ Ehe ſie ſich voneinander verabſchiedeten, verſuchte Alex vergebens, den Vetter zu bewegen, mit ihnen und ihren Eltern den Abend zu verbringen. Konrad ſchützte eine andere Verabredung vor, war aber außerſtande, zu ſagen, welcher Art ſie war. Hilde ſchien indeſſen den Faden ihrer Gedanken leiſe weitergeſponnen zu haben, denn zum Schluſſe ſagte ſie, über den neuen Mut eigene Gedanken zu äußern, dunkel errötend: „Ich verſtand Sie vorhin ſo gut, Vetter. Und mir ſiel dabei ein, wie oft man doch ſolch Waſſerwellchen, das nur mit den vielen Gefährten zuſammen ſchäumen und ſprudeln kann, in eine Schüſſel ſchöpft, wo es trüb und ſtill wird.“ Sie trennten ſich ſo herzlich wie noch nie nach einem Zuſammenſein. „Vielleicht ſehen wir uns draußen wieder“, meinte Alex. „Da werde ich vor dem Herrn Leutnant ſtramm ſtehen müſſen“, lachte Konrad. „Oder ich viel⸗ mehr vor dem Kreuzritter“, antwortete Alex ernſt und beziehungsvoll mit einem feſten Händedruck. 495 Konrad eilte zum Bahnhof hinauf, um zu erfahren, daß der Zug, den er benutzen wollte, erſt mit ſtarker Verſpätung abgehen könne, weil ein Militärzug vorher zu expedieren ſei. Schon wollte er den Ausgang wieder erreichen, als der Anblick, der ſich ihm ringsum bot, ihn feſſelte. Da ſtanden ſie in Scharen, die Reſerviſten, die Züge erwartend, die ſie ihrem Beſtimmungsort zuführen ſollten; ſie waren noch alle in Zivil; ſelbſt der einfachſte Mann, deſſen derbe Fäuſte ſein hartes Handwerk verrieten, trug den Sonntagsanzug, und Feiertagsſtimmung war in ihnen; keiner ſang, niemand lachte mehr; der Ernſt der Stunde lag auf allen Geſichtern und vergeiſtigte auch die ausdruckloſeſten. Und nicht einer unter allen war allein; Eltern und Geſchwiſter, Frauen und Kinder, Bräute und Freunde geleiteten ſie. Es war ſehr ſtill unter ihnen. Aber das Zucken der Lippen, das Zittern der Hände, die blaſſen Wangen, die krampfhaft auf⸗ geriſſenen, unnatürlich glänzenden, und die tief geſenkten, verſchleierten Augen ſprachen jene Sprache des Leids, für die es keine Worte gibt. Da war ein altes Mütterchen, das unabläſſig mit der runzligen Hand den Armel ihres Sohnes ſtreichelte und immer noch ein Flöckchen und ein Federchen von ſeinem ſauber gebürſteten Kittel ablas; er ſah ſie nicht an, aber er hielt ganz, ganz ſtill. Da war eine ſchöne vornehme Frau, die den ſchlanken Jungen neben ſich feſt an der Hand hielt, wie zur Zeit, da es galt, ſeine erſten Schritte zu lenken, und mit einer Zärtlichkeit, in der ſich die anbetende des Sohnes mit der ſchützenden des Mannes ſchon paarte, hingen ſeine Augen an ihr. Und da war einer mit groben Zügen, — wie roh hatte er wohl höhnen und ſchimpfen können! — in deſſen heißen flehenden Blick, der das verhärmte Weib vor ſich nicht los ließ, eine Welt von Reue und Liebe lag. Ein anderer ſtand neben ihm, auf jedem Arme ein Kind, 406 und Stolz und Sorge, und Freude und Leid ſpiegelten ſich in ſeinen Zügen. Dicht aneinander geſchmiegt waren zwei, ſeine Hand ſpielte mit den blonden Löckchen auf ihrem Racken, während ihre bebenden Finger ihm noch eine Roſe, eine ſüße, knoſpige, ins Knopfloch neſtelten. Und ein Mann und ein Weib hielten ſich feſt an beiden Händen, und tauchten die Blicke ineinander, ſterbens⸗ bang und lebensdurſtig. Riemand ſah ſie ſpöttiſch oder gar beleidigt an. In tiefer Andacht verharrte die Menge bei dieſer großen Liebesfeier. Der Krieg iſt wie das Senkblei des Seefahrers, das Tiefen ergründet, von denen vorher keiner wußte, und wie die Wünſchelrute des Quellenſuchers, die ſprudeln⸗ den Reichtum entdeckt, wo vorher Sand und Felſen war. Der Zug brauſte in die Halle. Bewegung kam in die Erſtarrten. In verzweifeltem Aufſchrei, in wildem Schluchzen, in leiſem Weinen brach ſich das herzzer⸗ fleiſchende Weh einer Trennung Bahn, die eine Trennung auf immer ſein konnte. Und aus manchem Auge tropfte langſam, widerwillig jene Manneszähre, die an Leid ſchwerer iſt als zahlloſe Frauentränen. Viele aber weinten nicht. Das alte Mütterchen und die ſchöne, vornehme Frau waren darunter. „Hab' nur keine Bange, mein Hanſeken,“ ſagte die eine, „ich halt' gut aus, werd' auch den Hühnerſtall ſelber machen und — und deinen Cäſar und deine Karnickel füttern.“ — Die andere ſagte nichts als: „Lebe — wohl!“ in jedem Wort lag ihre ganze Seele. Und dann ſetzte ſich die lange Kette der Wagen, ge⸗ füllt mit der Kraft und der Hoffnung des Volkes, in Bewegung. Von den Zurückbleibenden winkten welche, ſo lange ſie noch einen Schatten von ihnen ſehen konnten, andere ſtanden erſtarrt auf demſelben Fleck, als ſie längſt verſchwunden waren; einige ſtürzten fort, kaum, daß der Zug anzog, mit beiden Händen vor dem Geſicht. Die Vielen aber ſchlichen davon, wie eine graue Wolke, die 407 ſchwermütig über den Abendhimmel zieht, den Tag ver⸗ dunkelnd, noch ehe es Racht wurde. „Ja ſagen zum Schickſal — auch dann!“ ſagte Konrad zu ſich ſelbſt, gewaltſam die mitfühlende Trauer von ſich ſchüttelnd, „denn der Pflug muß die Erde durchwühlen, damit ſie neue Frucht trage.“ Wenige Minuten ſpäter fuhr er zu Elſe hinaus. Wie eine Alm auf der Höhe, fernab vom Lärm der Welt und von den Rebeln der Tiefe war der Abend bei Elſe und ſeinem Sohn. Von Hochſeß und dem, was dort ihrer wartete, ſprach er mit ihr; von den Vätern und der Burg ſeines Geſchlechts erzählte er dem aufhorchenden Knaben. Als er der Stadt wieder zufuhr, war ſeine Seele voll Frieden. Am nächſten Morgen wurden Konrad und Elſe in der alten Dorfkirche, die geduckt unter den hohen Linden liegt, getraut. Fern waren ihrer beider Seelen vom frommen Kinderglauben dieſer Stätte, aber tiefes Be⸗ dürfnis war es ihnen geweſen auch unter den Zeichen, die ihnen nur ehrwürdiges Symbol des Heiligſten, ſtammelnde Laute für das Unnennbare waren, eins zu ſein mit ihrem Volke. Und bedurfte es ſonſt der feierlichen Worte, des er⸗ hebenden Geſangs, um ſolch einer Stunde die Weihe zu geben, ſo waren heute die Herzen ſo erſchloſſen, die Seelen ſo erhoben, daß die ſchlichte Formel zur ergreifen⸗ den Predigt wurde. Für den Abend desſelben Tages hatte Elſe ihre Ab⸗ reiſe vorbereitet, der erprobten Dienerin die letzte Rege⸗ lung ihrer häuslichen Angelegenheiten überlaſſend. Konrad ſchien nicht zur Ruhe zu kommen, ehe er den Knaben in der Hut von Hochſeß, und Hochſeß erfüllt wußte vom Daſein des Sohnes. Und ſein unausgeſprochenes Empfinden, das Elſe raſch erriet, kam ihrem Wunſche entgegen. Das Wiederſehen mit ihm hatte den Tempel 408 der Ruhe, den ſie in jahrelangem Ringen Stein für Stein um ſich errichtet hatte, jäh zuſammengeriſſen. Schwer genug war es ihr geworden, als ſie damals von ihm ging, aber gräßlicher als jeder Abſchied war dieſe Trennung im Vereinigtſein. Sie hatte kurze, helle Stunden, in denen die Hoffnung ſie beherrſchte, ihn wieder zu gewinnen, und lange, immer längere, die es ihr zur Gewißheit machten, daß es unmöglich war. Sie fühlte ſich am Ende ihrer Kraft. Und fürchtete doch mit allen Qualen der Verzweiflung den Abſchied, — dieſen Abſchied! Sie war in dieſen Tagen blaß und ſchmal geworden, und in tiefer Bewegtheit küßte Konrad, als er ſie aus dem kleinen Hauſe hinausgeleitete, das ihre Zuflucht geweſen war, ihre müden, übernächtigen Augen. Des Kindes freudig erregtes Geplauder half ihnen über die letzten Stunden hinweg. Es kannte noch keine Furcht vor den Rätſeln der Zukunft, kein Trennungs⸗ weh. Und auch Konrads Seele war ſo erfüllt von ſtarkem Lebensgefühl, daß er von ſeiner Heimkehr aus dem Kriege wie von etwas ſprach, an dem zu zweifeln nicht möglich wäre. „Das du mir nicht allein in die Höhlen kriechſt,“ mahnte er mit ſcherzend erhobenem Zeigefinger, „denn zum Schloſſe des Zwergenkönigs findeſt du nur mit mir den Weg. Und auch auf dem Fuchs mit der weißen Bläſſe werde ich dich erſt reiten lehren — wenn ich dir nicht lieber ein kleines Ruſſenpferdchen mitbringe. Paß nur auf, wie wir dann über die Felder fliegen!“ Jauch⸗ zend klatſchte das Kind in die Hände. Elſe ſtand dabei; nur mit feſt zuſammengepreßten Lippen meinte ſie den Schrei zurückhalten zu können, der ſich immer ungeſtümer ihrer Seele entreißen wollte. „Du wirſt es ſehr ſchwer haben, Elſe“, ſagte Konrad mit einem warmen mitleidigen Blick auf ihr verhärmtes Geſicht. 409 „Kann es noch etwas geben, das ſchwer iſt?!“ ant⸗ wortete ſie. Sie reichten einander zum Abſchied die Hand, faſt wie Fremde. Dann ſtieg ſie ins Kupee. Der Knabe ſtand allein am Fenſter, grüßend und winkend; Konrad verfolgte bis zuletzt mit zärtlichen Blicken ſein blondes Köpfchen, — daß der Elſens fehlte, hatte er nicht ein⸗ mal bemerkt. Und ſie, die ſich tief in den jenſeitigen Sitzwinkel gedrückt hatte, wußte es. In der Racht danach ſchlief Konrad ruhig und traum⸗ los. Als er erwachte, ſtand die Sonne hoch am Himmel; nur langſam kehrte er zur Wirklichkeit zurück, ihm ſchien, als ſei er ſehr, ſehr weit weg geweſen. Er erinnerte ſich, daß dies hier ſein letzter Tag war; ein tiefes Ge⸗ fühl von Andacht kam über ihn. Und als er ſich ſchließlich unten im Strome der Menſchen wiederfand, waren ſie alle wie Kirchgänger an einem jener ſeltenen großen Feiertage, wo auch der ärmſte Sklave des All⸗ tags den grauen Sträflingsrock von ſeiner Seele zieht. Aber nicht in die Häuſer, in denen die Kirchen den Dienſt Gottes gebannt zu haben glaubten, zog es ſie; ſondern in jenen großen grauen Palaſt mit der goldenen Kuppel zwiſchen dem ragenden Siegesdenkmal einſtiger Kriege und dem ſtolzen Triumphtor zur Ewigkeit ihres Gedenkens heimgegangener Sieger. Die Menge ſtaute ſich vor den Türen ohne Ungeduld, drängte die Treppen hinauf ohne Haſt, und ſchob in die braunen Bänke hinein ſo vorſichtig und ſo leiſe, als wäre jedes Geräuſch Entweihung. Und nicht wie ſonſt bei den großen Tagen des Parla⸗ ments drang erregtes Stimmengewirr vom Saale herauf zu den Tribünen. Ruhig und ernſt ſchritten die Ab⸗ geordneten zu ihren Sitzen. Rur hie und da flüſterte jemand, und wenn einer in Feldgrau erſchien, gab es 410 in ſeiner Rähe ein freundlich grüßendes Geſumme ge⸗ dämpfter Stimmen. Unter den Zuhörern frug keiner wie ſonſt neugierig, als befände er ſich im Theater, nach den Ramen der bekannten Akteure. Heute galt der einzelne nichts, die Maſſe alles. Konrad gedachte jener nun ganz hiſtoriſch gewordenen Zeit des letzten Krieges und all der Großen von damals, der Lenker des Staates, der Führer der Parteien, der Sprecher des Volkes. Ein Gefühl nicht zu bannenden Unbehagens befiel ihn. Warum fehlten ſie heute? Wie eine Sphynx mit dem Antlitz der Me⸗ duſe war das Schickſal vor Deutſchland erſchienen. Würde es an den Männern fehlen, ſein Rätſel zu löſen, ſeinem todbringenden Blicke ſtand zu halten? Der Saal hatte ſich ganz gefüllt. Auf der Eſtrade hinter dem Stuhle des Präſidenten und denen der Mi⸗ niſter ſtanden ihrer viele in glänzender Uniform. Aber jede Farbe verſchwand im einheitlichen Schwarz ihrer Umgebung, als ſollte hier nichts und niemand hervor⸗ ragen, ſich abſondern. Dann kam der Präſident, ſchlicht, weißhaarig, nur einer von den vielen aus dem Saale. Rüchtern und ſachlich, als wäre es ein Tag wie jeder andere, wurden geſchäftliche Dinge erledigt. Und dann kam der Kanzler. Kein Bismarck mit dem wuchtigen Schritt des an die Reiterſtiefel Gewöhnten, mit dem hochmütigen Blick des zum Befehlen Geborenen. Ein Bürger im ſchwarzen Rock. Ein Denker mit ge⸗ furchter Stirn. Ein Mann. Und ein Preuße. In knappen Sätzen ſprach er. Von der langgenährten Feindſchaft, die von Oſten und Weſten über uns herein⸗ brach. Und daß Rußland die Brandfackel an unſer Haus gelegt habe. Da brach der erſte ſtürmiſche Beifall aus. Wider⸗ ſpruchslos. 411 Er ſprach weiter. Ohne Pathos. Doch durchglüht vom Bewußtſein der ungeheuren Stunde. „Wir haben den Krieg nicht gewollt“ — alle Köpfe neigten ſich zu feierlicher Bejahung — „aber ein längeres Warten, bis etwa die Mächte, zwiſchen die wir ein⸗ gekeilt ſind, den Moment zum losſchlagen wählten, wäre ein Verbrechen wider Volk und Vaterland. Er ſetzte ſekundenlang aus — nicht wie ein routi⸗ nierter Redner, der den Beifall dadurch herauszufordern weiß, ſondern faſt unwillig, weil er ihn brauſend unter⸗ brach. Und ruhig, — nur die nervöſe Linke krampfte ſich zur Fauſt zuſammen — führte er den Rachweis, wie der Krieg mit Lug und Trug über uns heraufbeſchworen worden war. Dann erhob ſich ſeine Stimme. Die hohe, ſchlanke Geſtalt reckte ſich auf: „Das iſt die Wahrheit! Die Fauſt fiel auf den Tiſch. „Das iſt die Wahrheit!“ — ein ganzes Volk legte durch ſeinen Mund den Eid ab. Und danach bekannte er ſich, und verſuchte mit keinem Wort das Unrecht zum Recht zu machen, zum Bruch der belgiſchen Reutralität. Ein tiefes Atemholen, einem Seufzer gleich, ging durch das Haus. Riemand, der nicht mit ihm die ſchwere Rot⸗ wendigkeit auf ſich genommen hätte. „Aber wer ſo bedroht iſt wie wir, und um ſein Höchſtes kämpft, der darf nur daran denken: wie er ſich durch⸗ haut!“ Ein Jubel erhob ſich, wie ihn der Saal noch nicht erlebte. Von allen Seiten rauſchte er auf. Und das Blatt Papier, das der Kanzler hielt, zitterte unmerk⸗ lich. Von nun an war es, als ſpräche die dunkle, ge⸗ ſchloſſene Maſſe im Saale mit ihm. Sie wiederholte, ſie unterſtrich mit nicht endendem Beifall, was er ſagte. „Die große Stunde der Prüfung hat geſchlagen, aber 412 mit heller Zuverſicht ſehen wir ihr entgegen. Unſere Armee ſteht im Felde, unſere Flotte iſt kampfbereit. Und hinter uns ſteht“ — wie durchleuchtet erſchien in dieſem Augenblick das ernſte Antlitz des Kanzlers, und ſeine Stimme fand einen Ton, wie er dem ruhigen Manne ſonſt völlig fremd war — „das ganze deutſche Volk.“ Er ſchwieg, übermannt von der eigenen Bewegung. Und es war, als erſchüttere rollender Donner den Saal. Da hob er noch einmal den Kopf, ſtreckte die Hand weit aus zu den Bänken der Linken hinüber und wiederholte emphatiſch in die plötzliche feierliche Stille hinein: „Das ganze deutſche Volk ... Kein alles Überragender hatte geſprochen, aber es war die Stimme der Ration ſelber geweſen. Riemand erhob ſich im weithin leuchtenden Glanz des Genies über der Menge, aber ſie ſelbſt war geſättigt von Kraft, — frucht⸗ bare Erde, berufen und befähigt, das Große und die Großen hervorzubringen. Tiefe Andacht erfüllte das Haus. Das war die große Feierſtunde des Vaterlandes, die Weihe der Waffen. Am Abend reiſte Konrad ab. Der Zug war über⸗ füllt mit Soldaten und Reſerviſten und ſchob ſich nur langſam aus der lichterſtrahlenden Stadt in das dunkle Land. Unterwegs ſchien er ſich unaufhörlich zu ver⸗ vielfachen. Auf allen Schienenſträngen tauchten neue glühende Augen auf, fauchte der heiße Atem der Loko⸗ motiven. Die Räder rollten und rollten durch die Racht, als ſpeie die Unterwelt ihre Drachenbrut wider die drohenden Feinde aus. Konrad behielt einen Ton im Ohr wie von fernen Trommeln und Pauken. Dann miſchte ſich ein anderer anſchwellend hinein. 413 Die Pfade und Wege und Straßen ringsum waren lebendig geworden vom raſtloſen Gehen vieler Menſchen. Sie ſchlängelten ſich vorwärts wie Flüſſe. Sie trugen die vielen den Zügen zu, die an allen Stationen ihrer warteten. Und die Dörfer in den Tälern, die Hütten auf den Höhen, die Gehöfte im Hag, die Weiler im Wald ent⸗ ließen aus weitgeöffneten Toren und Türen ihre ſtreit⸗ baren Männer. Es war das Wandern eines Volkes. Die harten Tritte der Millionen hallten dröhnend gen Himmel, daß aller Schlummer die Erde floh. 414 Elftes Kapitel Wie Konrad Hochſeß das Leben fand Breit und majeſtätiſch wälzt ſich der Strom der Weichſel durch das grüne, flache Land; er iſt wie ein Herrſcher, der ſtets voll königlicher Ruhe zu ſchreiten gewohnt iſt. Und an Graudenz, der kleinen Stadt an ſeinem Ufer, fließt er ſtolz vorbei, ihrer nicht achtend. Sie iſt ja auch nur eine arme Magd, die ſich mit weit von ihm abge⸗ wendeten Straßen ſcheu und ſchämig vor ihm zurück⸗ zieht. Sie weiß, daß ſie zu häßlich iſt, um ſich ihm an⸗ zubieten wie die großen Städte, die an breiten Flüſſen liegen und ihnen ihre ſchönſten Häuſer, ihre gepfleg⸗ teſten Gärten herausfordernd zukehren. Sie wurde in Dienſtbarkeit geboren, denn Troßleute des Deutſchen Ritterordens, Handwerker und kleine Krämer waren es, die ſie gründeten, nicht als künftige Handelsherrn, die dem Waſſerlauf ihre beladenen Schiffe zur abenteuer⸗ reichen Fahrt ins Weite anvertrauen wollten, ſondern als arme Dienſtmannen, die ihre Häuschen geduckt unter den Schloßberg bauten, in deſſen Schutz und unter deſſen Herrſchaft ſie ſtanden. Hochmütig erhob er ſich über ſie, ein von der Ratur ſelbſt gebauter Thron, von dem aus die Ordensburg meilenweit in das Land ſah und mit den Feuern ihres Wartturms allen Gleichen ringsum ihre Kriegszeichen gab. Ihr zu Füßen ſchmiegte ſich auch der Strom, wie ein gebändigter Rieſe, ja, wenn die Sonne ihn in ſeine ſchimmernde Silberrüſtung hüllte, ſchien es als ob er ſie ſchmeichelnd umwerbe. Und ob auch die frommen Ritter, hingeſtreckt von Ruſſen und Tartaren, aus dem gräßlichen Morden der 415 Tannenberger Schlacht nicht wiederkehrten, die polniſchen Vögte aber, denen die Burg danach untertan war, ſie in dreihundertjähriger Herrſchaft zur ſchmutzigen Her⸗ berge verkommen ließen, und der Sturm, den der kor⸗ ſiſche Äolus über Europa entfeſſelte, ihre morſchen Mauern zuſammenſtürzte, — der Strom blieb ihr treu. Denn der Burgfried hielt allen Unbilden ſtand und ſpiegelte ſich weiter in ſeinen Fluten, und der Brunnen im Burghof ſenkte ſich immer noch tief, tief hinab und ſaugte an ſeinen Waſſern. Zu jeder freien Stunde, die er hatte, wanderte Konrad hier hinauf. Heimatliche Gewohnheit war es ihm, von hoher Warte in die Lande zu lugen, und daß man heute in Tälern und Städten ſo viele Türme baute zum bloßen Zierrat, war ihm ſtets als ein Zeichen dafür erſchienen, wie ganz und gar die Beſtimmung alles Hoch⸗ ragenden, nach Wetter und Wolken Ausſchau zu halten und das Rahen feindlicher Mächte zuerſt zu ſehen und zu künden, vergeſſen worden war, und wie die Menſchen verlernt hatten, nach Sehnſucht zu verlangen. Denn nur, wer auf Bergen und Burgen ſteht, und wer ſieht, wie Himmel und Erde ſich berühren, der lernt das Sehnen, den vermag keine friedliche Enge mehr zu befriedigen. Die Briefe Elſens, die ihm täglich von ſeinem Sohn erzählten und oft von ein paar ungefügen Buchſtaben ſeiner Kinderhand begleitet waren, las er am liebſten hier oben. Dann wurde ihm das Bild des kleinen Konrad am lebendigſten, dann ſah er faſt greifbar deutlich das praktiſche und umſichtige Walten Elſens, unter deren weichen Fingern alles gedieh. Und er freute ſich deſſen von Herzen. Aber er war ganz außerſtande, ſich vor⸗ zuſtellen, daß er dabei ſein könne, wenn Elſe dieſelben Wege ging, die Norina gegangen war, und das leben⸗ ſprühende Kind die Räume mit ſeiner Gegenwart er⸗ füllte, wo Rorinas Sohn die blauen Wunderaugen auf⸗ geſchlagen und wieder geſchloſſen hatte. 416 Er war ſo weit weg — wie der Bewohner eines anderen Sterns, der von dort aus ſeine eigne Erden⸗ vergangenheit betrachtet. Denn wenn ſonſt Gegenwart faſt unmerklich zur Vergangenheit wurde, ſo war jetzt eines vom anderen gewaltſam losgeriſſen. „War ich wirklich geſtern noch Konrad von Hochſeß? frug er ſich oft, wenn er im erſten Morgengrauen vom Strohſack ſprang und ſeine beiden Stubenkameraden, — Kriegsfreiwillige wie er — die mit ihren ſiebzehn Jahren noch einen Kinderſchlaf hatten, aus den Betten rüttelte. Und er wiederholte verwundert die gleiche Frage, wenn er, der die Reſpektloſigkeit gegenüber Lehrern und Vorgeſetzten einmal zum Prinzip erhoben hatte, ſich widerſpruchslos — nicht einmal ſeiner Emp⸗ findung geſtattete er, ſich aufzulehnen — ſelbſt den ſcheinbar kleinlichſten Befehlen und Anordnungen grober Unteroffiziere fügte. Wenn ſeine beiden jungen Kame⸗ raden, die eben erſt von der Schulbank und aus dem Elternhaus kamen, ſich beklagten, und er, der eine Art väterlichen Verantwortlichkeitsgefühls ihnen gegenüber beſaß, ſie zu tröſten ſich bemühte, entwickelte er in der Verteidigung des „Militarismus“ Gründe, die das Ergebnis feſter Überzeugungen zu ſein ſchienen und doch nichts als die raſche Folge des wuchtigen Anſchau⸗ ungsunterrichts waren, den der Krieg tagtäglich er⸗ teilte. Rach der Kriegserklärung war noch nicht eine Woche verfloſſen, als Lüttich fiel, obwohl die Beſatzung allein größer geweſen war als das Heer der Angreifer und die ganze Bevölkerung des Landes, ſelbſt die Frauen, in dem überaus ungünſtigen Berg⸗ und Waldgelände aus dem Hinterhalt auf unſre Truppen feuerten. Wenige Tage ſpäter wurden die Siege von Mülhauſen und La⸗ garde gemeldet, und die Abwehrkämpfe der Grenzbeſatz⸗ ungen gegen die von allen Seiten einbrechenden Ruſſen. Und das alles geſchah, ohne daß der Aufmarſch der Braun, Lebensſucher 27 417 mobilen Truppen vollendet war, von Heeren in ſchwacher Friedensſtärke. Dann kam die Rachricht vom heldenhaften Unter⸗ gang des kleinen Dampfers „Königin Luiſe“. Es war ein altes, friedliches Schiff geweſen, das fröhliche Bade⸗ gäſte bei geruhiger See von Swinemünde nach Rügen zu geleiten pflegte. Und plötzlich hatte das Kriegs⸗ ſieber es gepackt und war mit nur hundertundzwanzig Mann Beſatzung keck wie der jüngſte Draufgänger bei Racht und Rebel an Englands Küſten entlang ge⸗ ſchlichen, um die See, die verſchwiegene, die nicht ein⸗ mal dem „Beherrſcher der Meere“ ihr Geheimnis ver⸗ riet, ſondern im ſtillen dem Wagemutigſten ihre Gunſt gewährte, mit Minen zu ſpicken. An der Mündung der Themſe erſt, dicht vor der Hauptſtadt, die ſich damit brüſtete, daß ſeit Jahrhunderten kein Feind ſie betreten, hatte es ſein Schickſal ereilt, aber auch da noch hatte es einen britanniſchen Kollegen mit in die Tiefe gezogen. Sobald der Jubel über die erſten Siege nachließ und die Begeiſterung über den Handſtreich ſich in ſtille, heiße Freude verkehrte, brach bei Konrads jungen Freunden in noch ſtärkerem Maße als vorher der Zorn über den Tagesdienſt aus. „Widerſinnig iſt's,“ grollte Hans Gerwald, der einzige Sohn eines bekannten Berliner Malers, „jetzt Stiefel zu putzen und Stuben zu ſcheuern, wo es allein auf Schießen und Stürmen ankommt.. „Unerhört —,“ ſekundierte Fritz Ewert, eines oſt⸗ preußiſchen Gutsbeſitzers Alteſter — „Griffe zu kloppen und Parademarſch zu üben, als ob nichts als ein Kaiſer⸗ manöver uns erwartete.“ Und ſie ergingen ſich beide in heftigen Anſchuldigungen eines Drillſyſtems, das nur ein langer, fauler Frieden hätte entwickeln können. Die Enttäuſchung über den Beginn der ſo heiß erſehnten Heldenlaufbahn klang aus ihrem jugendlichen Unmut heraus. 418 Konrad liebte ſie um dieſer Ungeduld willen. Ihm ſelbſt aber konnte die Vorbereitung zu der großen Auf⸗ gabe, die zu erfüllen war, gar nicht ſtreng, gar nicht entſagungsvoll genug ſein, und es bedurfte keiner be⸗ ſonderen Überredungskunſt, um die beiden Kameraden für ſeine Auffaſſung zu gewinnen. Sie waren wohl beide Gymnaſiaſten geweſen, die, wie die anderen, ihre weichen Gemüter mit dem Panzer der Skepſis und Kühle um⸗ kleidet hatten, um ja nicht für unmännlich zu gelten; der Krieg hatte ihn geſprengt; die Tore ihrer Seelen ſtanden weit offen allem was rein und groß war. Kon⸗ rad hätte ſie in Erinnerung an ſeine eigenen ſiebzehn Jahre beneiden können, wenn die Erkenntnis ihres Weſens, von dem die Zeit alles abſpülte, was ihm an Alltag ſchon angehaftet hatte, ihn nicht mit ſo ſtolzer Zukunftszuverſicht erfüllt hätte. „Alle, die ſich einer großen Sache opferten,“ ſagte er einmal zu ihnen, „haben ſich vorher kaſteit, um jener Entſagung willen, die das ganze Ich auf einen einzigen Punkt konzentriert: die heilige Tat.“ Und von da an erinnerten ſie einander, wenn der Unmut ſie wieder zu übermannen drohte, ſcherzend an die Pflicht der Kaſteiung. Weniger leicht war es, ſie von der praktiſchen Rot⸗ wendigkeit vieler untergeordneten Maßnahmen und Übungen zu überzeugen. Er ſtieß auf ſtets erneuten Widerſpruch, wenn er er⸗ klärte, daß ohne einen Drill bis ins kleinſte, der jeden unbedeutenden Handgriff ſo lange einübt und in alle übrigen einordnet, bis er zu einem völlig mechaniſchen wird, ohne eine pedantiſche Ordnung, die jedem Dinge den unverrückbar gleichen Platz anweiſt, ſo daß keine Sekunde Zeit unnütz verloren geht, ohne eine eiſerne Disziplinierung, die ſich auf jede einzelne Handlung, ja auf jede Körperbewegung erſtreckt, ohne einen Ge⸗ horſam, der dadurch geübt wird, daß er die perſönliche 27* 419 Reigung in ſcheinbar nebenſächlichen Dingen bändigt, ein Heer niemals zum unbedingt zuverläſſigen Werkzeug in der Hand des Feldherrn zu werden vermöchte. „Das mag früher richtig geweſen ſein,“ warf Hans Gerwald ein, deſſen Schulwiſſen kein bloßes Gepäckſtück war, das er mitſchleppte, ſondern ſich in ihm zu etwas Lebendigem geformt hatte, „wo die Armeen klein und überſichtlich geweſen ſind, jetzt, wo Millionen im Felde ſtehen, kann der einzelne nicht nur ein Werkzeug, ſon⸗ dern muß ein denkender Kopf, ein lebendiger Wille ſein.“ „Ganz gewiß!“ antwortete Konrad, „aber es war eben einer der größten Trugſchlüſſe der Vergangenheit, daß die Freiheit im Außeren Freiheit im Inneren bedeutet. Erſt die Mechaniſierung des Daſeins im Rebenſächlichen, die unbedingte Herrſchaft über alles Techniſche, befreit die Kräfte der Seele von allen Bindungen, ſichert die Unerſchütterlichkeit des Muts, der Ausdauer, der Sieges⸗ zuverſicht.“ Allmählich überzeugten ſich die beiden jungen Soldaten von der Richtigkeit ſeiner Auffaſſung, aber weniger in⸗ folge ſeiner Überredungskunſt, — denn ſo leicht es auch war, ihr Gefühl zu entflammen, ſo ſchwer war es an⸗ dererſeits, ihrem kritiſchen Verſtand eine andere Rich⸗ tung zu geben —, als infolge der Einſicht, die ihnen die Ereigniſſe der Rähe und der Ferne vermittelten. So klein der Kreis ihres Geſichtsfeldes war — er reichte zunächſt über den Kaſernenhof und den Exerzier⸗ platz nicht hinaus und erweiterte ſich nach und nach auf die in ein Feldlager verwandelte Stadt — ſo deutlich erkannten ſie doch die ungeheure Maſchinerie des Krieges, in der das winzigſte Rädchen ſeinen Platz und ſeine Funktion hatte und für das Ganze ſo unentbehrlich war wie der Motor ſelbſt. Und ſie wurden alle drei — mit vollem Bewußtſein, aus vertiefter Überzeugung — zu einem Zahn ſolch eines 420 winzigen Rädchens und fühlten, wie Kraft und Wille dabei wuchs. Das Regiment war längſt im Felde. Vom erſten Tage an war es in Grenzgefechte verwickelt. Die daheimge⸗ bliebenen jungen Soldaten hörten nicht viel davon; in den Zeitungen ſtand nichts. Rur manchmal, wenn die älteren Leute, die Feldwebel und die Unteroffiziere vom Erſatzbataillon mit ernſten Geſichtern zuſammenſtanden, dann ahnten ſie, daß wieder etwas, irgend etwas ge⸗ ſchehen ſei. Und zuweilen bekam der und jener einen Brief von einem, der draußen war; dann drängten ſie ſich abends in der Stube um ihn und horchten zu, mit brennenden Wangen und flackernden Augen, wenn er vorlas: von den Koſaken, den verfluchten Schimmelrei⸗ tern, die die Dörfer in Brand ſteckten, die Häuſer aus⸗ raubten, die Bewohner töteten oder entführten, von den langen Märſchen und den Kämpfen in der Racht, von der vierfachen Übermacht der grimmen Gegner. „Eins zu vier —“ ſagten ſie untereinander mit ſtrahlenden Ge⸗ ſichtern und ſtrafften die Muskeln. „Eins zu vier ⸗ mit dem Gedanken rückten ſie am anderen Morgen in den Dienſt und waren noch einmal ſo ausdauernd und ſo rührig als ſonſt. Fritz Ewert, der Kriegsfreiwillige, war eines Abends beim Leſen hinausgegangen und nicht wiedergekommen. Man tuſchelte hinter ihm her. Sollte das Kind ſich fürchten? Warum ließ man auch Knaben zur Männer⸗ arbeit zu? In der Racht hörte Konrad, wie er ſich ſchlaflos hin und her warf; als der Morgen graute und der Schlummer ihn endlich bezwungen hatte, hingen zwei ſchwere Tränen an ſeinen Wimpern. An einem Sonntage war es, — die frommen Bürger der Stadt kamen gerade im Feierkleid aus der Kirche — da ſchob ſich vom Bahnhof her ein Häuflein müder, verſtaubter Menſchen zwiſchen ſie. Alte Männer trugen ächzend ſchwere bepackte Körbe auf dem Rücken; Frauen 421 ſchleppten todmüde Kinder mit ſich, die nur noch leiſe zu wimmern vermochten. Konrad hatte Fritz Ewert faſt gewaltſam mit ſich ins Freie genommen; ſein junger Kamerad war ſo ſtill, ſo traurig geworden, daß es ihn ängſtigte. Aber kaum, daß er jetzt die Wandernden bemerkte, als er ſchon mitten unter ihnen war: „Woher kommt ihr?“ frug er, vor Aufregung heiſer. „Aus dem Reidenburgiſchen“, ſagte ein Alter einſilbig. „Von Oſterode —“ murmelte ein mattes Weib. Und nun ſprachen ſie alle durcheinander: „Die Koſaken ſind hinter uns her, mit Lanzen und Peitſchen,“ — jam⸗ merte eine gebückte Greiſin. „Sie ſpießen unſre Kin⸗ der,“ — heulte eine andere hyſteriſch auf, mit entſetzten Augen um ſich blickend. Die Kirchgänger ſammelten ſich um ſie. Sie griffen in die Taſchen, ſie beratſchlagten über ihre Unterkunft. Die Geſichtszüge der Flüchtlinge belebten ſich. Des jungen erregten Soldaten achtete kaum einer mehr. An einen jeden richtete er drängend die gleiche Frage: „Wißt ihr von Klaußen nichts?! Ein halbwüchſiger Burſch zuckte ſchließlich vielſagend die Achſeln: „Die Ruſſen ſind überall. Und nun endlich ſchien ſich Ewerts erſtarrte Angſt in einem Strom von Worten zu löſen. „Dicht dabei bin ich zu Hauſe, am Druglin⸗See“, erzählte er haſtig. „Die Meinen ſind daheim. Der Vater und die Mutter würden ſtandhalten, bis zuletzt, das weiß ich. Weil man den Poſten nicht verläßt, auf den Gott einen ſtellte. Weil die Heimat ihnen mehr gilt als das Leben. Und ich — ich konnte das Gut nicht leiden, weil ich frei ſein wollte. Was hat der Vater getobt und die Mutter geweint über mich! Und nun: mein ganzes Leben will ich mich freudig von ihm feſſeln laſſen, wenn ich es ge⸗ rettet, wenn ich die Eltern, die ich faſt zu haſſen ver⸗ meinte und doch ſo zärtlich liebe, in Sicherheit wüßte! 422 Ach —“, er umkrampfte Konrads Arm — „und die Schweſtern — zwei junge hübſche Dinger — ſeit einer Woche bin ich ohne jede Rachricht!“ Es beruhigte ihn etwas, daß Konrad mit ihm gemein⸗ ſam alles zu tun verſprach, um Räheres in Erfahrung zu bringen. Aber bei allen Erkundigungen ſtießen ſie auf das gleiche Richtwiſſen oder auf die durch die militäriſche Lage erzwungene Verſchwiegenheit, während unbeſtimmte, wilde Gerüchte über das Schickſal Oſt⸗ preußens die Stadt durchſchwirrten. Eines Tages — Konrad war gerade zur Bahnhofs⸗ wache kommandiert — kamen die erſten Verwundeten. Bahn um Bahn in endloſer Reihe. Unter den weißen Linnen lugten aſchfahle Geſichter mit geſchloſſenen Lidern hervor, und rote, ſfieberglühende, von Bandagen um⸗ wickelte Köpfe, die nichts als ſchreckhaft große Augen hatten, lagen reglos auf hartem Pfühl; und bei anderen lag die Decke ganz flach und leer, da wo ſich die Beine unter ihr abzeichnen ſollten. Die Menge derer, die noch gehen konnte, folgte: welche, denen das Kinn oder die Stirn, die Raſe oder die Augen verbunden waren, oder die ſich humpelnd vorwärts bewegten; einer, der nur auf einem Beine hüpfte, von zweien unter den Schultern gehalten, von denen ſelber jeder einen Arm in der Binde trug. Dann ein Kleiner, Blaſſer, der einen ſchlichten grauen Offizierskoffer zwiſchen den groben Fäuſten ſchleppte, während die Schweißtropfen ihm unter der ſchmalen Kopfbandage hervorperlten; er hielt ſtöhnend inne und ſah ſich um. Da flog ihm ein junges Weib entgegen; der Koffer polterte zu Boden; er fing eine Ohnmächtige auf. „Sein Leutnant fiel, — das iſt die Frau“, ſagte ein Verwundeter zum anderen. Der nickte langſam: „Kein Offizier iſt von meiner Kompagnie übrig geblieben“, ſagte er. Der Bahnhof war ſchon leer; nur eine ſchlanke Frau ſchritt noch immer angſtvoll ſuchend am Zuge auf und 423 ab. Da kamen ihr zwei entgegen: ein ſchmaler, junger Sanitäter und ein breitſchultriger Rittmeiſter, der mit den hohen Stulpenſtiefeln ſeltſam ſchleppend ging, mit ſtarren Blicken unbewegt geradeaus ſah und ſich von ſeinem Begleiter an der Hand führen ließ, als wäre der Rieſe ein kleines Kind. Die Wartende trat ihm ent⸗ gegen. „Arthur!“ ſchrie ſie auf. Er ſah ſie an, ſtumpf, gleichgültig. Er erkannte ſie nicht. Konrad ſtand, ohne ein Glied zu rühren, angewurzelt. Aber es war trotz aller Erſchütterung kein rührſeliges Mitleid, das er empfand. Es war Ehrfurcht. Angeſichts all deſſen, was ſie nun vor Augen ſahen und was die erhitzte Phantaſie aus den Erzählungen der Verwundeten und der Flüchtlinge geſtaltete, wuchſen die Beſorgniſſe der Bevölkerung. Und als plötzlich Ar⸗ beiter zu Tauſenden die Umgebung überſchwemmten, ganze Wälder niederſchlugen, um die Stämme die kreuz und die quer über den Boden zu werfen, die Erde zu tiefen Schützengräben aushöhlten und dichte Stachel⸗ drahtverhaue zogen, da ſteigerten ſie ſich immer mehr. Die Siege in Belgien und Frankreich, auf die ſich im Reich das Intereſſe zu konzentrieren ſchien, ver⸗ mochten hier, ſo nahe der Grenze, nicht mehr den gleichen Jubel hervorzurufen. Ein Geſpenſt, unfaßbar, namenlos, kroch die Angſt durch die in der Sommerſchwüle ſtill glühenden Straßen. Bis ſich von Weſten ein wetterſchwangerer Wind er⸗ hob, der ſie vor ſich her trieb, und, wie er den Himmel mit blitzgeladenen Wolken bedeckte, die Geiſter aufpeitſchte zu kraftgeſättigter Empörung. Das war der Haß der Welt wider uns; das war die Lüge und die Verleumdung, die am höchſten be⸗ zahlten Söldner im Dienſt unſerer Widerſacher. Hans Gerwald, der als Schüler dem Jungdeutſch⸗ landbund angehört hatte, und ihm ſeine aller ungeſunden Großſtadtkultur fremde natürliche Friſche und kraftvolle 424 Körperlichkeit verdankte, brauſte bei einer der abend⸗ lichen Stubengeſpräche mit den Kameraden immer wilder auf, wenn von dieſem Vernichtungskrieg der Feinde die Rede war. „Wie eine Spinne ſitzt England in der Mitte des Retzes, das es über die Erde ſpann,“ rief er erregt, „aber das Gift, das dieſem greulichen Tier ſeine ver⸗ heerende Wirkung verleiht, iſt nichts anderes als der von Juden gezeugte Geiſt des Krämers — ein uns Germanen ſo in tiefſter Seele entgegengeſetzter, daß es ihm gegenüber nur zweierlei geben kann: ihn gewaltſam abzuſtoßen, oder ſich ihm mit Haut und Haaren zu ver⸗ ſchreiben. Konrad lachte den Hitzkopf an, denn mochte er auch noch ſo häufig mit ſeinen Anſichten in die Irre gehen, daß er überhaupt welche hatte und ſtürmiſch verteidigte, war erfriſchend im Gegenſatz zu der Zerfahrenheit ſeiner eigenen Jünglingsjahre. „Du vergißt, mein Junge, ſagte er — auch ſie hatten untereinander das „Du“ der Soldaten längſt angenommen — „daß gerade England von Juden am wenigſten beeinflußt ſein kann, weil es ihrer nur wenige hat, und überdies den „Krämergeiſt“, von dem du ſprichſt, ſchon zu einer ſo frühen Zeit be⸗ ſaß, wo von jüdiſchem Einfluß noch gar keine Rede ſein konnte.“ „Auch verſtehe ich nicht,“ warf Fritz Ewert ein, der anfing ſeine Teilnahmloſigkeit angeſichts alles deſſen ab⸗ zuſtreifen, was ſein perſönliches Unglück nicht berührte, „was die infamen Verleumdungen, die England aus⸗ ſtreut, mit dem jüdiſchen Geiſt zu tun haben könne. „Herr Gott, biſt du vernagelt!“ entfuhr es dem Leiden⸗ ſchaftlichen. „Wer ſein Lebtag ſchachert und im Über⸗ vorteilen des anderen die modernſte und höchſte aller Tugenden ſieht, iſt auf trügen und lügen angewieſen und wird der Sicherheit ſeines Syſtems unbedingt mehr vertrauen als den Waffen, die er zu führen verlernte. 425 „Dieſe Folgerungen ſind richtig,“ antwortete Konrad raſch, „aber nicht das Judentum, ſondern der Kapitalis⸗ mus iſt die Prämiſſe. Rur ein Volk, daß ihn in Fleiſch und Blut aufnahm, kann eines ſo niedrigen Haſſes, der nichts, aber auch gar nichts mit unſerem heiligen Zorn zu tun hat, gegen den Weltkonkurrenten fähig ſein, kann ſich kaltblütig der Waffe der Verleumdung bedienen, um Gerwald riß die Augen auf: „Donnerwetter! - Du biſt am Ende gar ein Sozi?! „Rein!“ lachte Konrad, beluſtigt über das Entſetzen des jungen Soldaten, und fuhr zugleich bewegt von dem befreienden Gefühl, daß ſich ihm jetzt die Gedanken ſo leicht zu feſten Anſichten formten, ernſter fort, „wenn du mich recht verſtanden hätteſt, würdeſt du wiſſen, daß ich es im Sinne der heutigen Sozialdemokratie nicht ſein kann, — die übrigens vielleicht am 4. Auguſt neu geboren wurde, ſo daß man über die noch in den Windeln liegende nicht viel zu ſagen vermag. Auch ſie hat ſich vom Geiſt des Kapitalismus, der zugleich der Geiſt des Materialismus iſt, weil er das Materielle zu Urſache und Zweck erhebt, verſeuchen laſſen, ſonſt hätte ſie nicht ſo verblendet ſein können, das Kuckucksei des Inter⸗ nationalismus, das der Kapitalismus ihr ins Reſt legte, für ihr eigenes zu halten. Segnen wir den Krieg, daß er unſeren kleinen Finger, den wir dem Teufel ſchon gegeben hatten, ihm wieder entriß. Segnen wir Haß und Verleumdung, die uns beweiſen, daß wir noch anderen Geiſtes ſind, daß wir Gut und Blut für nichts achten und die Idee von Staat und Vaterland für alles.“ Die beiden Stubengenoſſen verſtanden ihn offenbar nicht ganz, aber um ſo ſtärker fühlten ſie, daß ſie im Tiefſten ihres Weſens auf einen Ton geſtimmt waren. Und dieſe Harmonie, die aus der gemeinſamen Ent⸗ rüſtung wider den offenbarten fremden, ſeiner ganzen Ratur nach feindlichen Geiſt der Gegner zum deutlichen 426 Ausdruck kam, wurde in allen — den Soldaten, den Bürgern, den Männern und den Frauen — zur Kraft. Und doch war die Angſt noch nicht völlig vertrieben. Im Schatten hockte ſie noch immer und zog mit den langen dürren Armen an ſich, wer nicht ſicher im Hellen ging. Da kam die große Mittagsgöttin, die in alle Winkel leuchtete: Die Wahrheit. Ihr Kleid, die Sprache, das eben noch ein buntes phantaſtiſches Gewand geweſen war, in das ſie ſich oft faſt verſteckte, floß in weißen ſtrengen Falten an ihr herab. Riemand hätte ſie mehr zu verkennen, niemand an ihr zu zweifeln vermocht. In den kurzen markigen Worten des Generalquartier⸗ meiſters ſtand jedes Ereignis wie gemeißelt da. Furchtbar konnte es ſein; grauenhaft war es nicht mehr. Ringsum an den Grenzen flammten die Städte und Dörfer gen Himmel, daß der Horizont in der Racht rot zu glühen begann. Mochten die Augen entſetzt das gräßliche Schauſpiel gewahren, der Wille der vielen ſchmolz in der Lohe zu einem Unteilbaren zuſammen. Auch Konrads junger Kamerad wußte nun, daß Haus und Hof eingeäſchert, daß die Schweſtern entflohen, die Eltern von den Mordbrennern fortgeſchleppt waren — wer weiß wohin. Aber er weinte nicht mehr, er ballte nur die Fäuſte und bekam ſchon jetzt den harten Zug um den Mund, den alle, die ihn erlebten, wie das Brand⸗ mal des Krieges tragen. Weit, immer weiter entfernte ſich ein jeder von der Feſſel einſtiger phyſiſcher und ſeeliſcher Heimat. Die Gegenwart verſank ihnen allmählich, wie ſchon die Ver⸗ gangenheit verſunken war, und nur eines lebte: die Zukunft. Verzehrend wurde in den Kaſernen unter der jungen Mannſchaft der Durſt nach Taten. Sie ſprachen nicht mehr viel miteinander. Müde vom ſtrengen Dienſt, 427 müder noch von der getäuſchten Erwartung, warfen ſie ſich abends aufs Bett, und erwachten in der Frühe mit Augen voll Hoffnung: Heute —! Immer mehr Reſerven wurden herausgeſchickt, einmal zehn, dann zwanzig, dann dreißig Mann. Sie ſtrahlten, wenn ſie gingen, als wären ſie ſchon heimkehrende Sieger. Und eines Morgens traf es Hans Gerwald, Fritz Ewert und Konrad Hochſeß: „Um vier Uhr marſch⸗ bereit“. Richts weiter. Mit einem ſchmetternden Hurra aus zwei jungen Kehlen machte ſich die überſtrömende Freude Luft. Singend packte Hans ſeinen Torniſter, und von den Kameraden abgewandt, heimlich, daß keiner es ſehen ſollte, — nur Konrad erhaſchte es mit flüchtigem Blick — ſtrich er zärtlich den letzten Brief der Mutter glatt und verwahrte ihn in ſeiner Bruſttaſche, und ſteckte, ein großes Stück Brot opfernd, den gelben ſüß duften⸗ den Kuchen von zu Haus in den Brotbeutel; Fritz da⸗ gegen entledigte ſich mit asketiſcher Härte aller Dinge, die ihm überflüſſig oder gar ſentimental erſchienen. Zu⸗ letzt legten ſie ein paar Bücher obenauf: ein kleines Bändchen Goetheſcher Gedichte der eine, Goethes Fauſt der andere und Rietzſches Zarathuſtra alle beide. „Ihr Barbaren!“ ſagte Konrad lachend. Er beſchwerte ſich nicht; ihm ſchien, als könnten gedruckte Worte ihm auf dieſem Wege nichts mehr geben, was nicht an lebendig gewordenem in ihm war. In der letzten Viertelſtunde ging er noch raſch in den Schloßberg hinauf. In Frieden gebreitet, mit üppigen Feldern glänzte das Land, ein ahnungsloſes Kind. Und die Wellen des Fluſſes, ſeines fröhlichen Spielgefährten, trugen das Sonnenlicht, das ſie tranken, ſtrahlend weiter. Rur der Turm ragte finſter gen Himmel. Wie vor Jahrhunderten ſah er in der Ferne lodernde Flammen, die den zahlloſen, aus dem öſtlichen Horizont, dem ſchmalen Strich zwiſchen Himmel und Erde, ſchwarz her⸗ vorquellenden Horden, die Wege wieſen. 428 Das Regiment marſchierte. Und vom Himmel brannte die Sonne und es war, als ob die weiße Chauſſee von dem langen grauen, von Gewehren ſtacheligen Tier mit den vielen Menſchenfüßen allmählich verſchlungen wurde. An ſtillen blauen Seen ging es vorbei, die zwiſchen nickenden Bäumen tief in den Mulden lagen. Dann ſonderte ſich wohl der oder jener ab, riß die Kleider vom Leibe und tauchte minutenlang den ermatteten Körper in die friſche Flut, um gleich danach wieder in Sprüngen den Zug zu erreichen. Und da und dort ſtanden Bauern⸗ gehöfte am Wege, mit roten Dächern und ſtrotzenden Scheunen. Dann liefen Frauen und Kinder mit ge⸗ füllten Eimern zwiſchen den Reihen hin und her, als müßten ſie gerade dieſen Soldaten mit einem friſchen Trunk dafür danken, daß der Krieg ſie noch nicht be⸗ rührte. Die Mädchen zierten ſich nicht, wenn ihnen einer im Vorübergehen die roten Lippen küßte, und die Kinder jauchzten, wenn ein Bärtiger ſie zärtlich zu ſich emporhob. Sie waren ja keine Fremden mehr, ſie waren alle eine Familie. Das Regiment marſchierte. Ein Hüne war darunter, der zuweilen aus dem Gliede trat, und neugierig muſternd, ſeine Kompagnie an ſich vorüberziehen ließ. War der eine zu weiß im Geſicht oder der andere zu rot, ſo nahm er ihm faſt mit Gewalt den Torniſter vom Rücken und legte ihn über den ſeinen auf den eigenen Buckel. Und der jüngſte Leutnant in einem anderen Bataillon trug mit einem Geſicht, das wie über den beſten Witz der Welt fröhlich lachte, oft über jeder Schulter ein Gewehr. Konrad ſah beſorgt, wie Hans und Fritz, ſeine Rach⸗ barn, in den Knien zuſammenknickten oder in den Armen zu zittern begannen. Aber eine Frage, ein teilnehmen⸗ des Wort ſpannte ihre Kräfte aufs neue. Sie duldeten keine Hilfe. Der Oberſt, um die ungeübteren unter ſeinen Leuten beſonders beſorgt, ritt häufig zurück, immer 429 die gleiche Frage — „will einer ſchlapp werden?" - väterlich wiederholend. Aber das „Rein, Herr Oberſt klang ſtets gleichmäßig kräftig, wenn es auch oft zwiſchen zuſammengebiſſenen Zähnen hervorkam. Konrad wußte: Die da drüben, die Feinde mit den niedrigen Stirnen, und den ſeit Generationen an Laſten gewöhnten, ſtier⸗ nackigen Rücken, waren ſolcher Marſchleiſtungen nicht fähig. Und wir, die Rervenmenſchen?! Wie kam das nur? So war auch hier, dachte er beglückt, die Idee der Materie überlegen, der eiſerne Wille und das klare Bewußtſein von dem, was auf dem Spiele ſtand, ſtärker als die bloße brutale Kraft. „Das Ganze halt!“ tönte das Signal. „Und im Augenblick lagen ſie dicht aneinandergedrängt in den Gräben am Rande des Weges, von tiefem Schlaf über⸗ mannt. Niemand war in das reife Roggenfeld hinüber⸗ geſprungen, wo es ſich im Schatten der Ähren ſicher gut ſchlummern ließ, — niemand, auch die nicht, die es ſonſt ruhig zertrampelt hätten um einiger Kornblumen willen. Sie wußten auf einmal etwas von der Heilig⸗ keit des Lebens, dieſe Krieger, die den Tod in den Läufen ihrer Gewehre trugen. „Marſch!“ — Sie ſchüttelten ſich. Die Torniſter klapperten. Sie ſprangen auf die Füße. „In der Heimat — in der Heimat, da gibt's ein Wiederſehn“, ſangen ſie aus ſchmetternder Kehle. Das Regiment marſchierte. Und nun mündeten von allen Seiten die Straßen wie Rebenflüſſe in die große Chauſſee und brachten immer neue und neue Maſſen. Die Marſchkolonnen verdoppelten ſich: Infanterie auf der einen, Artillerie mit polternden Kanonen auf der anderen Seite; da⸗ zwiſchen ein ſchmaler Raum, auf dem Motorräder vor⸗ überknatterten, Automobile ſich ſchnaufend durchzwängten. Über ein kleines Flüßchen hinweg, das in zahlloſen Windungen, als ſträube es ſich mit aller Gewalt, von dem 430 ſtillen, reizenden Tale Abſchied zu nehmen, die Wieſen durchzog, ſtieg die Chauſſee zu den waldigen Höhen empor. Da ging es plötzlich wie ein Stoß durch die Reihen, denn oben, ihnen entgegenflutend, erſchien ein anderes Heer, in ununterbrochener Kette ſich langſam vorwärtsſchiebend. Feinde? Unmöglich; denn das Kom⸗ mando, auszuweichen, wurde von Zug zu Zug weiter⸗ gegeben. Ein hochbeladener Leiterwagen machte den Anfang. Reben den ſchweißtriefenden Pferden ging ein Bauer mit weißem Stoppelbart und finſter drohendem Antlitz, das nicht rechts noch links ſah. Oben auf den Betten und Kiſten thronte eine alte Frau, nornenhaft. In Strähnen hingen die grauen Haare um die durch⸗ furchten Züge; ihre tiefen Augen ſahen die Begegnenden an und ſahen ſie nicht; um ſie her ein Krabbeln und Schreien von Kindern; hinter ihr am Wagen zwei Fohlen, die unruhig an den Ketten zerrten, und eine Kuh, die mühſelig vorwärts ſtapfte. Allem anderen Fuhrwerk, das folgte, gab dieſes Eine Tempo und Rich⸗ tung an; von ihm ſchien erſtarrte Verzweiflung wie eine lange, ſchwarze Fahne über alles zu wehen, das nach⸗ kam. Da waren kleine Karren, von Mann und Frau ge⸗ zogen, dürftiger Hausrat darauf und blaſſe Kinder. Dann ein Hundegeſpann, darin in Betten gepackt eine Wöch⸗ nerin mit dem wimmernden Säugling an welker Bruſt. Elegante Landauer mit alten Arbeitsgäulen an der Deichſel, von halbwüchſigen Stallburſchen gelenkt, dicht beſetzt mit verhärmten Frauen, verängſtigten Kindern, folgten Schritt vor Schritt in qualvoller Langſamkeit; denn viele, viele, die nicht überrannt werden durften, gingen zu Fuß. Zuweilen ſchritten ſchlanke, blonde Frauen in ſeidenen Kleidern, Mädchen in zarten, ge⸗ ſtickten Mullröcken mitten unter ihnen, und Alte in ſtraßenſtaubigem Anzug, werdende Mütter, die geflickten Schürzen geſpannt über dem geſegneten Leibe, ſaßen in 431 ihren Kutſchen. Faſt alle aber ſchleppten irgendetwas: lauter tote Gewichte, die den Gang ihrer Füße be⸗ ſchwerten, letzte armſelige Erinnerungen an die ver⸗ lorene Habe. Die wenigen Befreiten ſchritten ſtark aus und überholten die anderen; ihre Augen bekamen neuen Glanz; ſie wußten, daß ſie nichts hatten, gar nichts, aber das Leben! Rur — nur! — das Leben! Und viele, die zuerſt mitleidig, dann neidiſch blickten, warfen mit raſchem Entſchluß die Laſten von ſich, — Spiegel und Kaffeemühlen, Köfferchen und Körbe bezeichneten ihren Weg — und wiedergewonnene Kraft ging aus von ihnen. Alle ſchwiegen. Selbſt die Hunde, die mit hängenden Zungen dazwiſchen trotteten, hatten das Bellen verlernt. Keine Klage wurde laut, keine Bitte. Verſtummt war wie auf Kommando das Singen der Soldaten, das Trommeln und Pfeifen und Trompeten der Muſik. Und zwiſchen den Fliehenden und den Marſchierenden flog kaum ein Gruß hin und her. „Marſch — marſch — wider den Feind“, hieß es bei den einen; „vorwärts — auf unſeren Ferſen iſt er“ — bei den anderen. Rur den Kindern warfen die Feldgrauen da und dort ein Päckchen Schokolade zu; ſeinen ſchönen, duftenden, ſchon ein wenig bröckelig gewordenen Kuchen reichte Hans Gerwald mit einem zärtlichen Abſchiedsblick einem blaſſen Bübchen, das mit wunden Füßen auf wacke⸗ ligem Karren ſaß. Fritz Ewerts Züge nahmen indeſſen einen immer ge⸗ ſpannteren Ausdruck an; ſeinen Blicken ſchien nichts zu entgehen. Jeden Wagen durchforſchten ſie, in jedem Antlitz bohrten ſie ſich feſt, als ob ſich doch unter der Kruſte von Schweiß und Staub, hinter der tragiſchen Maske, die der Jammer darüber gezogen hatte, ein altes, bekanntes Geſicht verbergen könnte. Plötzlich durchſchnitt ein langgezogener Klageruf die Stille und übertönte laut das unaufhörliche Rollen der 432 Räder, das Trampeln der Tritte. „U⸗uhh — u⸗uhh —" heulte es aus der Tiefe des Tals. Da ſtanden die Herden, buntfleckig, dicht gedrängt, und ſchrien, von der Qual übervoller Euter gefoltert, den Menſchen nach, die ſie verlaſſen hatten. „Zu Sklaven machtet ihr“ ſchienen ſie zu ſagen, „die freien Tiere der Felder. Was ſind wir nun ohne euch?! Fraß der Raben!“ Und ſie fingen an ſich vorwärts zu bewegen am Rande der Straße den Fliehenden nach, ein drittes Heer, laut brüllend in ſeiner unfaßbaren Rot. Der Abend kam. Die Armee zog ſich wie ein Fächer weit auseinander. Auf einem ſchmalen Landweg unter einem Dach hoher Linden marſchierte das Regiment dem Dorfe zu, das, als wäre es vor der Zeit ſchlafen gegangen, lautlos zwiſchen zwei blauen Seen lag, die es wie freundliche Augen bewachten. Nach dem Marſch des heißen Tages ſehnten ſich die Soldaten nach Stunden der Ruhe. Aber kein Hund ſchlug an, den Bewohnern ihr Kommen kündend, kein neugieriges Kindervolk ſprang ihnen wegweiſend entgegen. Einladend glühten rote Geranien unter dem Giebel mit den geſchnitzten Pferde⸗ köpfen des erſten Bauernhauſes am Wege, aber auf Pochen und Rufen antwortete keiner. Sie traten die Türe ein. Seltſam: wie leer der große Flur gähnte. Da klangen ſaus dem Stall daneben wimmernde Laute: Verblutend lag auf dem Stroh eine edle Stute, von einer Lanze roh durchbohrt, das langſam ſich ver⸗ ſchleiernde Auge mit einem Ausdruck menſchlichen Mutter⸗ wehs auf das hochbeinige Füllen gerichtet, das kläglich nach Rahrung winſelte. Einer zog den Revolver und gob ihnen beiden den Gnadenſchuß. Dann warfen ſie ſich in der Scheune daneben aufs Heu. ¹ ¹Die Türe des nächſten Hauſes ſtand weit offen. Auf dem Tiſch in der Stube lag ein Strickzeug; in der Kammer ſtanden noch volle Milchſatten auf den Wand⸗ brettern. Und doch ſuchte keiner, der eintrat, nach der Braun, Lebensſucher 28 433 Hausfrau. Wie aus einer Gruft ſchlug es jedem ent⸗ gegen, atembeklemmend. Dann kam eines, da wehten wie hilfeflehend die weißen Vorhänge aus zerbrochenen Fenſtern, und zu Haufen geſchichtet, ſinnlos zerſchlagen, zertrampelt, beſchmutzt lag der Hausrat auf den Dielen; im Garten dahinter ſtand ein friſches, roh zuſammen⸗ genageltes Holzkreuz. Danach aber, wo die Häuſer ſich dichter ſcharten, ragten nur noch rauchgeſchwärzte Mauern in die Luft, Haufen verkohlter Holzbalken verſperrten den Weg, ein beizender Geruch angebrannter Kadaver ſchwebte darüber. Aber übermannt von Ermüdung warfen ſich die Soldaten achtlos in die Mauerwinkel. Die kleine Kirche drüben lockte noch; ſie ſtand nicht zwiſchen den Häuſern wie ihresgleichen, ſondern recht wie ein Feier⸗ tag, über den Werktag erhoben, auf einem Hügel. „Dorthin“, ſagte Konrad zu ſeinen beiden Gefährten; die drei hatten immer getreulich zuſammengehalten. Sie kletterten über den Kirchhof, über umgeſtürzte Kreuze, geborſtene Steinplatten, an kreisrunden, tiefen Krater⸗ löchern vorbei — als ob dieſer Krieg ſelbſt den Toten ihren Frieden nicht gönnte — und erkannten erſt dicht vor dem Gotteshauſe ſtehend, daß eine Granate das Dach heruntergeriſſen hatte. In das trümmerbedeckte Schiff lugte düſter der Rachthimmel, und die alten Bäume ringsum ſtreckten anklagend kahle, geſchwärzte Aſte empor zu ihm. Aber die drei Müden ſuchten nicht länger. „Hat die Erſchöpfung mich ſtumpf gemacht,“ dachte Konrad, als er ſich in den Mantel gewickelt auf die Altarſtufen ſtreckte, „ſind dieſe neben mir, die jent ſchon in tiefem Kinderſchlaf liegen, von Ratur ſo hart) daß alle Trümmer von Menſchenglück, die wir ſahen, uns weniger erſchüttern, als eine Shakeſpeare⸗Tragödie auf der Bühne?“ Rein — es war nicht Härte und nichht Erſchöpfung, es war eine neue Abſchätzung der Werte, die ſich aller bemächtigte. Daß Häuſer und Scheunen, Kühe und Kälber jemals als Inhalt des Glücks hatten 434 erſcheinen können — mußte man darüber heute nicht nachſichtig lächeln, wie reife Menſchen über Kinder⸗ träume? Konrad ſah noch einmal zu ſeinen Kameraden hinüber: ein hoher Ernſt, eine faſt asketiſche Strenge lag auf ihren ſtillen, jungen Geſichtern. So meißelt das Schickſal die Köpfe derer, die beſtimmt ſind, die Zukunft zu bauen. Und der Reid, der ſich ſeiner be⸗ mächtigen wollte, wandelte ſich in andächtige Liebe, in ſtarke Hoffnung. Das Regiment ſchlief, als hätte es nur einen Atem. Gleichmäßig, einlullend klang von der Chauſſee herüber noch immer das Rollen der Flüchtlingswagen. Drei Stunden der Ruhe. Dann Alarm, — ohne Signal — deſſen Flüſtern aufpeitſchender war, als die Trompete. Kein Licht durfte gebrannt werden, kein Streichholz entzündet; ſchattenhaft huſchten die Ge⸗ ſtalten in der Finſternis. Zu eſſen gab's ein wenig Brot und Speck; man mußte ſparſam ſein mit den Rationen; die Feldküchen und die Bagage hatten bei dieſen Eilmärſchen den Anſchluß nicht mehr innezu⸗ halten vermocht. Und nun harte, gedämpfte Kommandoſtimmen: „An⸗ treten — Gewehre in die Hand — das Gewehr über — ohne Tritt — marſch! Viele ſchliefen im Gehen. Gefühl und Gedanke lagen unter einer dunklen Decke. Nur die Beine bewegten ſich wie eine aufgezogene Maſchine. Da ſetzte aus der Ferne ein dumpfes Grollen ein, wie das Knurren gefangener Löwen, die ihren Fraß er⸗ warten. Und die Köpfe hoben ſich, der Schritt wurde elaſtiſch, in die Körper kehrte die Seele zurück. An einem Gutshof irrlichterte es, — abgeblendete La⸗ ternen — Gemurmel — in der Finſternis rieſenhaft er⸗ ſcheinende Planwagen. Von einem Licht flüchtig ge⸗ troffen, glühte ein rotes Kreuz phantaſtiſch auf. Im Walde wurde es lebendig. Verſchlafene Vögel flatterten 28* 435 unruhig über den Äſten. Leiſe drückten ſich Pferdehufe in den Sand des Wegs: Lanzenreiter. Oder Ritter der Vorzeit in grauer Eiſenwehr, die der Alarm aus den Grüften ſchreckte? Aus Erdhügeln ſtreckten ſich die offenen Mäuler ſchwerer Geſchütze, beutegierig. Und darüber ein Rauſchen ſchwerer Flügel, die rieſige Ge⸗ ſtalt eines Urweltvogels. Konrad ſah empor, als müſſe er dieſem beſchwingten Ungeheuer Abbitte leiſten. Die Mutter dieſes Fabel⸗ tiers hatte er allzeit gering geachtet; wie hatte ſie plötz⸗ lich Sinn und Wert bekommen, ſeitdem ſie nicht mehr Selbſtzweck, Sport und Spielzeug war, ſondern im Dienſte ſtand wie ſie alle. Vorüber marſchierte das Regiment. Im Morgengrauen befand es ſich oberhalb einer weiten Talmulde, die ringsum von wellenförmigen Hügel⸗ ketten umrandet war, während ſie in ihrer Tiefe blaue, im Grün hohen Schilfrohrs ſich verlierende Waſſer⸗ flächen barg, und verſtreute Gehöfte, von Bäumen be⸗ ſchützt, und hie und da ein Dörfchen, das in ſeinem beſonderen kleinen Hügelbettchen lag wie ein Kind in der Wiege. Das Knurren der eiſernen Raubtiere von drüben wurde zu einem wütenden Wolfsgeheul. Die Maſſen der Marſchierenden löſten ſich auf. „Kompagniekolonne in der Richtung auf den Sturz⸗ acker halblinks vorgehen!“ — klang es an Konrads Ohr. Endlich! Wer war noch müde, wer hungrig?! Sie ſtürmten vorwärts. Und näher, immer näher pirſchen ſich die ruſſiſchen Granaten. Sie ſauſen über die Köpfe, wie die geſpenſtiſche wilde Jagd: „Hu—i—ch— ſch —ach" Und die Antwort kommt, ein Hexenritt in der Wal⸗ purgisnacht: 436 „Pu—uh— uh Zerriſſen, zerwühlt iſt der Acker ringsum. Über nie⸗ drigem Feuerſtrahl ſteigen da und dort dicke, braune Erdvulkane auf. „Ohne Tritt — marſch — halt — Gewehr ab — hin⸗ legen“ — wie ein Uhrwerk, ruhig, gleichmäßig, wieder⸗ holen ſich die Kommandos. Viertelſtunde um Viertelſtunde vergeht. Da: ein verlaſſener ruſſiſcher Schützengraben, wüſt wie ein zerſtörtes Vorſtadtwarenhaus. Hemden, Hoſen, Ge⸗ wehre, Kochgeſchirre — alles haben ſie im Stiche ge⸗ laſſen in haltloſer Flucht. Und der Donner von drüben rollt wie zwiſchen den Felswänden des Hochgebirges. Und die Blitze entzünden die Gehöfte ringsum, lodernde Fackeln zum furchtbaren Feſte des Kriegsgotts. Dann plötzlich Stille. Nur in den Ohren brauſt und ſauſt es noch, und der Herzſchlag hämmert wild den Takt dazu. Sie fallen um wie die Toten, da wo ſie ſtehen; ein Schlaf von Minuten, der in ſeiner Tiefe wie eine Ewigkeit lang iſt. „S⸗ſ⸗ſ⸗it — bum. S⸗ſ⸗ſeit — bum —“ und am Himmel kringeln ſich zarte Lämmerwölkchen. Das iſt Schrapnellfeuer in der Flanke. Hinter der Schützenlinie raſen zwei herrenloſe Gäule mit offenen Leibern, aus denen die Eingeweide quellen — ſie fallen — acht Beine recken ſich zuckend empor. „Plä⸗rr⸗rr“ — das ſind die Gewehre des Regiments — wie ein Wagen auf holprigem Pflaſter. „Ting“ — von drüben, wie ein Klirren am Drahtzaun. Im eiligen Vormarſch iſt offenbar ein ſeitlicher Graben überſehen worden. „Sprung auf — marſch — marſch! —“ ſie fliegen in Sprüngen über das ebene Feld. „O⸗o⸗h!“ ſchreit einer neben Konrad. Ein Körper 437 rollt ihm vor die Füße. Inſtinktiv bückt er ſich, um ihn aufzurichten. Gebrochene Augen ſtieren ihn groß an. Die Raſe iſt ganz ſpitz und weiß, — die ganze Bruſt eine klaffende Wunde. Weiter! „Ach!“ — wieder einer. Wie ein gefällter Baum ſtürzt er. „Hinlegen!“ Es iſt als ob die Erde ſie ſchützend in ihre Arme nimmt. „Plä⸗rrerr“ knattert es. Diesmal blieb die Antwort aus. Aus dem feindlichen Schützengraben kroch ein großer erdbrauner Mann mühſam hervor. Durch die Kruſte von Staub, die ſein Geſicht bedeckte, ſickerte von der Stirn hinab über das rechte Auge ein Rinnſal roten Blutes. Er ſtützte ſich ſchwer auf den Degen und ließ mit der Linken mühſam ein Stück weißen Linnens flattern. Konrad war der erſte, der ihm entgegentrat. Mit einer einzigen Handbewegung wies er in den Graben hinter ſich. Da ſtanden ſie aneinandergedrängt, an die Schanze gelehnt, mit zerriſſenen Gliedern, durchlöcherten Schädeln, zerſchoſſener Bruſt, die Waffe noch immer von den erſtarrten Fingern umkrampft. „Das Vaterland —“ ſagte der Offizier in ſtockendem Deutſch, Konrads ſtaunendem Blicke folgend. Da ſalu⸗ tierten die preußiſchen Wehrmänner ringsum, ehe ſie ihn und die wenigen Übriggebliebenen abführten. „Das Bataillon hinter das Dorf — vorwärts marſch! Es war keine Zeit, um ſich des Grauſens und der Be⸗ wunderung klar zu werden. Die Kämpfer ſammelten ſich. Viele fehlten. Und nun ſchritten ſie wieder aus; im Takt klappten die Sohlen auf dem harten Boden. Hans Gerwald lachte Konrad an, Fritz Ewert drückte ihm ſtumm die Hand. Sie ge⸗ hörten zur Spitzenkompagnie. „Wir ſind gefeit — alle drei,“ ſagte Hans, „und das Dorf da unten iſt verſchont geblieben, als wäre es für uns beſtimmt. 438 Im gleichen Augenblick praſſelte über ihre Köpfe hin⸗ weg eine deutſche Granate mitten hinein. „Alſo hat die Drachenbrut ſich drinnen feſtgeſetzt“, brummte Fritz. Und ſchweigend ging es weiter. Dicht vor dem Dorfe ſtehen ſie. Waren noch Men⸗ ſchen in den Häuſern?! Eine alte Frau mit einem weinenden Kinde an der Hand läuft ihnen enigegen. Hinter ihr aus der braunen Scheune ſprühen im Augen⸗ blick glühende, funkenſtreuende Garben. „Rehmt das Kind!“ ſchreit ſie heiſer. Die Rächſt⸗ ſtehenden wollen beide zurück hinter ihre Linien zerren. Aber mit übermenſchlicher Anſtrengung reißt ſie ſich los: „Ich ſterbe, wo ich geboren bin“, und in rote Glut taucht ſie unter. Das Kind fliegt von Arm zu Arm — „meine Huppe!“ ſchluchzt es auf. Sie iſt ihm entfallen, ſchon züngelt ein Flämmchen nach ihr. Hans Gerwald ſpringt hinzu und ſchleudert ſie der Kleinen nach, die ſetzt tief in einem Kellerloch ſteckt. „Hans!“ ruft Konrad. Der lacht hell auf: „Wenn die Puppe ihr Lebensglück iſt —“ Dann bricht er zuſammen: „Mein Fuß!“ und ein langer Blick, wie gequälte Tiere ihn haben, die nicht reden können, trifft den Kameraden. Es kracht und praſſelt von allen Seiten. Schon hat ihn Konrad auf den Armen, wie ein kleines Kind. Der aber wehrt ſich mit verſagen⸗ den Kräften: „So laß — mich — doch liegen! Doch Konrad hält ihn umklammert. Ihm iſt auf ein⸗ mal, als rettete er etwas ſehr Koſtbares, Unerſetzliches — ein Stück der Jugend, die aufbauen ſollte, was jetzt in Trümmer fiel. Und wie Chriſtoforos ſtark fühlt er ſich. Sie kommen zu einem Chauſſeewärterhäuschen. Er ſtößt mit dem Fuß die Türe auf. In dem engen Raum dahinter liegen ſie ſchon, die Verwundeten, dicht geſchart, Mann an Mann. Sie wimmern leiſe. Der Sanitäter weiß kaum, wem er zuerſt helfen ſoll. Aber der Eintritt 439 der neuen Gäſte läßt ſie verſtummen. Aller Augen richten ſich auf ſie, eine einzige Frage, die keines Worts bedarf. Und Gerwald hebt den Kopf — er lacht ſchon wieder —: „Wie's ſteht, wollt ihr wiſſen, Kameraden?“ ſagte er mit ganz heller Stimme, „nun gut — wie anders als gut. Bis die Sonne ſinkt, iſt Preußen frei!“ Dann wird er ſehr blaß. „Hm“, macht der Sanitäter, als er ihm den Stiefel aufgeſchnitten hat. Konrad ſieht ihn ängſtlich an. Er ſchüttelt den Kopf: „Ein Dum⸗Dum⸗Geſchoß offenbar. Wird lange dauern —“ ſagt er ganz leiſe. Roch ein Händedruck, den der Verwundete heftig er⸗ widert. „Späteſtens übermorgen bin ich doch wieder heil?“ hört er ihn noch inſtändig flehen. Dann iſt er wieder auf der Straße und jagt dem Dorfe zu. Ein einziger brennender Trümmerhaufen empfängt ihn. „Rach der Feuerlinie entwickeln —“ eine nicht mehr menſchliche Stimme brüllt es aus Rauch und Flammen. Lähmendes Entſetzen — nur einen Atemzug lang, — verſteint alles. Dann: vorwärts — hinein! Jeder Gedanke erliſcht. Jedes Gefühl ſchrumpft zu⸗ ſammen. Beizender Rauch beklemmt den Atem. Er wirbelt empor, verhüllt den Himmel, als wollte er dem freund⸗ lich ſtrahlenden das Gräßliche nicht ſchauen laſſen, um dann, hohnlachend über das eigene Mitleid, aus den Dächern auszubrechen und die ſchwarzen Schwaden tri⸗ umphierend mit gelbem und blauem Licht zu zerreißen. Danach ſtreckt er ſich ſchmal, weiß, langſam, wie die Seelen der Toten, aus berſtenden Fenſtern. Quer über die Straße jagen Tiere mit wahnſinnigem Gekreiſch. Sie entfliehen dem brennenden Stall, ſie prallen jenſeits entſetzt zurück vor zuſammenkrachenden Balken. Sie fallen. Und über verendete Leiber ſpringt die ſtürmende Truppe wider die Menſchenmauer, die ihren Weg verſperrt. 440 Das ganze Orcheſter der Hölle ſpielt dem ſataniſchen Tanze auf: Kugeln, Granaten, Schrapnells — ein Pfeifen und Knattern, Heulen und Sauſen. Die lebendige Mauer zerreißt — fällt auseinander — bricht in ſich zuſammen. Berge von Toten und Sterben⸗ den häufen ſich. Roch ein Bogenſtrich des geigenden Teufels — das letzte Gekreiſch der Getroffenen. Spätnachmittag war es. An einem weißleuchtenden Tag im Auguſt. Da fand Konrad Hochſeß ſich wieder unter einer ein⸗ ſamen Pappel am Weg. Er ſah an ihr empor. Ge⸗ dankenlos. Ihre Spitze war verdorrt. Richtig — alle Pappeln gehen ein — fuhr es ihm durch den Sinn — alle, die zu den Zeiten korſiſcher Weltherrſchaft gepflanzt worden ſind. Er begann langſam zu ſich zu kommen. Warum lag er hier? Er mußte doch — Dort unten am See war ein Menſchengewühl — am See, der grünlichblaue Hexenaugen hatte, — Augen, die verraten, wenn ſie lächeln. Dort kämpfen Kameraden —! Er ſprang auf — und ſank ächzend zuſammen. Was war das nur für eine Fauſt, die ihn feſthielt? Er beſann ſich: mit dem Kolben hatte er um ſich ge⸗ ſchlagen in die breiten, gelben Fratzen, die rechts und links um ihn aufgetaucht waren. Und dann hatte ihm jemand einen Stoß vor die Bruſt gegeben. Jemand? — Wer? Sehr groß war er geweſen — rieſenhaft. Hatte einen Stab in der Hand gehabt — oder einen Speer. Und eine lange, graue Haarſträhne über dem linken Auge — Konrad lächelte matt: Wie dumm die Müdigkeit machte! Und daß ihm juſt jenes vergeſſene Bild einfiel, 441 — der einäugige Germanengott —, das über ſeinem Kinderbettchen gehangen hatte! Seltſam: immer mehr Bilder kommen, lebendig ge⸗ wordene. War jener dort nicht der ruhende Gigant aus der Medizeerkapelle, der alle Erkenntnis beſaß und nicht ſagen konnte, was er wußte? Er hatte ſich erhoben, war entwichen, um vor ihm den verſchloſſenen Mund zu öffnen — faſt hätte er mit ſeinem marmornen Fuß die Waſſerroſe zertreten — Jörun Egils Waſſerroſe mit dem Käfer darin. — Daß der Prophet, der die neue Religion ſuchte, in den See gegangen war, weil — weil der Käfer die Blume fraß! Warum hatte er nicht bis heute gewartet? Jörun Egil — wie töricht biſt du! Siehſt du denn nicht, daß es den Tod nicht gibt? Daß Tod und Leben nichts ſind, wie das Auf und Ab der Wellen? Freilich — wenn du nur den Käfer ſiehſt — nichts als den Käfer! Konrads Kopf ſank zurück. Wie gut, daß die Erde ſich ſo weich wie ein Kiſſen hinter ihm wölbte! Und wie es leuchtete über ihm: gelb, roſa, violett — war es der Himmel Toskanas? Er ſchloß beſeligt die Augen. „Norina“ hauchte ſein blaſſer Mund. Ein Klingen und Singen und Jauchzen war ihm im Ohr — und ein Mit⸗ tönen der Erde wie von tanzenden Füßen. Zu Buſch und Wieſe, zu Wald und Dorf kehrten ſie wieder in Scharen, die vertriebenen guten Götter der Erde, die Genien des Hauſes, die Rymphen der Flur. Run war alles, alles belebt, was tot geweſen war, oder — ſeziert, wie Leichen. Selbſt aus der ſterbenden Pappel über ihm lachte noch eine freundliche Dryade. Ob wohl ſein Junge mit Rix und Elfe ſpielte? Und zur großen Mutter beten lernte? Wie gerne würde er — Krampfhaft riß er die Augen auf. Seine Gedanken waren jetzt klar, ganz klar. „Ich ſterbe“, ſagte er laut, und eine Frömmigkeit, wie er ſie nie empfunden, weitete und erhellte ſeine Seele. 442 Andächtig ſog ſein Auge das Bild ringsum ein: das von Geſchoſſen zerriſſene Feld, das ſeine Wunden trug, um einſt im Frieden von lebendiger Liebe umhegt, nur um ſo vollere Früchte zu tragen. Denn Kanonendonner war der Hochzeitsglockenklang geweſen, unter dem ſich der Menſch wieder der Erde vermählte. Ihm ſchwindelte — als wäre es Mitternacht und der ganze ſternfunkelnde Himmel ſänke auf ihn — Und plötzlich ſtand er in Reih und Glied mitten unter den Kameraden. Verzweifelt verteidigten die Ruſſen den Damm, der dort, wo der See am ſchmalſten war, hin⸗ überführte in ihre letzten Stellungen. Sie ſanken wie Ahren vor dem Schnitter, doch aus jedem Korn wuchs im Augenblick ein neuer Rieſe hervor — ſie führten Kolben mit Eiſenſtacheln und Peitſchen mit Bleikugeln — ſie ſchleuderten Felſen durch die Luft — Gibt es eine Waffe und eine Übermacht, die den be⸗ zwingen könnte, der unſterblich iſt, — weil das Sterb⸗ liche in ihm aufging im Ewigen, der Idee? — Dann war er wieder unter der Pappel. Die gute Dryade wiſchte ihm mit einem kühlen Tüchlein den Schweiß von der Stirn und bedeckte mit weichen Händen ſeine Ohren, damit er den furchtbaren Schrei von unten nicht höre, wo der See gierig die Ruſſen verſchlang, die nicht weichen und ſich nicht ergeben wollten. Und lächelnd huſchte ſie davon. Schade! Sie hatte tiefe, dunkle Augen gehabt, wie — „Hurra — hurra —!“ Das ganze Tal hallte wider — Konrads Antlitz leuchtete. Wie ſchön iſt es doch, zu ſterben am Spätſommer⸗ abend — wenn die Sonne ſinkt — für den, der das Leben fand! 443 Früher erſchien: Lily Braun Die Liebesbriefe der Marquiſe Roman Umſchlag, Einband und Titelblatt von Walter Tiemann Geheftet 5 Mark, in Leinen gebunden 6 Mark 50 Pf. Die Zeit, Wien: Ein Buch, amüſant, ſpannend und zugleich ein hiſtoriſch wertvolles Dokument. In der geiſtigen Provinz des Forſcher⸗ tums iſt Lily Braun eine kundige Führerin. Eine Kennerin und Könnerin. Die Zeitgeſchichte iſt der Kern, dem das Werk entwuchs. Schon iſt der Bogen geſpannt, der mit ſchärfſtem Pfeil das Herz einer morſchen Geſellſchaft durchbohren ſoll. Alle führenden Geiſter, von den Enzyklopädiſten, von Voltaire, Rouſſeau bis zu Caglioſtro herunter, ziehen in dem Roman an uns vorüber. Eine große, glän⸗ zende Revue aller Senſationen, aller Errungenſchaften und Ideen jener Epoche. Selbſt über die geringfügigſten Zeiterſcheinungen er⸗ ſtattet die feinhörige Autorin getreulich Bericht. Sie kennt alle Anek⸗ doten, kennt die funkelnden Witzworte, oft zyniſch freche, die die Pſyche der Zeit wiederſpiegeln. Peſter Lloyd, Budapeſt: Rur höchſte dichteriſche Geſtaltungs⸗ kraft konnte dieſe Briefe formen, die uns hundertfach glauben machen, ſie hätten einmal gelebt, geatmet; in ihnen pocht der wechſelnde Herz⸗ ſchlag der Prinzen und Grafen, Beaumarchais', des Kardinals Drinzen Louis Rohan und der dunkel⸗finſtere Sinn des kleinen buckligen Revolutionärs Lucien Gaillard. Voſſiſche Zeitung, Berlin: Lily Braun hat uns in den „Liebes⸗ briefen der Marquiſe“ ein Werk geſchenkt, das „mit Bedeutung auch gefällig ſei“. D. h. es iſt ſehr gefällig. Aber es iſt auch ſehr be⸗ deutend. Denn außer dem von ſeinem Stoffkreis gebotenen, aus ſeinem Stil natürlich erwachſenden Charme beſitzt es geiſtige Eigen⸗ ſchaften, die es zu einem kulturhiſtoriſchen Werk erſten Ranges ſtempeln. Vielleicht hat die Dichterin Lily Braun doch eine ge⸗ fährliche Rivalin in — der Denkerin Lily Braun? Beiden aber gebührt Dank. 20. Tauſend Verlag von Albert Langen in München Früher erſchien: Lily Braun Memoiren einer Sozialiſtin Erſter Teil: Lehrjahre Geheftet 6 Mark, gebunden in Leinen 7 Mark 50 Pf., in Halbfranz 9 Mark Berliner Tageblatt: In der Offenheit, mit der ſie ſchreibt, kann man das Buch nur mit Rouſſeaus Bekenntniſſen vergleichen, und beſſer als aus vielen anderen Schriften lernt man hier treibende Kräfte unſerer Zeit verſtehen ... Dieſes Seelenleben entfaltet ſich vor uns bis in ſeine letzten Verzweigungen, in ſeine geheimſten Gänge, bis dahin, wohin ſelten einem Männerauge ein Eindringen geſtattet wird. Die Verfaſſerin begibt ſich jedes Urteils, ſie erzählt, erzählt faſt wie der Arzt den Krankenbericht gibt, von dem Erwachen ihrer Sinne und dem Erwachen ihres Herzens, von jeder Zuckung in dieſen Grundelementen weiblicher Jugendexiſtenz. Berliner Zeitung am Mittag: Das Buch beſitzt, abgeſehen von der Perſon der Autorin, einen hohen Wert, der ſowohl auf literariſchem wie auf zeitgeſchichtlichem Gebiete liegt. Die Sprache iſt von klaſſiſcher Einfachheit und Würde, die Ereigniſſe werden mit jener gleichmäßigen Ruhe abgewandelt, die an die beſten Darſtellungen in Goethes Dichtung und Wahrheit erinnert. Die Schilderung der oſtpreußiſchen Junkertypen, die Erinnerung an die Eindrücke von 1870/71 und dann an das Attentatsjahr, die Erzählung der Erleb⸗ niſſe aus dem großen Bergarbeiterausſtand und nicht zuletzt das zarte Bild einer Jugendliebe mit einem ſüddeutſchen Prinzen, das ſind kleine, feinſte Stahlſtiche einer ſeltenen ſchriftſtelleriſchen Be⸗ gabung . .. Das beſte aber, was ich hier nicht wiedergeben kann, iſt der helle Schein der Begeiſterung, der über dieſem Frauenleben ſtrahlt. Darum iſt es gut zu leſen für jung und alt; für die Alten, damit ſie etwas Reue empfinden, weil ſie lau im Geiſte waren, für die Jungen, damit das Vorbild dieſer ſtarken Perſönlichkeit ſie vor der Reue im Alter bewahre. 29. Tauſend Verlag von Albert Langen in München Früher erſchien: Lily Braun Memoiren einer Sozialiſtin Zweiter Teil: Kampfjahre Geheftet 6 Mark, gebunden in Leinen 7 Mark 50 Pf., in Halbfranz 9 Mark 20. Tauſend Reues Wiener Tagblatt: Das Buch der Lily Braun, daß ſie uns jetzt gegeben, iſt ebenſo groß und ebenſo intereſſant wie der Menſch, der es geſchrieben. Ein Meiſterwerk der Darſtellungskunſt und der Seelenanalyſe iſt es. Der Seelenanalyſe, weil es die Falten eines Frauenherzens öffnet, das alle Größe und alles Leid unſrer Zeit in ſich aufgenommen hat. Der Seelenanalyſe, weil uns eine wiſſende Frau, unbekümmert um kleinliche Kritik, weibliches Emp⸗ finden rückſichtslos darlegt und verſtehen lehrt. Ein Meiſterwerk der Darſtellungskunſt, weil es uns die Situationen in einer ſolchen Weiſe vor die Augen führt, daß wir den Eindruck haben, als hätten wir das alles ſelbſt erlebt, was wir bloß laſen. Eine Schilderung Bebels auf dem Darteitag zu Hannover, eine Schilderung der Wahl in Frankfurt an der Oder, bei der der Gatte der Verfaſſerin in den Reichstag gewählt wurde, ſind von ſolcher Plaſtik, daß es zu den wunderbarſten Darſtellungen deutſcher Proſa zu zählen ſein wird. Die Aktion: Es iſt den bedeutendſten Werken der Memoiren⸗ Literatur an die Seite zu ſtellen. Es iſt ein würdiges Gegenſtück zu Krapotkins koloſſalem Zeitgemälde „Memoiren eines Revolutio⸗ närs“. Es iſt — ein beſſeres Lob weiß ich nicht — ein ehrliches Werk von bleibendem kulturgeſchichtlichen Wert. Die Chriſtliche Welt, Marburg i. H.: Mögen noch ſo viele menſchliche, allzu menſchliche Reben⸗ und Untertöne mitklingen, der Grundton ihres Lebens iſt doch rückſichtsloſe Liebe zur Wahrheit und Treue gegen die erkämpfte Überzeugung. Und darum empfehlen wir dieſe tapferen Bücher. Verlag von Albert Langen in München Druck von Heſſe & Becker in Leipzig Papier von Carl Scheufelen, Oberlenningen⸗Teck Einbände von E. A. Enders in Leipzig SOZIALVERSICHERUNG ANSTALT DES ÖFFENTLICHEN RECHTS LANDESGESCHÄFTSSTELLE SACHSEN-ANHALT KURHEIM ERNST THÄLMANN BAD KÖSEN; R.-BREITSCHEID-Str. 2 .RUF 248