Qn1518/56 6 Gaf. Jenny von Pappenheim 1908.1894 Im Schatten der Titanen Ein Erinnerungsbuch an Baronin Jenny v. Guſtedt Von Lily Braun Verlag von George Weſtermann in Braunſchweig 1408 Mit vier Porträts und zwei :Fakſimile-Reproduktionen: Alle Rechte vorbehalten. Published May 10, 1908. Privilege of Copyright in the United States reserved under the Act approved George Westermann, Verlag. March 3, 1905 by Braunschweig Ex Biblioth.Regia Berolinenſi. Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Aus Bonapartes Stamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Jerome Napoleon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Diana von Pappenheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Briefe von Jerome Napoleon und Gräfin Pauline Schönfeld an Jenny von Pappenheim. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Unter Goethes Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Jennys Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Freundſchaft und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Der Leidensweg der Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Im ſtillen Winkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Im Strom der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Ausleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Wieder daheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Dem Ende entgegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . :. . . . . . . . . 365 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Einleitung Vor ſiebzehn Jahren ſtarb Jenny von Guſtedt, deren Leben dieſe Blätter ſchildern ſollen. Sie war die letzte Zeugin einer großen Zeit, ihre Geſtalt war geweiht und verklärt durch Goethes Freundſchaft. Unker dem Titel „Aus Goethes Freundeskreiſe“ gab ich ein Jahr nach ihrem Tode ihre Erinnerungen und hinterlaſſenen Papiere heraus. Sie ſind auch diesmal die Grundlage des vor⸗ liegenden Buches. Aber es iſt nichk dasſelbe wie damals. Es iſt äußerlich und innerlich ein anderes geworden. Das gilk nicht nur in bezug auf die Anordnung des Skoffes, ſondern auch in bezug auf den Inhalk, der ſich um vieles bereicherk und manchen, für die öffentlichkeik uninkereſſanken Ballaſt verloren hak. Auch die Geſtalk, die im Mittelpunkk des Buches ſtehk, Jenny von Guſtedt, meine geliebte Großmukker, erſcheink veränderk. Ihr Bild, das die junge Enkelin noch nichk zu erkennen vermochte, weil ſie jenes Sehen noch nicht gelernk hatke, das ſich nur auf den vielverſchlungenen Pfaden eigenen Lebens lernen läßt, deſſen Wiedergabe daher miß⸗ lingen mußte, weil all die mannigfaltigen Farbenköne ihr fehlten, die nur durch perſönliche Erfahrungen zu gewinnen ſind, krikk jetzt lebendiger hervor. Wie die Menſchheit ſteks erſt nach und nach zu ihren großen Führern heranreifk und ihnen in Geiſt und Herzen Al⸗ täre bauk, lange nachdem ſie ihre Standbilder auf ihren Gräbern in Erz und Marmor errichtek hat, ſo werden die Loten jedes einzelnen Menſchenlebens ihm auch erſt mik der Reihe der Jahre verkraut und wahrhaft lebendig. Wohl war meine Großmutter mir von klein auf Schutzgeiſt und Ceitſtern des Lebens, bei ihr fand ich Verſtändnis für alles, was mich bewegke; fremd war mir die eigene Mutker im Vergleich zu ihr. „Wie mein das Kind iſt, könnk ihr nichk glauben“, ſchrieb ſie, als ich kaum fünf Jahre alk war. Aber erſt jetzt, nachdem ſie lange in der Erde ruht, nachdem ich Weib und Mutker geworden bin, nach⸗ dem die „Krallen des Cebens“, von denen ſie die Rarben krug, ſich Im Schatten der Titanen. 1 1 auch mir ins Fleiſch geſchlagen haben, verſtehe ich ſie ganz. Ich weiß nun aber auch, was ich ihr ſchuldig bin: Wahrheik. Richk nur die Wahrheit, die ich erſt im Laufe der jahre erkannte, ſondern auch die, die ich, unter dem Einfluß konventioneller Familienmoralbegriffe. bei der erſten Ausgabe des Buches zu verhüllen gezwungen war. Von Kindheik an verwob ſich mir das Bild meiner Großmutker mit dem jener Tikanen, die an der Schwelle des neunzehnten fahr⸗ hunderts die Welk beherrſchk hakken: Goethes und Rapoleons. Wenn andere Kinder, der Ahne zu Füßen ſitzend, den alken krauten Märchen lauſchen, die ſie erzählk, ſo ward ich nicht müde, den Lebensmärchen ihrer Jugend zuzuhören. Von Weimars Glanzzeik ſprach ſie mir, von vielen kleinen Dingen und Erlebniſſen, die groß wurden, weil das Licht des Goethenamens ſie umgab, von den Menſchen der Zeit, die wie ein anderes Geſchlechk von da an in meiner Erinnerung lebten, von dem Großen, Herrlichen ſelbſt, deſſen Haus ihr eine Heimat war und Zeik ihres Lebens ihres Geiſtes Heimak geblieben iſt. Als ich älter wurde, war ſie es, die mir Goethes Lebenswerk erſchloß; aus dem alken blauen Band der „Iphigenie“, den er ihr geſchenkt hatte, könten zuerſt ſeine Worte an mein Ohr. Schauer der Ehrfurchk ließen mein Herz erzittern, wie ſie dann der Fünfzehn⸗ jährigen den ſchmalen Goldreif an den Finger ſteckke, der ſteks ihr liebſtes Angebinde aus des Dichters Hand geweſen war. Wenige Jahre ſpäker, während einer langen Geneſungszeik nach ſchwerer Krankheik, wo ein junges Ding, wie ſie ſagte, ſo leicht auf körichke Gedanken kommt, ſandte ſie mir ihre ſchriftlichen Aufzeichnungen, für die ſie bei ihren Kindern ein Intereſſe nicht vorausſetzen konnte. Sie ſchrieb dazu: Cablacken, 22.11. 1884. Mein krautſtes geliebtes Lilichen! Die alten Manuſcripte, die ich Dir ſende, werden Dir vielleicht mehr Laſt als Freude ſein; ſie ſind nach Zeit, Stimmung, Schrift 2 und Abſchrifk ſo kunkerbunk durcheinander, und jede Sache bedarf faſt einer Erklärung, ſo daß ich Dein Verſprechen hinnehme, Dich und Deine Augen, Deine Zeik und Deine Gedanken nicht damik zu quälen, ſondern ſie nur als leichte Beſchäftigung und Anregung zu betrachten. Ich habe, wie Du weißk, viel verbrannk, ſo als Brauk vier Bände Tagebücher und ſpäter viele Kiſten voll, oft recht intereſſanker Briefe, auch die von Scheidler, meinem Hausphiloſophen, wie er ſich nannte. Die Briefe an ihn ließ ich nach ſeinem Tode von ſeiner Tochter ver⸗ brennen, ebenſo bat ich Holtei und manche andere meiner Korreſpon⸗ denten darum; ich bedaure es auch nicht: man lieſt kaum mehr die ſchönſten klaſſiſchen Werke, wie wird man alke, vergilbte, ſchwierige Handſchriften leſen! Was übrig blieb, überlaſſe ich Dir, mein ge⸗ liebtes Enkelkind, ganz und gar, Du darfſt mik alledem thun und laſſen, was Du willſt, ich bin damit, wie mit Allem im Leben, außer mik meiner faſt krankhaften Mukkerliebe und mik meinem immer mehr reifenden Chriſtenthum vollſtändig fertig, bin ſehr unproduckiv, und nur manchmal, wenn die Anregung von außen kommt, ſchreibe ich Erinnerungen nieder, die Du ſpäter auch haben ſollſt. Mein Beſtes an Gedanken und Gefühlen legte und lege ich in Briefen nieder. Die meiſten anderen Hachen haben eine Geſchichte: Entwick⸗ lung, Klärung, unnütze oder guk ausgenutzte Leiden, von Anderen angeregte Ueberſchwänglichkeiten, von innen verarbeitete Irrthümer. Die Aufſätze aus Wilhelmsthal hatken perſönliche Beziehungen und gehören in die Kakegorie getrockneker, gepreßker Blumen mit leiſem Dufk und matker Farbe. Die vier franzöſiſch geſchriebenen Charakker⸗ Hilder waren die Forkſehzung früherer, ebenfalls dem Feuerkode ge⸗ weihker, die unker Goethes Augen enkſtanden waren und ihn in⸗ fereſſierten. Die Ark Rovelle „Gräfin Thara“ iſt mein lehzkes Ge⸗ ſchreibſel; ſie hat mich, mit langen Unterbrechungen, ofk angenehm beſchäftigk und ſollke eigentlich nur eine Ark Einleikung, ein Faden ſein, an den ich Erfahrungen und Anſichten reihen wollke . . . 1* 3 Die Beſchäftigung mit den alten Manuſkripken bildeke ein neues Band zwiſchen uns. Ich bak ofk um Erklärungen, die mir mündlich und ſchriftlich bereitwillig gegeben wurden, ſo daß nach und nach zu den alken Schriften viele neue hinzukamen, auch die Erinnerungen, die ſie auf Anregung des Großherzogs Karl Alexander von Sachſen⸗ Weimar, ihres treuen Freundes, noch in ihrer letzken Lebenszeit niedergeſchrieben hatke. Einſt, als ich wenige fahre vor ihrem Tode wieder einmal in ihrem ſtillen grünen Zimmer bei ihr ſaß, öffnete ſie das wohlbekannte Fach ihres Schreibkiſches, das in ſeiner vorderen Hälfke für mich immer eine Fundgrube wunderbarer Dinge geweſen war: Ringe aus haaren, Broſchen mik geheimnisvoll darin verſchloſſenen Bild⸗ chen, Gemmen und Steine, und andere Merkwürdigkeiken hatken zu meinem Lieblingsſpielzeug gehörk, um das ſich kauſend Träume ſchlangen; an einem Miniaturbilde aber, das die Mikte eines breiten goldenen Armreifens bildeke, war mein Blick ſteks gebannk hängen geblieben: einen Mann in großer Uniform, mit klaſſiſch regelmäßigen Zügen und dunklen, leuchkenden Augen ſtellte es dar. Jerome Rapoleon war es, des großen Kaiſers Bruder, jenes Kaiſers, den Großmutters Erzählungen mir immer als einen Rieſen der Vorzeit hatten erſcheinen laſſen — nichk als jenen bekannten Kleinkinderſchreck aller guten Preußenkinder, ſondern als eine ſchier übermenſchliche Geſtalk, deren Machtgebok eine Welk formke und beherrſchke. Aus der hinkeren Hälfke des Fachs, das alle dieſe Wunderdinge enthielt, zog Großmutker ein ſorgfältig verſchnürkes Pakek hervor und gab es mir. „Bewahre es mit dem übrigen“, ſagke ſie, „damik es, wenn ich ſkerbe, nichk vernichkek wird.“ Es enthielk Briefe des einſtigen Königs von Weſtfalen an ſie, die geliebke Tochter aus ſeinem heim⸗ lichen Liebesbund mik einer ihm immer unvergeßlichen Frau. Wohl hatte ich ſchon lange von Großmamas Herkunfk reden hören, als Kind ſchon hatte man mich meines Ahnherrn wegen verhöhnt, und 4 wenn ich an Elkern und Verwandte ſchüchterne Fragen nach ihm zu richken wagke, ſo wurden ſie rok und ſchalten mich; ich wußke nie recht, ob ich ſkolz ſein oder mich nicht vielmehr ſeiner ſchämen ſollke. Seine Briefe erſt lehrken mich ihn lieben. Als Großmama geſkorben war und ich ihre Erinnerungen der öffenklichkeik übergeben durfke, war es ſelbſtverſtändlich meine Abſichk, ihrer Herkunfk der Wahrheik gemäß zu gedenken. Aber die engere und die weikere Familie, in deren Mitke ich lebte, enkrüſtete ſich nichk wenig über mein Vorhaben; ſie ſah ihre Ehre dadurch bedroht, die Skellung ihrer Mitglieder in Staak und Geſellſchaft gefährdek. Und ich, der Bande des Bluks noch gleichbedeukend erſchienen mik Banden des Geiſtes und Herzens, fürchkete, ſie durch Widerſpruch zu zerreißen, und gehorchke. Daß dieſer Gehorſam der Familie gegen⸗ über durch eine Lüge vor der öffentlichkeik erkaufk wurde, daran dachke niemand. Nur mich quälke ſie, und in der Empfindung, daß eine Zeit kommen werde, in der ich mein Unrecht gutzumachen ver⸗ möchte, bewahrte ich ſorgfältig die Briefe ſeromes und weigerte mich wiederholk, ſie zu vernichten. Indem ich ſie nunmehr der Cebensbeſchreibung meiner Großmutker einfüge, glaube ich ihr gegen⸗ über eine Pflichk zu erfüllen. Und noch mehr vielleichk bin ich ihrem Vaker die Veröffenklichung ſchuldig: nicht nur, daß ſie ſeines Blutes war, zeigt ſich darin, ſondern auch, daß er es werk geweſen iſt, dieſe Tochter zu beſitzen. Sein Name hak in Deutſchland keinen guken Klang: der wider⸗ lichſte Klatſch, deſſen Geifer zur Höhe eines Mapoleon, auch als er ein geſtürzter Rieſe war, nicht heraufreichte, hielk ſich dafür an ſeinen Brüdern und Schweſtern ſchadlos. halb Wüſtling — halb Schwach⸗ kopf — ſo lebk ſerome in der Tradition der Rachkommen jener Deukſchen, die ſich zu ſeinem Hofe drängten, die von ſeiner allzu freigebigen Hand Tikel und Würden, Vermögen und Grundbeſitz dankbar entgegennahmen. Seine Briefe an meine Großmukker haben 5 mich veranlaßk, ihn ſelbſt in ſeinen Memoiren und ſeinem Brief⸗ wechſel, ſeine Familie, ſeine Zeitgenoſſen und die objekkive Geſchichk⸗ ſchreibung zu Rake zu ziehen, um ſeine wahre Erſcheinung dadurch kennen zu lernen. Rur ſehr wenig ſieht ſie der kraditionellen gleich. Das auch vor der öffentlichkeit feſtzuſtellen, das Bild ſeiner Perſönlich⸗ keik zu reinigen von dem Schmutz, mit dem man es beworfen hat, es in ſeiner Güte und Liebenswürdigkeit, wie in ſeiner erſchütternden Tragik auferſtehen zu laſſen — wurde mir zum Herzensbedürfnis. Und da es ſtets einer der ſchönſten Züge meiner Großmukter ge⸗ weſen iſt, der Verleumdung zu ſteuern, wo ſie ihr begegnete, glaube ich um ſo mehr in ihrem Sinne zu handeln, wenn ich in dieſem Buche der Schilderung ihres Vakers Kaum gewähre. Unklar mußte leider das Bild ihrer Mukter bleiben. Wie ſie auf jedem ihrer Porträks eine andere iſt, ſo iſt auch ihr Weſen nicht feſtzuhalken. Die Geliebte ſeromes wurde als ein ſo dunkler Fleck in der Familiengeſchichte betrachtet, daß man verſuchte, ihn ſo ſehr als möglich zu verwiſchen. Ihr letzter Brief an ihre Tochker iſt das einzige perſönliche Zeichen ihres Daſeins, das mir erhalken blieb. Was ſonſt wohl vorhanden ſein mag, ſchläfk wahrſcheinlich unker dem ſtrengen Schutze der Prüderie in Kumpelkammern und Familien⸗ archiven den Schlaf des Todes. Auch die anderen Briefe, die ich dem Buch neu einverleiben konnte, ſind an Umfang geringer, als es unter anderen Umſtänden hätte ſein können. Sehr Bieles mag der Vernichtung anheimgefallen ſein, und die verſchloſſenen Familien⸗ ſchreine und fürſtlichen Hausarchive, wo ſich z. B. die Briefe an die Kaiſerin Auguſta, an die Herzogin von Orleans, an den Großherzog Karl Alexander und an andere finden dürften, öffnen ſich mir nicht mehr. Wo es geſchah — was ich nicht unterlaſſen will, dankbar zu erwähnen —, wie im Goethe⸗Schiller⸗Archiv und im Familien⸗ archiv der Bonapartes, hat ſich nichks gefunden. 6 Für eine Zeik, wie die unſere, die ihrer ſelbſt in all ihrer ver⸗ ſtändigen Rüchternheit überdrüſſig wurde, iſt es charakkeriſtiſch, daß ſie der Vergangenheik nachſpürk, verborgene Schätze wieder ans Lichk befördert, Token neues Leben einflößt und ewig Lebendige, die für ſie lange verſchollen waren, wieder auf ſich wirken läßk. Biele ſehen nichts anderes darin als ein Zeichen der Dekadenz, des Abſterbens, weil es an alte Menſchen erinnert, die mit ſteigenden jahren immer mehr in der Erinnerung leben. Mir ſcheink, daß es vielmehr ein Zeichen neuen, werdenden Lebens iſt, dem freilich, wie immer im Herbſt, ein Abſterben des alken vorangehen muß. Denn Sehnſucht drückt ſich aus darin, und Sehnſucht iſt immer etwas junges, dem Erfüllung folgen muß. Dieſe Sehnſucht aber möchte dieſes Buch nähren. 7 Aus Bonapartes Stamm Jerome Napoleon. Wo alte Linden ihre Kronen breit und ſtolz gen Himmel wölben, 20 ihre weik ausladenden Äſte nach allen Richtungen auseinander⸗ ſtrecken, da hat nicht nur die innere Cebenskrafk ſie zu ſo vollkommener Enkwicklung befähigt, da hak die Rakur ihnen auch den freien Raum gewährt, der ſolches Wachſen ermöglichk. Ihre jüngeren Geſchwiſter und ihre Rachkommen erreichen niemals die Höhe und Stärke der Großen über ihnen: ſie genießen ihres Schutzes, ſie akmen dieſelbe Lufk; der Blükenreichkum, den der Skurm abweht von denen da droben, fällk dufkend auf ihre jungen Häupker, aber mik ihrem vollen Skrahlen⸗ kranz krönk ſie die Sonne nicht — im Dämmer ſtehen ſie, im Schatten der Tikanen. Und das Zeichen ihres Lebens im Schatten verlieren die Epigonen nie . . . . Am 9. Rovember des Jahres 1784, einem rauhen Spätherbſtkage, brachte Lätikia Bonaparte das letzke ihrer zwölf Kinder zur Welk: Ferome. Fünfzehn Jahre früher, als die Hochſommerſonne über Ajaccio brannte und Herz und Geiſt der blühend ſchönen jungen Frau erfüllk war von den Kämpfen um Korſikas Freiheit, die ſie, hoch zu Roß, ihrem Gatten zur Seite, das ſchlummernde Leben in ihrem Schoß, mitgekämpft hatke, war ihr zweiter Sohn geboren worden: Rapoleon. Ihn krieb der ſtrenge Vater und das rauhe Schickſal früh aus dem Schutz des Elkernhauſes; arm und unbekannt mußte er ſich ſchon als Knabe aus eigener Krafk die Skellung ſchaffen. Anders ſerome. Sein Bater ſtarb, als er ein jahr alk war; ſeine Mutker, ſeine Geſchwiſter, allen voran der ernſte Bruder, der, als ſei es ſelbſtverſkändlich, an Stelle des Oberhaupkes krak, umgaben das reizende Kind mik den zierlichen Gliedern und den großen lachenden Augen mit zärtlicher Liebe. Bis zu ſeinem dreizehnten jahre blieb es bei der Aukter, während ſchon der Skern Rapoleons immer leuchtender aufging über der Welk. Als dann das Kollegium von 9 Juilly den jungen Jerome aufnahm, war er nicht ein neuer fremder Schüler wie andere, ſondern der Bruder des großen Rapoleon, deſſen Triumphe jedes franzöſiſche Herz höher ſchlagen machten; Lehrer und Kameraden, ſkolz einen desſelben Blukes unter ſich zu haben, begegneten ihm mit liebevoller Bewunderung.“ Von den Ferien in Paris bei Frau Lätitia in der Rue de Rocher oder in dem kleinen Hauſe in der Kue Chantereine, wo Joſephine ihn mik Zeichen der Güte und Verwöhnung überſchüttete² kehrte er, erfüllk von Schlachtenbildern und Siegeshymnen, in die Schule zurück. Und welche Gefühle des Skolzes und der Begeiſterung, welche Träume von Ruhm und Glanz mußken den Fünfzehnjährigen bewegen, als Rapoleon, von ſeinem ägyptiſchen Märchenzuge heimkehrend, das jubelnde Frankreich durchzog. Dieſer Soldak von 30 Jahren, der Öſterreich unkerworfen, England erſchüttert, Benedig gedemütigt und Italien eroberk hatte, war ſein Bruder! Europa zikterke vor ihm; vor Ferome aber wandelte ſich der ernſte Heros zum zärklichſten der Bäker. Unker der Wohnung des erſten Konſuls wurden dem Knaben ſeine Himmer angewieſen. Er erfreuke ſich hier der vollkommenſten Frei⸗ heik, und ſelbſt alte graue Männer, die Rapoleons Zärklichkeik für den jungen Bruder ſahen, beugten den Racken vor ihm.s Seine Wünſche blieben ſelken unerfüllk; zwiſchen einer Familie, die immer bereik war, ſeine Skreiche zu verzeihen, und einem Hof, deſſen ſtändiges Amüſemenk ſie waren, konnte ſerome ſeinen Phankaſien freien Cauf laſſen.“ Er war ſchön und graziös, voll ſprühenden Temperamenks und lachenden Leichtſinns; alles Schöne enkzückte ihn, und ſein Be⸗ dürfnis, das Glück, ſein Lebenselemenk, überall um ſich zu fühlen, machke ihn verſchwenderiſch, wenn es galk, Freunde zu erfreuen, Unglücklichen beizuſtehen. Ein liebenswürdiges Glückskind — ſo erſchien er auf den erſten Blick. Er wäre es geweſen, wenn nicht jene allzu häufige Begleiterſcheinung der Güte — Schwäche denen gegen⸗ über, die er liebke — und die Familieneigenſchaften der Bonapartes — 10 krotziger Skolz und verzehrender Ehrgeiz — der lichken Helligkeik ſeines Bildes die tiefen Schatken hinzugefügk hätten. Iwei ſeiner Jugend⸗ erlebniſſe ſind bezeichnend für dieſe Seiken ſeines Charakters. Mik fünfzehn Jahren kannke er keinen heißeren Wunſch, als Rapoleon in den ikalieniſchen Feldzug zu begleiten. Seine Freund⸗ ſchafk für ſeinen Spielkameraden Eugen Beauharnais verwandelte ſich in einen nie ganz überwundenen Haß, als der Wunſch dieſem, dem älteren, gewährt, ihm aber abgeſchlagen wurde. Er blieb keilnahm⸗ los und finſter angeſichts der Siegesnachrichken und war der einzige, der den heimkehrenden Sieger zu begrüßen ſich weigerke und, von ihm aufgeſucht, all ſeiner Zärtlichkeik gegenüber eiſig blieb. „Was ſoll ich kun, um Dich zu verſöhnen?“ fragte lächelnd der Held den jungen Trotzkopf. „Den Säbel von Marengo ſchenke mir!“ rief dieſer. Sein Wunſch ward erfüllk, und unzertrennlich blieb er bis zum Tode von der Waffe des Bruders.s Ein fahr ſpäker wurde er Soldak; im gleichen Regimenk diente der Bruder Davouks. Auch deſſen Bruſt ſchwelltke der Skolz, und er begegnete dem Kameraden hochmütiger als dieſer ihm. Einer von uns iſt zuviel in der Welk — dieſer Gedanke beherrſchte ſerome mehr und mehr. Er forderte Davouk zum Duell, einem Duell ohne Zeugen bis zur Abfuhr. Sein Gegner ſchoß ihn in den Unker⸗ leib, wo die Kugel ſich an einem Enochen platk drückte und dort liegen blieb, bis ſie ſechzig Jahre ſpäter bei der Aukopſie der Leiche gefunden wurde.“ Schon damals alſo ſchien jene dunkle Prophezeiung ſich zu bewahrheiten: daß kein Bonaparke von einer Kugel fällt — jene Prophezeiung, die ein Unterpfand des Glücks zu ſein ſchien, und deren Erfüllung ſchließlich das Unglück erſt vollenden half! Inzwiſchen hatte Europa ſich merkwürdig verwandelk: als wäre die Alte Welk nichts als weiche, gefügige Maſſe in der Hand des Bildhauers Rapoleon. Er allein war es aber auch, der die Skelle zuerſt empfand, wo ſie ſeiner Abſichk harten Widerſtand leiſteke. Das britiſche Inſelreich 11 mit ſeiner meerbeherrſchenden Macht war das Geſpenſt, das er drohend vor ſich ſah und nicht zu faſſen vermochte. Darum ſehke er alle Kräfte daran, die franzöſiſche Flotke auszubauen und kriegs⸗ küchtig zu machen, darum ſuchte er für die Marine ſorgfältig die beſten Männer aus. Seine Liebe zu Ferome, ſeine große Meinung von den Fähigkeiten des Bruders konnke er nicht beſſer beweiſen als dadurch, daß er ihn zum künftigen Admiral beſtimmte. Hier, ſo glaubte er, ſollte ſeine kollkühne Tapferkeik und ſeine Abenteuerluſt das rechte Feld finden. „Rur auf dem Meere“, ſo ſchrieb er an Jerome, „iſt heute noch Ruhm zu erwerben. Lerne was Du irgend kannſt, dulde nicht, daß irgend Jemand es Dir zuvor tut, ſuche Dich bei allen Gelegenheiken auszuzeichnen. Denke daran, daß die Marine Dein Beruf ſein ſoll.“? Mik erſkaunlicher Leichkigkeik fand ſich der verwöhnke, ſiebzehnjährige füngling in den anſkrengenden Schiffs⸗ dienſt, den ihm der Kontre⸗Admiral Gauteaume auf Mapoleons ausdrücklichen Befehl auferlegte. Die Flotte, die dieſer im Verein mik Salmgunk zu befehligen hatte, war für Agypten beſtimmk; die Ungeſchicklichkeit der Führer machte die Expedition zu einer völlig zweckloſen. Jerome entgingen die Gründe nichk; ſein Blick dafür wurde durch den Ärger über die Sikuation, die es ihm unmöglich machte, ſich auszuzeichnen, noch geſchärfk. Er kritiſierke ſcharf die beiden Admirale, deren gegenſeitige Eiferſüchteleien ſie am Vorgehen hinderken. „Gibt es etwas jämmerlicheres“, ſchrieb er, „als um lächerlicher Präkenſionen willen eine große Sache zu gefährden? . . . Wie gefährlich, zwei Menſchen zuſammen zu ſpannen, von denen der eine nicht zu befehlen, der andere nicht zu gehorchen verſteht“. Mag ſein, daß dieſe freimütige Kritik ſeiner Vorgeſetzken, die eine Kritik ſeines Bruders in ſich ſchloß, dieſem zu Ohren kam und, ihm ſelbſt vielleichk unbewußt, dazu beikrug, ſerome mik anderen Augen anzuſehen. Die großen Tatmenſchen haben mit den Mondſüchtigen 12 eims gemein: ſie verkragen es auf ihrem gefährlichen Wege nicht, amgerufen, geſtörk oder gar gewarnk zu werden. Unker dem Admiral Billarek⸗oyeuſe hatte ſerome Gelegenheit, ſichh auf Sk. Domingo und Haiti im Kampfe gegen Touſſaink Couver⸗ ture auszuzeichnen. Das gelbe Fieber, das ihn mit äußerſter Heftig⸗ keilk packte, krieb ihn auf kurze Zeik nach Frankreich zurück, von wo aurs er dann im Jahre 1802 zur Vollendung ſeiner ſeemänniſchen Amsbildung nach den Antillen ging. In Martinique war ſein ehemaliger Chef, Villarek joyeuſe, Gouverneur, ein ehrgeiziger Schmeichler, der ſichh die Gunſt des erſten Konſuls am ſicherſten durch die Gunſt ſeimes jungen Bruders zu gewinnen glaubte. Er ernannte jerome, den Achhtzehnjährigen, der kaum ein Jahr des Seedienſtes hinker ſich hatte, zum Kapitän des „Epervier“.“ Als ſelbſtändiger Führer des eigenen Schhiffes ſollke er nach Frankreich zurückfahren. Aber war es aus Leichk⸗ ſinm, den brennender Ehrgeiz ſteigerte, aus Unverſtand oder aus Irrkum? bei der Begegnung mit einem engliſchen Kriegsſchiff nötigte er es, die Segel aufzubraſſen und Iweck und Ziel der Fahrk anzugeben, was einer Herausforderung faſt gleichkam. Das Unglück, das er dadurch heraufbeſchwor, war um ſo größer, als es gerade nur eines Zündſtoffs beddurfke, um die kriegeriſche Skimmung zwiſchen England und Frank⸗ reich zum Ausbruch kommen zu laſſen.““ Raſch genug ſah er ein, was er getan hatke; er meldete dem Gouverneur von Sk. Pierre dem Vorfall, als die Engländer bereiks beſchloſſen hatten, ihm den Weg nach Frankreich abzuſchneiden und den Bruder Rapoleons als willlkommene Geiſel in Gefangenſchafk zu nehmen. Jerome, der vom dieſem Plan Kenntnis erhielt, blieb, wenn er Frankreich vor ſchweren polikiſchen Komplikationen, ſeinen Bruder vor den Folgen ſeimer eigenen Schuld bewahren wollke, nichts anderes übrig, als auff neutralem Schiff unerkannk die heimiſchen Geſtade wiederzuge⸗ wimnen. Er wählke mit einem kleinen Gefolge Getreuer den Weg übeer Amerika, wo er die Gelegenheit zur Überfahrk am leichkeſten 13 zu finden hoffte. Seine Abſichk, auch dork unerkannk zu bleiben, er⸗ füllke ſich nicht. Die Liebedienerei der franzöſiſchen Konſuln, die Suchk der Amerikaner, Europäern von Rang ihre Huldigungen zu erweiſen — vielleichk ein Zeichen, daß das Sklavenbluk in den Adern vieler noch nicht fortgeſchwemmk iſt — zerriſſen ſein Inkogniko ſchon wenige Stunden nach ſeiner Ankunfk. Wie ein Prinz von Geblüt wurde der Bruder Bonaparkes empfangen und umringk. In Waſhingkon und in Balkimore, wo er die äußerſten Anſtrengungen machte, um ſeine Rückkehr nach Frankreich zu beſchleunigen, wurde er in einer Weiſe gefeiert, daß ſeine Anweſenheit den Engländern nicht unbekannk bleiben konnke und ſie ihre Vorſichtsmaßregeln verdoppelken, um ihn nicht enkkommen zu laſſen. Es bedurfte jedoch einer größeren Machk als der Englands, um den jungen Brauſekopf feſtzuhalten: der Augen Eliſabeth Patterſons, die ihm liebeglühend entgegenleuchteken, ihrer roken Lippen, die ſich glückverheißend ihm darboken. Sie ſchlugen ihn in Banden, ließen ihn Vergangenheik und Zukunfk vergeſſen und der ſeligen Gegenwark junger Leidenſchafk leben. Hak der eitle Baker des reizenden Mädchens ihn mik ſchlauer Abſicht gefeſſelt? hak ſie ſelbſt dem Bruder des großen Rapoleon Schlingen der Kokekterie gelegk? Müßige Fragen! Iſt's nichk genug der Erklärung, daß zwei junge ſchöne Menſchen in Liebe zueinander entbrennen? Mit dem Feuer ſeiner 19 Jahre liebke ſerome, mit der Sicherheik des verwöhnten Lieblings der Seinen rechneke er auf deren Zuſtimmung zu ſeiner Ehe mik Eliſabeth. Er hatke ſich verrechnek. Wohl liebte Rapoleon ſeine Brüder und Schweſkern, und dieſen, den jüngſten, vor allen; aber in ihrer Mitte hatte nur ein Wille zu gelken, der ſeine; wohl wollte er ſie glücklich ſehen, aber nur das Glück aus ſeinen Händen galk ihm als ſolches. Die Rachricht, daß jerome eigenmächtig, ohne ſeine Zuſtimmung abzuwarken, die Ehe mit Miß Patkerſon ge⸗ ſchloſſen habe, kraf in dem Augenblick in Paris ein, als Frankreich dem erſten Konſul die kaiſerliche Würde verlieh und ſeine Brüder 14 und Schweſtern zu Prinzen und Prinzeſſinnen erhob. Sie war der bikkere Tropfen in dem Kelch ſeines Ruhms, und da das franzöſiſche Geſetz die Rechtsgültigkeik der ohne Einwilligung der Elkern ge⸗ ſchloſſenen Ehe Minorenner nichk anerkannke und Lätikia, die ſtolze Mukker eines Geſchlechts von Herrſchern, auf der Seite Mapoleons ſtand, erklärte Rapoleon die Ehe für null und nichtig und ſchloß Ferome aus der kaiſerlichen Familie aus. Jeromes Hoffnungen waren damik noch nicht zerſkörk; der hinreißende Liebreiz ſeines Weibes mußte, ſo glaubte er, auch den eiſernen Willen eines Rapoleon brechen. Im März 1805, anderthalb Jahre nach ſeiner Heirak, ſchiffte er ſich mit ihr nach Porkugal ein. Aber der Arm des Kaiſers reichte bis Liſſabon; franzöſiſche Agenken verweigerken der jungen Frau die Landung, nur ſerome erhielk die Erlaubnis, den Weg nach Ikalien einzuſchlagen. Wie anders fand er Europa, als da er es verließ. Die drei Jahre ſeiner Abweſenheik, die ihn eingeſponnen hatken in ſtilles Liebesglück, hatken den Bruder, hatten Frankreich emporgeführt zum Gipfel des Weltruhms. Konnke ſein eigenes Geſchick, ſein Kampf um Anerkennung ſeiner Liebe, jenem Manne, der die Geſchicke der Bölker in ſeinen Händen hielk und um die Kronen Europas kämpfte, anders erſcheinen als wie das Spiel eines Kindes? Im Augenblick, da Rapoleon ſich zu Mailand Ikaliens Krone aufs Haupk ſetzke und zum Gedächtnis der Schlacht von Marengo die Böllerſchüſſe krachten, die Glocken läukeken, die Fahnen wehten und Tauſende und Aber⸗ fauſende dem Kauſch der Feſtesfreude ſich hingaben, betrat erome — er, der den Häbel von Marengo trug! — ein Unbekannter, ein Ausgeſchloſſener, den Boden Ikaliens. In Aleſſandria empfing ihn der Kaiſer. Weik mehr als der Zorn ihn geſchreckk haben würde — er hätte vielleicht nur ſeinen Skolz und ſeinen Eigenſinn geweckt —. mußke ihn die Zärtlichkeit Rapoleons erſchütkern. Alle ſah er wieder, die Brüder, die Freunde, geſchmückt mik dem immergrünen Corbeer 15 des Ruhms, während in ſeinen Händen die welkenden Roſen der Ciebe ſchon entbläkkerken. Er ſtand vor der Wahl — denn un⸗ erbikklich blieb der Kaiſer — auf der einen Seite der Weg empor zu den Höhen der Menſchheik, zu höchſten Siegespreiſen, zur Königs⸗ krone, auf der anderen das Leben im Dämmerſchein ſtillen Familien⸗ glücks, ohne Zweck und Ziel. So ſehr ſich ihm auch das Herz zu⸗ ſammenkrampfke — wie er Eliſabeth liebke, dafür zeugen ſeine Briefe aus jener Zeik — er wählke den Ruhm, nichk die Liebe. Welch ein Jüngling von 21 Jahren hätke anders zu wählen vermocht?!¹ Um die Stimme des Herzens zu überkönen und nachzuholen, was er verſäumk hatke, ſtürzte er ſich mit Feuereifer in die Aufgabe, die ihm geſtellk wurde. Im Sommer des fahres 1806 kommandierte er in der Flokke des Admirals Willaume; den „Vekeran“ und nahm mik ihm von Breſt aus neun engliſche Schiffe, die zwei Kriegsſchiffe eskortierken. Auf der Höhe von Concarneau erreichte ihn die engliſche, ihn ver⸗ folgende Flotke; die Sikuakion war verzweifelk: auf der einen Seite der überlegene Feind, auf der anderen Handbänke und Kiffe. Enk⸗ ſchloſſen, eher zu ſkerben als ſich zu ergeben, ergriff Jerome der Muk der Verzweiflung, und unker den Augen der engliſchen Flokte vollzog ſich jene Tak unwahrſcheinlicher Tollkühnheik, von der ein engliſches ſournal der Zeik folgendes berichteke: „Jerome Rapo⸗ leon hak allen unſeren Maßregeln zu krohzen gewußk und alle An⸗ ſtrengungen unſerer braven Makroſen nutzlos gemacht; daß er den Hafen ſicher und ohne Verluſte erreichte, iſt ein neues Beiſpiel für das unglaubliche Glück, das ſich an die Schrikke der Bonapartes zu hefken ſcheink und alle ihre Operationen begleikek.“12 Run erſk verlieh Rapoleon dem Heimkehrenden den Tikel eines franzöſiſchen Prinzen, und als Anerkennung ſeiner Tapferkeik den Rang eines Konkre-Admirals. Als höhere Auszeichnung noch empfand es Jerome, daß Rapoleon ihm für den bevorſtehenden preußiſchen 16 Jerome Napoleon Feldzug die bayriſche und würkkembergiſche Diviſion anverkrauke und es ihm nun endlich vergönnk war, unker den Augen des bewun⸗ derken kaiſerlichen Bruders zu fechten. Ferome bewährte ſich. Troh ſeiner 24 ahre wußte er ſich den Reſpekk der Truppen und ihrer Führer zu gewinnen, aber mehr noch das Herz der Soldaken durch ſeine Sorge für ihr Wohl.¹³ Am Tage, als die letzte ſchleſiſche Stadk vor ihm kapitulierke, erreichke ihn die Rachrichk vom Tilſiker Waffen⸗ ſkillſkand. Der Friede folgke. Rapoleon hatke Preußen unker⸗ worfen und ſeinem Bruder ein Königreich eroberk. Mik ein paar Federſkrichen warf er die Länder links von der Elbe zu einem Skaak zuſammen und ernannte Ferome zum König von Weſtfalen; mit ein paar gewechſelken Briefen gewann er ihm in Katharina, der Tochker des Souveräns von Würkkemberg, die Königin. Das Herz der alſo durch kaiſerliche Allmachk Vereinigken wurde nichk gefragt, und als das blonde, roſige Prinzeßlein aus alkem Fürſtenſtamm dem dunklen blaſſen Jüngling aus dem Geſchlechk der korſiſchen Uſurpakoren gegenüberkrak, da wußte es noch nicht, wie raſch, wie dauernd der Sieggewohnte es erobern würde. Mik dem ganzen Prunk des kaiſerlichen Hofes, in einer Geſellſchaft, in der Verkreter alter Dynaſtien ſich mik den neugeſchaffenen Ariſko⸗ kraken, Fürſten und Königen von Rapoleons Gnaden vereinigken, wurde am 28. Auguſt 1807 die Hochzeik des jungen Paares gefeierk. Aber die bunten Lichker, die ganz Paris am Abend erleuchten ſollten, verlöſchten in ſkrömendem Wolkenbruch, und die Rakeken, die beſtimmt geweſen waren, praſſelnd gen Himmel zu ſteigen, verſtummten vor dem Grollen des Donners . . . Inzwiſchen war die Organiſation des jungen Königreichs erfolgt, mik dem Code Napoleon die neue Adminiſtrakion im Lande ein⸗ geführk, zum Empfang des Herrſcherpaares alles vorbereitek. Mik einem Brief, der dem Bruder die Prinzipien, nach denen er regieren ſollke, nochmals auseinanderſehzke, enkließ ihn Rapoleon. „Schenke Im Schatten der Titanen. 2 17 denen kein Gehör, die Dir ſagen werden, daß Deine Völker, an Sklaverei gewöhnt, unſerer Geſetze nicht würdig ſind“, ſo heißt es darin, „das iſt nicht wahr. Sie erwarken vielmehr mit Ungeduld, daß ein jeder, den das Talenk dazu befähigk — nicht nur der Adlige —, zu jeder Skellung Zugang finden kann, daß jede Form der Dienſtbarkeik und Abhängig⸗ keik ein für allemal abgeſchaffk werde. Ich baue, was die Sicherung Deiner Monarchie betriffk, weik mehr auf die Folgen dieſer Maß⸗ regeln, als auf die Reſulkake großer Eroberungen. Dein Volk muß ſich einer Freiheik, einer Gleichheik, eines Rechksſchutzes erfreuen, die in Deutſchland nicht ihresgleichen haben. Dieſe Ark, zu regieren, wird zwiſchen Dir und Preußen eine zuverläſſigere Grenzſcheide bilden als die Elbe, als Frankreichs Feſtungen und ſein Schuhz. Welches Volk, das die Segnungen einer liberalen Herrſchafk kennen gelernk hak, wird in die Bande des Abſolukismus zurückkehren wollen? Sei darum ein konſtikukioneller König. Du ſchaffſt Dir damik ein natür⸗ liches Übergewichk über Deine Rachbarn.“14 In den Empfindungen der großen Maſſe des Volkes ſchien ſich Rapoleon nichk zu käuſchen. Mochte der Bruder des Korſen ihm fremd erſcheinen, ſeine Perſon ihm zunächſt gleichgültig, vielleicht ſogar antipathiſch ſein, es begrüßke in ihm den endlichen, heiß er⸗ ſehnken Frieden, geordnete Verhälkniſſe, geſicherke wirkſchafkliche Enk⸗ wicklung.!5 Darum war ſein Empfang ein überraſchend freudiger, den die perſönliche Freundlichkeik des Herrſcherpaares nur noch ſteigern konnke. Die Proklamation des Königs, vor der in jedem Dorf des Landes ſich die Reugierigen ſammelten, verhieß die Sicherſtellung der Konſtiku⸗ kion, die Abſchaffung der Adels- und Kirchenprivilegien, der Leibeigen⸗ ſchafk und aller Perſonaldienſte, die Gleichheik vor dem Geſetz, die Gleich⸗ berechtigung aller Religionsbekennkniſſe, die Aufhebung der Sonder⸗ ſkellung der Juden, die Reuordnung des Gerichksverfahrens. „Lange genug hak Euer Land unter den Vorrechten des Adels und den In⸗ triquen der Fürſten gelilten. Alle Leiden der Kriege mußlek 3h 18 kragen, von den Segnungen des Friedens bliebk Ihr ausgeſchloſſen. Einige Eurer Städte erwarben die unfruchtbare Ehre, daß Verkräge und Trakkake in ihren Mauern geſchloſſen wurden, in denen nichts vergeſſen war, als das Schickſal des Volkes, das ſie bewohnke.“ie War dies nicht ein Widerhall der Brinzipien von 89, unker deren Einfluß das neue Frankreich ſich enkwickelk hatke, und deren Ver⸗ wirklichung in Deutſchland an der Ohnmacht des Volkes und der Macht der Fürſten geſcheiterk war? Sie bedeuteten diesmal mehr, als Fürſkenproklamationen und Verſprechungen ſonſt zu bedeuken hatken. Küſter, der Geſchäfksträger Preußens in Weſtfalen, der dem Berliner Hof regelmäßig Berichk zu erſtatken hatte und neben dem Grafen Reinhard, dem Bevollmächtigten Mapoleons und geiſtvollen Korre⸗ ſpondenken Goethes, der zweifelfreieſte Zeuge war, ſah mik Erſtaunen, wie raſch die neuen Einrichtungen Wurzel zu faſſen vermochken. Weite Kreiſe der Bevölkerung empfanden die Regierung jeromes als einen Forkſchrikk gegenüber den alten Zuſtänden; die Gebildeken, von deren Unhaltbarkeik längſt überzeugt, freuken ſich der neuen freiheitlichen Einrichtungen; Kaufleute und Handwerker ſahen ſich beſonders durch ſie gefördert. „Was mir aber das meiſte Vergnügen macht“, ſchrieb Küſter am 21. Rovember 1808 nach Berlin, „iſt, in der Lage zu ſein, dem Gange einer aufgeklärken und gerechten Verwaltung folgen zu können, welche auf einer glücklichen Konſtikukion ſich aufbauk. Sie entwickelk ſich mehr und mehr durch die ſucceſſive Organiſation aller ihrer Haupkzweige, und es iſt nicht zweifelhaft, daß dieſer neue Staat, deſſen Souverän nur das Guke will, und zwar mit Bedacht und doch mik Entſchloſſenheik — bald zu einem hohen Grad der Vollkommenheik und des öffenklichen Glücks gelangen wird.“¹“ In einem ſpäteren Brief rühmk er die Einfachheik und Schnelligkeik in der Verwalkung, berichtek von dem praktiſchen Werk des durch den König geſchaffenen Jentralbureaus für Armenunkerſtützung in Kaſſel 2* 19 und ſagk von ihm, daß er von den regierenden Brüdern des Königs die meiſte Energie und den meiſten eigenen Willen beſitze.! Gerade das aber, was ihn auszeichneke, war das Unglück ſeromes Ein eigener Wille war jene Eigenſchaft, die Napoleon bei ſeinen Brüdern am wenigſten brauchen konnke, und Energie konnte nur dork am Platze ſein, wo etwas Wichtiges durchzuſetzen, ekwas Werk⸗ volles zu erreichen war. Ferome lag es am Herzen, ſeinem Lande ein guter König zu ſein; ihn verlangke danach, von dem ganzen Skolz ſeines Geſchlechts beſeelk, zu beweiſen, daß er es aus eigener Krafk ſein konnke. Aber ſeine Abſichten ſtießen auf unüberwindliche Widerſtände und wurden durch die Pläne des Kaiſers durchkreuzt. Offiziell hatte ſeine Regierung mik dem Einzug in Kaſſel begonnen, aber der Kampf mik den finanziellen Schwierigkeiken hatke bereiks zwei Monate früher angefangen. Auf dem Papier war ihm freilich eine Zivilliſte von fünf Millionen zugeſicherk worden, in Wirklichkeit aber war der Staatsſchatz durch Kriegsabgaben, durch die Caſten, die die Okkupation durch franzöſiſche Truppen dem Lande auferlegt hakke, vollkommen erſchöpft, und um allein die Koſten für die Ein⸗ richkung des Hofes, die Reiſe nach Weſtfalen und den feierlichen Einzug beſtreiken zu können, mußke Ferome ein Darlehn aufnehmen.“ Die kraurigſten Verhältniſſe fand er vor, als er einzog. Selbſt für ihn perſönlich war die Lage eine äußerſk beſchränkte: er, der gewöhnt war, rückhalklos aus dem vollen zu leben, der von einem Kaiſerhofe kam, wo der Cuxus als etwas Selbſtverſtändliches erſchien, der ſeine Freunde und Untergebenen, noch ehe er ein König war, königlich zu belohnen pflegke, fand im Schloſſe zu Kaſſel nur nokdürftig ein⸗ gerichtete Zimmer und eine gähnende Leere im Säckel des Hof⸗ marſchallamks. Schon 1808 ſchrieb der holländiſche Geſandte an König Louis, den Bruder ſeromes: „Die finanziellen Schwierigkeiten Weſtphalens ſind enorm.“²9 Aber nichk genug der vorgefundener Rok, wurden von Rapoleon immer neue Opfer verlangk. Auf 20 der einen Seite machte er dem König heftige — und nichk un⸗ berechtigke — Vorwürfe über die hohen Gehälter ſeiner Miniſter, auf der anderen ſchrieb er ihm bereits einen Monak nach ſeinem Regierungsantritk: „Ich brauche nokwendig Geld und Truppen. Trotz der Einnahmen aus den eroberten Ländern verſchlingk die Armee mehr als ſie; mein Kriegsbudgek allein bekrägk 400 Millionen. Statk der 20000 Mann, die Du ſtellen mußk, ſtelle 40000 — Du kannſt es.21 Rach einem Vertrage vom April desſelben jahres mußte ſich Jerome verpflichten, die aus den Beſitzungen des früheren Souveräns und den ſäkulariſierken Beſitzungen derſenigen Perſonen, die nicht mehr weſtfäliſche Unkerkanen waren, ſkammenden Einkünfke dem Kaiſer zu überlaſſen. Iwar nahm dieſer zunächſt nur ſieben Millionen davon in Anſpruch, Ierome aber ſollke den Reſk von nicht weniger als 26 Millionen im Verlauf von achtzehn Monaken aufbringen.“² Außerdem hatte Weſtfalen 12500 Mann franzöſiſcher Truppen ſtändig zu beſolden und zu ernähren.² Im Juli bereiks erging eine neue Mahnung Rapoleons an den Bruder: er müſſe, da Öſterreich rüſte, ſeine Truppen in Kriegs⸗ bereikſchafk halken; im Auguſt wurden für den ſpaniſchen Feldzug 500 Pferde und 1000 Mann verlangt; im Sepkember forderke er den geſicherten Unterhalk der franzöſiſchen Truppenkransporke.““ Als Ferome und Katharina der Einladung Rapoleons im Oktober 1808 zur Kaiſerentrevue nach Erfurk folgken, empfing er ſie zwar aufs freundlichſte, aber für die Sorgen des Königs um ſein Land hatte er kein Ohr. Die Rok der Bauern, das Daniederliegen von Handel und Gewerbe kümmerke ihn wenig; was galt ihm, der Staaken zerſtörke und ſchuf, Könige abſetzte und krönte, das Land Weſtfalen? Er, der Rieſe, ſah weik hinweg über die Riederungen, nur die Gipfel grüßend. Wie alle großen Takmenſchen war er, ſich ſelbſt unbewußk, zum Jerſtören vor allem geſchaffen: das Alke zu ſtürzen, dazu gehörke Titanenkrafk; das Neue aufzubauen, iſt die Aufgabe für den emſigen Fleiß der Vielen. 21 Die Lage in Weſtfalen wurde von Jahr zu Jahr verzweifelker. Dem Aufſtand von Dörnberg, eines von Jerome mik Gnadenbeweiſen überſchütteken Offiziers ſeiner Garde, folgken die Kämpfe von Schills Freiſcharen und der verwegene Zug des kapferen Herzogs von Braun⸗ ſchweig-Oels, der zur äußerſten Enkrüſtung Rapoleons ſich durch Jeromes Truppen durchzuſchlagen und die ihn erwartende engliſche Flokte zu erreichen imſtande war. Mochte ſerome, der kaum Vierund⸗ zwanzigjährige, von allen Seiten auf das härkeſte bedrängte König, ſich wirklich taktiſcher Fehler ſchuldig gemacht haben — er hatke ſich ſteks als ein Draufgänger, nichk als überlegener Feldherr bewieſen — ſo war die Strafe, die ihn traf, eine unverhälknismäßig harke. Mapoleon ließ ihn ſeine Oberhoheik auf das empfindlichſte fühlen. Seinen Miniſkern wurde mitgekeilk, daß ſie „ſich in erſter Linie dem Kaiſer gegenüber verankwortlich fühlen müßten“; Graf Reinhard, der Ver⸗ mikkler dieſer Rebenregierung, wurde angehalten, „nach Paris zu melden, was in den weſtfäliſchen Küchen vor ſich gehk“, obwohl Ferome ſich dieſes Syſkem der Spionage enkrüſtet verbeten und ihm erklärt hatte: „Alles, was mein Bruder wiſſen will, kann er von mir ſelbſt erfahren.“25 Und wie der Kaiſer durch brukale Jurückſetzung des Königs Stolz verletzte, ſo verletzten die franzöſiſchen Truppen die Sicherheik des Königreichs. „Seik meiner Thronbeſteigung fahren die franzöſiſchen Offiziere, Soldaten, Reiſende und Kouriere fort, ſich in meinen Skaaten ebenſo feindſelig gegen die Bewohner zu benehmen, als zur Zeik des Krieges gegen ſie. Hie haben es in einem Königreich, das mit Frankreich eng verbunden und ihm vollkommen ergeben iſt, an jeder Rückſichk und an allem ſchuldigen Reſpekk fehlen laſſen“, ſchrieb Ferome an den Marſchall Berthier.²s Seine Bitke um ſtrengere Vor⸗ ſchrifken für das Benehmen der Truppen hakten keinen Erfolg, ſie riefen nur neue, unbegreifliche Rückſichksloſigkeiken hervor. Ohne irgendwelche offizielle oder inoffizielle Mitkeilung — Jerome erfuhr geſprächsweiſe davon — erſchienen auf Rapoleons Befehl zur Feſt⸗ 22 ſetzung der einzelnen Skationen der Demarkationslinie gegen die engliſche Einfuhr franzöſiſche Zollbeamke in Weſtfalen und kraten wie die Herren auf.² Plünderungen und Diebſtähle, die auf ihre Rechnung geſchoben wurden, kamen vor und reizten die Wuk des Volkes aufs äußerſte. Jerome wollke ſich zuerſt mik allen Mikkeln wider⸗ ſetzen. „Ich ignoriere“, ſchrieb er nach Paris, „durch welche Befehle fremde Zollbeamte ſich erlauben, ſich bei mir feſtzuſetzen. Werden ſolche Vorkommniſſe geduldek, ſo gibt es hier weder einen König noch ein Königreich. Es kann doch unmöglich den Inkenkionen des Kaiſers entſprechen, daß ein Souverän in ſeinem eigenen Lande ſolchen Übergriffen ausgeſetzk iſt.“ Zu Reinhard, dem er von ſeiner Abſicht, abzudanken, ſprach, ſagte er: „Ich bin ſo wie ſo nicht auf Roſen gebetkek, und ich kann nichk zugeben, daß durch ſolche, das Sand ruinierende Maßregeln das Volk mir vollends entfremdek wird.“2s Seine Energie ſchien nichk ohne Eindruck zu bleiben. Die Ver⸗ größerung ſeines Reichs durch Hannover bis zur Küſte der Rordſee wurde ihm in Ausſicht geſtellk und damik die Beſeitigung der finan⸗ ziellen Röte geſicherk. Im März 1810, als ſerome und Katharina mik großem Gefolge der Einladung Rapoleons zu ſeiner Hochzeik mit der Öſterreicherin nach Paris gefolgk waren, leuchtete ihm wieder die volle Sonne kaiſerlicher Huld. Rapoleon, auf der Höhe ſeines Glücks, wollke nur Glückliche um ſich ſehen, und der Zauber von Paris, der Glanz der üppigen Feſte ließen Jerome alles Leid ver⸗ geſſen und ſeiner Jugend ſchrankenlos froh werden. Bilder und Be⸗ richte der Zeik ſchildern ihn, wie er in weißem, goldgeſticktem Sammek⸗ koſtüm, die weißen, wallenden von blitzender Brillankagraffe gehalkenen Federn auf dem Sammetbaretk, das fein geſchnitkene dunkle Geſicht mit den großen glänzenden Augen von ſtrahlendem Frohſinn erhellt, alle Herzen im Sturm zu erobern wußke. Er und Pauline, ſeine Schweſter, das waren im Kreiſe dieſer napoleoniſchen Olympier die Götker der Jugend und Schönheit, und die ſeligen Zeiten, da er als 23 Enabe, von allen verwöhnk, unter den Zimmern des großen Bruders wohnke, ſchienen wiedergekehrk zu ſein. Voll neuer Hoffnungen und friſchen Tatendrangs kehrte er nach Kaſſel zurück. Der Plan eines Kanals zwiſchen Elbe und Weſer wurde ausgearbeitek, die Anlage eines Kriegshafens in Kuxhafen be⸗ gonnen, wichtige und koſtſpielige Regulierungen der Elbe⸗ und Weſer⸗ mündungen in Angriff genommen. Da kraf ihn ein neuer Schlag: Rapoleon nahm den werkvollſten Teil der dem Königreich Weſtfalen neu einverleibten hannoverſchen Lande wieder in franzöſiſchen Beſitz und hatke auf die dringenden Vorhaltungen des nach Paris enkſandten Miniſters von Bülow nur die eine Ankwork: „Ich nehme es, weil ich es brauche.“ Zerome berief ſeine Miniſter und diktierte eine Roke, durch die er in ſchärfſter Form als Enkſchädigung für Hannover Lippe, Anhalt, Waldeck, Schwarzburg und die ſächſiſchen Herzogkümer ver⸗ langte. Reinhard gegenüber ſprach er ſich wieder über ſeine Ab⸗ dankung aus, die mehr und mehr ein Gebok der Ehre für ihn ſei. Der kaiſerliche Geſandte berichteke unverzüglich über dieſe Unkerredung nach Paris und fügke hinzu: „Wenn jemals der König mir Gelegenheit gegeben hak, die Geradheik und Sicherheik ſeines Geiſtes zu bewundern und der Vornehmheik ſeiner Geſinnung Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen, ſo war es bei dieſer Gelegenheik.“29 „Ich glaube, hätke ſerome eine Armee von 300000 Mann, er würde mir den Krieg erklären! rief Rapoleon beim Empfang dieſer Rachrichken. Aber ſo groß auch Jeromes Enkrüſtung, ſo tief ſein Stolz auch verletzk war — eine Empfindung behielk zuletzk bei ihm immer die Oberhand: die Bewunderung und Ehrfurchk vor der Größe ſeines Bruders. Mikken im härkeſten Winker nach der Jurücknahme von Hannover zog er ſich, um ſeinen Schmerz in der Stille zu überwinden, auf das Land zurück und ſchrieb von da aus an den Kaiſer: „Enk⸗ ſprichk es Ew. Majeſtäk polikiſchen Abſichken, Weſtfalen mik dem Kaiſerreiche zu vereinigen, ſo habe ich nur den einen Wunſch, davon 24 ſofork in Kenntnis geſetzt zu werden, um nicht in die Lage zu kommen, deren Maßnahmen, trotz des beſten Willens, mich ihnen ſteks anzu⸗ paſſen, fortwährend zu durchkreuzen . . . Ich bin aller Opfer, aller Beweiſe meiner Anhänglichkeik fähig, wenn Ew. Majeſtäk es verlangt. Soll ich aber weiter regieren, ſo kann es nur unter Bedingungen ſein, die mich nichk enkwürdigen.“³¹ Die Ankwork war — Mahnungen zur Kriegsbereikſchafk, zu neuen Aushebungen, zum Unterhalk neuer franzöſiſcher Truppendurchzüge. Mit einer Rückſichksloſigkeit, die alles Vorhergegangene überkraf, führke der Marſchall Davouk, eromes alker Feind, ſeine Armee durch Weſtfalen; in Kaſſel einziehend igno⸗ rierte er den König, im ganzen Reiche hauſten ſeine Soldaten wie in Feindesland. Und Rapoleon ſchien blind und kaub zu ſein für das drohende Schickſal, das ſich langſam vorbereitete, für die zähneknir⸗ ſchende Wut, die die Fauſt noch in der Taſche ballke, aber ſchon heimlich nach offenen Waffen Umſchau hielk. Ferome ſah das Unheil wachſen und als einziger vielleicht, der es damals wagke, dem Imperator mit einer ſelbſtändigen Meinung gegenüberzutreten, ſchrieb er ihm am 5. Dezember 1811 folgenden denkwürdigen Brief.³ „In einer Lage, die mich zum äußerſten Vorpoſken Frankreichs machk, durch Reigung und Pflichk dazu getrieben, alles zu beobachken, was ſich auf Ew. Majeſtäk Inkereſſen beziehen kann, iſt es, denke ich, richtig und nokwendig, Sie mik aller Offenheik über das zu infor⸗ mieren, was in meiner Rähe vor ſich geht. Ich beurteile die Er⸗ eigniſſe vollkommen ruhig; ich ſehe der Gefahr entgegen, ohne ſie zu fürchken; aber ich muß Ew. Majeſtäk die Wahrheik ſagen, und ich hoffe, Sie vertrauen mir genug, um ſich auf meine Ark, die Dinge zu ſehen, verlaſſen zu können. Ich weiß nichk, wie Ihre Generäle und Ihre Agenken Ihnen die jetzige Sikuation in Deukſchland darſtellen; wenn ſie Ihnen von Unker⸗ werfung, von Ruhe und Schwäche ſprechen, ſo werden Sie von ihnen getäuſcht und bekrogen. Die Gärung iſt aufs höchſte geſtiegen; die 25 verwegenſten Hoffnungen werden unkerhalken und mik Begeiſterung groß gezogen; man hälk ſich an das Beiſpiel Spaniens, und wenn der Krieg ausbrechen ſollke, ſo wird das ganze Cand vom Rhein bis zur Oder der Herd einer ausgedehnten und katkräftigen Empörung ſein. Die Haupkurſache dieſer gefährlichen Bewegungen iſt nicht allein der Haß gegen die Franzoſen und der Unwille gegen das Joch der Fremdherrſchafk, ſie liegk noch weik mehr in den unglücklichen Zeiten, in dem gänzlichen Ruin aller Klaſſen, in dem übermäßigen Druck, den die Abgaben, die Kriegskonkributionen, der Untkerhalk der Truppen, die Durchzüge der Soldaten und die unausgeſetzt ſich wiederholenden Beläſtigungen aller Ark ausüben. Es ſind Ausbrüche der Verzweif⸗ lung von den Völkern zu beſorgen, die nichks mehr zu verlieren haben, weil man ihnen alles genommen hat. Es iſt nicht nur in Weſtfalen und in den Frankreich unterſtellken Ländern, daß die Feuersbrunſk ausbrechen wird, ſondern auch in den Cändern aller Souveräne des Kheinbunds. Sie ſelbſt werden die erſten von ihren Unkerkanen Unkerworfenen ſein, wenn ſie nicht mik ihnen gemeinſame Sache machen . . . Ew. Majeſtäk brauchk nichk anzunehmen, daß ich übertreibe, indem ich Ihnen das Unglück des Volkes ſchildere; ich kann Ihnen ſagen, daß in Hannover, in Magdeburg und anderen wichtigen Städken meines Königreiches die Beſitzer ihre Häuſer im Skiche laſſen und vergebens verſuchen, ſie zu den niedrigſten Preiſen los zu werden. Überall drohk das Elend den Familien; der Ariſkokrak, der Bürger und der Bauer, überlaſtek mit Schulden, ſcheinen keine andere Hilfe mehr zu erwarken, als von einem Befreiungsfeldzug, den ſie mit all ihren Wünſchen herbeiſehnen, auf den ſie alle Gedanken richten. Dieſes Bild enkſprichk in all ſeinen Einzelheiten den Tatſachen. Von den Hunderten von Berichken, die mir täglich zu⸗ kommen, widerſpricht ihm keiner. Ich wiederhole es Ew. Majeſtäk: ich wünſche nichts ſo ſehr, als daß Sie angeſichts dieſer Tatſachen die 26 Augen öffnen und mit all der Überlegenheit Ihres Geiſtes urkeilen mögen, um danach die Ihnen richtig erſcheinenden Maßnahmen zu treffen . . ." Selbſt wenn der Inhalk dieſes Briefes von Eindruck geweſen iſt — er kam zu ſpät, der unheilvolle Krieg gegen Rußland, wo Feuer und Froſt ſich vereinigke, um, weil Menſchenkrafk der großen Armee nichts anzuhaben vermochte, zum vernichtenden Feinde zu werden — war ſchon beſchloſſen, und als einzige Antwork brachte der Kurier des Kaiſers die mit eigener Hand in größter Eile hingeworfene Frage nach dem Skande der verfügbaren Streikkräfte Weſtfalens.ss Wenige Monate ſpäker rückte erome an der Spitze ſeiner Truppen in Polen ein. Er war beſtimmk, den rechten Flügel der Armee zu komman⸗ dieren und ſich dem Heere des Prinzen Bagration gegenüberzuſtellen. Rach mühſeligen Märſchen im Regen und im Sumpf gönnte ſerome in Grodno ſeinen Truppen drei Ruhetage. Dem Kaiſer wurde da⸗ von Meldung gemacht. Er ſah eine Eigenmächtigkeik des Bruders darin, die ſeine ſorgfältig erwogenen Pläne durchkreuzte, und befahl dem Marſchall Davouk, ſobald ſeine Armee mit der Jeromes zu⸗ ſammenſtieße, den Oberbefehl über beide zu übernehmen. Davouk nahm die Gelegenheik wahr, in ſchroffſter Form dem Befehl Folge zu leiſten. ſerome reichte ſein Entlaſſungsgeſuch ein und verließ Polen noch am gleichen Tage. Richk das Verlangen nach den Ver⸗ gnügungen Kaſſels — wenig verlockend mögen ſie in dieſer Zeit dumpfer Gewitterſchwüle geweſen ſein! — krieb ihn zu dieſem raſchen Entſchluß: ſein tief verletzter Stolz allein hieß ihn handeln.“⁴ Und ſein Entſchluß war berechtigk; ſtarrköpfig und falſch wurde ſeine Handlungsweiſe erſt, als Rapoleon ihn zu bleiben bat und er dennoch den Weg heimwärks forkſetzte. Im Auguſt kam er in Kaſſel an, zwei Monate ſpäker kehrken die kraurigen Reſte der weſtfäliſchen Armee in die Heimat zurück, durchzogen die jammervollen, von Froſt und Hunger, Krankheik und Verwundungen gezeichneten Geſtalken, die 27 lehken Glieder der großen Armee, plündernd, ſtehlend und bettelnd das erſchöpfte Land. Und ſchon wurden von Paris neue Forderungen lauk: Magdeburg ſollke mit 20000 Mann beſetzk und auf ein Jahr verproviantierk werden, eine neue Armee galk es zu ſchaffen, ohne Aufenthalk Bakaillone und Eskadronen formieren!ss jerome wußte es: das war das Ende, und enkrüſtek wandke er ſich an Reinhard, der ihn zur Eile in der Erfüllung der kaiſerlichen Befehle nötigen wollke. „Wenn Weſkfalen dem Elend erliegen wird“, rief er aus, „und die Einwohner ſich lieber eine Kugel vor den Kopf ſchießen, als daß ſie ihr lehztes Stück Brok opfern, dann wird man Ihnen vorwerfen, daß Sie die wahre Lage verſchwiegen haben. Ihre Pflicht wäre es, die Wahrheik zu ſagen, ſelbſt auf die Gefahr hin, in Un⸗ gnade zu fallen. Rach drei Monaken würde man Ihnen recht geben!“se Sein Appell blieb ohne Erfolg. Und nun rüſteke er ſich mik vollem Bewußkſein zum Ende ſeines Königsdramas, das viele köricht — oder verlogen — genug waren, für eine fröhliche Operetke zu erklären. Zunächſt brachte er die Königin in Sicherheik: er ſandke ſie am 10. März 1813 mik einigen Damen ihres Hofes nach Paris, ſie rückſichksvoll in dem Glauben laſſend, daß es ſich nur um eine kurze Abweſenheik handeln würde. Nachdem ihm dann der Kaiſer ſeine dringende Bitke, ſich in Magdeburg, dem wichtigſten und am meiſten gefährdeken Punkt ſeiner Monarchie, mit ſeinen Truppen einſchließen zu dürfen, rundweg abgeſchlagen hatte,³ wandte er all ſeine Zeik und Krafk auf die Ausbildung der jungen Rekruken, ohne den Forderungen des Kaiſers raſch genug nachkommen zu können. Infankerie, Arkillerie, Huſaren, Küraſſiere — lauter blukjunge Weſtfalen, die, wie ſerome einmal in der Verzweiflung ausrief, ſich oft noch vor dem eigenen Gewehr fürchketen und auf dem Pferde nicht feſt ſaßen — ſollken zur Armee des Prinzen Eugen ſkoßen; Kaſſels Garniſon beſtand ſchließlich nur noch in einem Regimenk unausgebildeter Rekruten. Dabei wurde der Geldmangel immer empfindlicher, die von Frankreich 28 verſprochene finanzielle Unkerſtützung für die Equipierung der neuen Truppen blieb aus, und die Armeelieferanken wollken nur noch gegen ſofortige Bezahlung liefern. ſerome verkaufte die Skaakswagen, den größken Teil ſeines Marſkalls, Silber und Kleinodien, um ſie in Waffen und Uniformen zu wandeln.s Roch einmal bak er den Kaiſer bei einer perſönlichen Begegnung in Dresden um einen Poſten in dem großen Kampf, der bevorſtand. Rapoleon bok ihm, den er ſelbſt zum König gemacht hatte, eine unkergeordnete Skellung als Untergebener eines ſeiner Marſchälle an. ſerome, in der bitkeren Erinnerung an die noch nicht vernarbte Wunde, die ihm in Polen geſchlagen worden war, lehnte ab. Aber mochte auch der Kaiſer ihn an ſeiner verwundbarſten Stelle, ſeinem Stolze, kreffen, ſeine perſönlichen Dienſte geringſchätzen — der napoleo⸗ niſchen Sache, die auch die ſeine war, blieb ſein Denken und Tun geweiht. Mik ruhigem Ernſt, faſt mik Heikerkeik, hinker der ſelbſt ſeine Freunde die Überzeugung des Königs von der Unabänderlichkeit des kommenden Unkergangs nichk zu ahnen vermochten, widmete er ſich weiter der Keorganiſation der Truppen und ſandke ſie immer wieder zur Armee, ſobald ihre Ausbildung es ermöglichte. Richk er, der wiſſen mußke, daß die Entblößung der Hauptſtadk von allen Verteidigungsmitkeln der Preisgabe ſeiner Perſon gleichkam, ſon⸗ dern Reinhard war es ſchließlich, der von der kaiſerlichen Armee die Deckung Kaſſels gegen die Scharen der immer näher anrückenden Koſaken forderke. Umſonſt! Die Angſt der Bewohner wuchs zu⸗ ſehends, nur ſerome blieb ruhig. Im Morgengrauen des 28. Sep⸗ tember waren die Ruſſen vor den Toren. Die in der Rachk und am Abend vorher unter des Königs Augen aufgeführten Barrikaden, von den Königshuſaren verkeidigk, an deren Spitze der 84 jährige General von Schlieffen focht wie ein Rekruk, waren von der ruſſiſchen Arkillerie bald überwunden. Der Miniſterrat krat zuſammen: er überwand ſchließlich den Widerſkand des Königs und vermochte ihn 29 dazu, die Stadt zu verlaſſen, um ſich mit den bereiks angekündigten Hilfs⸗ truppen der kaiſerlichen Armee zu vereinigen. Seine erſte Empfindung hakte ihm den richtigen Weg gezeigt: die Stadk zu verkeidigen bis zum letzten Blukskropfen, zu fallen eher als davonzugehen oder ſich zu ergeben; daß er ihr nicht folgte — wer will ihn darum richten? Die Hoffnung iſt eine ſtarke, lebenerhaltende Kraft, bei einem Mann von 29 Jahren vor allem. Zu bleiben bedeukeke für ihn gewiſſen Tod oder Schlimmeres: ruſſiſche Gefangenſchafk. Und Größere als er haben zur rechten Zeit zu ſterben nichk verſkanden! Am Rachmitkage desſelben Tages kapikulierte Kaſſel vor Czerni⸗ ſcheff. Fünf Tage ſpäker verließen die Ruſſen die Stadk. Und nach zwei weiteren Tagen erſchienen zum Erſkaunen aller die erſten könig⸗ lichen Truppen wieder. ſerome folgte ihnen von Koblenz aus. Aber in jeder Skunde, die ihn Kaſſel näher führte, ſchien ſich der Himmel mehr zu verdüſtern: Bayern hatte ſich vom Kaiſer losgeſagt, Würk⸗ kemberg ſchloß ſich unker der Führung von Jeromes Schwiegervater ſeinen Feinden an, Bremen hatte kapikuliert, in Scharen deſerkierten die Soldaten, um ſich den Gegnern anzuſchließen, und vom Kaiſer ſelbſk keine Rachrichk! Trotz alledem krieb es erome nach Kaſſel zurück — niemand wußte, warum. Am Abend des 16. Okkober kraf er ein; zwei Tage darauf folgke dem Kaiſerkraum der Bonaparkes das furchtbare Erwachen der Leipziger Schlachk. Bis zum Abend des 24. Okkober drangen nur dunkle Gerüchte von dem, was geſchehen war, in die Stadk, bis ſich die Maſſe der Alliierken langſam heran⸗ wälzke. Wo iſt der Kaiſer? Dieſe eine Frage peinigke erome un⸗ ausgeſetzt. Hilfe dem Kaiſer! Dieſer Gedanke beherrſchke ihn ſchließ⸗ lich allein. Alle, die die Treue noch hielken — es waren angeſichts der wachſenden Deſertion wenig genug —, ihm zuführen: dieſer Wunſch wurde zum Entſchluß. Mik einer kleinen, von allen Seiten zuſammengezogenen Armee von 5000 bis 6000 Mann erreichte er Köln, ein anderer Truppenteil von demſelben Umfang befand ſich 30 in Weſel. Run, da er, ein König ohne Land und Krone, dem beſiegten Kaiſer gegenüberſkand, hoffte er endlich als einfacher fran⸗ zöſiſcher General ſeine unter ſo ſchweren Opfern geſchaffene und zu⸗ ſammengehaltene Armee in den Enkſcheidungskampf führen zu dürfen. Über ſeinen Kopf hinweg wurde dem Herzog von Tarenk der Ober⸗ befehl übergeben. So war er verurkeilk, er, der treueſte der Brüder, abſeiks zu ſtehen, als die letzken Kämpfe geſchlagen wurden. Rapoleons Abdankung und der Einzug der Bourbonen machken auch Jerome zum Heimakloſen, Landesflüchtigen. Rachdem ſein Schwieger⸗ vaker, der König von Rapoleons Gnaden, ihn in Würtkemberg, wo Ka⸗ tharina im Hauſe der Eltern Zufluchk glaubte finden zu können, zum Gefangenen gemachk, ihn unausgeſetzt auf das ehrenrührigſte behandelk hatke und ſeine kapfere, kreue Frau mik allen Mitkeln der Überredung und der Drohung hatke bewegen wollen,³s ſich von ihm zu krennen, wurde ihm ſchließlich mit Weib und Kind, das ihm Katharina in der Zeik der tiefſten Erniedrigung geboren hatte, von jenem politiſchen Rechenkünſtler Mekkernich, der in dem letzten Trauerſpiel der Rapo⸗ leoniden die Stelle des Mephiſto ſpielen ſollke, Trieſt als Aufenthalks⸗ ork angewieſen. Er wurde bewachk wie ein Gefangener; krohdem erreichte ihn die Rachrichk von Rapoleons Flucht aus Elba, ſeinem Triumphzug durch Frankreich, und es gelang ihm, aller Bewachung und aller Gefahr zum Trohz, nach Frankreich zu entkommen, der erſte und der einzige der Brüder des Kaiſers, die ſich zu ſeiner Fahne mel⸗ deken. Mik dem Kommando einer Diviſion belohnte ihn Rapoleon, die bei Belle⸗Alliance den äußerſten linken Flügel der Armee bildete, und aus deren Reihen die erſten Schüſſe fielen, das Signal zur furchtbaren Schlachk. Gegen den Wald und das Schloß von Hougoumonk ſtürzke ſerome kollkühn mik den Seinen, und überall, wo das Gewühl am dichteſten war, wehte ſein weißer Mankel.40 Als es zu Ende ging, blieb er in nächſter Rähe Mapoleons. „Zu ſpäk, mein Bruder, hab' ich dich erkannt“, ſoll der Kaiſer im Augenblick, da ſein Skern auf immer 31 verlöſchke, zu ihm geſagk haben.“41 Die Sage meldek, daß ſie beide der erlöſenden Kugel warkeken. Wer aber zu ſo ſchwindelnder Höhe ſtieg, muß bis zum tiefſten Abgrund nieder ſteigen: zu Tauſenden fielen die alken Krieger um ſie her, ihnen aber war beſtimmt, Schlim⸗ meres zu erkragen als den Tod: die Verlaſſenheik. jeromes Leben war von da an, wie das aller Bonaparkes, ein unſketes Wanderleben, unter ſtändigen, quälenden Sorgen. Wo er hin⸗ kam, war er ein Gefangener, von den Kreakuren Mekternichs bewacht, der ihn in einem Berichk an die deukſchen Souveräne für „einen der gefährlichſten und unruhigſten Köpfe der Bonaparkiſchen Familie“ er⸗ klärte, und auf deſſen Veranlaſſung die Mächte den Verkrag von Fonkaine⸗ bleau, durch den die Bourbonen verpflichkek worden waren, den Mit⸗ gliedern der Familie Bonaparke beſtimmte Kevenuen zukommen zu⸗ laſſen, umſtießen, weil es zu gefährlich ſei, „den verwegenſten der kaiſerlichen Brüder, Jerome, mit Geldmikkeln zu verſehen.“ Erſt als der einſame gefeſſelte Adler auf fernem Felſen die große Seele ausgehauchk hatte, als ſein junger Sohn der langſamen öſterreichiſchen Seelenvergiftung erlegen war und die Überreſte des Welkeroberers in der Erde des Landes ruhten, das ſein Geiſt und ſein Schwerk zwei jahrzehnte lang zum ruhmreichſten der Erde gemacht hatke — erſt dann war es dem alternden Ferome, dem letzten der großen Rapoleoniden vergönnt, in Frankreich auszuleben. Zum Gouverneur der Invaliden ernannt, hütete er den koken Bruder, wie er dem lebenden gedienk hatte, und ſtarb, ein Greis, im Schatken des Tika⸗ nen, unker dem ſein Leben verfloſſen war. Iſk das das Bild des „Königs Luſtik“, das uns von allen Moral⸗ predigern und guten Pakrioken von klein auf als abſchreckendes Bei⸗ ſpiel verderblicher Sündhaftigkeik vor Augen geführk wurde? Haben in dieſem Leben, vor allem in den ſechs Jahren des weſtfäliſchen Königkums, von denen ein Jahr immer reicher war an Kämpfen nach innen und außen als das andere, alle jene ſchwülen Geſchichten 32 Platz, die die lange Regierungszeik eines Ludwig XV. kaum ausfüllen könnten? Es ſcheink, daß der Bruder des Mannes, den der Ruhm zu den Größten der Erde erhob, ein Opfer der hiſtoriſchen Legende werden mußte, weil Haß und Reid nichk emporreichte bis zu Ra⸗ poleon ſelbſt; die Ehre, den Ramen dieſes Halbgottes zu kragen, mußte er mit Verfolgung und Verbannung bezahlen. Jerome war ein lebensfroher Menſch, mit einem empfänglichen, leichk zu enkflammenden Herzen; der antike Schönheikskultus von Florenz, der Stadk ſeiner Ahnen, ſchien vor allem in ihm wieder lebendig geworden zu ſein. In ſeiner Freigebigkeik kannte er keine Grenzen, und Freude zu bereiken, war für ihn die größke Freude. Seine erſte ſugend, ſeine ganze Erziehung, in der die Frage nach dem makeriellen Werk der Dinge nie eine Rolle ſpielke, unkerſtützten die Enkwicklung dieſer Seiten ſeines Weſens. Er war ein grand- seigneur — es gibk keine deutſche Bezeichnung dafür. Mik dem Maßſtab des Kleinbürgers gemeſſen, war er ein Verſchwender. Daß er es in einem anderen Sinne nicht ſein konnte, dafür zeugt die finanzielle Lage ſeines Königreichs, der ſtändige Kampf mik den durch die Forderungen der Rapoleoniſchen Politik enkſtehenden großen pekuniären Schwierigkeiken. Gewiß: ſein Hof, der eines jungen ſtrahlenden Fürſten, war ein glänzender, die leeren Räume der Schlöſſer von Raſſel und Rapoleonshöhe füllken ſich bald nach ſeinem Einzug mik den ſchönſten Erzeugniſſen der feinen Kunſt des Empire; er und die Königin — deren katſächlich vorhandene Reigung zur Verſchwendung zwar von Reinhard wiederholk gekadelk und noch im Exil von Jerome ſelbſt im Zügel gehalken werden mußte, aber von den Sikten⸗ richtern Jeromes, die den Franzoſen, den „Erbfeind“ kreffen wollken und die deutſche Prinzeſſin daher ſchonten, ſorgfältig verſchwiegen wurdets — hattken immer eine offene Hand für ihre Freunde. Gewiß: Ferome erwies ſich ofk als allzu gutmütig, indem er Unwürdige mit Geſchenken überſchüttete; noch für die Kinder ſeiner Freunde oder Im Schakken der Tikanen. 3 33 ſeiner im Kriege gefallenen Offiziere ſorgke er in einer Weiſe, die ſeine Kräfte überſtieg, und den Wünſchen derer, die er liebte, konnte er niemals widerſtehen. Aber der finanzielle Ruin Weſtfalens war zum geringſten Teil ſeine Schuld: er war ſchon vorhanden, als er die Regierung übernahm, und mußke durch die furchtbaren Er⸗ forderniſſe der Rapoleoniſchen Kriegszüge nokwendig zum äußerſten führen. Was aber die Berichke über ſeromes wahnſinnige Ver⸗ ſchwendungen noch ſicherer in das Bereich der Märchen verweiſt, iſt die Tatſache, daß ſerome, der beſchuldigk worden iſt, ein großes Ver⸗ mögen aus Weſtfalen mitgenommen zu haben, ſchon auf dem Wege von Kaſſel nach Köln gezwungen war, ſeine letzken Pferde, ein herr⸗ liches Geſpann von 6 Schimmeln, für neunzehnhunderk Frank zu verkaufen, und daß er ſchließlich nur ein bares Vermögen von 80000 Frank beſaß. Er und die Königin waren genötigk, alles, was ſie an Wertſachen ihr Eigenkum nannken — Brillanken, Perlen, Silber, Kunſtgegenſtände —, zu verkaufen, um überhaupk exiſtieren zu können.“ Aber wenn er ſchon kein verbrecheriſcher Verſchwender war, ſo iſt er doch ein Wüſtling geweſen, ſagen die Tugendhaften, die zwar das „Austoben“ ihrer eigenen Jugend für ſelbſtverſtändlich halken, aber an den korſiſchen König von 23 Jahren den ſtrengſten Maßſtab der Moral anlegen zu müſſen glauben. Seine Zeitgenoſſen erzählen von ihm, wie ſchön und verwegen, von welch beſtrickender Liebenswürdigkeik er geweſen iſt. Roch als Greis wußke er die Menſchen zu faſzinieren. Küſter rühmke von Kaſſel aus ſeine große Güte für hoch und niedrig, und ſein ſtrahlendes, alle mik ſich forkreißendes Temperamenk; 45 Reinhard, der ihm krikiſch genug gegenüberſtand, ſchrieb: „Richks iſt der Leichtigkeit und Würde zu vergleichen, mik der der König repräſenkierk; nichts er⸗ ſcheink angelernt, nichts ſtudierk. Man ſieht, daß ihn die Krone nicht drückt, die er krägt, weil er ſich würdig fühlt, ſie zu kragen.“² 34 Und dieſe Krone fiel ihm in den Schoß, da er kaum 23 Jahre alk war! Zu gleicher Zeik aber feſſelken ihn polikiſche Rückſichten an ein Weib, das ſein Herz nicht begehrk hatke, das er erſt nach und nach zu lieben lernke. In Kaſſel ſkrömte ein bunkes Gemiſch von Abenkeurern und alken Ariſtokraken ſeinem Hofe zu. Viele, die ſich ſpäter als Freiheikskämpfer ihrer Vaterlandsliebe nicht lauk genug rühmen konnten, umſchmeichelken ihn und empfingen dankbar Geld und Orden und Würden aus ſeinen händen. Die Frauen vor allem, ehrgeizige und leichtſinnige, ſolche, die den König beherrſchen, und ſolche, die von dem ſchönen Manne geliebk ſein wollten, drängken ſich in ſeine Rähe. Und er war kein prinzipienfeſter Tugendbold — korſiſches Bluk iſt wild und heiß — zwölf Kinder hatke ſeine Mutker gehabk! — er liebte die ſchönen Frauen um ihrer ſelbſt und um des ſeligen Rauſches der Liebe willen. Es bedurfke keiner Verführungskünſte, um ſie zu beſitzen; wie der Prinz im Märchen vom Roſengarken war er: die Roſen ſchmiegken ſich ihm von ſelbſt zu Füßen; er brauchte ſie nichk zu brechen. Die Gräfin Truchſeß⸗Waldburg, geborene Prinzeſſin von Hohenzollern, kam mit der Abſicht, ihn zu gewinnen, an den Hof, die Gräfin Bocholtz war ihre Rivalin in dieſem Kampf.“ Reinhard, der in ſeinen Berichten nach Paris jedes Dekail eines Masken⸗ balles ſorgfältig regiſtrierte, allen Hofklatſch der Schilderung für werk befand, weiß wohl von denen zu erzählen, die das Herz des Königs enkflammken, aber von den wüſten Orgien, die jene übel dufkende, gleich nach dem Sturz des Königs anonym erſchienene „Geheime Geſchichte des ehemaligen weſtfäliſchen Hofes zu Kaſſelss behaglich und weitſchweifig darſtellt, weiß er nichks. Auch der kleine Page von Lehſten, deſſen Erinnerungen Otko von Boltenſtern kürzlich veröffenklichte, weiß nichks davon. Von ſchönen Frauen und frohen Feſten erzählt er, auch davon, daß der König die Liebe genoß, aber zu gleicher Zeit erklärk er, daß die geringſte Verletzung des Anſtands, 3* 35 daß zweideutige Außerungen und öffentliche Galankerien am Hofe vom König ſelbſt auf das ſkrengſte beſtraft wurden und „kein Beiſpiel bekannk war, wonach die Unſchuld eines jungen Mädchens von gutem Ruf durch Verführungskünſte untergraben worden wäre“.4s Reuer⸗ dings ſchien dagegen ein Buch Moritz von Kaiſenbergs über Jerome dem alten Klatſch neue Rahrung zu geben. Bei näherer Prüfung aber zeigk es ſich, daß ein großer Teil der veröffenklichken Briefe fingierk iſt und dem romanhafken Charakter des Ganzen enkſprichk. Die darin erzählten Schauergeſchichken ſind vielfach wörklich jener ominöſen „Geheimgeſchichte“ entnommen, die auch vielen ebenſo werk⸗ loſen wie kendenziöſen Romanen das Material gelieferk hak.5o Kein Pakriotismus iſt ja auch wohlfeiler wie der der Beſchimpfung des Feindes, und durch nichks fühlk die eigene gemeine kleine Seele ſich wohltuender erhoben, als wenn ſie Hochgeſtellke im Schmutze findek. Ohne dieſe fakale menſchliche Eigenſchafk würden Klakſch und Ver⸗ leumdung es nichk ſo leichk haben, an Stelle der Wahrheik zu kreken. Auch nichk angeſichts der Perſon des Weſtfalenkönigs, deſſen Charakter eine unumſtößliche Rechkfertigung gefunden hak. Für ihn gilk, wie für Fauſt: das Ewig⸗-Weibliche ziehk uns hinan. Katharina von Würkkemberg war ihm ohne Liebe vermählk worden. Bald nach der Hochzeik ſchon ſchrieb ſie an ihren Dater: „Ich bin die glücklichſte der Frauen und kann der Vorſehung nicht genug danken, daß ſie mein Schickſal mik dem der beſten der Männer vereinigk hak.“5! Reinhard berichkete von Kaſſel aus an den Kaiſer: „Das Leben der Königin iſt nur von der der Anbekung gleich⸗ kommenden Ciebe zum König beherrſchk.“⁵² Das täglich geführte Tagebuch der Königin bringk auf jeder Seike die rührendſten Beweiſe ihrer Liebe und ihres Verkrauens.“ Während der häufigen Trennungen korreſpondierken die Gatken käglich mikeinander, und über einen langen Zeikraum verſtreuk finden ſich in den Briefen der Königin folgende Stellen: „Ich habe nur 36 Dich in der Welk“ — „Lieber nehme ich alle Unannehmlichkeiten auf mich, als das Unglück, Dir zu mißfallen“ — „Du weißk, daß nichts mich ſo zur Verzweiflung bringk und mich ſo unglücklich machk, als von Dir gekrennk zu ſein.“54 Rach dem Sturze des Kaiſerreichs, als Katharina für ſich und ihr Kind einer vollkommen unſicheren Zukunfk entgegenſah, bok ihr ihr Vaker ein Schloß in Würkkemberg und eine geſicherte, ihrem Rang entſprechende Exiſtenz an für den Preis ihrer Trennung von Jerome. Aber während Rapoleons Gaktin den vom Glück Verlaſſenen ruhig verriek und ſeinen und ihren Sohn um ihres Wohllebens willen an Öſterreich auslieferte, ſchrieb Katharina ihrem Bater: „Durch die Polikik gezwungen, den König zu heiraten, hat das Schickſal es doch gefügk, daß ich die glücklichſte Frau wurde, die es geben kann. Alle meine Gefühle gehören ihm: Ciebe, Järklichkeik, Bewunderung“, und ſie erklärke zum Schluß: „Der Tod oder mein Gakke, das iſt die Deviſe meines Lebens!s55 Einem Mann, der ein Wüſtling iſk, kann eine Frau ſich vielleichk aus falſchem Pflichtgefühl opfern, nie aber wird ſie ihm die heiße Ciebe eines Cebens weihen — jene Liebe, die ſelbſt die ſchwerſte Probe beſkehk: daß das Herz des anderen nicht ſteks in gleicher Liebe für ſie enkbrannte. Allen Schmuh, den Reid und Haß und böswillige Verleumdung auf Jeromes Grab gehäuft haben, ſpülk der Strom der Liebe Katharinas fork, und gelingk es ihm nicht ganz, bleibk noch ekwas von ihm an den bunten Blumen der Erinnerung haften, die darauf wachſen wollen, ſo weiß ich von einer anderen Liebe, einer heimlichen, ſtillen, die auch die letzten Blättchen rein wäſchk. Von ihr will ich erzählen. 37 Diana von Pappenheim. 7 in alker Brief liegk vor mir, rauh das Papier, die Schrifk verblaßt, E auf dem gelben, mit Stockflecken beſäken Umſchlag ein zer⸗ drückkes Siegel, das mit zierlichen Blumenkränzen umwundene Wappen der Freiherren von Pappenheim: ein ſchwarzer Kabe im Schild und auf dem Helm — ein ſchwarzer Unglücksrabe. Die Adreſſe lautek: ² Mademoiselle Diane, Comtesse de Waldner, Dame d'honneur de S. A. I. Madame la grande Duchesse et Princesse héréditaire de Saxe-Weimar à Pyrmont. Datierk iſt der Brief vom 15. Zuli 1806 aus Skammen, dem Familienguk der Pappenheims; der ihn ſchrieb, war der Kammerherr des Herzogs Karl Auguſk von Weimar, Wilhelm Maximilian von Pappenheim. Der Werther-Geiſt der Zeik atmek in ſeinem eleganten Hoffranzöſiſch, und ſeltſam warnend könk für den, der rückwärks ſchauk, die Skimme des Schickſals zwiſchen den Zeilen. Alſo laukek er: „Meine geliebke Freundin! Der Brief, den ich geſtern das Ver⸗ gnügen hatte, Ihnen zu ſchreiben, wird ſchon in Ihren Händen ſein, Ich reiſe morgen früh nach Kaſſel und Fulda. In 6 Tagen hoffe ich wieder hier zu ſein und eine Menge Briefe von Ihnen vorzu⸗ finden . . . . Ich habe viele gute Bücher eingepackt, die ich nach Weimar ſchicke, damik ſie uns nächſten Winker recht unkerhalten mögen. Ich fühle mehr denn je, daß der Geiſt immer beſchäftigk werden muß, wenn wir nichk in Gefahr geraken ſollen, in unſerer Entwickelung zurückzugehen, wovor uns Gotk behüten möge. Ich kreffe hier alle Vorbereitungen, daß, wenn ich im Oktober oder Rovember auf 8 Tage zurückkehren muß, Sie mich begleiten können und guk unter⸗ gebrachk ſind . . . Schreiben Sie mir bitke rechk genau, wie Ihr Befinden iſt! Sehen Sie zuweilen meinen Freund Lafferk? Räk er Ihnen nicht, das Tanzen, als ein frivoles, für ein junges Mädchen 38 gefährliches Vergnügen, aufzugeben? Welche Vergnügungen haben Sie nichk, während ich es bitter empfinde, von Ihnen getrennt zu ſein . . . Ein kleiner Spaziergang in den Feldern hak mich eben zu einem Platze geführk, wo ich vor vier Jahren begonnen hatte, einen Garken, eine Einſiedelei, kurz einen Raum zu verwirklichen, ſo wie er Ihnen gefallen würde. Das Herz klopfte mir: als ich Skammen verließ, um in Weimar Dienſt zu kun, mußte ich eine Unkernehmung ver⸗ nachläſſigen, die mir ſo viel Freude gemachk und von der ich mir ſo ſüße Freuden verſprochen hatte; die Mauer war ſchon zur Hälfte aufgeführt, da befahl ich, die Arbeik zu unterbrechen, weil ich nicht mehr zurückzukehren glaubte; jetzt, da ich mich mik einer ſo liebens⸗ würdigen Frau verbinden will, ſchlich ſich der Wunſch, ſie wieder aufzunehmen, leiſe in mein Herz. Wie glücklich wäre ich, Sie mir zur Seite zu ſehen in dem Lande, wo ich geboren bin! Der Gedanke, daß Sie zu jung ſind, um den Zerſtreuungen der Welk zu entſagen und auf dem Lande zu leben, ſtimmke mich kraurig, und ich ſah, daß man nicht alles zuſammen wünſchen und haben kann. Wenn Hie zum min⸗ deſten dieſem Lande ſo viel Geſchmack abgewinnen könnken, um den Sommer hier zuzubringen! Dann hätte Weimar im Winter ſteks neuen Reiz für uns beide. Das Land iſt ſchön, man lebke mik braven Menſchen, man genöſſe all das, was ich beſitze, ohne jehk irgend etwas davon zu haben: die ſagd, die Fiſcherei, die Gärten, die Früchte bis hinab zu den kleinſten Bedürfniſſen des Lebens. O laß uns leben und lieben, wie unſere guken Vorfahren hier lebten und liebten! Entſchließen wir uns dazu, uns in ein paar Jahren hierher zurück⸗ zuziehen! Wollen Hie? Geben Sie mir dieſe Hoffnung und glauben Sie denen nicht, die Ihnen ſagen werden, daß Sie für das Land⸗ leben nichk geſchaffen ſind. Sie haben Geiſt genug, um mik einem Gatken, der Sie zärklich liebt, überall leben zu können. Während meines Cebens habe ich mich immer in den ſüßen Illuſionen einer 39 vagen Hoffnung gewiegk; ſeitdem ich Ihnen verlobk bin, beginne ich an ihre Wirklichkeik zu glauben. Mein Schickſal iſt entſchieden; ich bin glücklich; wer aber wollte dann nicht dork leben, wo er die meiſten Freunde hak, wo er geboren iſt — in der Heimak! Wir können leichk auf alle Karriere verzichten, wenn der Ehrgeiz und die Freuden der großen Welt uns nicht verführen, die ofk nichts als Reue hinker⸗ laſſen oder nur vorübergehende Vergnügungen bringen, bei denen Geiſt und Herz leer bleiben . . .“ Aus einem Bilde der Zeik, zu dem meine Augen hinüberſchauen, lächelt der üppige kleine Mund der Brauk, eines entzückenden, kaum achkzehnjährigen Mädchens mik kief in die Stirn fallendem blondem Kraushaar mir entgegen. Dieſen Brief, dieſen einzigen Brief be⸗ wahrke ſie von dem, der ihr Gatte wurde, ihr Leben lang. Im Schloſſe der Elkern in Ollwiller im Elſaß, zu Füßen der alken Ruine Freundſtein, der ihr Geſchlechk ſeinen Ramen verdankte, war ſie im jahre 1788 geboren worden. Wieſo ſie nach Weimar kam und Maria Paulownas, der jungen Erbgroßherzogin Hofdame wurde, weiß ich nicht. Kaum zwei Jahre ſcheink ſie dork geweſen zu ſein. Im Herbſte 1806 heiraketke ſie den mehr als 20 Jahre älteren Pappenheim, ein Jahr darauf, als ihr erſter Sohn geboren worden war, erreichte ihren Gatken das Dekrek des Königs von Weſt⸗ falen, das an alle im Auslande lebenden Kurheſſen erging, bei Androhung der Einziehung ſeiner Güker nach Weſtfalen zurück⸗ zukehren. Was Pappenheim von ſeiner Brauk vergebens erfleht, von ſeiner Frau vergebens verlangk hatte, Jeromes Befehl ſollte es erzwingen: das Leben in der Heimak. Anders freilich, als er es ſich gekräumk hatte: ſtakk in den ſtillen Frieden des ländlichen Beſitzes führte der Weg in die rauſchenden Feſte des Kaſſeler Hoflebens. War es ſein Ehrgeiz, war es ihre Cebensluſt, die ſolche Entſcheidung traf — wer weiß es? Im Sommer 1808 kam er mik ſeinem kleinen Sohn und ſeiner hochſchwangeren 40 Frau, die im Sepkember ihrem zweiken Sohn das Leben gab, nach Kaſſel,5s Bereiks im Winker danach muß das Pappenheimſche Paar am Hof erſchienen ſein, und die junge Frau mit der herrlichen Ge⸗ ſtalt, der ſchneeweißen Hauk, den lachenden blauen Augen und jenem unbeſchreiblichen Liebreiz, der weniger in der Regelmäßigkeit der Züge als in der Anmut des ganzen Weſens beſtand, muß ſchon bei ihrem erſten Aufkreken die Aufmerkſamkeik aller auf ſich gezogen haben. Ihre zugend allein, die der künſtlichen Mittel nicht bedurfke, um zu bezaubern, ſtellte die älkeren Damen des Hofes in den Schatten und reizte ihren Reid. Bei Gelegenheik eines Maskenballes, am 5. Februar 1809, erlaubte ſich eine von ihnen unter dem Schuhe der Maskenfreiheik, Herrn von Pappenheim mik ſeiner ſo viel jün⸗ geren Frau zu necken; Gräfin Truchſeß, ſo berichteke der Allerwelks⸗ geſchichtenkräger Reinhard nach Paris, machke aus dem Spaß eine große Klatſchgeſchichte, die dem König zu Ohren kam und wohl bös⸗ artiger Rakur geweſen iſt, denn bereiks am 16. Februar erhielk die ebenſo ehrgeizige wie eitle Frau den Befehl, den Hof auf immer zu verlaſſen, Pappenheim aber wurde zum Grafen und zum erſten Hofmarſchall ernannk, während Diana als Palaſtdame in den Hof⸗ ſtaak der Königin einkrak.5 Ein Rervenleiden, das Pappenheim bereiks 1795 gezwungen hatke, den Soldakendienſt als Major der kurheſſiſchen Leibgarde aufzugeben und ſich einige jahre in der Stille von Stammen zu erholen, machte ſich inzwiſchen wieder gelkend; und neben ihm, dem alkernden kranken Mann, ſah Diana in der Blüte ihrer Schönheik und zugend den jungen ſtrahlenden König. War es ein Wunder, daß ihr Herz ſich ihm hingab, vielleicht lange bevor ſie es ſich ſelbſt geſtand? Daß ſie ſich wehrte gegen die erwachende Leidenſchaft, daß ſie dem heimlichen Werben des Königs aus dem Wege ging, dafür zeugt ein Bericht Reinhards aus dem jahre 1809. Rach der Rückkehr des Königs aus Sachſen, ſo erzählken die böſen Zungen in Kaſſel, ſollke es zu 41 einer Einigung zwiſchen beiden gekommen ſein. „Die Abreiſe der Gräfin nach Weimar“, ſo fügk Reinhard hinzu, „ſtrafk das Gerücht Lügen“. Sie kehrte erſt zurück, nachdem die Königin wieder in Kaſſel eingekroffen und Pappenheim aus Aix-la-Chapelle, wo er Geneſung geſucht hatke, heimgekehrk war. „Roch kann man alſo“, ſchloß der alte Iyniker ſeinen Bericht, „an die Tugend der Gräfin glauben.“59 Im März 1810 begleikeke ſie die Königin nach Paris. Ihr Mann jedoch wird im Gefolge des Königs nicht genannk. Der Glanz des Pariſer Lebens, wo ein Zauberfeſt das andere jagte, die lachen⸗ den Frühlingskage, die bis in den Zuni hinein eine Schar fröhlicher, ſunger Menſchen auf Frankreichs glücklicher Erde feſthielk, enk⸗ hielten jene ſüße berauſchende Lufk, in der die Blume der Leiden⸗ ſchafk raſch emporblüht und ſich wundervoll enkfaltek. Niemand freilich wußke davon, die Läſterzungen ſchwiegen, auch als es wieder heimwärks ging nach Kaſſel, erwähnke Reinhard in ſeinen Berichten den Ramen der Gräfin Pappenheim nicht, nur von der zunehmenden Krankheik ihres Mannes war hier und da die Rede.“o Da kam der trübe Winker 1810/11 nach der Zurücknahme Hannovers durch den Kaiſer. Vor allen Feſten fliehend, zog ſich das Königspaar mit wenigen Getreuen, unker ihnen Diana von Pappenheim, nach Rapoleons⸗ höhe zurück. Hier, wo ſie des Königs zerriſſene Seele ſah, wo zu der großen Liebe jene Empfindung hinzukrak, die dem Weibe die letzten Waffen nimmk — das Mikleid —, öffnete ſich ihm ihr Herz. In dem kleinen Landhaus Schönfeld, zwiſchen Kaſſel und Mapoleons⸗ höhe, krafen ſich die Liebenden und vergaßen im Feuer ihrer Leiden⸗ ſchafk den harten Winter, der draußen mit ſtarren Fingern an die Fenſter klopfke, und das eiſige Schickſal, das alle Blumen der Hoffnung zu knicken drohte. Am 7. September 1811 brachte Diana das Kind ihrer Liebe zur Welk: Jenny, die Jerome über die Taufe hielt und die, da der 42 Gatke Dianens noch nichk von ihr gekrennt lebte, als ſeine eheliche Tochker anerkannk wurde. Bis dahin hakken ſelbſt die böswilligſten Läſterer das Geheimnis von ſeromes und Dianens Liebesbund nicht zu entdecken vermocht, das Kind mik den leuchtenden, dunklen Augen, der gelblichen hauk, dem fein geſchwungenen Räschen war ſeine Offenbarung. War es wohl auch ſein Händchen, das den un⸗ glücklichen Pappenheim, deſſen Geiſt ſich mehr und mehr umnachtet hatte, in das Dunkel ſtieß, aus dem es ein Entweichen nicht mehr gab? Diana geleikete den ſchwer Kranken nach Paris und blieb bei ihm, bis die Arzke ihr keine Hoffnung mehr gaben. Welche Qualen mögen ſie gefolkerk haben in dieſer Zeik, wie zerriſſen mag ihr Herz geweſen ſein von der Rok des Gewiſſens, von der unbeſiegbaren Gluk ſehnſüchtiger Ciebe! 1812 ſchrieb Reinhard nach Paris: „Die Gräfin Pappenheim iſt zurückgekehrk und wohnk gegenüber dem Schloß in der Wohnung, die der Oberhofmarſchall zuletzk innegehabk hak. Ihr Mann iſt noch immer in Paris in der Behandlung des Dr. Pinel.s61 Kurze Zeit ſpäter zog ein ſtiller Gaſt in Stammen ein, und zwei Jahre noch blickten die armen, blöden Augen über die Fluren ſeiner Bäter hinaus, die er ſo ſehr geliebt hatke. Diana beſuchte ihn zuweilen, er kannke ſie nicht mehr. Die drohenden Gewitkerwolken, die ſich um das Schickſal ihres Geliebten zuſammenzogen, vor denen ſo manche, die ihn in Tagen des Glücks umſchmeichelk hakken, feige entflohen, feſſelken ſie nur noch mehr an ſeine Seite, gaben ihrer Liebe die Weihe gemeinſam getragenen Leids. Und ein Kind von ihm krug ſie wieder unker dem Herzen, ein Kind, das vor der Welk keinen Vaker haben würde. Sie prunkte nichk mik ihrer Liebe, denn nichk Glanz und Einfluß ver⸗ langke ſie von ihm, und der König war weik davon enkfernk, ſich wie ein prahleriſcher Roué vor der Welk mit der ſchönen Geliebken zeigen zu wollen. Darum legte ſich ſchützend der Schleier des Ge⸗ 43 heimniſſes um ſie, darum enkhalken ſelbſt die ſpäteren Skandal⸗ geſchichten kein Work von Diana von Pappenheim. Ihre Entbindung ſtand nahe bevor, als die Ruſſen in Kaſſel ein⸗ zogen. Die Angſt um ſie, die den König folkerte, trieb ihn noch einmal nach Kaſſel zurück zu jenem kurzen Aufenthalt den niemand begriff und den ſeine Feinde dahin deukeken, daß er im Schloß verwahrke Reichtümer noch heimlich habe enkfernen wollen. Er hatte noch gerade Zeik, die Geliebke in Schönfeld in Sicherheik zu bringen, dann war mit dem Königskraum der Liebeskraum vorbei, und nie⸗ mals ſahen ſie ſich wieder! In der Zelle des ſtillen Pariſer Kloſters Notre dame des Oiseaux ſaß ein Vierkeljahrhunderk ſpäker eine junge Ronne am Schreibtiſch und ſchrieb einer fernen, unbekannken deukſchen Schweſter dieſe Zeilen: „. . . Und nun, meine liebe Jenny, will ich die Iweifel zerſkreuen, die Deine Gedanken zuweilen bewegen, denn mehr als einmal habe ich, meine geliebte Schweſter, mit Madame Duperré von Deiner und meiner Geburk geſprochen. Sie war, wie Du ganz richtig ſagſt, die inkimſte Verkraute unſeres Engels von Mukker, ihr übergab mich Mama im Augenblick meiner Geburk. Damals, 1813, brachte der König — genötigt, ſein Reich zu verlaſſen — noch die geliebte hoch⸗ ſchwangere Frau nach dem Schloſſe Schönfeld, wo ich geboren wurde und deſſen Ramen ich trug. Da Mama genötigk war, in Deutſch⸗ land zu bleiben, und mich nicht mik ſich nehmen konnke, denn Herr von Pappenheim war ſchon ſeik langem wahnſinnig und von ihr getrennk, verkrauke ſie mich ihrer beſten Freundin an, nachdem ſie ihren Schmuck und alle ihre Wertſachen verkaufk hakte, um meine Exiſkenz ſicherzuſtellen. In der Verzweiflung dieſer Skunden, wo ſie glaubke, als Buße für ihre Sünden alle Bande zwiſchen ſich und dem König zerreißen zu müſſen, folgte ſie dem Rake der Freundin und keilke ihm mit, ich ſei geſtorben. Madame Duperré ſagke mir, 44 daß ſie in ihrem ganzen Leben nichts ſo bitter bereuk habe, wie dieſen Rak, den ſie erkeilte, denn des Königs damals kief verwundetes Herz likk nicht nur ſehr unker der Rachricht, es wäre für ihn eine Freude geweſen, für mich ſorgen zu können. Bei Dir lagen die Ver⸗ hältniſſe anders. Du wurdeſt geboren, als unſer Vaker noch regierte und INama und Herr von Pappenheim formell zuſammen lebken. Das ermöglichte Deine ſcheinbare Legitimität; der ganze Hof jedoch wußte, daß Du des Königs Tochter ſeieſt, und die Rakur ſelbſt ſchien es be⸗ weiſen zu wollen, indem ſie Dich ſchon als kleines Kind zu Deines Vaters genauem Ebenbild formke. Aber auch Mama hak es wieder⸗ holt Madame Duperré verſichert, und als ich mit unſerem Vater, der ſich inzwiſchen überzeugen konnte, daß ich nicht geſtorben und nichk mit Dir identiſch bin, das erſtemal zuſammenkam, ſprach er mir ſofork von Dir und erzählke mir alles genau ſo, wie Madame Duperré es mir ſchon kauſendmal wiederholk hatte. Wir beide ſind die einzigen Kinder aus dem Liebesbund zwiſchen unſerer Mukter und dem König. Gokkfried und Alfred ſind nichk unſere rechten Brüder, denn der eine war ſchon geboren, als die Pappenheims an den Hof kamen, und den anderen krug ſie grade unter dem Herzen. Ich verſkehe vollkommen, meine geliebte Schweſter, daß die Rück⸗ ſichk auf das Andenken Deiner Mukker und die Wohlfahrt Deiner Kinder Dich dazu beſtimmen, Deine Beziehungen zu Papa vor ihnen zu verſchleiern. Mein und ſein Wunſch beſchränken ſich darauf, daß Du Deinem Herzen freien Lauf läßt, Deinem Bater all die Liebe entgegenbringſt, die er verdienk und die unſere verklärte Mutter für ihn von uns forderk. Immer wieder hak ſie in ihrem Briefwechſel mik mir von unſerer Herkunfk erzählk und mir das Verſprechen abgenommen, Dir nichts davon zu ſagen. „Im Augenblick aber“, ſo ſchrieb ſie mir, „wo die Verhälkniſſe Dir eine Begegnung mit Deinem Vaker geſtatten werden, was ſo lange unmöglich iſt, als er im Exil lebk, und wo er Dir von 45 Deiner Schweſter ſpricht, ſoll es Deine erſte Aufgabe ſein, ſenny aufzuklären und ſie in meinem Ramen zu bitten, all die Liebe und Zärtlichkeik, die ein Kind ſeinem Vater ſchuldig iſt, ihm entgegenzu⸗ bringen und ihn nicht des Glückes zu berauben, der Zuneigung ſeiner Tochter ſicher ſein zu dürfen.“ Dieſer Brief, liebſte Schweſter, aus dem ich Dir dieſe Zeilen abſchreibe, iſt der einzige, den ich noch von unſerer Mutker beſitze — auf ihren Wunſch mußte ich ihre Briefe vernichten — aber dieſer eine genügk auch, um alle Deine Zweifel zu beſeitigen. Rachdem er ſeine Aufgabe erfüllk hat, will ich auch ihn verbrennen. In dieſen ſtürmiſchen Zeiken wiſſen wir niemals, was geſchehen kann. Gerade uns Kloſterſchweſtern kann die Revolution gefährlich werden, und ich will nicht, daß irgend etwas von unſerem Engel von Mukker in Hände fallen ſoll, die es enkweihen. Schweren Herzens krenne ich mich -von dieſer letzten Reliquie, aber dem An⸗ denken und der Liebe zu unſerer Mutker muß ich dies Opfer bringen . . . Papa verläßk mich ſoeben, er krägk mir alles Zärkliche an Dich auf. Wie ſehnk er ſich danach, dich zu umarmen, aber da es in dieſen Zeiken nicht möglich iſt, mußk Du ihn und mich dadurch enk⸗ ſchädigen und unſere Trennung erträglich machen, daß Du recht oft ſchreibſt. Je näher ich unſeren Vater kenne, deſto mehr liebe und verehre ich ihn. Ich verſichere Dich, meine liebe Jenny, man hak viel Böſes von ihm erzählk, deſſen er nie fähig geweſen iſt. Viel iſt in ſeinem Ramen geſchehen, wovon ſein gütiges Herz nichts wußte, und Reid und Haß, die dem Glück wie der Größe auf den Spuren folgen, haben ſein Bild beſchmutzk und verzerrk. Wir haben die Aufgabe, ihn durch unſere Liebe viel unverdienkes Leid vergeſſen zu machen . . . Deine Schweſter Pauline. Das Leben hatte das Haar des Vakers bleichen, der Tod die ſchönen Augen der Mutter ſchließen müſſen, ehe Jenny erfuhr, von 46 weſſen Bluk ſie war und daß hinker Pariſer Kloſtermauern ihr noch eine Schweſter lebke. In der Familie wußte jeder, daß dieſe Frau mik den napoleoniſchen Jügen eine fremde Blume war, nichk dem friedlichen Hausgärtchen deutſcher Familienſippe entſproſſen. Ihr ſelbſt war es ein nur dunkel geahnkes Geheimnis geblieben. Auf welche Weiſe ſie es erfuhr, weiß ich nicht, denn die erſten Briefe der Ronne, ihrer Schweſter, an ſie, befanden ſich nicht in dem mir übergebenen Pakek. Es enthielk nur die folgende kleine Auswahl aus der während vieler jahre bis zu ſeromes Tode im jahre 1861 und bis zu dem der Ronne in den achtziger Jahren lebhaft geführten Korreſpondenz, die blos durch wiederholken Aufenthalk meiner Großmutker in Paris unterbrochen wurde. Die Briefe bedürfen keines Kommentars. Rur kote Blätker ſind es, und die ſie ſchrieben, ſchlafen ſchon lange den ewigen Schlaf, aber die Liebe, die in ihnen atmet, füllt ſie mit warmem Bluk und lebendigem Leben. Von Diana blieb nichk viel erhalten. Ein paar Bilder, von denen jedes ein anderes Anklitz zeigk: das ſüße, lachende Mädchen zuerſt, eine ſchöne, kühle Frau zuletzk. Und ein Brief an Zenny, ihre Tochter. Wie der des liebenden, hoffnungsvollen Bräutigams der einzige iſt, der von des unglücklichen Pappenheim Hand, krotz des jahrhunderks, das über ihn hinwegging, erhalken blieb, ſo iſt der Brief der ſkerbenden Diana der einzige, der von ihr zeugk. In jenem lag, dunkler Ahnungen voll, die Zukunfk verborgen, in dieſem weint und ſchluchzt der Schmerz der Vergangenheit. Hier iſt er: Weimar, 20. Oktober 1844. Meine liebe Zenny! Ich frage nicht mehr, ob ich ſchreiben darf — ich ſchreibe! Denn ich kann Dich verſichern, daß es mir ſchlechter geht als im Augenblick der Abreiſe. Eine kiefe Melancholie erfüllt meine Seele, eine ſchreckliche Mutloſigkeit beherrſcht mich. Wer nur tröſten will, glaubt, 47 mir verſichern zu müſſen, daß gar keine Gefahr vorhanden iſt, und ich kann nicht einmal daran zweifeln! Schon ein Monat ſchrecklichſter Qualen, und noch kein Schrikk näher der Ewigkeik. Und all dieſe Leiden ſollen ſich noch ofk wiederholen, ehe das Ziel erreicht iſt. — O mein Gokk, welchen Prüfungen willſt Du mich noch unterwerfen!! Ich möchte mich einſperren können und mich vor keines Menſchen Augen zeigen; meine Rächte ſind immer ſchlecht, am Aorgen habe ich die Empfindung, als hätte ich eine Schlachk gewonnen. Man um⸗ gibk mit Sorge und Liebe dieſes nutzloſe Ceben, das zwiſchen Bett und Lehnſtuhl hin und her vegetierk. Wenn dieſe Zeilen Dir Tränen erpreſſen — ich kann's nichk ändern, ich kann nichk anders ſchreiben, und Du weißk ja, daß ich nicht ſterben werde! Du darfſt auch nicht daran denken, herzukommen. Du kennſt meinen Grundſatz meinen Töchkern gegenüber: daß ihre erſte und heiligſte Pflicht ſie neben ihre Gatten und ihre Kinder ſtellk. In meinem Zuſtand wirken auch Schmerz und Freude gleichmäßig ſtark auf mich; erlaubt man jemandem bei mir einzutreken, den ich lange nicht geſehen, ſo ergießt ſich ein Strom von Tränen aus meinen Augen und dann kommk das Fieber. Vielleichk werden Monate, ahre über meine tief eingewurzelke Krankheik vergehen — wie könnteſt Du darüber auch nur eine Deiner nächſten Pflichten vernachläſſigen, während ich nichts brauche als Ruhe, Stille und Einſamkeik . . . . Ach, könnte ich von dork oben zu Dir hinunkerſehen, dann hätkeſt Du den ſchönſten Troſk: meine Mukker hat die dunkle Schranke überſchrikken, ſie iſt dort, wo mein Wunſch und mein Gebek ſie hingeleikeke. Ich ſchließe, meine Jenny, meine geliebte Tochter, denn kein Work könnke ich äußern, daß nicht das Echo eines kranken Körpers und einer tieftraurigen Seele wäre. Beke für mich, mein Kind, aber bete nicht, daß der Gotk der Güte mir dies Leben erhalken möchte, das auf mir laſtet und immer auf mir laſten wird. . . . 48 Diana von Pappenheim Briefe der Nonne mère Marie de la Croix (Gräfin Pauline Schönfeld) und des Königs Jerome Napoleon. Paris, den 5. Februar 1848. Im Augenblick verlaſſe ich meinen teuren Vater, meine liebſte Schweſter, und ich beeile mich, mit Dir zu reden; da dieſer beſte Vaker mir ſehr ans Herz gelegt hat, Dich nicht lange ohne Antwork zu laſſen — ein überflüſſiger Rak, denn meine Liebe zu Dir würde mir nicht geſtatken, Dir nicht ſo raſch als möglich von demſenigen zu ſprechen, der uns ſo ſehr liebk, und dem ich ſo viel an Liebe weihe, als mein Herz zu geben imſtande iſt. Deinen Brief, meine Jenny, erwarkeke ich mit größter Ungeduld, denn jedesmal wenn ich unſern geliebken Vaker ſah, frug er darnach; er ſchien zu ahnen, daß dieſer Brief ſeinem Herzen wohl kun würde. Und das geſchah, meine geliebke Schweſter: ich wollke, Du hätkeſt ſeine kiefe Bewegung ſehen können, als er von den warmen Gefühlen erfuhr, die für ihn in Deinem Herzen Eingang zu finden ſcheinen; große Thränen füllken ſeine Augen, und von Zeik zu Zeik wiederholke er: „So werde ich denn auch die Liebe meiner ſenny beſitzen! Und Dir, meine Pauline, verdanke ich dieſes Glück! O ſage es Deiner Schweſter, daß ſie einen Vaker hat, der ſie zärtlich liebk und der ſehr darunker gelitken hat, ſich ihrer Rähe und ihrer Zärklichkeik nicht erfreuen zu dürfen! Du wirſt guk kun, meine ſenny, ihm ſelbſt zu ſchreiben, ſein Vaker⸗ herz würde dafür ſehr empfänglich ſein. Ja, meine Jenny, wir müſſen uns bemühen, ihn mik allem erdenklichen Glück zu umgeben; das iſt eine Pflichk, deren Erfüllung unſer Engel von Mukker vom Himmel herab von uns verlangk. Unſer Vater ſagk von ihr, daß ſie eine Frau ohne Gleichen geweſen wäre und er ihr immer das zärtlichſte Andenken bewahrke. Im Schatlen der Titanen. 4 49 den 6. Februar. Wenn Du an Papa ſchreibſt, ſo adreſſiere den Brief an mich; ich kann Dir ſeine Adreſſe nicht geben, weil er in wenigen Tagen ſeine Wohnung zu wechſeln gedenkt. Es iſt keine Rede davon, daß er ſich etwa in der Rähe von Paris ankaufk; er hat noch keine feſten Pläne, ſolange ſeine Geſchäfte nicht ganz geregelk ſind. Alle Welk ſcheink ihm wohl geſinnt, aber die Welk iſt zuweilen falſch, darum iſt er in großer Unruhe, bis das Geſetz von der Kammer angenommen iſk. Sobald die Entſcheidung fiel, keile ich ſie Dir mit. Ich hoffe ſehr, daß die Penſion, die er fordert, ihm bewilligk wird, denn unſer guter Vater lebk auf großem Fuß, will immer ſchenken und helfen und Andere glücklich machen. Für ſich ſelbſt braucht er faſt nichks, aber Anderen gegenüber iſt er von einer beinahe zu großen Generoſitäk. Was Rapoleon betriffk, ſo iſt er der beſte Sohn, der ſich denken läßt; kein Tag vergeht, ohne daß er ſeinen Vaker, den er vergöktert, ſieht; er arbeitek viel und ſuchk ſeinem Vaker alles Unangenehme aus dem Wege zu räumen; da es aber keine voll⸗ kommenen Weſen giebk, ſo amüſierk er ſich und macht leider viel von ſich reden, was unſeren Baker ſehr beunruhigk. „Aber“, ſo ſagt Papa, „meine Predigken packen ihn nicht, weil das Beiſpiel fehlt, das ihnen Gewichk geben könnke! Die Sünden der Zugend, die wir an unſeren Kindern büßen!“ Rapoleon hak ein weiches Herz, was für Papa notwendig iſt, da er es ſehr gern hat, von ſeinen Kindern zärtlich behandelk zu werden. Mathilde iſt der Gegenſatz ihres Bruders, ſie iſt kalk, vor allem ihrer Familie gegenüber. Sie ſcheint nichks zu lieben als ihre Freiheit, beſuchk den Vater nur an ſeinen Empfangskagen und hak keinerlei Bedürfniß, ihn allein zu ſehen; ſein Kommen und ſein Gehen iſk ihr vollkommen gleichgültig. Sie iſt eine reizende Salondame, ſehr graziös, die überall gefällt und bei der das Amüſemenk an Skelle jeder Ark von Herzensbeziehungen trikk. Papa ſagt, daß ihr Charakter dem von Rapoleon, dem Deinen 50 und dem meinen vollkommen entgegengeſetzk iſt und weder ihm ſelbſt noch ihrer Mukter gleichk. Er hoffk, daß ſie ſich in einigen jahren geänderk haben wird. Während der zwei jahre ihrer Ehe war ſie ſo unglücklich, daß ſie jetzt nichks ſo genießk als ihre Freiheit. Glück⸗ licherweiſe hak ſie keine Kinder . .. In dieſem Momenk iſt von Papas Familie nur Prinz Paul von Würkemberg, ſein Schwager, in Paris; er ſieht ihn ofk. Papa iſt ſo guk, daß alle Menſchen, die ihn kennen, ihn lieben; er will nichts anderes, als Allen Gukes kun, die ihn umgeben. 8. Febr. Ich ſah Papa ſoeben, der, wie immer, viel von Dir geſprochen hak: „Wie wären wir glücklich, ſagte er, wenn jenny, als die dritte, unter uns ſein könnte. Es gehörk zu meinen größten Entbehrungen und zu den ſchmerzhafkeſten Strafen für meine Sünden, daß ich nicht mik Euch zuſammen leben kann!“ Mathildens Kälte läßt Dich uns doppelk vermiſſen! . .. Ich ſehe jetzk häufig Frau Duperré, die ſehr an Papa hängk, und für die Papa eine dauernde, aufrichtige Dankbarkeik empfindek. Sie läßt Dich aufs herzlichſte grüßen. Laß uns nichk lange auf einen Brief warten, der für Papa ein Herzens⸗ bedürfniß iſt ... Jedes Mal, wenn wir zuſammen ſind, fühlen wir, daß Du uns fehlſt; wir würden uns ſo gut verſtehen und Papa würde ſo glücklich ſein! Er kommt alle andern Tag zu mir und wiederholk mir ſteks, daß ſeine beſten Augenblicke die ſind, die er bei mnir verlebk. Geſtern war Papa beim König, der ihn und Rapoleon ſehr liebenswürdig empfangen hak. Rapoleon, der die gegenwärtige Regierung nicht liebk, widerſetzte ſich zuerſt, hin zu gehen, als aber Papa bemerkte: wer das Ziel will, muß auch den Weg wollen, erklärte er ſofort, ſeinem Vater zu Liebe wolle er nach⸗ geben. Sein Verdienſt hierbei iſt um ſo größer, als er für gewöhn⸗ lich einen eiſernen, unbeugſamen Willen hat . . . 4* 51 Paris, 15. März 1848. Eben erhalke ich Deinen Brief, meine geliebte Schweſter, und gleich ſetze ich mich zum Schreiben nieder, denn um Dir eingehend zu ſchreiben, brauche ich mehrere Tage. Das Schreiben wird mir ſehr ſchwer und bei jedem Brief ziktere ich, daß es der letzte ſein könnte, den ich zu ſchreiben imſtande bin . .. Ich war recht in Sorge um Dich, da ich aus unſeren Zeitungen erfuhr, daß auch in Deutſchland und zwar beſonders in Preußen die Revolution ausgebrochen iſt; Papa ließ jeden Tag, an dem er mich nicht ſelbſt ſehen konnte, nach Rachrichten von Dir fragen, ſo groß war ſeine Sorge in dem Ge⸗ danken, daß Preußen wie unſer armes Frankreich in fieberhafter Unruhe lebk. In dieſem Augenblick iſt es ruhig in Paris, aber die Zukunfk iſt recht dunkel; der handel liegt darnieder, die Finanzen ſtehen ſchlechk; man ſieht nichts als ruinierke oder unglückliche Menſchen. Ich bedaure auch von ganzem Herzen die arme Herzogin von Orleans, die ſich in ihrem Unglück ſo kapfer und edel gezeigk iſk; — freilich glaube ich, daß ſie glücklicher ſein wird, als ſie auf dem Thron ge⸗ weſen wäre! Ich gebe Dir keine politiſchen Dekails, ich ſage Dir nur, daß alle Welk kraurig iſt und vor den Wahlen und vor der Rationalverſammlung zitterk. Papa und Rapoleon haben ſich, Gotk ſei Dank, in nichks eingemiſchk und werden es auch ferner nicht kun; Papa hak den Poſten eines General⸗Gouverneurs der Invaliden abgelehnk. Man hatke ihm auch eine Skellung innerhalb der provi⸗ ſoriſchen Regierung angeboken, aber er will zu meiner Freude nichks annehmen. Ich wäre vor Angſt geſtorben, wenn ich ihn in dieſem Augenblick in einflußreicher Stellung hätte ſehen müſſen. Er denkt nicht daran, Paris zu verlaſſen, weil, wie er ſagt, ſein Herz fern von mir zu ſehr gelikken haben würde. Sieben Tage lang konnken wir uns nicht ſehen, weil die Barrikaden jede Kommunikation unmög⸗ lich machten. Unſere erſte Zuſammenkunft nachher hak uns faſt ebenſo erſchüktert, wie die, die ich zu allererſt mik meinem geliebten 52 Baker gehabt habe. Wir entſchädigen uns jetzt für die Trennung, denn es vergehen nicht zwei Tage ohne ein Zuſammenſein. Du biſt am häufigſten der Gegenſtand unſerer Unterhaltung. Was ich am meiſten in Papas Charakter bewundere, iſt ſeine unbeſchreibliche Güte. Nie wird man ihn irgend etwas Schlechtes von anderen ſagen hören; er findet immer noch eine Entſchuldigung oder Erklärung, ſelbſt für eine Handlungsweiſe, die ſich gegen ihn richkek, und weiß bei Jedem eine gute Seite zu entdecken. den 16. März. Ich kehre heute zu Dir zurück, in Erwarkung des Beſuchs von Papa. Ich habe ihm ſoeben einen Eilboten geſchickt, um ihm wiſſen zu laſſen, daß es Dir gut gehk und ich einen langen Brief von Dir habe, er hat mir daraufhin ſagen laſſen, er werde in zwei Stunden hier ſein, um Räheres zu erfahren. Du ſiehſt, liebſte Schweſter, wie ſein Herz an Dir hängk, und meins erfreuk ſich ſeiner Liebe zu Dir ebenſo wie der zu mir ſelber . . . Paris, den 3. April 1848. Meine liebe, gute Jenny! Dein Brief, den ich eben durch Deine Schweſker erhalke, macht mich ſehr glücklich, er iſt für mich ein wahrer Droſt inmitken der grofzen Umwälzungen, von denen Niemand (er mag welche perſön⸗ lichen Cebenserfahrungen immer haben) ſagen kann, wohin ſie führen werden!! Du haſt ſehr rechk, mein geliebtes Kind, die Bande, die uns verbinden, ſind heilig wie die Ratur; ihr Geheimniß ſoll, ſolange wir leben, unker uns bleiben: Deine wundervolle Mutter hat es mit ſich gen Himmel genommen. Dich, liebes Kind, das ich in meinen Armen gehalten habe, noch ehe Deine Augen ſich dem Licht öffneken, Dich, von der ich lange glaubte, Du ſeiſt Pauline, die Nonne — Dich habe ich nie vergeſſen; Dich in meine Arme ſchließen, Dir 53 meinen Segen geben zu können, wie ich ihn Dir jetzk nur ſchrifklich ſenden kann, wird ein Tag des Glückes für mich ſein. Küſſe Deine Kinder im Ramen des alten, bis zu dieſer Skunde ihnen unbekannken Freundes: in Jukunfk wird meine ſenny es verſtehen, ihnen Zärk⸗ lichkeik und Liebe für ihn einzuflößen! Wenn Werner jeht um Dein Geheimniß weiß, ſo drücke ihm dankbar die Hand für das Glück, das er Dir gegeben hat. Ich drücke Dich an mein Herz und ſegne Dich als Dein Dich liebender Vater Jerome. Paris, 24. Mai 1848. Meine liebe ſenny! Auf Deinen lieben Brief vom 12. vorigen Monats habe ich lange nichk geankworkek — nichk etwa, weil ich mich nicht mit Dir be⸗ ſchäftigk hätke, mein liebes Kind, biſt Du doch der Mittelpunkt aller Geſpräche zwiſchen mir und Deiner vorkrefflichen Schweſter, ſind doch die Stunden, die ich bei ihr bin, meinem Herzen die keuerſten!! Wir leben hier auf einem Vulkan, mein Kind, aber ich verkraue dem Stern dieſes großen und edlen Frankreich, für das ich noch mik Freuden die letzten ahre, die mir zu leben übrig bleiben, opfern möchte! Es ſcheink mir nebenbei, daß es auch in Eurem Lande nichk ruhiger iſt, was mich ſehr beunruhigk — habe ich doch auch dork Weſen, die meinem Herzen keuer ſind! Küſſe aufs zärklichſte Deine lieben kleinen Kinder; lehre ſie, mich zu lieben, ohne daß ſie einen Augenblick aufhören, das Andenken ihrer herrlichen Groß⸗ mukker zu ehren! Ich verlaſſe mich auf meine ſenny, daß dieſes Ziel erreicht wird! Drücke Deinem Mann in meinem Ramen herz⸗ lich die Hand; in dieſen Zeiten müſſen die Männer vor allem ein⸗ ander entgegenkommen; vielleicht iſt die Zukunfk nicht ſo dunkel, als Diele es glauben annehmen zu müſſen. Ich ſegne Dich, meine liebe Fenny, und drücke Dich an mein Herz. Jerome R. 54 24. Mai 1848. Papa verläßt uns ſoeben, und ich kehre zu Dir zurück, meine ſenny. Ich habe ihm das Bild der Mukker gezeigt, er hat es ähnlich, aber lange nichk hübſch genug gefunden, er wird es kopieren laſſen, da er ſich nicht mehr davon krennen mag. Auch eins von ihm ſelbſt will er für Dich malen laſſen, und ſobald beide fertig ſind, ſollſt Du ſie bekommen. Im Gedanken daran, Dir eine Freude zu machen, iſt er jetzk ſchon ganz glücklich. Er küßt Dich ſo zärtlich, wie er Dich liebk, und er läßk mich noch hinzufügen, daß die Größe dieſer Liebe der Größe ſeiner ganzen Liebesfähigkeik entſprichk. Lebewohl, liebſte Schweſter, ankworte bald und glaube an die aufrichtige Liebe Deiner Schweſter Pauline. Schicke doch ja Deine Lithographie, das würde Papa ſo große Freude machen! Paris, den 16. Juni 1848. Meine liebe, guke ſenny! Ich bin ſeit einigen Tagen im Beſitz Deines Briefes vom 3., ohne daß ich bisher einen Augenblick gefunden hätte, um Dir zu ſchreiben und Dir zu ſagen, wie Deine Zärklichkeik mich ſteks aufs neue beglückt. — Ich höre mit Freuden, daß es bei Euch ruhiger iſt; was uns betriffk, ſo ſind wir einer vollkommenen Organiſakion und der nokwendigen Ruhe, um zu ihr zu gelangen, noch ſehr fern; hoffen wir, daß es nicht mehr lange dauern wird und daß unſere konſtikuirende Kammer, die die beſten Abſichken hat, bald eine von dieſer edlen und großmütigen Rakion anzunehmende Verfaſſung ſchaffen wird — dieſer Ration, die noch immer bereik war, für die Sache der Gerechtigkeik und die Größe ihres Ramens die größken Opfer zu bringen! — — Ich habe das Bild Deiner herrlichen Mukker kopieren laſſen und Pauline für Dich übergeben, die es je⸗ doch nichk eher abſchicken will, als bis ſie das meine beilegen kann, was die Sendung um einige Tage verzögerk. Ich hoffe, meine JFenny, 55 daß die Dinge ſich ſo einrichten laſſen, um unſer Zuſammenſein zu ermöglichen und mir zu geſtatten, Dir vor meinem Tode meinen väkerlichen Segen zu geben. Grüße Deinen Mann, küſſe Deine Kinder zärtlich von mir und ſei verſicherk, liebes Kind, daß Du nichk lebhafker als ich wünſchen kannſt, einander zu ſehen — es wäre ein Augenblick des Glücks nach Jahren des Kummers. Ich küſſe Dich zärklich. Jerome. Paris, 16. Juni 1848. Du wirſk angenehm überraſcht ſein, liebſte Schweſter, ſo raſch einen Brief von uns zu erhalten, aber Papa hat einen Augenblick der Ruhe mit Eifer ergriffen, um mit Dir zu ſprechen, um Dir zu ſagen, wie er Dich liebk. Die politiſchen Ereigniſſe verjüngen den geliebten Vater nicht; er iſt ſehr müde, ohne eigentlich krank zu ſein. Übrigens wünſcht er ſehnlich, daß wir uns alle acht Tage ſchreiben möchken, da es ihm recht lang erſcheink, immer vierzehn Tage warken zu müſſen. Das Bild der Mukker habe ich; ich zögere aber mik der Abſendung, bis das von Papa fertig iſt; zu gleicher Zeik werde ich Dir Haare von ihm und vom Kaiſer ſchicken. Der Ausdruck Deiner Liebe macht unſeren Vater ſehr glücklich! ſe mehr ich ihn kenne, deſto mehr liebe ich ihn, aber mein armes Herz blukek, wenn ich ſehe, wie die politiſchen Verhältniſſe ſich ſcheinbar zu ſeinen Gunſten umgeſtalten; ſein Rame hallk überall wieder; eine ſtarke Parkei ſteht auf Seiten ſeiner Familie und wünſchk, ſie am Ruder zu ſehen. Doch der Wankelmuk des Volks, ſeine Unbeſtändigkeik in der Reigung läßt mich den Momenk fürchten, wo ſie die Regierung in Händen haben könnten. Der Gedanke macht mich ziktern, daß kraurige Ereigniſſe, in die die Familie verwickelk wird, die alken Tage unſeres Vaters zu beunruhigen vermöchten. Ich wäre außer mir, wenn dieſes gütige Herz noch einmal durch Kummer zerriſſen würde. Unſer geliebter Vater ſieht die Dinge anders an; er glaubt, wenn Gott die Bonaparkes wieder an die Spitze der Regierung ſtellt, 56 ſo wird es für die Dauer ſein. Unglücklicherweiſe denken Andere nicht wie er, ſie wiſſen, wie wenig man auf die Sympathien und Ankipathien der Völker bauen kann, wie wenig beſonders auf die des franzöſiſchen Volks. (Unker uns geſagk! Denn Papa kann es gar nichk genug loben, und wir ſind darin immer verſchiedener Anſichk.) Louis iſt nicht in Paris; er hat Kandidaturen, die man ihm in verſchiedenen Deparkemenks anbok, abgelehnk, aber ſeine Anhängerſchafk iſt eine ſo große, daß er wohl bei einem neuen Anerbieten zur Annahme gezwungen werden wird. Ich ſehe mit Beunruhigung, daß Papa vielleichk gezwungen werden wird, ſich in die Dinge zu miſchen, ob⸗ wohl er es bisher vermieden hak; der Wunſch, ſeinem Vaterland nützlich zu ſein, ſein ſchönes Frankreich dem Sumpf zu enkreißen, in den es zu verſinken drohk, wird ihn vielleicht dazu beſtimmen . .. Cebwohl, liebſte Schweſter. Ich bin zu erregt, um genau zu wiſſen, was ich ſchreibe. Die Angſt, daß Ereigniſſe eintreken könnten, die dem geliebken Vaker Unglück bringen, folkerk mich . . . Wenn du Rachrichken von der Herzogin von Orleans haſt, keile ſie mir mit, da ſie mich ſehr inkereſſieren . . . Hoffen wir, daß glückliche Um⸗ ſkände uns bald zuſammenführen! Schreibe unſerem Vater immer recht liebevoll, weil er Dich ſo zärklich liebt. Deine kreue Schweſter Pauline. Paris, den 15. November 1848. Meine liebe, gute Jenny! Es iſk grade an dieſem Tage, daß ich Dich in meine Arme ſchließen möchke, aber ich hoffe (wenn die Ereigniſſe ſich nicht ändern), daß ich im Laufe des nächſten Jahres dies Glück haben werde: es wäre das größte Glück für Deinen Vaker, mein Kind; es würde mich wieder jung machen, meine ſenny, und indem ich Dich und Deine Kinder ſegnen könnte, würde ich hoffen, ihnen Glück zu bringen. Deine kleine Zeichnung hak mir die größte Freude gemacht; in Ge⸗ 57 danken ſehe ich Dich auf Deiner hübſchen Terraſſe ſitzen, Deinen kleinen Werner um den Blumenkorb ſpringend! Küſſe Deine Kinder in meinem Ramen und drücke dem Manne freundſchafklich die Hand, der über dem Glück meiner enny wachk. Ich ſchreibe bei Deiner Schweſter, damik mein Brief ſich nichk länger verzögerk. Ich drücke Dich an mein Herz und ſegne Dich. Dein Dich liebender Vater Jerome. Paris, den 11. Okkober 1849. Meine liebe ſenny! Trotz meines Schweigens liebe ich Dich nichk weniger zärklich und denke nicht weniger an Dich, mein liebes Kind, die ich noch viel mehr liebe, ſeik ich das Glück hatke, Dich bei mir zu ſehen: ich bikte Dich, ſage Deinem Mann, wie ich ihm immer dafür dankbar ſein werde, daß er Dir erlaubke, einige Tage bei mir zuzubringen. Ich hoffe, liebe Jenny, daß ich, ſobald die Zeiken bei Euch und bei uns ruhigere ſind, wieder das Glück haben werde, Dich in meine Arme zu ſchließen, und daß Du dann mit Deinem Mann und Deinen Kindern kommſt. Dein Brief, ſo gütig wie Du ſelbſt, meine Zenny. hat mich ſehr glücklich gemacht. Ich küſſe Dich zärklich. Dein Dich liebender Vater Jerome. Sprich ofk von mir mit Deinen Kindern! Paris, den 1. Februar 1850. Meine liebe ſenny! Ich beankworke Deine liebevollen Briefe, die ich immer voller Freude wieder leſe; heute, mein liebes Kind, beſtätige ich Dir auch den Empfang Deines Briefes vom 24. an Deine Schweſter. Ach, meine guke Jenny, dieſe keure Schweſter verlierk ihr Augenlicht voll⸗ kommen, nachdem ſie während mehr als vierzehn Tagen die ſchreck⸗ lichſten Schmerzen ausgeſtanden und mit einem wahren Heldenmuk 58 erkragen hak! Ich komme eben von ihr; ſie hörk nicht auf zu weinen, was ihr Auge noch mehr angreifk; ich will ſie nun einer homöo⸗ pathiſchen Kur unterwerfen; nichk weil ich große Hoffnungen daran knüpfte, aber weil ich nichks unverſucht laſſen will. — Was das geliebke Kind vor allem verzweifelk machk, iſt der Gedanke, ihren Bater, ihren Bruder und ihre geliebte ſenny, an die ſie bald nicht einmal mehr ſchreiben darf, nichk mehr ſehen zu können! Du wirſt meinen Schmerz verſtehen! Küſſe zärtlich Deine Kinder, grüße Deinen vorkrefflichen Mann, und zweifle niemals an meiner väterlichen Liebe. Ich drücke Dich an mein Herz, mein liebes Kind. Dein kreuer Vaker Jerome. Paris, 10. Juli 1850. Mein geliebtes Kind! Deinen lieben enkzückenden Brief vom 12. April habe ich längſt beankworkek; Deine Schweſter wird Dir geſagk haben durch welches Mißverſtändniß er nichk in Deine Hände gelangte; damik ſich das nicht wiederholk, übergebe ich ihr dieſen Brief zur Weiterbeförderung. Du kannſt, meine liebe ſenny, nichks Gukes und Zärkliches an Deinen Bater ſchreiben und für ihn empfinden, was ich nichk mindeſtens in gleicher Stärke für Dich und Deine liebe Familie empfinde; ich hoffe beſtimmk, daß die Dinge ſich ſo einrichten laſſen, daß ich Euch alle während einiger Wochen bei mir haben kann. Es iſt das ein ſchöner Traum in meinem Leben, den ich zu verwirklichen hoffe, ehe ich ſkerbe, denn ich liebe Dich und Deine Kinder, als häkte ich Euch alle erzogen und vor mir aufwachſen ſehen; ich liebe meine Jenny ſo ſehr, daß ich wünſchke, ich könnte für meinen lieben Rapoleon eine Frau finden, die ihr ähnlich iſt. Meine liebe Pauline iſt mein ganzer Troſt, ſie erſetzk mir M., die ich nicht mehr ſehe!!! Ich küſſe Dich 59 zärklich, geliebtes Kind, mit Deinen Kindern, die hoffenklich wiſſen, daß ich noch lebe; alles Guke Deinem lieben Mann, und Dir, mein liebes Kind, all meine Zärklichkeik und väkerliche Liebe. Dein Dich liebender Vaker Jerome. Chateau de Gourdex, 17. Sepk. 1850. Meine guke und innig geliebte Jenny! Dein lieber Brief vom 10. vorigen Monaks beweiſt mir wieder, daß mein liebes Kind ihren Vater, der ſie ſo zärklich liebk, nichtk ver⸗ gißk, und das macht mich um ſo glücklicher, als mein Herz von andrer Seike ſo unnakürlich erkältek wird! Es iſt ein Erſatz, den Gokk mir gab, und für den ich ihm täglich danke! Unſere liebe Pauline iſt immer gut, zärklich, liebevoll und befindek ſich krotz des ſchlechken Sommers nichk übel. Ich bin ſeit geſtern hier, beim ſchönſten Wekker der Welk, in einer reizenden Gegend, in vollſter Ruhe und allein, ich habe nicht einmal einen Adjutanten bei mir; ich bedarf der Ruhe, denn die Dinge ſtehen ſchlecht bei uns, und Riemand kann vorausſehen, wohin ſie führen werden. Ich habe mich vollkommen von der Polikik zurückgezogen, und indem ich aufs Land ging, habe ich dies öffentlich konſtatieren wollen. Ich vermiſſe nur meine liebe Pauline, denn Rapoleon wird mich nächſten Sonnabend beſuchen. Daß ich Euch, meine Jenny, nicht Alle bei mir haben kann: Dich, Deinen Mann und Deine Kinder, von denen ich hoffe, daß ſie ſich nichk um ihre Liebe für mich erſt bikten laſſen müſſen! Lebwohl, meine Jenny, ich drücke Dich an mein Herz; küſſe Deine Kinder und ihren Vater, der Dich glücklich macht. Dein Dich liebender Vater Jerome. 60 Gourdex, den 14. Okt. 1850. Meine geliebte Jenny! Ich erhalke ſoeben Deinen lieben Brief vom 4., und ich ankworte ſofork, um mich mit Dir, die mich ſo guk verſteht, zu unkerhalken. Ich bin wirklich in einem reizenden, bequemen haus ſehr guk und nach jeder Richkung hin angemeſſen unkergebracht; die Marquiſe und ich ſind faſt immer allein, ſelbſt mein Adjukank darf nur kommen, wenn er gerufen wird. Mein lieber Rapoleon kommt alle acht Tage, um 24 Skunden mik uns zuzubringen und dann nach Paris zurück⸗ zukehren, wo er eine Arbeik vollendek, die ihm Ehre machen wird. Ich verlaſſe Gourdex nur, um meine liebe Pauline, die recht leidend war, zu ſehen; der Weg von Charkres nach Paris iſt eine Spazier⸗ fahrk von nur drei Skunden. Ich bin weik davon enkfernk, liebſte Jenny, der Politik zuzu⸗ ſtimmen, die die Regierung einſchlägk; ich habe mich auch vollkommen von den Geſchäften zurückgezogen; ich bleibe in meinen alken Tagen mik meinen Erfahrungen allein. mik Freude ſehe ich, meine ſenny, daß, wenn die polikiſche Sikuation es nichk verhinderk, die Dinge ſich ſo arrangieren, daß Du binnen kurzem mit Deinem Mann und Deinen Kindern einige Wochen in Gourdex zubringen kannſt. Ich werde Dir demnächſt Räheres darüber ſchreiben, ebenſo über einen ſchon halb reifen Plan, den ich für meinen lieben Rapoleon habe. — Lebwohl, geliebtes Kind, grüße Deinen Mann, küſſe zärklich Deine Kinder im Ramen von Mamas altem Freunde, der ihnen ſeinen Segen ſchickk. Ich drücke Dich an mein Herz, mein liebes Kind. Dein Dich liebender Vater Jerome. 61 Paris, 26. Januar 1851. Meine geliebke Jenny! Alle Tage ſeik längerer Zeik greife ich zur Feder, um Deine guken zärtlichen Briefe, die mich ſo beglücken, zu beankworken, und alle Tage lege ich ſie wieder fork, weil ich hoffe, Dir endlich ein⸗ mal über die Sikuation, die mich ſo ſehr bewegt, etwas kröſkliches ſagen zu können. Ich hoffe, daß der guke Genius meines Vater⸗ landes es dem Unheil enkreißen wird: Du weißk, liebes Kind, daß ich es mir zum Geſetz gemacht habe, ungefragk keinen Rak zu erkeilen, und mich aller Polikik fern zu halten; auch ſehe ich meinen Reffen höchſt ſelken, damik man nichk behaupken kann, daß ich ihn nach irgend einer Richkung hin beeinfluſſe. Ich ſehe aber nur zu deutlich die ganze Gefahr der Lage, die, durch die Inkriguen der Herren Thiers und Konſorken, alle Tage krikiſcher wird. Ich habe voller Freude die Bilder Deiner Kinder erhalten, ich habe ſie einrahmen laſſen und ſie ſtehen vor mir; küſſe ſie zärklich von mir. — Unſerer lieben Pauline gehk es beſſer, und ich hoffe, ihr Auge wird erhalken werden. Ich freue mich, daß das gerechte Avancement Deines Onkels Dich beglückt hak; ich habe ſehr wenig Teil daran; er hak es ſich durch ſeine Talenke und ſeinen eigenen Werk ſelbſk geſchaffen. Ich bedaure nur, daß er den alken Invaliden vergeſſen hak und ich ihm nicht die Hand drücken kann. Ich preſſe Dich an mein Herz, geliebkes Kind, und ſegne Dich. Wollke Gotk, alle meine Kinder wären ſo guk wie Du und die liebe Pauline! Jerome. Gourdex, den 22. Februar 1851. Das Bildchen unſeres lieben Okko, meine geliebte ſenny, macht mir die größke Freude; von Dir gemalk, liebes Kind, iſt es eine doppelte Freude für Deinen alken Vaker. Ich danke Dir und ſegne 62 Dich für die Freude, die Du mich empfinden läßk. Umarme Deine Kinder, indem Du meiner gedenkſt! Ich hoffe, meine ſenny, daß ich nichk ſterben werde, ohne Dich und Deine Kinder wiederzuſehen. Wenn Gokk es will, daß die Geſchicke meiner Familie ſich konſoli⸗ dieren, ſo ſollen die, die meinem Herzen nahe ſtehen, nichk vergeſſen werden! — Seit einem Monak erfreue ich mich hier der vollkommen⸗ ſten Ruhe bei einem Wekker, einer Sonne, die ich in gleicher Jahres⸗ zeik ſelbſt in Ikalien nicht erlebk habe. Aber ich denke doch am 1. kommenden Monaks zurückzukehren, denn Deine gute Schweſter leidek unter meiner Abweſenheik, und ihr lieber Rapoleon genügt ihr nichk! . . . Dein Dich liebender Vater Jerome. Paris, den 18. März 1851. Meine geliebke ſenny! In Beankwortung Deiner lieben Briefe vom 24. Februar und 10. März komme ich, um mit Dir zu plaudern, was für Deinen Vater ſteks ein Augenblick des Glücks ohne jede Bitterkeik iſt. Ich kann, liebes Kind, auf das Glück nichk verzichten, Dich wieder zu ſehen, ich will nicht ſterben, ohne Deinem Mann für das Glück zu danken, das er Dir bereikek, ohne Dich, meine geliebte ſenny, und Deine Kinder zu ſegnen. Ich verzeihe gern meiner guten Pauline, die alle Freude, die das Bildchen meines kleinen Otko mir gemacht hak, allein auf meine Liebe zu Dir zurückführk; ſie bildek ſich ganz irrkümlicherweiſe ein, daß ich ſie weniger liebe als Dich; ich mache keinen Unkerſchied zwiſchen Euch beiden, weil Ihr beide in gleicher Weiſe meine Liebe verdienk und Eurem Bater die gleiche Zärklich⸗ keik entgegenbringk! — Ich freue mich der neuen Stellung, die ihr einnehmt, indem ihr nach Roſenberg überſiedelt; Werner findet dork einen ſegensreichen Wirkungskreis. 63 Ich habe mehr als einen Monak mit der Marquiſe (die für Dein freundliches Gedenken herzlich dankt) ruhig auf dem Lande gelebtk, wo wir uns des ſchönſten Wekkers der Welk erfreuk haben; ſeik dem 4. d. Mks. ſind wir zurückgekehrk, und ich hakke die Ungeſchicklichkeik, mir eine Erkälkung zuzuziehen, die mich zehn Tage lang an das Zimmer feſſelke und mich hinderte, unſere liebe Pauline zu umarmen. Seik einigen Tagen entſchädige ich mich dafür, indem ich ſie ſo oft als möglich aufſuche. Geſtern mußke ſie ihres Auges wegen, das ſich wieder verdunkelte, zur Ader gelaſſen werden, krohdem fand ich ſie leidlich wohl, und Du, geliebte Zenny, ſtehſt immer im Mittel⸗ punkt unſerer Unterhalkungen. — Rapoleon gehk es guk, er bikkek mich, Dich ſeiner zärtlichſten Freundſchafk zu verſichern; Blanqui empfiehlt ſich Dir angelegentlichſt, und alle laſſen meiner Fenny volle Gerechtigkeik widerfahren, was mich ſehr beglückt. Der politiſche Horizonk iſt finſter, mehr oder weniger überall, aber da wir nur die Werkzeuge der Vorſehung ſind, wird nichts geſchehen, was nicht geſchehen muß, und wenn man ein gutes Gewiſſen hak, ſo kann man in Kuhe und Reſignakion die Dinge er⸗ warken: „kue was Du kannſt, es kommk was kommen muß“. Es gibk mehr als eine Gelegenheik, geliebkes Kind, die mir ge⸗ ſtattek, auf unſer Wiederſehen zu hoffen, und ſobald ſie ſich bietet, werde ich ſie nicht enkweichen laſſen. Lebwohl, meine ſenny, ich drücke Dich an mein Herz und ſegne Dich und Deine Kinder. Dein Dich liebender Vaker Jerome. Paris, den 29. Auguſt 1851. Meine liebe Jenny! mik Freuden denke ich daran, daß dieſer Brief zu Deinem Ge⸗ burkskage in Deine Hände gelangen und Dir meinen väkerlichen Segen bringen wird, was meine ſenny, die in ihrem Herzen die Keime alles Huten und Edlen trägt. ſicher glücklich macht. Küſſe in 64 Paris ce 3 Avril 1848 Ma chère & bonne Jenny ! Ta lettre, que je reçois par ta sœur me rend bien heureux. Elle est pour moi d'une véritable consolation au milieu du bouleversement, dont personne (quelqu'expérience que l'on puisse avoir) ne peut prévoir la fin !!! Tu as bien raison, chère Enfant - nos liens sont saints dans la nature, et sont par consequent imprescritibles, mais le secret doit rester entre nous, ton adorable mère l'a emporté au ciel avec Elle: mais chère enfant, toi que j'ai eue dans mes brais lorsque tes yeux n'étoient pas encore ouverts à la Lumière, toi que j'ai cru pendant long-temps que tu etois Pauline religieuse, je ne t'ai jamais oubliée, et te prendre dans mes bras et te donner de vive-voix ma Bénédiction, comme je te l'envoye dans le moment par écrit sera pour moi un jour de bonheur. Embrasse tes enfans pour leur vieil ami inconnu jusqu'à jour; mais désormais ma Jenny saura leur inspirer la tendresse & de l'affection pour lui !!! Si Werner est à jour de ton secret, serre-lui affectueusement la main. Je le remercie du bonheur dont il fait jouir ma Jenny. Je te serre sur mon cœur en te bénissant ton affectueux père Jérôme meinem Ramen Deine lieben Kinder: ein natürlicher Inſtinkk muß ihnen ſagen, daß ſie mich lieben müſſen. — Ich überlas gerade Deinen lehzten lieben langen Brief, als meine liebe Pauline mir den vom 23. ſchickte: zur Zeik der Feuersbrunſt war ich krank und auf dem Lande; übrigens häkte ich mich des Marſchall Sebaſtiani wegen nicht derangierk; ich habe mehr als eine Urſache, dieſen Mann nicht zu lieben! . . . Du mußk nicht glauben, mein liebes Kind, daß der politkiſche Horizonk unſeres Frankreich ſo ſchwarz iſt, daß Jſeder um unſere Exiſtenz zitkern müßke. Sei verſicherk: Niemand kann uns Böſes kun, als wir ſelbſt, wenn auch zugegeben werden muß, daß die Lage eine krikiſche iſt. Ich bin gewiß, Gotk wird Frankreich ſchützen! Bei der Feuersbrunſt habe ich von 250 Fahnen nur . .. (un⸗ leſerlich) verloren; die 50 Fahnen von Auſterlitz befanden ſich in höchſter Sicherheik in meinem Kabinek, wo Du Dich enkſinnen wirſt, ſie geſehen zu haben. Unſere liebe Pauline fährk fork, ſich wohl zu befinden; die Heilung ihres Auges iſt wirklich ein Wunder, und ein Wunder, das mich ſehr glücklich machk, denn das geliebke Kind wäre ſehr zu bedauern geweſen, wenn ſie die, die ſie liebk, nicht mehr hätke ſehen können! Lebwohl, liebe ſenny, ich drücke Dich an mein Herz und ſende Dir zu dieſem Tage meine wärmſten väkerlichen Segenswünſche. Dein Dich liebender Vaker Jerome. Paris, den 14. Rovember 1851. Meine geliebte ſenny! Dein Brief hak mich gerade am Vorabend meines Geburkskages erreicht, und ich antworte Dir ſofork, um Dir zu ſagen, daß er nicht ein Work enthält, das nichk den Weg zu meinem Herzen ge⸗ funden häkte! Ach mein liebes Kind, warum müſſen die Ereigniſſe und das Schickſal uns ſo weit von einander enkfernen?! Ich wäre ſo glücklich, Deine Kinder um mich zu haben, Deinem vortrefflichen Mann zu danken für das Glück, mik dem er dich umgiebt. Aber, liebſte Jenny, irgend ekwas ſagk mir, daß ich nicht ſterben werde, Im Schalten der Titanen. 5 65 ohne Euch Alle geſegnek zu haben. Mein Leben iſt recht bewegk, krohzdem ich mich zurückgezogen habe, und ich ſehe, wie die Ruhe, deren ich ſo ſehr bedarf, mir immer weiter enkfliehk. — Mik Freuden empfing ich das Portraik Deiner reizenden kleinen Marianne, grüße ſie aufs zärtlichſte von mir, ohne dabei der Anderen zu vergeſſen. Ich hoffe, meine enny, Du ſprichſt Ihnen ofk von Deinem „alten Pathen“ (weil es nun einmal ſo ſein muß!); lehre ſie, mich zu lieben, damit, wenn ich ſie einmal umarmen darf, ich ſpüren kann, daß ihr eigener Herzſchlag es ihnen ſagt: kein Fremder iſt es, der uns küßt! Ich ſegne Dich, liebes Kind, und grüße Deinen Mann und Deine Kinder. Dein Dich liebender Vater Jerome. P. S. Ich übergebe meinen Brief Deiner guken Schweſter, die mein ganzer Troſt iſt! De Havre, den 2. Sepk. 1857. Meine liebe ſenny! Ich beankworke Deinen Brief vom 26. vorigen Monaks, der mich hier erreicht hat, wo ich ſeik vierzehn Tagen bin, und wo die See⸗ lufk mir vorkrefflich bekommk (Du weißt, ich nehme keine Seebäder). Ich baue ſogar an einem Luftſchloß, das ſich hoffentlich nächſtes Jahr verwirklichk: Dich mit Deinem Mann und Deinen Kindern hier her kommen zu laſſen. Das würde Dich freuen, meine liebe Zenny? Ich, der ich Dein liebevolles Herz kenne, bin davon überzeugt! — Dein Brief hak mich ſehr inkereſſierk. Ich möchte nur, daß mein lieber Otko ſeine Geſundheit ſchont, die nichts jemals erſehen kann. Ich kann mich als Beiſpiel anführen: ich, der ich 73 Jahre alk bin und vom Alter gar nichts ſpüre, und darum noch ſo glücklich bin, meinem Vakerland und meiner Familie zuweilen noch nützlich ſein zu können. — Mein guter Rapoleon aſſiſtierk im Augenblick der Grundſteinlegung der Rhone⸗Brücke und der erſten Eröffnung des Monk Cenis; das liebe Kind iſt mein Glück und mein Skolz, und 66 ſeine Liebe entſchädigt mich für manche Lebensleiden. (Die gute Pauline, deren zärkliche Liebe ich kenne und die ich darum doppelt liebe, ſchaffk ſich übrigens mehr Sorgen als vorhanden ſind — ſage es ihr rechk deutlich.) Sage Okko, daß man ein Duell vermeiden muß, wenn die Ehre nicht verletzt iſt, daß es aber beim Beginn des Lebens auch darauf ankommt, nichk für feige gehalten zu werden — ich bin übrigens überzeugt, daß er getan hat, was zu kun notwendig war. Küſſe ihn und Deine anderen Kinder von mir. Ich umarme Dich zärklich. Dein Dich liebender Vater Jerome. 67 Unter Goethes Augen Jennys Kindheit. Weimar, das die junge Frau von Pappenheim an der Seite des Gatten, den älkeſten Sohn im Arm, in kindlichem Frohſinn verlaſſen hatke, nahm ſechs jahre ſpäter die einſame, gebrochene Frau wieder auf. Der Mann, der ſchon lange ein geiſtig Toker war, hakke in Skammen den letzten Akemzug gekan, ihre kleinen Söhne waren ihr — auf höheren Familienbeſchluß wahrſcheinlich — ge⸗ nommen und zu einem Pfarrer in Penſion gegeben worden, der am beſten geeignet ſchien, ſie vor dem Einfluß der „ſündigen“ Mutter zu bewahren, nur die kleine ſenny hatte man ihr gelaſſen. In der Stadt Karl Auguſts und Goethes hatte man gelernt, die Liebes⸗ beziehungen der Menſchen untereinander mit anderen Augen anzu⸗ ſehen als mit denen der Sitkenrichker, darum galk auch Diana hier nicht als Verfehmte, ſondern als Unglückliche, der Liebe und des Mitleidens ebenſo würdig wie bedürftig. Ihre ältere Schweſter Iſabella, die an den General von Egloffſkein verheiratet und Mutker der auch von Goethe ofk bewunderten ſchönen Töchter war, bereitete ihr ein Heim; ihre einſtige Herrin, die gütige kluge Erbgroßherzogin Maria Paulowna empfing ſie mit offenen Armen und ſorgte dafür, daß auch ihr kleines Töchterchen in Weimar heimiſch wurde. Ihre eigenen beiden Töchter, Marie und Auguſta, die ſpäkere deutſche Kaiſerin, wurden die unzerkrennlichen Spielgefährken und lebenslangen kreuen Freundinnen der Tochter Dianens. „Als kleines, dreijähriges Mädchen“, ſo erzählk ſenny ſelbſt, „brachte mich meine Mutker zum erſten Mal nach Belvedere, dem Sommeraufenthalt Maria Paulow⸗ nas, um mik den Prinzeſſinnen zu ſpielen. Ich war mik Auguſta in gleichem Alker und ſollke von nun an in faſt geſchwiſterlichem Berhältniß neben ihr aufwachſen. Prinzeß Auguſta war ein ſchönes Kind mit früh entwickelkem, energiſchem Charakker. Sie hak den Gouvernanken die Erziehung nicht leicht gemacht, und mancher Kinder⸗ 69 ſpiele erinnere ich mich, die nichk ohne Sturm und Thränenregen verliefen, weil ſie ihr Trotzköpfchen durchſetzen wollke.“ Mik ihr zuſammen genoß ſie den erſten, bereiks in ihrem fünfken Jahr begonnenen Unkerrichk. Es muß ein fröhlicher Wekkeifer zwiſchen den beiden geweſen ſein, denn ſenny war ein ungewöhnlich begabkes Kind, und Auguſta „zeigte eine eiſerne Ausdauer, die durch klaren Kopf und leichke Auffaſſung unkerſtützk wurde; ſie war wie ein Bienchen, das aus jeder, auch der unſcheinbarſten Blüte ſich das Süßeſte holte."* Goethe, der Maria Paulowna, die „Lieblich⸗Würdige“, ſehr liebte „ſie iſt eine der beſten und bedeukendſten Frauen unſrer Zeik und würde es ſein, auch wenn ſie keine Fürſtin wäre; denn darauf kommt es an, daß, wenn der Purpur abgelegt wird, das Beſte übrig bleibe“, ſagte er von ihr zu Eckermann — und „etwas Väterliches im Umgang mit ihr hatte“, kümmerte ſich ernſtlich um die Erziehung ihrer Kinder, und ſie, die „in ihrem bewundernden Aufſchauen zu ihm die Rolle einer Tochker übernahm“, richkete ſich darin ganz nach ſeinem Rak. Dadurch kam auch ſenny vom erſten Augenblick des bewußken geiſtigen Erwachens unker ſeinen Einfluß, und es war die Akmo⸗ ſphäre ſeines Geiſtes, in der ſie aufwuchs. Für ſie ſelbſt galk mit, was ſie in Erinnerung an dieſe frühe Zeik von Goethes Verhältnis zu Karl Auguſts Enkeln berichtete: „Er war leicht ſteif und zuge⸗ knöpfk, aber niemals ihnen gegenüber. Kamen ſie zu ihm, was häufig geſchah, ſo hatke er immer neue, intereſſanke Dinge zu zeigen und zu erklären: den Kindern Bilder und geſchnittene Steine, den Heranwachſenden Bücher und Kunſtwerke. Rührend war es, wie er auch für das körperliche Wohl der Kinder beſorgk war, wie er ſich der Ausführung ſeines Planes, den Grieſebachſchen Garken für ſie zum Tummelplatz zu kaufen, freute.“ Auch Karl Auguſk und Luiſe kraken in den inkimeren Geſichks⸗ * Dieſe Außerung iſt ein Zitat aus den Schrifken meiner Großmutker, wie alles, was ich im folgenden ohne weitere Bemerkung unter Anführungszeichen mitkeile. 70 kreis des Kindes. „In meiner frühſten ſugend“, ſo ſchreibk ſie, „hak mir niemand mehr imponierk als die Großherzogin Luiſe, Karl Auguſks Gemahlin. Sie war ernſt, ruhig, fürſtlich, von einer Würde der Erſcheinung, die ſich auch im Aeußeren kundgab. Als ſie es läſtig und unangemeſſen fand, ſich noch Toilekkengedanken zu machen, blieb ſie bei einer beſtimmten, ihr zuſagenden Mode: unker der lichten, krauſen Blondenmütze einen Kranz von weißen Löckchen um die Stirn: ein dunkles, einfarbiges, ungemuſterkes, ſchwerſeidenes Kleid, vorn bis zur Taille herunker ein anliegendes, garnirkes Blondentuch, halblange Puffärmel mit Handſchuhen bis zur unkerſten Puffe, das Kleid faltig, lang, hinten etwas ſchleppend, dazu die edle halkung, die klangvolle tiefe Stimme — ſo krat ſie in den zu ihr geladenen Kinderkreis und freute ſich an den Spielen ihrer Enkelinnen, der Prinzeſſinnen Marie und Auguſta. So hat ſich mir ihr Bild eingeprägt, ſo malte ſie auch ihre Hofdame, ulie von Egloffſkein. Wenn ſie und Karl Auguſt zuſammen erſchienen, konnte man ſich keinen ſchärferen Gegenſatz denken: die ernſte Fürſtin mik dem durchdringenden Blick, dem krotz aller echken Weiblichkeik ſtrengen Urtheil, der ruhigen Sprechweiſe, der entſchiedenen Abneigung gegen Alles, was nur im Entfernkeſten an Frivolikät ſtreifte, und der kleine, über das ganze runde Geſichk immer freundlich lächelnde Großherzog, deſſen Witze leicht etwas derb, deſſen Schmeicheleien leicht etwas grobkörnig ſein konnten. Als Beide jung waren, mag dieſer Gegen⸗ ſahz empfindlich geweſen ſein, im Alker ſkörte er nicht mehr, auch hatte die kreue, aufopferungsvolle Liebe der Großherzogin für den Gatten jede Klufk zu überbrücken vermochk. Er zollke ihr dagegen eine unbegrenzte Hochachtung, ein ſchrankenloſes Verkrauen. Was ſie gegenſeitig am feſteſten verbunden hat, war ihre Vakerlandsliebe. Man hat Karl Auguſt als Mäcen gefeierk und hätte ihn doch noch mehr als Landesherrn feiern ſollen. Sein klarer Blick ſchien ſelbſt die Zukunfk zu durchdringen, die polikiſchen Verhältniſſe vorherzuſehen; 71 aber er ging nichk nur ins Große, er ſah auch das Kleine, das Kleinſte und fand überall und immer in Luiſen die beſte, verſtändnis⸗ vollſte Unkerſtützung. Wie ſie Rapoleon begegnete, weiß die Welk⸗ geſchichte; wie ſie im Stillen für die Armen im Lande ſorgke, weiß das Volk; wie ſie uns Kindern eine mütkerliche Fürſtin war, das wiſſen ihre Enkel, das weiß auch ich. Sie blieb mir aber immer, ſo ofk ich ſie ſah, die Großherzogin, denn „eine Würde, eine Höhe enkfernte die Verkraulichkeik. Ofk erzog ein Blick von ihr uns mehr als eine Strafe unſerer Erzieherinnen, und ein kleines Geſchenk aus ihrer hand wurde mik mehr Ehrfurchk bekrachtek als die größte Bonbonniere von Karl Auguſt, der mik uns ſcherzke und lachte und es gar nicht liebke, wenn „die Frauenzimmerchen zimperlich katen“, ſondern gern fröhliche, auch kecke Ankworken hörte.“ Von nachhaltigem Einfluß auf Jennys geiſtige Enkwicklung ſollke der Mann werden, dem ihre Mutter im Jahre 1817 die Hand zum zweiten Ehebunde reichte: Ernſt. Auguſt von Gersdorff.“ Seik langem im Weimariſchen Dienſt, hatte ihn der Herzog, als Probe auf ſeine Befähigung, mik ſeiner Vollmachk am Wiener Kongreß teilnehmen laſſen, und er hak dieſe Probe, zu der ihn Goethe mit den Abſchiedsworten enkließ: „Der Herzog und das Weimariſche Volk verdienen es, daß ein Mann wie Sie Guk und Bluk, Gedanken und Tatkraft für ihre Sache einſetzk“, 6s glänzend beſtanden. Mik ſcharfem Blick hatte er nichk nur die Dispoſition zu dieſer „großen Komödie“ erkannt, ſondern auch die Abſichken ihres Regiſſeurs Metkernich durchſchauk. Er erreichte alles, was für Sachſen⸗Weimar zu erreichen war: die Abtretung eines bedeutenden Gebiets durch Preußen und die großherzogliche Würde für das Herrſcherhaus. Sein größtes Verdienſt aber erwarb er ſich nach ſeiner Rückkehr und ſeiner Er⸗ nennung zum Miniſter, indem er Karl Auguſks Abſichk, ſeinem Lande — im Gegenſatz zu allen anderen deutſchen Fürſten — eine Ver⸗ faſſung geben zu wollen, auf das lebhafteſte unkerſtützke. Gersdorffs 72 Energie und liberaler Geſinnung, ſeiner Unabhängigkeik von den reaktionären Gelüſten eines Metkernich und Genoſſen war es vor allem zu danken, daß der Verfaſſungsenkwurf in wenig Wochen durchgearbeikek, von der Regierung geprüfk und vollzogen, daß die Freiheik der Preſſe innerhalb der Landesgrenzen geſicherk und, zum erſten Mal in Deukſchland, eine allgemeine Einkommenſteuer ins Deben gerufen wurde. Wenn er ſich ſo durch ſeine politiſche Tätig⸗ keik als ein für ſeine Zeik und ſeinen Stand ungewöhnlich aufge⸗ klärker Mann erwies, ſo zeigte er ſich durch ſeine literariſchen und künſtleriſchen Inkereſſen als echter Bürger Weimars. Ein gründlicher Kenner der griechiſchen Dichker und Philoſophen, hatke er ſich jedoch vor der ausſchließlichen und kritikloſen Verherrlichung der einheimiſchen Großen ſteks zu bewahren gewußk und über ihrem Kuhm nie ver⸗ geſſen, zu beobachken und aufzunehmen, was das Ausland an poeti⸗ ſchen und künſtleriſchen Schätzen zu bieken hatte, und was die Ver⸗ gangenheik hinkerließ. Wie alle Menſchen von inkenſivem Leben und ſtarker Arbeikskraft, hatke er, krotz ſeiner amtlichen und privaten Tätigkeik, dabei immer noch Zeik, ſich ſeiner Familie und ſeinen Freunden zu widmen. Jennys lebendiger Geiſt mußte ihn beſonders anziehen, und früh ſchon beſchäftigte er ſich mik ihr, nie müde, ihre Fragen zu beankworten und ihren Inkereſſen eine ernſte Richtung zu geben. Schon das neun⸗ und zehnjährige Mädchen nahm er auf ſeine Spaziergänge mit, ihr, ſtatt der Kindermärchen, Homers Helden⸗ geſtalten vor Augen führend. Das Jahr 1822 enkführte ſenny, der Sitte der Zeit folgend, in eine Skraßburger Penſion, wo ſie nicht nur ihre Sprachkennkniſſe vervollkommnen, ſondern von wo aus ſie vor allem mit der Familie ihrer Mukter in nähere Beziehungen kreken ſollke. Aber wie ſie auch hier auf Goethes Wegen ging, ſo wurde auch auf andere Weiſe der Gedanke an ihn, die Verbindung mik ihm aufrecht erhalken: war doch ihr Onkel, Baron Karl von Türckheim, in deſſen Familie ſie 73 jeden Sonntag zubrachte, der Sohn von Goethes Lili, derjenigen Frau, die von allen, die er liebte, die ſeiner würdigſte geweſen ifk.s Als ſenny nach Skraßburg kam, war die Erinnerung an ſie, die der Miktelpunkt nicht nur einer zahlreichen Familie, ſondern auch eines großen Freundeskreiſes geweſen und erſt 1816 geſtorben war, noch äußerſt lebendig, und die zärtliche Liebe, die ſie überall genoſſen hatte, mochte wohl nicht müde werden, ſie zu ſchildern. In ſtrahlender Schönheik lächelke ihr Bild der kleinen ſenny entgegen, ſobald ſie die Schwelle des Hauſes der Verwandten überſchrikten hatte — kein Wunder, daß ſie der verlaſſenen Geliebten Goethes in ihrem ſchwärme⸗ riſchen Herzen Alkäre bauke, die die Jahrzehnte überdauerken, ohne der Verehrung für Goethe ſelbſt irgendwelchen Einkrag zu kun. Wie ſerome für ſeine Mitſchüler im Kollegium zu Juilly der Gegenſtand allgemeiner Bewunderung geweſen war, weil er Rapoleon zum Bruder hatke, ſo wurde ſenny von ihren Mitſchülerinnen wie ein Weſen ganz beſonderer Ark betrachtet, weil Goethe ſie kannke, weil die Hand des großen Mannes auf ihrem Scheitel geruhk. Bekam ſie Briefe aus Weimar, ſo war die Reugierde aller eine große, und ſie ſelbſt wollke immer viel mehr wiſſen, als man ihr ſchrieb: „Ich muß meine Eltern damals wohl ſehr mik neugierigen Fragen gequält haben, denn ich entſinne mich, daß meine Mutker mir ſchrieb, ich möchke mich mehr um meine Bücher als um Weimars Feſte kümmern. Trohzdem floſſen Berichte darüber mir reichlich zu. Mein ſehr ge⸗ liebter Stiefvaker war es beſonders, der mir krotz der ihn überbür⸗ denden Staatsgeſchäfke in ſeiner geiſtvoll-humoriſtiſchen Ark von Weimar erzählte. War es doch ein Paradies für mich, Goethe, der Abgotk meines kindlichen Herzens, alles, was mit ihm zuſammenhing, werthvoller als alle Herrlichkeiken der Welk. Die heutige Jugend hak keinen Begriff von ſolch einem Enthuſiasmus; ihn zu haben, iſt ein großes Glück, deſſen Mangel einen kraurigen Schakken auf das Leben unſerer jungen Leuke wirft. Die Begeiſterung für Goethe war bei 74 uns Penſionskindern ſo mächtig, daß man meinen ſollke, wir hätken ſchon Jahre lang andächtig zu ſeinen Füßen geſeſſen, und wir laſen doch nur heimlich hie und da ſeine Werke! Daß ich ihn kannte, daß er mir das haar geſtreichelt, die Hand gereicht hatte, gab meiner Perſon in den Augen meiner Freundinnen eine weihevolle Bedeutung. ſede Zeile, die von Weimar kam, wurde verſchlungen, jedes Work, das er geſagk hatke, machte die Runde durch die ganze Mädchenſchar. Wir haben einmal, als er krank war, bitkerlich weinend in einer Ecke geſeſſen, und ich und meine liebſte Freundin falketen ſchließlich die Hände zu einem Kindergebek für den großen, bewunderken Dichker. Ein Gefühl wie dieſes mag heute als ſentimental be⸗ lächelk werden, ich glaube doch, wir waren dabei frommer, glücklicher, unſere Seelen harmoniſcher, unſer Geiſt erfüllk vom Guten, Schönen und Wahren. Die Empfänglichkeik dafür war größer, die Freuden des Lebens darum zahlreicher, nicht vergällt durch Spottſucht und wohlfeile Witze. Da ſie im Zeichnen beſonders viel Talenk entwickelke, veranlaßte ſie ihre Mukter im Jahre 1825, eine Arbeik von ſich zur Ausſtellung in die Weimariſche Zeichenſchule zu ſchicken. „Ich ſchickte“, ſo ſchreibk ſie ſelbſt, „die Copie eines charaktervollen Bildes Le prisonnier; es war in Wiſchmanier, à l'estombe, und ſtellk den Momenk dar, wo ein bekehrter Verbrecher den letzten Troſt ſeines Beichkvaters empfängk. Zu meinem Enkzücken erhielk ich, damals vierzehn fahre alk, eine ſilberne Medaille, worauf neben ſchön ausgeprägten, ſymboliſchen Figuren die Worte ſtanden: „Der Fleiß benutzk die Zeit“ und „Die Zeik belohnk den Fleiß“. Um mich dankbar zu beweiſen, ſchrieb ich einen kindlich⸗hoch⸗ frabenden Brief: „Du größter Dichter meines lieben Vaterlandes uſw.“, und zeichnete mit großer Mühe nach einem alken Folianken, in welchem Ludwig XIV. von Geſchichte und Wahrheik, welche Reid und Lüge zerkreten, verherrlicht wurde, deren Tempel, nur daß ich in den Riſchen, ſtatt der des Königs, die Büſten von Schiller und Goethe 75 anbrachke. Karl Auguſt ſagte, als er das Bild ſah: „Was haben ſie das arme Kind mik Geſchmackloſigkeiten gequält.'" Auch die Fäden, die dem Kinde noch unbewußt, es ſo eng mit dem großen Korſen verknüpfken, ſollken ihr bei Gelegenheik ihres Straßburger Aufenthalks ahnungsvoll zum Bewußkſein kommen; der Bruder ihrer Mukker, Graf Eduard Waldner, ein Kriegsgefährte Rapoleons, dem vor Moskau ein ruſſiſcher Degen die Schädeldecke verletzk hatke, ſo daß er Zeik ſeines Lebens genötigk war, eine Platke von Gold zu kragen, machke mik ihr während einiger Ferienwochen eine Reiſe durch die Vogeſen. Eben erſt hatte ſein Kaiſer auf ferner Felſeninſel die große Seele ausgehaucht — wie einer jener Götter der Vorzeik, bei deren Anblick Ehrfurcht und Enkſetzen mikeinander ſtreiken, ſtieg, von ihm emporgezaubert, ſeine Geſtalk vor dem geiſtigen Auge des Kindes empor. Der Kauſch der Freiheitskriege hatte in ihr noch keine Erinnerung hinkerlaſſen können, und in Weimar war die Bewunderung, die Goethe dem Welkeroberer zollte, doch nicht ohne Einfluß auf ſeinen Kreis geblieben, ſo daß Jennys Empfinden dem Eindruck rückhaltlos offen ſtand. Bielleicht wirkke auch jener geheimnisvolle Einfluß des Bluks, der ſich nicht faſſen und wägen läßk, und doch Berwandtes zu Verwandkem zieht, denn lange ehe ſie von ihrer Herkunfk wußke, beherrſchte das Schickſal der Bonaparkes ihre Phantaſie und feſſelte ſie mit beſonderer Ciebe an Eduard Waldner, der ihr am meiſten von ihnen zu erzählen wußte; denn bei der Mukter daheim durfte die Vergangenheit mit keiner Silbe berührk werden, und der Stiefvaker verwies ihr ſtirnrunzelnd jede Frage danach. Unter all dieſen verſchiedenarkigen Einflüſſen, zu denen ein für die damaligen Begriffe von Mädchenerziehung ziemlich ſtrenger Unker⸗ richk in den Wiſſenſchaften und Künſten hinzukam, entwickelte ſich Fenny geiſtig und körperlich wie jene glühenden Blumen des Südens, deren eine ſie war. Der Brief eines franzöſiſchen Lehrers an das damals dreizehnſährige Mädchen zeugt von ihrer Frühreife. 76 „Ihre inkellektuelle Entwicklung“, ſo ſchreibt er, „iſt Ihrem Alter weik voran geeilk; das iſt zuweilen ein Unglück, denn was frommt es, ſo früh, im Alker des erſten Lenzes, in die Abgründe des Daſeins ſehen zu können: Wer erfreuke ſich des Lebens, Der in ſeine Tiefen blickt! Ich weiß — ein Jufall hak mir darüber Gewißheik verſchafft, — daß Ihre Gedanken reifer ſind, als man es von der doppelken Zahl Ihrer jahre erwarken würde . . . Wie ſteht es übrigens um Ihre Lekfüre? Wie weik ſind Sie mik Schiller? Sind die Eindrücke von dem, was Sie leſen, immer noch ſo ſtark, daß Sie alles darüber vergeſſen, was Sie umgiebt?“ Leider fehlt die Antwork auf dieſen Brief; ſie hätke aber wohl nichks anderes enkhalten können als eine Beſkätigung des darin Geſagten. Das Gemük dieſes Mädchens war nichk nur wie weiches Wachs, in dem alles innere und äußere Er⸗ leben ſeine kiefen Spuren hinkerließ, es war auch wie köſtlicher Marmor, der unter den Händen des Künſtlers „Leben“ ſich zur Schönheit formk. Eben 15 Jahre geworden, ſah ſie die Heimak wieder. Ihr Stief⸗ vaker, der ſteks in lebhafker Korreſpondenz mikt ihr geſtanden hatte, ſuchte ſie auf die Freuden wie auf die Gefahren des neuen Lebens brieflich vorzubereiten. Früher ſchon hatke er einmal von ſich geſagt: „Ich ſtehe in eigenſinnigem Gegenſatz zu allem Weimarer Götzen⸗ dienſt“, jehzk ſchrieb er an Jenny, deren Natur ihm geneigk ſchien, ſich in anbetender Schwärmerei aufzulöſen: „Was Goekhe uns war, uns iſt und nach ſeinem Tode, wenn man ihn voll und ganz zu erkennen im Stande ſein wird, noch werden kann, weiß Riemand höher zu ſchätzen als ich, und grade deshalb wünſche ich, daß Du nichk zu denen gehörſt, die ihn, wie die Heiden ihren Götzen, anbeten, ohne ihn zu kennen, nur des berühmten Ramens wegen. Das iſt Heuchelei und Eitelkeik, zeugk aber von keinem großen Geiſt, denn ein ſolcher gehörk dazu, um ihn zu ver⸗ ſtehen und wahrhaft zu würdigen, wie ich es von Dir erwarte."65 77 Mehr als er ahnte, war ſie ſeinem Rak ſchon gefolgk, hatte heimlich über Werthers Leiden bitkere Tränen vergoſſen, und ſich von Gretchens Schickſal das Herz erſchükkern laſſen. Auf den Eindruck, den ſie davon empfing, bezog ſie ſich ſpäter, wenn ſie angeſichts gewiſſer ſkrenger Erziehungsmethoden in Bezug auf die Lektüre zu ſagen pflegte: „Laßt die Kinder nur leſen ohne Kommenkar, ohne Ge⸗ und Verboke. Das Herrliche großer Dichkungen, das ſie vielleichk noch nicht verſtehen, empfinden ſie, und an dieſer ſkarken Empfindung wächſt ihr Verſtändniß und ihre Seele weikek ſich.“ Auch Prinzeß Auguſta, ſo erzählk ſie, krug früh ſchon das Verlangen, Goethes Werke zu leſen, und ſprach ihm davon. „Er wählte lange, ehe er ihr ein Buch nach dem an⸗ deren in die Hand gab.“ Mik ihr gemeinſam, alſo auch unter ſeiner Leikung, ſetzte ſie die in Straßburg allein begonnene Lektüre fork. Alle ihre alken Beziehungen knüpfken ſich wieder an, viele neue traten hinzu, und der Skrudel des Weimarer Lebens riß ſie um ſo mehr mit ſich fork, als ihr Liebreiz alle Welk bezauberke. Den Skempel ihrer Abſtammung krug ſie unverkennbar auf der Skirn, in den dunklen Augen, auf der warmen dunkel gekönken Hauk, in der Leb⸗ haftigkeit und der Reife ihres Weſens. Goethe, der für Schönheit und Jugend immer gleich Empfängliche, war entzückt von ihr. „Fenny von Pappenheim“, ſagke er zu Felix Mendelſohn, „iſt gar ſo ſchön, ſo unbewußk anmukig“,66 und ſeine Vorliebe für ſie drückte er bei allen Gelegenheiten aus. In ihrer großen Beſcheidenheit hak ſie ſpäker nur davon erzählt, wenn ich ſie darum bak oder der Groß⸗ herzog Karl Alexander, ihr kreuer, lebenslanger Freund, ſie im Inter⸗ eſſe der Goethe-Forſchungen dazu aufforderte. Stellk man aber ihre verſchiedenen Schilderungen — die, die ſie als junges Mädchen ſchrieb, und die, welche die Erinnerung der alken Frau diktierke — zuſammen, ſo wacht Alk⸗Weimar auf vor uns, wie es nur durch den erweckt werden kann, der ſelber in ihm lebte und für den es nie geſtorben iſt. Es ſei ihr darum ſelber das Work gegeben: 78 Goethe. „Im Rovember 1826 kam ich nach Weimar zurück; ſchüchtern. mit hochklopfendem Herzen erſchien ich vor Goethe, der meine Mukker und mich im Aldobrandinizimmer mit großer Freundlichkeik empfing. Ich ſehe ihn vor mir, nichk allzu groß und doch größer er⸗ ſcheinend als Andere, mik jener Jupiterſtirn, die ich am vollendetſten in der von Bettina gezeichneken Skatue wiederfinde, die unſer Muſeum ſchmückk, während ſeine Augen durch Stieler am beſten wiedergegeben ſind. Auch mich ſehe ich noch im roſa Kleid und grünen Spenzer, unter einem großen, runden Huk heiß errötend bei ſeinem kräftigen Händedruck. Ich brachte keinen Ton über die Lippen, obgleich er mich, wie er es gern bei jungen Mädchen that, mik „Frauenzimmerchen“ und mmein ſchönes Kind“ ermuthigte; erſk als er lächelnd ſagte: „Die Augen werden viel Unheil anrichten“, ermannte ich mich zu der verwunderken Frage: „Warum denn gerade Unheil?“ Dann verging ein Jahr, wo ich Goethe nur bei ſeinen Abendgeſellſchaften und zu ſeiner Geburks⸗ tagsfeier ſah; er hak mir jungem Ding aber immer ſo imponierk, daß ich vor ihm eigentlich nie ich ſelbſt war, ſondern eine Seele, die mit auf der Bruſt gekreuzken Armen zu ihm emporſah. Ich hielk den Athem an, wenn ich ihn ſprechen hörke, und glaubte vergehen zu müſſen vor Scham, als er meine Mukter einmal frug: „Was kreibt denn eigenklich die ſchöne Kleine?“ Meine Richtigkeik drückke mich von da an ſo ſehr, daß ich manche Skunde der Rachk wachend zu⸗ brachke, alle Bücher, deren ich habhafk werden konnke, um mich herum. Rach der Geburk von Alma, Goethes reizender Enkelin, die meine lebendige, ſehr geliebke Puppe war, wurden meine Beziehungen zu Goethes Haus und Familie ſehr innige. Täglich ſtieg ich nun zu Ottilie hinauf, ich lernte die kleine Alma wickeln, ihr Milch im Schnabel⸗ täßchen geben, bekümmerte mich zu Anfang wenig um die Mutker, und wenn die Kinderfrau beſchäftigk war, hieß es: Fräulein von 79 Pappenheim iſt ja da und hak das Kind. Einſt, an einem Sonntag, kam ich aus der Kirche, Otkilie war nichtk in ihrer Skube, ich hatte mein Püppchen und ſpielte mit ihm. Plöhzlich krat ein junger Mann herein, ſah uns bekroffen an, wirbelte ſeltſam im Zimmer umher, ſo daß ich ganz ängſtlich wurde. Als Oktilie auf mein Rufen erſchien, entpuppte er ſich als junger Engländer, Ramens Thiſtelswaike, der an Goethe empfohlen war und den er heraufgeſchickk hatke. Goethe frug nach ihm, und Ottilie erzählte von ſeinem auffälligen Benehmen, worauf Goethe lächelnd ſagte: „Wer ſo ſchöne Freundinnen hat, muß für Schleier ſorgen“, eine Äußerung, die mich mehr beglückte als alle Schmeicheleien, die ich je gehörk hatte. Walker und Wolf Goethe liebke ich bald mit einem ebenſo mütker⸗ lichen Gefühl wie ihre Schweſter, und daraus enkwickelte ſich nach und nach die Freundſchafk mit der Mutter. Ihr edler, poetiſcher Geiſt, ihre liebenswürdige Gabe, aus jedem Menſchen das Beſte und Klügſte, was in ihm lag, heraufzubeſchwören, das Reidloſe, Klatſchloſe, geiſtig An⸗ regende im Verkehr mit ihr übken einen unwiderſtehlichen Zauber auf mich aus; der Weg nach den Dachſtuben zu dem „verrückten Engel“, wie ſie meine Tante Egloffſtein, zu der IFrau aus einem anderen Stern“, wie ſie ihre Freundin, die Schriftſtellerin Anna ſameſonf nannke, wurde nur zu gern von mir zurückgelegk. So kam ich häufig an Goethes Tür vorüber; kehrke ich ein, ſo war es in ſeinem Eß⸗ und Empfangs⸗ zimmer oder in ſeinen Gärken, wo ich ihn kraf. Er ſelbſk führte da⸗ mals ſchon körperlich das regelmäßige Greiſenleben, was ihn ſicher ſo lange geiſtig friſch erhalken hat. Der einfache Wagen Karl Auguſts hielt ekwa zweimal in der Woche vor Goethes Haus, während die wunderbaren Freunde oben zuſammen waren. Der 28. Auguſt 1827 verſammelke zum letzten Mal eine Schar Grakulanken in Goethes Himmern. Späker unkerblieb auf ſeinen Wunſch der große, an⸗ greifende Empfang. Damals überbrachte König Ludwig von Bayern dem Lichter ſeinen Orden. Es war ein bewegler Augenblick, doch die 80 Dem heiligen Vater pflegt man, wie wir wiſſen, Des Fußes Hülle, fromm gebeugt, zu küſſen; Doch! wem begegnet's hier, im langen Leben, Dem eignen Fußwerk Kuß um Kuß zu geben? Er denkt gewiß an jene liebe Hand, Die, Stich um Stich, an dieſen Schmuck verwandt. Am 28ten Auguſt 1831. Der älteſte Verehrer J. W. v. Goethe Menge der Fürſten auf welklichem und geiſtigem Gebiek beachkeke ich wenig neben dem wunderbaren Glanz der Goethe⸗Augen. Das Jahr darauf ſchickte König Ludwig einen antiken Torſo als Geburkskags⸗ geſchenkan Goethe, wovon ſein Friſeur Kirchner, welcherkäglich die Friſur auf dem zupikerhaupk herſtellte, meiner Mutker erzählte: es wär' ein Mann ohn' Kopf und Arm', die würden aber wohl nachkommen. Ju einem ſpäteren 28. Auguſt — ſeinem letzken Geburkskag — ſchickke ich ein Paar Pankoffeln; da ich aber nie eine Künſtlerin, ja nicht einmal eine Verehrerin von ſogenannken Damenhandarbeiten war, ſchämke ich mich meiner unvollkommenen Gabe und ſchrieb, da ich nichk wagke, ſie ſelbſt zu bringen, folgende Verſe dazu: Nur ganz beſcheiden nah ich heuke mich, Wo ſo viel ſchönre Gaben dich umringen; Doch, Herr, Bedeutung hab auch ich, Denn Liebe und Verehrung ſoll ich bringen; Drum, wenn auch höhre, Meiſter, dich begrüßen, Mir gönne nur den Platz zu deinen Füßen. „Zwar kann ich Engeln nicht Befehle geben, Daß ſeine Schrikke ſie mik Ciebe führen, Doch will ich weich mit Seide euch durchweben, Daß ihn kein Steinchen möge hark berühren“; So ſprach die Herrin, und ſo laß mich ſchließen Und gönn auch ihr den Platz zu deinen Füßen. Es war etwa elf Uhr Vormittags, als Friedrich, Goethes wohl⸗ bekannker Diener, mir auf meiner Eltern Treppe begegneke, um der Freudeſtrahlenden des Dichters Dank zu bringen. Auf roſa gerän⸗ derkem, großem Bogen las ich folgende Ankwork: Dem heil'gen Vater pflegt man, wie wir wiſſen, Des Fußes Hülle, fromm gebeugt, zu küſſen; Doch! wem begegnet's, hier, im langen Leben, Dem eignen Fußwerk Kuß um Kuß zu geben? Er denkt gewiß an jene liebe Hand, Die Stich um Stich an dieſen Schmuck verwandt. Am 28. Auguſt 1831. Der älteſte Verehrer J. W. v. Goethe. Im Schatten der Titanen. 6 81 Zu meinem Geburkskag ſchenkte mir der verehrke Greis einen goldenen Ring, deſſen Stein eine lanzenartige Spitze zeigk.“s Er nannke dieſe mit freundlich⸗galanken Worken einen Pfeil. Die Zeit und die genauen Worke, mik denen er allegoriſche Beziehungen zu freundſchaftlich überſchätzken Gaben in mir bezeichnen wollte, habe ich vergeſſen, doch fällk das Geſchenk in Goethes letzte Lebensjahre. Auch einen Separak⸗Abdruck ſeiner Iphigenie ſchenkte er mir mit der auf roſa Papier geſchriebenen Widmung:s Freundlich kreuer Gruß und Wunſch zum ſiebenken Sepkember 1830. Weimar. Goethe. Roch einmal wurde mir die Freude eines poekiſchen Grußes zu Teil. Gräfin Baudreuil, die ſchöne Frau des franzöſiſchen Geſandten, hatte mich für ſich in Buntſtifk zeichnen laſſen. Sie ſchickte das Bild zur Anſichk an Goethe, der, in der Meinung, ich habe es ihm ge⸗ ſandk, mir folgende Verſe zukommen ließ: Der Bekannken, Unerkannken. Dich ſäh ich lieber ſelbſt, Doch könnk ich nur verlieren, Wer dürfke dann dein Auge ſo fixieren. Goethe. Am 16. Januar 1832. Auf dringende Bitken meiner Schweſter und liebſten Freundin Pauline, welche Ronne im Kloſter Notre dame des oiseaux in Paris war, ſchenkte ich das Manuſkripk dieſer Verſe, vielleicht die letzken von Goethes Hand, der Bibliothek dieſes Pariſer Kloſters. Der damalige Bibliothekar war ein ſehr gelehrter Abbe, der in Göktingen ſtudierk hatte und deutſche Cikeratur, Goethe beſonders, kannte und liebte. 82 Ein anderes Blatt, das Goethe mir einmal für die Aukographen⸗ ſammlung eines Freundes, der aber inzwiſchen plötzlich geſtorben war, geſchenkt hat, enthält folgenden Vers: Nun der Fluß die Pfade bricht, Wir zum Rachen ſchreiten, Ceuchte, liebes Himmelslicht, Uns zur andern Seiten. Joh. Wolfgang v. Goethe.70 Die Geſelligkeik in Goethes Haus war ein vielfaches Kommen und Gehen; wenn es ihm läſtig wurde, gab er ofk auf Wochen den Be⸗ fehl, keine Fremden mehr zu melden, und der Fall iſt vorgekommen, daß Amerikaner ihn nicht anders ſehen konnken, als wenn er im langen Rock oder grauen Mankel zur Spazierfahrk vor der Haustür in den Fenſterwagen ſtieg. Der beſte und liebenswürdigſte Blitzab⸗ leiter war Oktilie, der er namentlich die an ihn empfohlenen Engländer zuſchickke, die den Weg in die einfachen, aber geiſtig durchleuchteken Dachſkuben häufig fanden. Hatken ſich die Viſikenkarken ſehr angehäuft, ſo vermochte ſie ihn zu einer Abendgeſellſchaft, wo er ſich vorher ſehr nach den Herzensangelegenheiken ſeiner Gäſte erkundigke und ihr die eigentlich überflüſſige Empfehlung machke: daß ihm (oder ihr) ſein Glück begegne. Da ſah man denn hoch, groß, etwas ſkeif den Dichter⸗ fürſten die Gäſte empfangen. Das Aldobrandinizimmer barg den Kreis der Müttker und Tanken und, da Goethe bei ſolchen Zwangs⸗ gelegenheiten ſelbſt wenig ſprach, oft eine große Porkion Langerweile; das Urbinozimmer daneben wußke davon nichts, da war für „die Begegnungen des Glücks“ geſorgk. Waren dieſe Geſellſchafken durch beſondere Größen der Kunſt und Wiſſenſchaft, Humboldk, Rückerk, Zelker, Rauch, Felix Mendelsſohn, veranlaßk, ſo hatken ſie einen anderen Charakter und auch für Goethe ein anregendes Intereſſe. Er lud gern zu Tiſch ein, wo ſein Sohn, Ottilie, Ulrike, die Enkel und der Hauslehrer die Tiſchgäſte waren. Man aß nach damaliger Heik gut, nach ſetziger Jeik einfach; erſt in den lehzten Jahren hatte 83 6* er einen Koch, vorher Haushälterinnen, mik denen er die Wirkſchafk führte ohne Oktiliens Hilfe. Er hakke kein Verkrauen in ihre wirk⸗ ſchaftlichen Talenke und ſagte wohl ſcherzend: „Ich hatte mir ſo eine kochverſtändige Tochker gewünſchk, und nun ſchickk mir der liebe Gott eine Thekla und jungfrau von Orleans ins Haus.“ — Die Unter⸗ haltung war bei dieſen kleinen Anläſſen ſteks ſehr animierk. Sie drehke ſich immer um Gegenſtände der Kunſt und Wiſſenſchafk. Seine Augen ſchleuderken Blitze, ſobald irgend eine Klatſcherei zum Vorſchein kam. Bei einer ſolchen Gelegenheit wurde er einmal ſehr derb, er rief mit dröhnender Stimme: „Euren Schmutz kehrk bei euch zuſammen, aber bringk ihn nicht mir ins Haus.“ Eines ſehr belebken Mikkagsmahles weiß ich mich zu entſinnen, das zu Ehren der Polen Mickiewiez und Odyniec ſtatkfand, beide äußerſt liebenswürdige, geiſtreiche Menſchen, beſonders erſterer ein echtes Kind ſeiner Heimak: himmelhochjauchzend, zu Tode betrübk. Zu Ehren von Diecks — Vater, Mukker und zwei Töchter — waren auch einmal oben bei Oktilie und unken bei Goethe Feſte ar⸗ rangierk worden. Goethe ſah die Familie zuerſt bei ſich zu Tiſch; ich war zwar nicht gewünſcht, erlaubte mir aber, mit dem Vorrechk der jugend, nachher in das Allerheiligſte einzudringen, um Tiecks zu Otkilie zu geleiken, während der alte Herr andere Gäſte empfing. Es kam auf Walter Scotk die Rede, welchen er ſehr ſchätzte, was meinem engliſch empfindenden Herzen wohl kak, nur wagke ich die Einwendung, daß „The fair maid of Perth“ nicht immer allzu unkerhalkend ſei, worauf mir ein ſtrafender Seitenblick und ein „Die Kinder wollen eben immer noch bunte Bilderbücher“ zu Teil wurde. Einige Tage ſpäter war Thee bei Ottilie. Man ſkand umher, ſprach mit gedämpfter Skimme, ſah ſich bei jedem Geräuſch erſchrocken nach der Tür um, als ob eine Geiſtererſcheinung erwartek würde, aber ſie kam nichk. Ottilie ſollke ſie heraufbeſchwören, doch die irdiſchen wie die himmliſchen Geiſter ſind eigenſinnig. 84 Man wurde unruhig, Tieck wechſelke die Farbe, biß ſich auf die Cippen, immer häufiger flogen die unſichtbaren Engel durchs Zimmer. Ich wandte mich an Eckermännchen, der ſtill in einer Ecke ſtand und eben ſein unvermeidliches Rotizbuch einſteckke. „Er will nichk,“ ſagte er; da nahm ich meinen Muth zuſammen und ging hinunter. Die erſten Stufen lief ich, die letzten ſchlich ich nur langſam, denn ich fürchkete mich doch etwas und wäre faſt ſchon umgekehrt, wenn ich mich nichk vor Friedrich geſchämk hätke. Er wollke mich nicht melden; ich ſolle nur ſo hineingehen, meinte er. Goethe ſtand am Schreibpulk im langen offenen Hausrock, einen Haufen alker Schriften vor ſich; er bemerkte mich nicht, ich ſagke ſchüchtern: „Guken Abend!² Er drehte den Kopf, ſah mich groß an, räuſperke ſich — das deuklichſte Zeichen unkerdrückten Zorns. Ich hob bikkend die Hände „Was will das Frauenzimmerchen?“ brummke er. „Wir warken auf den Herrn Geheimrath, und Tieck —“ Ach was“, polkerke der alke Herr, „glaubk Sie, kleines Mädchen, daß ich zu ſedem laufe, der warkek? Was würde dann aus dem da?“ und damit zeigte er auf die offenen Bogen; „wenn ich fodk bin, macht's Keiner. Sagen Sie das droben der Sippſchafk. Gutken Abend.“ Ich zikterke beim Klang der immer mächtiger anſchwellenden Stimme ſagte leiſe „Guten Abend“, doch es mochte wohl ſehr kraurig geklungen haben, denn Goethe rief mich zurück, ſah mich freundlich an und ſprach mik ganz veränderkem Tonfall: „Ein Greis, der noch arbeiten will, darf nichk ſedem zu Gefallen ſeinen Willen umſtimmen; tuk er's, ſo wird er der Rachwelk gar nicht gefallen. Gehen Sie, Kind, Ihre frohe zugend wird denen da oben beſſer behagen, als heut Abend mein nachdenkliches Alker.“ — — Unvergeßlich iſt mir die liebſte Erinnerung an Goethe: Ich war mik Ottilie an einem ſchönen Frühlingstage zu Fuß nach Tiefurk 85 gegangen; lange hatten wir auf dem ſtillen friedlichen Platz neben dem Pavillon geſeſſen; der Blick nach der mit alken ſchönen Bäumen bewachſenen Anhöhe war wohlkuend und regke zu verkraulichem Geſpräche an. Der Vormittkag war verſtrichen, und wir gingen durch den Park nach der oberen Chauſſee; dork hielk ein Wagen, Goethe ſtieg aus, umfaßte jede von uns mit einem Arm und führke uns zurück nach der Ilm, lebhafk von Tiefurks Glanzzeik und der Herzogin Amalia erzählend. An einem länglich viereckigen Platz, von alten Bäumen umgeben, blieb er ſtehen, es war der Theeplatz der edlen Fürſtin; ekwas weiker zeigte er uns die Stellen, für die er „Die Fiſcherin“ geſchrieben hatke und wo ſie aufgeführk worden war. So weich und mild ſah ich ihn nie, der ganze Tag war ſo harmoniſch, — langſam ſtiegen wir den Berg hinauf, wo der Wagen hielk, und fuhren zuſammen nach Weimar zurück. Vor Goethes Hauskhür ſkand ein kleiner Enabe, der Pfefferkuchen feil bok; Goethe nahm ein Herz, über dem zwei Täubchen einkrächtig ſaßen, ſchenkte es mir und lud mich noch zu Mittag ein, was Friedrich raſch meinen Elkern kund kun mußke. Nach Tiſch holke er ſeinen Fauſt, an deſſen zweikem Teil er noch arbeiteke und aus dem er Ottilie oft vorlas. ſeht durfte ich ihm lauſchen, ich hätte es ewig thun mögen, nie den „Platz zu ſeinen Füßen“ zu verlaſſen brauchen. Es dämmerte, als ich gehen mußte. Die Hand, die er mir reichte, zog ich dankbar und ehrfurchks⸗ voll an die Lippen. Er ſah wohl, welch einen Eindruck ich mit mir nahm, und ſagke noch, als ich mik Oktilien an der Tür ſtand: „Ja, ja, Kind, da habe ich viel hineingeheimnißk.“ mik Julie Egloffſkein, Adele Schopenhauer und anderen kam ich ofk zu ihm, aber keine Erinnerung war mir lieber als jene. Das pfefferkuchenherz behielk ich, bis es in Staub zerfiel, die Erinnerung wird niemals zerfallen. Anmutig war eine Stunde in Goethes Hausgarken, wo ich mit Ottilie einem Menſchenſchädel, den wir am Jaun gefunden hatken, 86 würdigere Ruhe unker einem Baum bereikeke. Goethe hatke uns von ſeinem Arbeikszimmer im ſonnigen Garken geſehen, kam herunter und ſagke: „Ihr Frauenzimmerchen verklärk auch noch den Tod. Wir hoffken den Gedanken gedichkek zu bekommen, aber es blieb bei der ſchönen Proſa. Ein andermal überfielen wir, eine Schar übermütiger Mädchen, den Dichker zur Abendzeik in ſeinem Garkenhaus. Wir kamen von Tiefurk und brachten ihm eine Menge Frühlingsblumen. Dabei hatke eine von uns das Unglück, den Gipsabguß einer Venus umzuſkoßen. Wir wurden blaß vor Schreck, einen Zornausbruch erwartend; die Sünderin ſelbſt brach in Tränen aus. Ein ſonniges Leuchken flog jedoch über ſeine Züge, er drohke mik dem Finger und meinke: „Ei, ei, wer wird um die kodte weinen, wo Venus ſo viel lebende Verkrekerinnen hak.“ Ofk ſah ich ihn zwiſchen ſeiner Malvenallee im Parkgarken auf und nieder gehen; er mochte wohl an ſeine Farbenlehre denken, da ihn die vielfarbigen beſonders erfreuten. Vielfache kleine, durch ihn groß werdende Erinnerungen kauchen aus meiner jugend bei mir auf, es fehlk aber für andere der Rahmen des damaligen äußerlich ſehr einfachen, in Herz und Geiſt ſehr geſchmückten weimariſchen Cebens. Es war nicht ganz ohne Jopf, nicht ganz ohne Sünde, auch reich an Leiden und Kämpfen, um ſo mehr, als zu den wirk⸗ lichen noch viele gemachte und eingebildete kamen, die ſich dadurch verwickelken, daß man der Liebe eine Berechtigung auch auf Koſten der Pflichten einräumke, doch dieſer Allerwelksſkoff wurde in Weimar aus der Gemeinheit herausgehoben, mik edlen Waffen bekämpfk, poetiſch verwendek. Unſer Leben blieb reiner und harmoniſcher als das Leben der jungen Generation. Man hatte Zeik für einander und für ſich ſelbſt, das Haſten und jagen unſerer Zeik war uns unbekannt, das Leben nach innen hin tiefer und reicher, ſo arm es nach außen erſcheinen mochte. Und doch fiel auch meine Jugend 87 ſchon in den Abend dieſes geiſtigen Lebens — eine ſchöne Mond⸗ ſcheinnachk mit mildem, hohem, die Landſchafk verklärendem Lichtk! Schiller, Herder, Wieland waren längſt kok. Frau von Schiller und ihre Schweſter, Frau von Wolzogen, kannte ich nur als alke Damen. Erſtere ging regelmäßig im Park ſpazieren, den Mops an der Leine, und hatte wenig mehr von dem, womik ſie als Schillers reizendes Weibchen ofk erwähnk worden war. Ihre Tochker Emilie, ſpätere Frau von Gleichen⸗Rußwurm, wurde mik uns Kindern zu den Prinzeſſinnen eingeladen, war aber viel älter als wir alle und der Gegenſtand meiner ſtillen Huldigung. Die Romane „Gabriele“ von Johanna Schopenhauer, „Agnes von Lilien“ von Frau von Wolzogen, „Kömhilds Skifk“ von Frau von Ahlefeldt, welche dieſe Damen bekannk gemachk hatken, wurden noch geleſen, die Autorinnen ſelbſt waren noch geiſtesfriſch, aber doch auf Ausleben vorbereikek. Von Wielands Rachkommen kannke ich die kleine Enkelin Lina Wieland, die im Hauſe des Großvaters, unſerer Wohnung gegenüber, wohnke, und Fräulein Stichling, deren Vaker in zweiker Ehe die Tochter Herders heirateke, eine geiſtig und praktiſch gebildete, ſtill und ſinnig ihrer Familie lebende Hausfrau. Auch Charlotte von Stein ſah ich öfkers, da ich mik ihrer Enkelin und kreuen Pflegerin befreundek war. Ich wurde zum Tee zu ihr gebeten; dann ſaß ſie alk, ſchweigſam, freundlich hinker einem grünen Campenſchirm, irgend⸗ ein Werk Goethes vor ſich. Roch weiker zurück in den Erinnerungen und in den Kreiſen, die Goethe und Karl Auguſt mik überſprudelndem Geiſt und Herzen belebk hatten, führen mir die Gedanken einige Perſönlichkeiten aus der Zeik der Herzogin Amalie vor. Da ſchreitek Einſiedel, alt, ge⸗ beugt, müde, ſich ſchwer auf den Stock mik dem goldenen Knopf ſtützend, an mir vorüber. Er geht, die hohen Treppen eines Hauſes am Ende des heutigen Karlsplatzes nicht ſcheuend, käglich um zwei Uhr zu der ebenſo alten, ebenſo müden Adelaide von Waldner. 88 Beide waren am Hofe Anna Amalias jung geweſen; die große, tiefe Liebe, die ſie verbunden hatte, konnte nicht zur Ehe führen, wohl aber zu lebenslänglicher, reiner Freundſchafk. Das Juſammen⸗ ſein der Greiſe ſkörke niemand, bis ihm ſelbſt die Kräfte verſagten. Er ſtarb vor ihr, und als ſie ihr Ende nahen fühlke, bak ſie meine Mukker, ihre Verwandte und Freundin, ein Päckchen vergilbter Briefe, das ſich in einem geheimen Schubfach fand, zu verbrennen. Es war die Korreſpondenz mik Einſiedel, während er ſich in Italien befunden hatke. Ein paar halb zerfallene Blumen nahm ſie mit ſich ins Grab. — Friſch und jugendlich hatte ſich ihr Zeitgenoſſe Knebel erhalken. Wenn ich nach ſena kam, wo mein Onkel Ziegeſar Präſidenk und Kurator war, beſuchte ich ihn zuweilen. Er ging nicht mehr aus, erfreute ſich an ſeinem Garten, an der Ausſicht in die Berge und lebte immer in einem ſtillen, drolligen Kampf mit ſeiner viel jüngeren Frau, deren Lebhaftigkeit mit ſeiner Ruhe ſehr konkraſtierte. Sie hatke den Turban aus der Zeik und Mode der Frau von Staél beibehalken, und es amüſierte mich ſehr, wenn er bei jeder ihrer ſchnellen Bewegungen hin- und herſchwankke. Iwei eigenkümliche Erſcheinungen aus meiner Kinderzeit waren Herr und Frau von Schardt, die neben uns wohnten und meinem Bruder und mir ſehr freundlich waren. Sie war innig befreundek mit Zacharias Werner, der das „Kreuz an der Oſtſee“ geſchrieben hakke. Dieſes ganz geiſtige Verhälknis bekundete ſich doch auch in kleinen Liebesgaben. Sie ſtickte einſt eine damals ſehr beliebte ſeidene Weſte mit der ausgeſprochenen Abſichk: „Wenn ſie hübſch wird, bekommt ſie Werner, wenn ſie nicht hübſch wird, bekommk ſie der gute Schardk.“ Selken nur ſah ich Frau von Heygendorf und dann meiſtens auf irgend einem ihrer Armenwege. Sie war unendlich wohltätig, ſanfk und gut, ſo daß ich ſie niemals häßlicher Inkriguen für fähig 89 gehalten habe. Die Liebe zu Karl Auguſt war eine ſie ſo vollſtändig erfüllende, daß man bei ſeinem Dode für ihren Verſkand fürchkete. Das Theater, deſſen Zierde ſie geweſen war, beſuchte ſie nichk ein⸗ mal mehr. Auch Goethe ging nur ſelken hinein, blieb dann gern unbemerkk im Hintergrunde, und nur bei der erſten Aufführung des erſken Teils vom Fauſt ſah man ihn einen Augenblick ſich vor⸗ beugen. Ein Flüſtern „Goethe iſt auch da“ verkündete ſeine An⸗ weſenheik und erhöhte unſere Andacht. Auch die Großherzogin Luiſe lebte immer zurückgezogener. Sie liebke die großen Feſte nicht mehr und war bei kleinen Emp⸗ fängen ſtiller denn je; um ſo wertvoller war mir ein Kuß, ein freundliches Lächeln, da ſie wenig ſprach. Unſerem jugendlich über⸗ mükigen Leben und Treiben ſtand ſie fremd und vielfach mißbilligend gegenüber, war ſie doch ſelbſt niemals ſo rechk von Herzen jung geweſen. So hakte ſie ſich auch früher nie von dem genialiſchen Treiben in der Muſenſtadk hinreißen laſſen; aber es iſt durchaus falſch, wenn man daraus beweiſen will, daß ſie überhaupk kein Ver⸗ ſkändnis dafür hatte. Sie ſah es nur nicht, wie ſo manches unechte Genie, äls nokwendigen Beweis geiſtiger Größe an. Sie bewunderke, ſie verſtand Goethe wie wenige, aber nichk den Menſchen, ſondern den Dichker, den Gelehrken; ſie fühlte ſich dem Geiſte ihres Gemahls aufs innigſte verbunden, ihre unendliche Liebe hatte für ſeine Schwächen immer wieder Vergebung, aber kein Vergeſſen und Ver⸗ ſtehen. Sie war, ſo ſchien es, ſchon auf einer höheren ſeeliſchen Stufe geboren, zu der ſich andere erſt mühſam emporarbeiken müſſen. Selbſt ihr Schmerz hatte etwas Heiliges an ſich. Als Karl Auguſk geſtorben war, verſchloß ſie ſich lange vor jedem Blick. Riemand ſah ihr furchtbares Leid, denn als ſie vor uns erſchien, war ſie ruhig und gefaßk und dachte ſofort daran, andere zu kröſten, Goethe vor allem, der aber ſchon abgereiſt war. Sie ſoll ihm, wie Julie Egloffſtein mir ſagte, einen langen Brief geſchrieben haben, den 90 aber niemand zu ſehen bekam. Gleich nach Goethes Heimkehr ging ſie allein zu ihm. Kurz nachher kraf ihn Oktilie im Lehnſtuhl ſitzend, während er immer vor ſich hin murmelke: „Welch eine Frau, welch eine Frau!“ Zu Julie Egloffſkein ſagte die Groß⸗ herzoginmutker: „Goethe und ich verſtehen uns nun vollkommen, nur daß er noch den Muk hak, zu leben, und ich nichk.“ Sie ſchien auch keine Lebenskrafk mehr zu haben und zeigte ſich nur noch im engſten Familienkreiſe. Richk lange darauf, am 14. Februar 1830, folgte ſie dem geliebken Gakken zur ewigen Ruhe. Es iſk ſehr ſchmerzlich, daß wir immer erſt nach dem Ver⸗ luſt voll empfinden, was wir beſeſſen haben. So auch hier; wir alle, das Land, das Volk fühlten uns verwaiſt. Goethes Sohn war ſo er⸗ griffen, wie ich ihn nie vorher geſehen hatke, und Goethe ſagte mik krübem Blick: „Ich komme mir ſelber mythiſch vor, da ich ſo allein übrig bleibe.“ Roch Schwereres ſtand dem Greiſe bevor, als der Heimgang der liebſten Freunde und der Lebensgefährtin für ihn geweſen war: die ewige Trennung von dem einzigen Sohn, der in ſeinen ſor⸗ genden Gedanken und in ſeinem Herzen einen ſo großen Platz ein⸗ nahm. Sein Tod wirkke furchkbar auf den Baker, denn ob er auch bei jedem Schmerz Stille, Arbeit, Einſamkeik als letzte Heilmittel ſuchte und ſeinen äußeren Ausbruch ſo ſehr untkerdrückte, daß man ihn neuerdings ofk deshalb herzlos ſchilk, er empfand ſo tief wie wenige, darum litk er auch körperlich ſo ſehr darunter. Rur beim Tode ſeiner Frau, ſo erzählte mir Huſchke, war er wei⸗ nend vor ihrem Bekk in die Kniee geſunken mik dem Ausruf: „Du ſollſk, du kannſt mich nichk verlaſſen!“ Als die Trauerglocken den Einzug des koten Karl Auguſk uns allen wehmüksvoll in die Seele läuketen, war er ſtill verſchwunden. Den Kanzler Müller, der den Aufkrag hakke, ihm des Hohnes Tod mitzukeilen, ließ er nicht zu Worke kommen, er ſah ihn nur groß an und ging hinaus. Daß 91 er die Kunde erraten hatte, wurde klar, als Okkilie den nächſten Morgen in Trauerkleidern bei ihm einkrak und er ihr die Hände mit den Worken entgegenſtreckke: „Nun wollen wir recht zuſammen⸗ halten.“ Dann verſuchte er zu arbeiken, verſchloß fich vor jedem Beſuch, wollke ſchließlich verreiſen; ein Blutkſturz warf ihn aufs Krankenlager und zeigte nur zu deutlich, wie entſetzlich er likk. Bei allen geiſtig bedeukenden Menſchen ſcheink Geiſt und Körper be⸗ ſonders innig zuſammengewachſen zu ſein, das iſt „der Pfahl im Fleiſch“, die Bürde, die große, dem Überirdiſchen näher als dem Irdiſchen ſkehende Raturen zur Erde zurückzieht. Zu ſolchen gehörte Goethe, nicht nur als Dichker, ſondern auch als Menſch. Wenn er nichts geſchrieben hätte, würde er doch in die erſte Reihe der größken Menſchen gehören. Er war guk, neidlos, einfach, half und förderke gern, keine Hochſchätzung der Welk hak ihn eikel, keine ihrer Huldigungen hat ihn anmaßend gemachk. Was Vielen als Egoismus erſchien, das Wegräumen äußerer Hinderniſſe auf dem Wege zu ſeinen Zielen, hak dieſe Ziele möglich gemachk. Er gab ſeinem Volke eine Sprache, den deutſchen Geiſkern einen Mitkel⸗ punkt, er weckte ſchlummernde Kräfke, Gedanken, Gefühle und Be⸗ ſkrebungen in einem Maße, welches ſich beſonders darin dokumenkierk, daß nach einem jahrhunderk ſeines Wandelns und Wirkens kaum ein deukſches Werk erſcheink ohne Iokko aus Goethes Schriften und ohne Zitate zur Bekräftigung ausgeſprochener Anſichten. So reich und voll er das geiſtige Leben erfaßte und beherrſchte, ſo bedürfnis⸗ los war er im äußeren Ceben. In ſeinen unanſehnlichen Wohn⸗ ſtuben leuchketen und lebken mit ihm, durch ihn und in ihm große und guke Geiſter, in ſeiner unanſehnlichen Equipage, in ſeinen unanſehnlichen grauen Mankel gehüllk, ſpendete er Gedanken, Cebensweisheit, menſchenfreundliche Geſinnungen; in ſeinen einfachen Gärken war keine Blume für ihn ohne Genuß, kein Lichk⸗ und Farben⸗ effekt ohne Beachtung, keine Raturerſcheinung ohne Gedankenanregung. 92 Wie großarkig waren die lehken Skunden ſeines Lebens, ruhig, mild, mik klarem Geiſt, noch empfänglich für anmutige Kunſkleiſtung. Ein Maler hakke ihm das Bild?9 der ſchönen Gräfin Vaudreuil ge⸗ ſchickt, er betrachtete es aufmerkſam: „Wie gut iſt es doch, wenn der Künſkler nicht verdirbt, was Gokk ſo ſchön gemacht hat.“ Roch in den lehten Skunden ſtand er hoch aufgerichkek in der Tür ſeiner Stube, ſo daß er ungewöhnlich groß erſchien. Das bekannke Work „Mehr Licht“ (7) mag er wohl geſagt haben, klar und deuklich aber ſprach er ſeine lehken Worke: „Run kommk die Wandlung zu höheren Wandlungen.“ Er ſkarb kampflos, ſagken die Anweſenden, nur Otkilie warf ſich mir gleich darauf ſchluchzend in die Arme: „Und das nennen die Leuke leichk ſkerben!“ Bekannke und Verwandte wollen nach ſeinem Tode eine unerklärliche Trauermuſik gehörk haben, als ob die Roten im Muſikſchrank lebendig geworden wären. Gräfin Baudreuil verſicherke mir, daß es ſo geweſen ſei, auch Ulrike von Pogwiſch ſprach davon; ich ſelbſt war ſo betäubt an dem Tage, daß ich keine Rechenſchafk zu geben vermag, was Wahrheik, was Phankaſie geweſen iſt. Ebenſo ging es mir bei dem Mitkagsſpuk im Park⸗ garken, den Auguſt und Okkilie, Walker und Wolf Goethe empfunden hatken und der nach Goethes Tod beſonders auffällig geweſen ſein ſoll. Ich war lange dork und empfand nichks von der mir be⸗ ſchriebenen unheimlichen Stille, die ein entſetzliches Angſtgefühl ver⸗ urſachen ſollke. Goethe ſelbſt war es, der mir bei einem Beſuch im Gartenhaus den Urſprung des Spukes folgendermaßen erzählte: „Ich habe eine unſichtbare Bedienung, die den Vorplatz immer rein gefegk hält. Es war wohl Traum, aber ganz wie Wirklichkeit, daß ich einſk in meiner oberen Schlafſtube, deren Tür nach der Treppe zu auf war, in der erſten Tagesfrühe eine alte Frau ſah, die ein junges Mädchen unkerſtützte. Sie wandte ſich zu mir und ſagke: „Seik fünfundzwanzig Jahren wohnen wir hier, mit der Bedingung, vor Tagesanbruch fork zu ſein; nun iſt ſie ohn⸗ 93 mächtig, und ich kann nichk gehen.“ Als ich genauer hinſah, war ſie verſchwunden.“ Ekwas Unheimliches habe ich, wie geſagt, nach ſeinem Tode nichk bemerkk, wenn nicht das Gefühl des Verlaſſenſeins, das ſich unſer Aller bemächtigte, unheimlich genannk werden kann. Täglich ging ich, wie ſonſt, den gewohnken Weg zu Oktilien, aber leiſe und langſam nur ſchlich ich die Stufen empor und ſchlüpfte wohl manch⸗ mal in die verlaſſenen Käume, um mich auszuweinen. Meine lehke Erinnerung an Goethe war der ernſte, mächtige, ſtille Trauerzug, der ihn in weihevoller Skunde zu Karl Auguſts Fürſkengrufk geleikeke. Als ich noch ein Kind war, ging ich allſonntäglich zur Kirche, falkete allabendlich die hände zum Gebet, jeden Morgen galk mein erſter Gruß dem lieben Heiland. Da ſah ich Goethe, er ſtreichelke mir das Haar, er lächelte freundlich und ſchenkte mir ein Körbchen Erdbeeren, das er gerade einem armen, zerlumpten Mädchen abgekauft hatke, für mehr Geld, als es verlangke, wie ich deutlich bemerkte. Von nun an wurde jeder Tag mir zum Feſt, an dem ich ihm be⸗ gegnete; ich ſah ihn überall: im Park, im Wald, auf der Skraße, zu Haus, nur in der Kirche nichk. „Warum gehk der Herr Geheimrak nichk in die Kirche?“ frug ich. „Er iſt kein Chriſt! Ich erſchrak köklich. Wie konnte das ſein? Wie konnke er lächeln, wie konnten die Leuke ihn grüßen, wie konnke er leben und war doch kein Chriſt? Ich wuchs heran. Da hörke ich, daß einer armen, fleißigen Familie das Haus abgebrannt war; ich ging hin, um ihr mit meinen ſchwachen Kräfken beizuſkehen, und fand ſie glücklich und zufrieden in einem neuen Heim: „Der Herr Geheimrat hat uns ſchon geholfen. 94 Wie konnke er barmherzig ſein, wie konnte Segen auf ſeiner Babe ruhen? Er war ja kein Chriſk! Und die Jahre vergingen. Ich machte die Bekannkſchafk eines frommen Mannes und freute mich deſſen. Er gab mik vollen Händen, er ſprach ſo ſchön von Gotk und Chriſtenkum; keine Kirche in ſeiner Gegend gab es, die nichk von ihm unkerſtützk worden wäre, kein Sonnkag verging, ohne daß er vor dem Altar des Herrn gekniek häkke. Eines Tages aß ich bei ihm, ein Diener zerbrach eine Schüſſel, und ſein Herr ſchlug ihn dafür. Dann hörte ich von ſeinem Bruder ſprechen; man ſagte, er ſei ſehr arm. „Er iſt ein Kehzer und Gotkes⸗ leugner und krägk gerechte Skrafe,“ ſagte mein Wirk. Ich erſchrak, denn er war ja ein Chriſt! Ich wurde ein Weib, ich ſah das Elend in der Welk, die bikkerſte Armuk in den Hütken, und Kirchen von Gold ſtrotzend, und Prieſter in Seide und Spitzen — da dachte ich an ein ſchlichtes Zimmer mit niedrigen Fenſtern und hölzernen Skühlen, an einen Mann darin im langen, grauen Rock mit einer milden Hand, leuchtenden Augen, herrlichen Gedanken — war er nichk doch ein Chriſt?! Run bin ich alk. Ich erſchrecke nichk mehr, wenn ein geliebker Ienſch die Kirche meidek, aber ich bin verzweifelk, wenn er an den hükten der Armuk vorübergeht. Ich bewundere nichk mehr den frommen Mann, deſſen Name in allen Kirchenkollekken zu finden iſt, aber ich verachte den, der es verſäumk hat, ihn in die Herzen der Menſchen zu ſchreiben." 95 Freundſchaft und Liebe. Die Zeik, in die Jennys Jugend fiel, pflegk heute als die des Biedermeierkums bezeichnek zu werden, und der moderne Gebildete, deſſen präkentiöſer Geiſteshochmuk jeden Zweifel an ſeiner tief⸗ gründigen Kenntnis aller Dinge für verdammenswerte Maſeſtätsbe⸗ leidigung erklärk, ſtellk ſich darunker eine Periode geruhigen, geiſtes⸗ armen Philiſkerkums vor, eine ereignisloſe Pauſe inmikten der beiden Akke der Welktragödie: Rapoleon und 1848. Redſelige Gefühlsergüſſe, die Pfeife und die geblümte Kaffeekaſſe ſind, ſo meink er, ihre Symbole. Wer aber unker dem Einfluß dieſer allgemein verbreikeken Auf⸗ faſſung in der Geſchichte der Menſchheiksentwicklung nach dieſer Pauſe ſuchk — ſehnſüchtig ſucht vielleicht, wie der vom Lärm der Großſtadk Umkoſte nach einem ſtillen, grünen Winkel — der mag die Fahresblätker noch ſo ofk hin⸗ und herwenden, er findek ſie nichk. Und vor dem, was er findek, löſt ſich das Bild der guten alken Zeik auf wie ein Traum am Morgen. Rakionale Kämpfe erſchükkerken Europa. Der Freiheikskampf der Griechen begeiſterte die zugend, der der Polen ſtempelke ſie wieder zu bewunderken Märkyrern; die Magyaren und die Italiener rangen um ihr Volkskum. Unkerirdiſch und doch für alle ſchon fühlbar grollke der durch die Metkernichſche Zuchthauspolitik erregte Jorn des Bürgerkums. Polikiſche Akkentake in ungewöhnlich großer Zahl wurden zu Verkündern der Kevolukion der Zukunfk. Und die krotz aller Beſchränkung der Preßfreiheik ſich raſch ausbreikende Tages⸗ preſſe begann in das ſtille Heim des Bürgers den Skrom des öffenk⸗ lichen Lebens zu leiken und wurde zum Sprachrohr nichk nur der Unkerdrücker, ſondern auch der langſam zur Manneskrafk reifenden liberalen Ideen. Daneben aber entwickelte ſich mik der zunehmenden Zahl der zum Himmel ragenden Fabrikſchloke, mik der wachſenden Herrſchaft der Maſchinen etwas Neues, nie Dageweſenes: das Selbſt⸗ 96 bewußkſein der in den Höllen der Induſtriemagnaten zuſammen⸗ gezwängken Maſſen. In England und Frankreich griffen ſie zum erſtenmal zur Selbſthilfe der Arbeikseinſkellung, und gegenüber dem allgemeinen Elend fingen ſoziale Ideale an, hirn und Herz der Denker und Dichker zu erobern. Sk. Simons Sozialismus ward vielen zur neuen Keligion, von der ſie die Erlöſung der Welk erwarketen. Doch das wachſende Inkereſſe für polikiſche und ſoziale Fragen nahm den geiſtig belebten und empfänglichen Teil der Bevölkerung nicht in dem Maße in Anſpruch, daß Kunſt und Wiſſenſchafk darüber zu kurz gekommen wären. Die Tatſache, daß deutſche Gelehrke — Verkreker jenes Typus welkfremder Skubenweisheik — ihre ſtille Skudierſtube verließen und auf die große Bühne des polikiſchen Kampfes traten, krug mit dazu bei, daß auch die Ergebniſſe ihrer Forſchungen über den engen Kreis der Fachgelehrſamkeik hinaus mehr und mehr in die Köpfe der Laien drangen. Aber von noch größerer Bedeukung als ſie war die Kunſt für das geiſtige Leben der Geſellſchafk. Je älker der letzte der Klaſſiker wurde, deſto lebendiger wurden er und ſeine Zeitgenoſſen, die Schiller, Herder, Wieland, für das gebildete Deutſch⸗ land. Und die Romankiker mik dem Zauber ihrer weltenkrückenden Phankaſie, dem funkelnden Glanz ihrer Sprache machten ihnen den Rang vielfach ſtreitig. Mik ihnen wetkeiferten um Ruhm und Gunſt die glänzenden Sterne am Dichkerhimmel des Auslandes — Scott, Dickens, Shelley, Lamartine, George Sand, Balzac, Hugo — während die Verkreker des jungen Deutſchland ſchon anfingen, der Romantik den Krieg zu erklären. Da das Berufsleben den Bürger noch nicht in jenes Prokruſkus⸗ betk feſſelte, das ihn heuke nur zu ofk zu geiſtiger Verkrüppelung zwingt, und ſeine Frauen und Töchker die Befreiung aus innerer oder äußerer Rok noch nicht in der Lohnarbeik zu ſuchen brauchten, ſo gab es in ihrem Familienkreiſe die ſchöne Ruhe, die geiſtiges Genießen ermöglicht. Eine andere Vorausſetzung mußte allerdings Im Schatten der Titanen. 7 97 noch hinzukommen, damik dieſer koſtbare Beſitz nichk in gedankenloſem Zeikverkreib verſchwendek werde: der Seelenhunger nach inkellektueller Speiſe, die Sehnſucht nach Rahrung für das Gemük. Hatken die Kämpfe der Zeit die Männer mehr und mehr aus dem lethargiſchen Schlaf geweckt, in dem ein behaglich⸗einförmiges Leben ſo leichk zu verſinken vermag, ſo hatten die Ideen des St. Simonismus, die geiſtige Vorkämpferſchafk einer Stael und einer George Hand in Verbindung mit dem Einfluß der das weibliche Geſchlecht auf das Piedeſtal geiſtiger Ebenbürtigkeik erhebenden Romankiker, die alte Überzeugung von der Minderwertigkeik der Frauen in ihren Grund⸗ feſten erſchütkerk und ihnen die Augen geöffnek für die Bedürfniſſe ihres eigenen Weſens. Es war nur nakürlich, daß ihre plötzliche Befreiung aus den Feſſeln alter Sitken und Vorurkeile ſie auf der einen Seike zu einem Mißbrauch der noch unverſtandenen Freiheik, einem kecken Hinwegſetzen über alle Hinderniſſe führen mußke, und auf der anderen, nach der bisherigen gewalkſamen Unterdrückung, ein überſchäumender Ausbruch der Gefühle ſich geltend machte. Rachdem die ſturmbewegken Wogen ſich aber geglätkek hatken, blieb als nichk zu überſchätzender Gewinn die lebendige Ankeilnahme der Frauen am geiſtigen Leben, die freie Enkfaltung ihrer Empfindung und ihrer Fähigkeiken zurück. Der geiſtige Einfluß einer Rahel, die ſoziale Wirkſamkeik einer Bettina, der erſte deutſche Frauenrechks⸗ kampf einer Luiſe Okko⸗Pekers ſind demſelben Boden entſprungen wie der phankaſtiſche Selbſtmord einer Charlokte Stieglitz, die Liebes⸗ raſereien einer Hahn⸗Hahn. „Skill und bewegt,“ dieſes ſchöne von Rahel geprägte Work, war das Motko der Biedermeierzeik: Still das kägliche Leben des ein⸗ zelnen, ſtill das Heim, ruhig das Zimmer mit ſeinen Mullvor⸗ hängen und geradlinigen Möbeln; der Geiſt aber und das Herz bewegk vom eigenen Denken und Fühlen und von dem der großen Welk. 98 Weimar war während der zwölf Jahre, die ſenny von Pappen⸗ heim als erwachſenes Mädchen dork lebte, wie ein Brennpunkt der Zeik. Hier hatte die Klaſſik der Romantik in ihren beſten Vertrekern die Hand gereicht, hier ſtrömte alles zuſammen, was geiſtige Be⸗ deukung beſaß, und wer von den Führern inkellektuellen und künſt⸗ leriſchen Schaffens nicht perſönlich kam, um einmal eine Lufk mit dem Größken zu atmen — als einen Segen fürs Leben —, der wurde doch durch ſeine Werke den meiſten verkrauk. Angehörige aller Rationen kamen, brachten ihre Intereſſen mit und die Kunde von ihrem Heimakland. So waren denn die engeren und weiteren Kreiſe, die ſich um Goethe zogen, in ihrer Mannigfaltigkeik bunk wie ein Regenbogen und vielfach wechſelnd wie ein Wellenſpiel. Je älter Goethe wurde, deſto ausgedehnter wurde die Völkerwanderung. Aus England beſonders, wo es damals zum guken Ton gehörke, die Sprache Goethes ſprechen zu können, kamen zahlreiche Gäſte. Die jungen Mädchen Weimars ſahen ſie beſonders gern, denn die Fremden waren meiſt reiche, unabhängige junge Leuke, nur ge⸗ kommen, um Goethe zu ſehen, Deutſch zu lernen und ſich zu amüſieren. Keinerlei Berufsarbeik zog ſie von ihren likerariſchen und anderen Inkereſſen ab, keinerlei Ermüdung durch des Tages Arbeik hinderke ſie am Genuß der Geſelligkeik. Zu jeder Zeit konnten ſie ſich den Damen widmen; der einheimiſchen männlichen Jugend waren ſie daher ſteks ein Dorn im Auge. Alfred von Pappen⸗ heim, der ſeine Halbſchweſter ſenny zärtlich liebke und vor ſeinem Einkrikk in ruſſiſche Kriegsdienſte in Weimar lebte, auch auf Urlaub ofk dorthin zurückkehrte, konnke ſelbſt in ſeinen Briefen ſeinen Ärger über die Engländer, die die „erſten Ciebhaberrollen ſpielen“, nicht unkerdrücken, und Karl von Holkei, ein häufiger, beliebter Gaſt in Weimar, ſekundierke ihm dabei, indem er ſchrieb: „Zum erſten Mal in meinem Leben wünſch ich ein Engländer zu ſein, wenigſtens immer ſo lange, als ich in Weimar bin, denn 4* 99 Weimar an der Ilm iſt eine Stadk, Schön, weil ſie ſo viel Schönheiten hat, Alle Fremden ſind wohl gelitken, Vorzüglich die Brikken.“ Der Einfluß der Engländer, unker denen ſich manch einer befand, der ſpäter im künſkleriſchen oder politiſchen Leben eine Rolle ſpielen ſollke, war unverkennbar: das Intereſſe für engliſche Likerakur, das ſie erregken, ſtieg bis zur Schwärmerei. In den verſchiedenen ge⸗ ſelligen Kreiſen war die gemeinſame Lektüre inkereſſanker Likerakur⸗ erſcheinungen allgemein üblich. Sie regte zu ernſten Geſprächen an und trug dazu bei, daß zu oberflächlicher Unterhaltung und ſeichtem Tagesklatſch wenig Reigung blieb. Engliſche Bücher — Lord Byron vor allem und Walter Scotk, die beide Goethes höchſte Anerkennung gefunden hatken — wurden beſonders gern geleſen. Aber auch die franzöſiſche Likeratur wurde nicht vernachläſſigt. Graf Alfred Vaudreuil und ſeine ſchöne Frau Luiſe, der franzöſiſche Geſandte am Weimarer Hof, und Graf Karl Keinhard, ſein Akkaché, der Sohn des uns aus jeromes Geſchichte bekannten Reinhard, ſorgten dafür, daß ſie der Weimarer Geſellſchafk verkrauk wurde, und ſennys franzöſiſche Beziehungen, die beſonders durch ihre Korreſpondenz mik den Türckheims und mik Graf Eduard Waldner aufrecht erhalten blieben, machten ſie ſelbſt zur geeigneten Mittelsperſon für Frank⸗ reichs geiſtiges Leben, das in den Ramen eines Chateaubriand, Lamar⸗ kine, Balzac, George Sand, Bickor Hugo kulminierke. Galk das Inkereſſe der jugend haupkſächlich der ſchönen Likeratur, ſo wurde durch die häufigen Beſuche berühmker Gelehrker in Weimar, durch die von Maria Paulowna eingeführken likerariſchen Abende am Hof, wo von ihnen oder von den ſteks geladenen ſenaer Profeſſoren Vor⸗ leſungen gehalken wurden, auch für die wiſſenſchafkliche Bildung und Aufklärung geſorgk. In einem anderen geſelligen Zirkel, der ſich im Hauſe Johanna Schopenhauers zuſammenfand, waren es die politiſchen Fragen, 100 die am häufigſten erörkert wurden. „Es wehte eine eigentüm⸗ liche Lufk in dieſen Räumen“, erzählke Jenny von Pappen⸗ heim in Erinnerung an ſie, „die von der Lufk Weimars ver⸗ ſchieden war. Man akmeke, man bewegke ſich freier als bei Hofe, weniger frei als bei Ottilie. Die Inkereſſen, die uns hier zuſammen⸗ führken, waren mehr geiſtige als Herzensinkereſſen; der Kreis, in dem die Unkerhalkung ſich bewegte, umſchloß nicht nur die Likeratur, ſondern auch jede Ark der Wiſſenſchafk; ſelbſt die ſonſt unter uns verpönte Politik, der wir mit ziemlicher Gleichgültigkeik begegneten, fand hier Beachtung. Johanna Schopenhauer hatte eine unvergleich⸗ liche Ark, ſich ſelbſt in den Hintergrund zu ſtellen und trotzdem, wie mik unſichtbaren Fäden, die Geiſter in Bewegung zu erhalken. Oft ſchien ſie ſelbſt kaum an der Unterhalkung keilzunehmen, und doch hatke ein hingeworfenes Work von ihr ſie angeregk; ein eben⸗ ſolches belebke ſie, ſobald ſie ins Stocken zu geraken ſchien. Ihre Tochter Adele, meine ſehr liebe, wiewohl bedeutend älkere Freundin, war in anderer Ark wie die Mutter, aber doch auch ein belebendes Elemenk dieſes Kreiſes. Ihre Leidenſchaftlichkeik riß ſie ofk über die Grenzen der geſelligen Unkerhaltung hin. Ihre Empfindungen waren von verzehrender Gluk und ein Hauptgrund ihrer vielfachen körper⸗ lichen Ceiden. Von Ratur reich begabt, fehlke ihr die Krafk, ſich zu beſchränken, ſo daß ſie weder ihr poetiſches, noch ihr künſtleriſches Talenk zu Bedeukendem ausbildete. Goethes eindringliches Work: „Be⸗ ſchränkung iſt überall unſer Cos“ wollke ſie nicht verſtehen, daher das Gefühl des Unbefriedigtſeins dauernd auf ihr laſkeke. Vollkommen und kadellos war ihre Geſchicklichkeit im Silhouetten⸗Schneiden. Sie illuſtrierke einmal ein Märchen, das Tieck vorgeleſen hatte, und zwar während er las, mit einer Feinheik und poetiſchen Auffaſſung, die deuklich zeigten, was ſie hätte leiſten können, wenn ſie die Ausdauer gehabk hätke, zeichnen und malen zu lernen. Durchaus verſchieden von Mukker und Schweſter zeigte ſich Arthur Schopenhauer, der, ſo 101 ſelken er auch in Weimar war, doch oft genug erſchien, um ſich uns unſympathiſch zu machen. Goethe verkeidigte ſeine Perſönlichkeik einmal ziemlich lebhafk. Er, der ſo innigen Anteil an dem Ergehen ſeiner Freunde nahm, ſah ungern, wie das Zerwürfnis zwiſchen Johanna Schopenhauer und ihrem Sohne ſtändig zunahm und ſein Einfluß machklos dem gegenüberſkand. Die Dreue in der Freund⸗ ſchaft, die kätige Liebe zu den Kindern ſeiner Freunde iſk immer einer ſeiner ſchönſten Charakterzüge geweſen, von dem die Schopen⸗ hauerſche Familie das beſte Zeugnis ablegen konnke. Er war ein häufiger Gaſt in deren Hauſe geweſen; nun, da er nichk mehr aus⸗ ging, zog er Adele oft in ſeine Rähe, der Mukker ſo am beſten ſeine Dankbarkeik für ihre Gaſtfreundſchafk, ihren anregenden Umgang beweiſend. Ein ſtändiger Beſucher ihrer Tee⸗Abende war Dr. Skephan Schütze, eine ſehr beliebte, originelle Perſönlichkeik. Er hielk ſich beſcheiden zurück, ſprach nichk viel, aber dann mik liebenswürdigem, krockenem Humor, der auch in ſeinen Gedichten, die er uns häufig vorlas, Ausdruck fand. Vorleſen, Vorſingen, Vorzeigen eigener oder ge⸗ ſammelter Kunſtwerke machte überhaupk unſere damalige Geſelligkeit zu einer ſo belebten. Aan wetkeiferte darin, man hatte einen auf⸗ merkſamen, geſchärften Blick für alle Vorkommniſſe inneren und äußeren Lebens und teilke anderen die eigenen Beobachtungen und Erfahrungen rückhalklos mit. Daß ſie ſich nicht auf die engen Grenzen Weimars beſchränkten, daß uns auch für das polikiſche Leben der Blick geöffnek wurde, war mit das Verdienſt Johanna Schopenhauers. Dieſe vielfachen Anregungen ſollken aber auch in verſchiedenſter Weiſe fruchtbar werden, zu eigener Fortbildung und ſelbſtändiger Tätigkeit anregen, und es war wieder Goethe, der dies Beſtreben nach jeder Richtung eifrig unkerſtützke. An der Zeitſchrift „Chaos“, die nur für einen abgegrenzten Teil naher Bekannter erſchien, nahm er regen Ankeil. JFenny, die ſich darin in Verſen — engliſchen, 102 franzöſiſchen und deutſchen — und in Proſa ofk vernehmen ließ, erzählk von ihr: „Ihre Gründung war ebenſo originell wie ſie ſelbſt. Wir ſaßen ziemlich einſilbig bei Okkilie im Manſardenſtübchen, Emma Froriep, Hofrat Soret, Mr. Parry und ich. Eckermann, den ſein Herr und Meiſter eben losgelaſſen hatke, kam ebenfalls hinauf und ſah bekrübk aus dem Fenſter. „Es regnek,“ ſagte er. „It rains!“ wiederholke Parry. „II pleut!“ lachke Sorek. Okkilie, ärgerlich über dieſe animierke Unterhalkung, ſchlug vor, irgend etwas zu erfinden, um die einſchlafende Geſellſchafk wieder aufzurükteln. Nach langem Hin⸗ und Herreden wurde ein „Muſen⸗ verein“ feierlich gegründek. Er ſollke regelmäßig zuſammenkommen und dichkend, ſingend, malend den Muſen dienen. Goethe aber ſollke unſer Oberhaupk, unſer Apollo ſein; davon wollke er jedoch nichks wiſſen, und der Muſenverein als ſolcher kam nur noch einmal zu⸗ ſammen, um dann dem „Chaos“ Platz zu machen, das nun während faſt zweier Jahre im Mitkelpunkt unſeres Inkereſſes ſtand.² Es war ein geſelliger Zeitverkreib, weckte, förderte Intereſſen, Dalenke und Talenkchen und hinderke werkloſe Klatſch⸗Konverſationen, war alſo in Goethes Sinn. Otkilie, Dr. Froriep, Sorek und Parry redigierken das „Chgos“ mik vielem Takt und großer Verſchwiegenheik. Es erſchien jeden Sonnabend, man fand Herzensergießungen in drei Sprachen, riek, hoffte verſtanden zu werden, hatte Skoff zu angenehmen Gedanken und Unkerhalkungen; es war ein anmutiges Spiel. Auguſt Goethe, Karl von Holkei, der den erſten Prolog für ſie geſchrieben, und Felix Mendelsſohn, Goethes David, waren unſere eifrigſten Mikarbeiter; Mendelsſohn verfaßke einige allerliebſte Verſe dafür, ſandke auch ſpäter einen Reiſebrief aus Schaffhauſen und myſtifizierke uns, indem er, ſich hinker dem Ramen einer Dame verſteckend, eine War⸗ 103 nungspredigk vor Weimars Gefahren einſchickke. Sein immer ſehr harmloſer Zorn richkeke ſich gern gegen die Engländer, beſonders gegen Mr. Robinſon, den er ſteks nach ſeinem Freykag frug. Ganz beſondere Freude bereikete uns Mendelsſohn mik ſeinen Kompoſikionen einzelner Chaoslieder. Eins derſelben iſt faſt zum Volkslied geworden und hat mich immer gerührk, wenn ich es hörke. Im zweiten Fahr⸗ gang unſerer Zeitung erſchienen drei Briefe Iendelsſohns,'s die dieſer an Goethe geſchrieben hatke. Die Briefe ſeiner Freunde, die Goethe an Oktilien zuweilen zum Iweck der Veröffentklichung gab, wurden von ihm erſt einer genauen Reviſion unterworfen; er ſtrich Unnötiges, kürzte die Säte und änderte oft noch den erſten Druck. Ebenſo verfuhr er mik Gedichken, die ihm in die Hände fielen. Er vernichteke ofk über die Hälfte der Skrophen; waren die Verſe gar zu ſchlecht, ſo ſchüktelke er nur bedenklich den Kopf, brummte „hm, hm“ oder „nu, nu“ und legte ſie beiſeike. Von den Erzeugniſſen unſerer dilettan⸗ tiſchen Muſe, die er zurechtgeſtutzk hakke, pflegte Okkilie ſcherzend zu ſagen: „Wir haben ſie durch das Fegefeuer geſchickt'. Nach zwei Jahren des Beſtehens unſerer Zeitſchrifk miſchten ſich Reugier und Eitelkeik auch auswärtiger Kreiſe hinein, und da wurde ſie ſo ſeicht, daß es eine Ark Erlöſung war, als der ſehr kluge Ir⸗ länder Goff daneben ein engliſches „Creation“ erſcheinen ließ, dem ein franzöſiſches „Création“ von Sorek folgke.“ An Goethes Geburkskag, dem 28. Auguſt 1829, war das erſte Blakt der Zeitſchrifk erſchienen. Sie enthielk außer einigen Beikrägen von Goethe ſelbſt, ſolche von Kiemer und Knebel, Fouqué und Chamiſſo, von ſohann Diekrich Gries, dem geiſtvollen Überſetzer des Taſſo, des Arioſt und des Calderon, von Eckermann und Auguſt Goethe, von Adele Schopenhauer, von den reizenden Schweſternpaaren Egloffſkein und Spiegel. Von Sulpice Boiſſerée wurde ein Brief an Goethe über das Oberammergauer Paſſionsſpiel veröffentlicht, wo⸗ rüber Goethe ihm ſelbſt Mitkeilung machte: „Ihre anmutige Be⸗ 104 ſchreibung der kraditionellen Aufführung eines geiſtlichen Dramas iſt ſogleich in dem Abgrund der chaotiſchen Verwirrung verſchlungen worden.“ Auch Zelker ſchickte einen Berichk über Berliner Theater⸗ ereigniſſe, und Bektina von Arnim ſandte zierliche Reime. Unter den Ausländern kreten die jungen Engländer als Mitarbeiker beſonders hervor: Lord Loveſon Gower, Charles des Doeux, Samuel Raylor brachken Überſetzungen Goetheſcher Verſe in ihrer Mukkerſprache, der Irländer Goff, der ſchließlich auf dem Grabe ſeines geliebten Kindes ſtarb, nachdem er zehn Jahre lang jeden Winker nach Weimar ge⸗ kommen war, um eine Rachk auf dem Kirchhof zuzubringen, ſandte phantaſtiſche Träumereien, und W. I. Thackeray, der ſchon als ganz junger Mann nach Weimar kam, ſtellte hie und da ſchüchkern ſein noch unbekannkes Talenk in den Dienſk des „Chaos“. Zur Erinnerung an ihn, der in ſennys noch vorhandenem Album durch einige ſeiner hübſchen Zeichnungen vertreten iſt, ſchrieb Jenny ſpäker. „Thackerays „Vanity fair' rief mir wieder lebhafk den liebens⸗ würdigen Verfaſſer ins Gedächtnis zurück, der ein ſo kreuer Freund meines väkerlichen Hauſes war; ſein kreffender Humor, ſein weiches Herz ſprechen ſich in jedem ſeiner Werke aus. Er war haupkſächlich in Weimar, um ſein eminenkes Zeichenkalenk zu entwickeln. Während wir um den Teetiſch ſaßen und ſprachen, zeichnete er die humoriſtiſch⸗ ſten Szenen. Sich ſelbſt zeichnete er in einer Minuke und fing immer beim Fuß an, ohne die Feder abzuſehen, daneben pflegke er einen kleinen Gaſſenjungen hinzuſtellen, der ihn verſpotteke, da er einen durch Boxen eingeſchlagenen Raſenknochen hatke. Sonſt ſah er gut aus, hatte ſchöne Augen, volles, lockiges Haar und war ziemlich groß. Er gehörke zu den beliebkeſten Engländern, die ſich in Weimar länger aufhielken, und deren gab es genug.. Einer ihrer leidenſchafklichſten Verehrer, Prinz Elim Mekſchersky, Akkaché der ruſſiſchen Geſandtſchaft, ſchrieb in Proſa und Poeſie für 105 das „Chaos“ und widmete der Angebekeken, nicht zu Erobernden, darin folgendes Gedicht: L'éclat de ton regard aurait trop ébloui Si la nuit ne l'avait recouvert de son voile; II a le clair-obscur du jour évanoui, II a le feu brillant, le feu vif de l'étoile. Le génie et l'esprit unis au sentiment Voulurent tour à tour qu'il fut leur interpräte, La Iyre exprime ainsi par son fremissement Chaque sensation de l'äme du poete. Er war es auch, der auf ſeine Bemerkung, daß man in Weimar nicht zu kanzen verſtünde, von ſenny die Ankwork erhielk: „Wir vergeſſen zu kanzen, aber die einzige Urſache iſt: zu angeregte Unker⸗ haltungen. Fragen Sie die böſen Zungen nach unſerem ſchlimmſten Fehler, und ſie werden Ihnen ankworken: zu angeregte Unkerhalkungen. Und um ihnen zu beweiſen, daß es nicht die Damen allein ſind, die ſprechen, ſei Ihnen verraken, daß ſie alle engliſch gelernk haben durch zu angeregte Unterhaltungen.“ Durch ſeine Behauptung, „daß die deutſchen Mädchen von ſechzehn fahren mit ebenſolcher Sicherheit von der Liebe ſprechen wie die Franzöſinnen im gleichen Alter von ihren Puppen“, führte Metſchersky einen anderen lebhaften Meinungs⸗ austauſch herbei. Die Ankwork Okkiliens darauf iſt ſo bezeichnend für die damalige Gemüks⸗ und Geiſtesakmoſphäre Weimars, daß ſie wiedergegeben zu werden verdienk. Sie ſchrieb: „Über jede Empfindung ſprechen wir uns mik Klarheik und Offenheik aus. Wäre Weimar ein Ork, wo man wenig Fremde ſieht, oder dieſe ſich doch in einem großen Zirkel vertkeilen könnten, wir würden, wie es Hikte und Gewohnheik verlangk, die ganze Stufen⸗ leiter, die man mik einem Fremden durchzumachen hat, von der erſten Frage an: Sie ſind zum erſkenmal in Weimar? bis zu all den Geſprächen über Theater und Wetter, durchkämpfen; doch da die 106 verſchiedenſten Länder uns ihre Bewohner ſenden, ſo haben wir uns alle ſtillſchweigend enkſchloſſen, die entſehliche Kette der Langenweile, die uns auf die hergebrachte Weiſe täglich und ſtündlich drücken würde, abzuwerfen und, nachdem wir die erſte Phraſe als Abfin⸗ dungsquankum bezahlt, dann ruhig in unſerer Weiſe forkzufahren, als wäre kein Fremder zugegen. — — Worin beſtehk denn der Unkerſchied, ſich fremd oder einheimiſch fühlen? Doch nur darin, daß man den alten Bekannten mit Verkrauen und ohne Ceremonie entgegenkommt; alſo tuk und ſpricht, als könnke man nicht mißver⸗ ſtanden werden, während man den Fremden eigenklich immer in anderen Orken mit einer Ark behandelk, die doch eigenklich nichks wie ein höflich gezeigkes Mißkrauen iſt. Sie loben den Enthuſiasmus, den wir für unſere Dichter empfinden, und die Sorgfalk, mik der wir ihre unſterblichen Werke in unſerer Seele aufnehmen. Doch ich frage Sie, was iſt mehr das Eigentum des Dichkers als das gelobke Land der Liebe, als all die Wunder⸗ quellen, die ihm enkſpringen, ſie mögen nun Ramen kragen, wie ſie wollen. Die Frauen verſtehen ſich überhaupk ſchlecht auf das Sondern, im Gegenteil, ſie ſuchen alle Empfindungen zu verketten, und Liebe, Poeſie, Ruhm, Vakerland, das alles bildek für ſie eine elekkriſche Kette, von der man nur ein Glied zu berühren brauchk und es erzitkerk die ganze Reihe. So iſt es auch mik ihrem Wiſſen und Verſtehen aller Dinge, ſie ſuchen ſteks den Teil davon zu erfaſſen, der es an eine Empfindung anſchließk. Rehmen Sie uns die Emp⸗ findung oder vielmehr das Recht, ſie zu zeigen, ſchneiden Sie uns von unſeren Dichkern ab, und wir werden wie die Pariſerinnen ge⸗ nötigk ſein, zu witzeln und über Mode, Equipage und dergleichen zu reden; erlauben Sie Ihren Frauen, Frauen zu ſein, das heißk ein Herz zu haben, und ſie werden uns an Liebenswürdigkeik übertreffen, weil ihre angeborene Heikerkeik nur gemilderk werden würde, während bei uns das Gefühl ofk ſo despotiſch das Übergewicht erhält, daß 107 jede Eigenſchafk des Geiſtes dadurch unterdrückk und gänzlich un⸗ küchtig für die Geſelligkeit gemachk wird. — Man verſpokkek die Chineſinnen, daß ſie in der früheſten zugend die Füße ihrer Töchter in ſo enge Bande ſchnüren, daß dadurch der Fuß nie ſeine nakür⸗ liche Form erhält, zum eigenklichen Gebrauch unkauglich wird und ſie durch das Leben ſchwanken. Doch mich deuchk, nach Ihrer Schilderung, daß die franzöſiſchen Mütter dasſelbe Experimenk mit ihren Töchtern vornehmen, nur mit dem Unkerſchied, daß ſie ſtatt des Jußes das Herz dazu wählen — und am Ende iſt doch ein ver⸗ krüppelter Fuß beſſer als ein verkrüppeltes Herz.“ Wer heute die vergilbten Blätker des „Chaos“ zur Hand nimmk, dem wird die ganze Zeik lebendig: wieviel Geiſk und Wiſſen, wieviel mehr noch Schwärmerei und Leidenſchafk! Selbſt das Lächeln glänzt nur zwiſchen Tränen, und in den poetiſchen Ciebesgrüßen, die hin und her gewechſelk wurden, herrſcht weniger die Seligkeik als das Leid der Liebe. Auch jennys Herz, das achtzehnjährige, liebke zum erſtenmal; es war nichk jenes wild aufflackernde, ſtrahlende und raſch wieder erlöſchende Feuerwerk, dem die erſte Liebe junger Menſchen gleich zu ſehen pflegt, es war die verzehrende Flamme heißer Liebesglut, die ſie ergriffen hatke. Sie iſt niemals ganz erloſchen, und noch im ſpäten Alker muß ſie ſtill auf dem Alkar der verborgenen Herzens⸗ kammer gebrannk haben, denn junger Liebe, für die andere meiſt nur ein mitleidig⸗ſpöttiſches Lächeln übrig hatken, begegnete die Greiſin mit tiefſter, faſt mik ehrfürchtiger Teilnahme. Und nie kam der Name deſſen, dem ihr Herz gehörk hatke, über ihre Lippen. So weiß ich nur, daß er ein Engländer war, daß ſie ſich ihm, den ein ſchweres Lungenleiden nach dem Süden krieb, gegen den Willen der Elkern heimlich verlobke und durch Oktiliens Unkerſkützung mit ihm in Verbindung blieb, bis er im Jahre 1834 in Korfu einſam ge⸗ ſtorben iſt. Die Schwermuk, die alles beherrſchk, was ſie in dieſen fünf Jahren ſehnſüchüger und ſorgenvoller Liebe geſchrieben hat. 108 ihre Unnahbarkeik für die Bewerbungen derer, die ihr Herz an ſie verloren hatten, ihre Abneigung gegen die gewohnten Freuden der Jugend ſprachen für die Tiefe ihrer Empfindung. Was an den Geliebken erinnerte, hat ſie vernichkek; vielleicht zeugt dieſes Opfer aller Liebeszeichen von größerer Piekät, als wenn ſie ſie bewahrk und damik vor den Händen und den Blicken Gleichgültiger nicht geſchützt hätke. Nur dieſe zwei Gedichke, die ſie unker dem Eindruck ihres Schmerzes ſchrieb, und eine Erinnerung an das Haus Goethes, von dem ihres Cebens Inhalk in Glück und Leid ausging, ſind erhalten geblieben: Menſchenſchickſal. Jüngſt ſah ich im Vorübergehn Vor einem goldnen Gitter Ein lieblich Kindchen rükkelnd ſtehn. Im Herzen Ungewitker. „Die goldnen Ketten feſſeln mich, Die goldnen Stäbe bannen, Die goldnen Wände drücken mich, Ich möcht, ich möchk von dannen! Und was erreicht ſein wild Bemühn? Hat es ſich losgerungen? Zog es ins Weite ſkark und kühn? Iſt Großes ihm gelungen? Am goldnen Gitter ſteht das Kind, Schauk bleich ins Weltenrund, Rur daß die Händchen blutig ſind Und Stirn und Füße wund. Ein Leichenbegängnis. Ich grabe im herzen ein tiefes Grab Und ſenke den bleichen Freund hinab, Und decke es zu mit Tränen und Weh, Damik kein Fremder es jemals ſäh! Es kritk die Erinnerung leis hinzu, Sie ſingek milde den Freund zur Ruh Und bauk im Herzen ein Monumenk, Darauf eine ewige Campe brennt. 109 Tief in der Rachk dann ſchleich ich hin Und grabe mit kreuem, liebendem Sinn Ein Lebewohl auf den Grabesſtein Und ein Wiederſehn auf die Campe ein! „. . . Ich ſtieg jene breike klaſſiſche Treppe empor, die meine Schrikte ſchon ſo ofk durchmeſſen hatken — mik fünfzehn Jahren, als ich im runden Hut, im Penſionskleid und grünen Spenzer mit kind⸗ licher Erregung und jugendlichem Enthuſiasmus an der Seite meiner Mukter hinaufging, um zum erſten Male den Reſtor, den Herkules des deutſchen Parnaſſus zu beſuchen; mein Herz grüßte ihn mit jener heiligen Ehrfurchk, die uns die Arme über der Bruſt kreuzen läßt, mit jener vertrauenden Zärklichkeit, die voll Hingebung einen Vater in dem erhabenen Greis mit den weißen Haaren, mik der zupiter⸗ ſtirn findek; mik ſechzehn ahren ging ich denſelben Weg, um mein Püppchen (Alma von Goethe) zu finden, ein reizendes Kind, das ich wickeln und umherkragen durfte; ſpäter wurde ſeine Mutker meine Freundin. Mik wie viel verſchiedenen Gemüthsbewegungen betraten meine Füße dieſe Skufen! Sie fühlken den leichten Schrikk des jungen Mädchens, das, zum Feſk geſchmückk, nur dem Gedanken an das Vergnügen nachhängk, jenem Gedanken, der die Füße beflügelk und die runden Wangen abwechſelnd weiß und roſig färbt; ſie fühlten denſelben Tritk, unſicher und zögernd vor Hoffnung und Furchk wegen einer möglichen Begegnung, die das Herz nicht mehr ganz gleich⸗ gültig ließ, und wenn die Füße wieder langſam die Skufen hinuntker⸗ gingen, hätken ſie fühlen müſſen, ob andere ſie begleikeken und ofk für ein Work, für einen Blick ſtill ſtanden, oder ob das junge Mädchen enktäuſchk und allein, faſt gedankenlos den gewohnten Weg bekrak. Während vieler krauriger Tage ſtieg ich empor, theils um zu kröſten, theils um ſelbſt gekröſtek zu werden, um zu klagen, um zu lernen, um Gewißheik zu erlangen über dunkle Gerüchte oder um manchmal an der Freude über gute Rachrichken kheilzunehmen. Als Kranken⸗ 110 pflegerin ſtieg ich enpor wie als harmloſer Beſuch, als Geladene zu einer geiſkreichen Geſellſchaft, die ſich am Flügel oder um den runden Tiſch mik ſeinen zwei Kerzen verſammelke. Mik brennenden Wangen ging ich hinauf, gekrieben vom wild pochenden Herzen, zurückgehalken von zikkernden Knieen — ich glaubke unker dieſem Dach mein Glück, meine Zukunfk zu finden; — dann, eines Tages, ſchrikk ich dieſelben Stufen abwärks; an einer Stelle hörke ich ein Work und das Work hieß „Lebewohl“; und es war ſo mächtig, daß es ſich den Mauern, der Treppe einprägte; und noch nach acht Jahren, wenn ich eintrat, ſchrien Mauern und Treppe mir dies Work bis in die Tiefe des Herzens zu.“ Wie ſenny einmal von Goethe geſagk hatke, daß er zu denen gehöre, die ihre Größe mit dem „Pfahl im Fleiſch“ bezahlen müſſen, ſo erging es ihr: jede ſeeliſche Erſchütkerung ergriff auch den Körper. Jener furchtbare Abſchied, der wohl den Abſchied fürs Ceben ſchon ahnen ließ, ſchien ſie aller Lebenskrafk zu berauben, und da keiner der Weimarer Ärzke ihr helfen konnte, wandte ſich ihre Mukker ſchließlich an Dr. SHamuel Hahnemann, den Begründer der Homöopathie, der nach langem Wanderleben und Anfeindungen aller Ark ſich endlich in Köthen als Hofrat und Leibarzk des Herzogs Ferdinand niederlaſſen konnke. Er nahm den wärmſten Ankeil an dem Ergehen ſeiner Patientin, und ſeine Briefe an ſie — winzige Zettelchen mit winziger Schrifk — gewähren Einblick in die originelle Ark ſeines Verkehrs mit ihr. So ſchreibk er im Rovember 1827: „Mein gnädiges Fräulein! Die pünkkliche Folgſamkeik, mik welcher Sie meinen Wünſchen nachkommen und die Offenheit in Darlegung Ihres körperlichen und Gemükszuſtandes in Ihrem Berichte verdienen meinen ganzen Beifall. Seyn Sie verſichert, daß ich den innigſten Theil an Ihrem Wohle nehme und daß ich Alles thun werde, Sie herzuſtellen. Auch Ihre 111 krüben Ideen ſind bloß Folgen Ihres körperlichen Unwohlſeyns, was bei Ihnen ſchon in zarkeſter Kindheik begonnen haben muß. Mit der Geſundheik Ihres Körpers weichen aber jene niederſchlagenden Vorſkellungen gänzlich. Bis hierher hatke dieſe melancholiſche Ge⸗ müths-Verſtimmung doch den großen Vortheil für Ihre Siktlichkeik, Sie vor dem Leichtſinn zu bewahren, welcher ſo oft junge Frauen⸗ zimmer Ihres Alters von dem edelen Ziele ihres Daſeyns enkfernt und der modigen Frivolikäk Preis giebk . .. So hak der Allgütige ſelbſt durch dieſes Seelenleiden Ihnen eine Wohlthat erwieſen in Sicherſtellung Ihrer Moralitäk, deren Reinheik mehr als alle Güter der Erde werth iſt . . ." Wenige Monake ſpäker hieß es: „Mein liebes gnädiges Fräulein! Sie haben allerdings bei reiferen ahren, wenn Ihr jetzk noch zu zarkes und daher ſo viel bewegkes Herz mehr Kraft und ruhigere Schläge bekommen wird, auch Ihr inneres Siechtum noch mehr ſich gebeſſerk hat, frohere, gleichmäßigere Tage zu verleben. Die un⸗ nennbaren, Sie jehzk noch beſkürmenden Gefühle werden ſich dann am beſten in einer, wie Sie verdienen, glücklichen Ehe zu einem ruhig frohen Leben auflöſen unter ſchönen Mutker⸗ und Gatken⸗ pflichten. Nur gekroſt; bei Ihrer edlen Denkungsark wird es Ihnen noch recht wohl gehen, da, wie ich ſehe, Sie nicht zu große An⸗ ſprüche an dieſe ekwas unvollkommene Welk machen und mehr bei ſich ſelbſt an Vervollkommnung arbeiken. Ich bitte mir ferner Ihre Körper⸗ und Geiſteszuſtände kreu zu berichten, und verſicherk zu ſein, daß ich auf Alles achte, was Ihnen zum Wohlſein gereichen kann als Ihr keilnehmender untertäniger S. Hahnemann. Im Tanze bikte ich ſtkeks ſehr mäßig zu ſein, dann kann er Ihnen nicht anders als wohl bekommen. 112 Aus den übrigen Briefen ſei noch folgendes wiedergegeben: „Mein gnädiges Fräulein! Billig hätten Sie mir längſt den Gegenſtand Ihrer ſo tiefen Bekrübniß eröffnen ſollen, wo nicht ſpeziell und mit Ramennennung, doch im Allgemeinen bezeichnend — nicht ekwa bloß, weil ich als Menſch herzlichen Ankeil nehme, ſondern weil ich als Ihr kreuer Arzk doch wiſſen muß, ob auch der Gegenſtand der Ark war, daß auch eine geſunde Perſon ſo ſtark hätke müſſen davon affiziert werden, oder ſo beſchaffen, daß eine ſolche Trauer der Sache nicht angemeſſen war und Sie nichk ſo tief und anhalkend davon häkten gebeugk werden können, ohne körperlich krank zu ſein. So aber ſkehe ich da, wie vor einem Rätſel, deſſen Aufklärung ich von Ihnen erwarken muß, ehe ich beſondere Rückſicht mit meiner Arznei darauf nehmen kann. Bloß beiliegende 16 Pülverchen bitke ich noch zu gebrauchen . . . Allein ſpazieren wünſche ich nicht, wohl aber recht viel ins Freie in Geſellſchaft, damit Sie Ihren Gedanken nicht zu ſehr nachhängen. Vor Wein ſollken Sie ſich gänzlich hüten . . . Rach Verbrauch der Pülverchen bitke ich ſogleich zu berichten Ihrem unterkänigen Hahnemann. Röthen, d. 1. Sepk. 1828. Mein liebes gnädiges Fräulein! Wenn die gütige Vorſehung den ſendet, der Ihrer würdig iſt, der wird um Ihre ſchöne Seele freyen, und Ihre Schönheik nur als vorkreffliche Zugabe anſehen — der wird auch ein Mann ſein, vor dem die Gecken fliehen und die Wüſtlinge beſchämt zurücktreken, die keine Ahnung von dem Werthe einer engelreinen, weiblichen Seele haben, die ich durch Ihre Briefe in Ihnen zu verehren das Glück gehabk habe. . . . Dieſe Pülverchen nehmen Sie gekroſt von Ihrem unkertänigen s. Hahnemann.“ Röthen, d. 3. Mov. 1828. 113 Im Schatten der Titanen. s In einem der letzken Briefe leſen wir: „Fahren Sie nur ſo fort, nächſt Ihrer diätetiſchen Folgſamkeik, mir in Ihren Briefen Ihre Denkungsweiſe, Ihr Herz und Gemüth auf⸗ zuſchließen. Sie haben einen alten Mann vor ſich, der ungemein empfänglich für ſo etwas iſt, ungeheuchelten Theil daran nimmt, auch wohl hierin guten Rath zu geben weiß. Erhält, wie bei Ihnen, das geiſtige Gefühl und die Empfindſamkeik die Oberhand, ſo wird das körperliche davon übermannk und über die Maße geſtörk. Da iſt es nöthig, auf den rechten Weg einzulenken, wo der Körper neben dem Geiſte ſeine Rechke behaupten könne, da iſt es nöthig, ſolche Beſchäftigungen zu wählen, wobei die Phankaſie möglichſt wenig aufgeregk und mehr das Denken und Beobachken geübt wird . . .. Rächſtdem bikke ich bloß leichte, frohe Lieder (keine andere Poekerey). guke, wahre Reiſebeſchreibungen, Lebensbeſchreibungen und Geſchichte zu leſen. Um Ihnen aber etwas und womöglich vielmehr Vergnügen bei Ihren Spaziergängen zu verſchaffen, haben Sie in Weimar die beſte Gelegenheik, ſich einen unpedantiſchen Lehrer in der Rakur⸗ geſchichte zu verſchaffen, der Ihnen, im Beiſeyn Ihrer gnädigen Frau Mama, Kenntniſſe beibringen wird, die Ihnen dereinſt weik ſchätz⸗ barer und lieber ſein werden, als viele andere weibliche Beſchäfti⸗ gungen. Dann ſind Sie auf Ihren Spaziergängen nicht mehr einſam und ohne Unterhaltung. — Der gute Rak des Seelenarzkes mochke dem trauernden Gemük des jungen Mädchens eine beſſere Arznei ſein, als ſeine „Pülverchen“ ihrem Körper. Aber den Rak, der überall zwiſchen den Zeilen ſeiner Briefe zu finden und ſicherlich von den beſorgken Elkern diktierk war: durch die Verbindung mik einem „würdigen Mann“ die erſte Leiden⸗ ſchaft zu überwinden, vermochte ſie nicht zu befolgen. An Bewerbern fehlte es nichk; ihre Schönheik und noch mehr der Liebreiz ihres Weſens bezauberke alle. Alfred von Pappenheim ſchrieb einmal an ſeine Stiefſchweſter Cecile von Gersdorff, Dianens Tochter aus ihrer 114 zweiken Ehe: „Es kuk mir leid, daß ich Dich nicht begleiken kann .. Mik ſenny würde ich mich nicht leicht enkſchließen, zu reiſen, aber Du als Backfiſchchen fändeſk vielleichk nichk ſo viel Verehrer, und meine Rolle als Chapron würde dann nichk ſo ſchwer ſein.“7 Und Karl Wolfgang von Heygendorff, der Sohn von Karl Auguſt und Caroline Jagemann, der ſenny ſehr verehrke, ſchrieb noch in der Erinnerung begeiſterk, wie „wunderſchön und engelguk“ ſie damals war. Sie blieb allen gegenüber, die ſich um ſie bewarben, von gleich⸗ mäßig kühler Freundlichkeik. Die Freundſchafk mußke ihr erſetzen, was ihr die Liebe ſchuldig geblieben war, und in einer Zeik wie die ihre, wo die Herzen einander weik offen ſkanden, weil der eigene innere und äußere wüſte Lebenskampf die Empfindungen noch nicht bis zu dem kraurigen Reſt vollkommener Selbſtſuchk abgeſtumpft hakte, gab es noch echte, keilnehmende Freunde. Oktilie Goethe nahm unker ihnen die erſte Skelle ein. Deren Charakkeriſtik, die ſie bald nach der Trennung von ihr niederſchrieb und auch im Alker noch für zu⸗ treffend erklärke, gibt ein deukliches Bild dieſer merkwürdigen Frau: „Ich fand meine Freundin in ihren hübſchen Manſardenſkuben, umgeben von Büchern und Papieren, vor einem kleinen offenen Bücherſchrank; ihre Augen glänzten, ihre braunen Locken ſchienen ſchon zwanzig Mal nach hinken geſchüttelk zu ſein; ihre kleine weiße Hand hielk ein Buch, ihre Wangen brannken, und ſchon ihre Be⸗ grüßung zog mich in die lebhafteſte Unkerhalkung. „Herr Roél“, ſagke ſie, „frug mich nach einer Charakkeriſtik ſeines Geſchlechtes, und ich gab ihm Gottes Recepk einer Männerſeele: eine ſtarke Doſis Egoismus, dreimal ſo viel Eitelkeit, ein gut Theil Berechnung, das ſie Vernunfk nennen, das Alles gewürzk durch eine Porkion Geiſt — und das Ragouk iſt fertig.“ In dem Ausdruck, mit dem Ottilie ihr Epigramm begleikete, lag genug Wahrheik, um den verächtlichen Jug, der ihren Mund um⸗ ſpielke, anziehend zu machen, und Coquekkerie, um ihm den Skachel 8* 115 des Beleidigenden zu nehmen, aber auch genug Triumph, genug von dem „je ne sais quoi' der Frau, welche den Sklaven neben der Gebieterin verrathen läßt. Mr. R. lehnke ſich an den Bücherſchrank; ich hatke mich in einen Cehnſkuhl geworfen, deſſen Rücken in kunſtvoller Stickerei das Wappen Englands zeigke, Ottilie ſtand in der Vertiefung des Fenſters, das durch die ſchrägen Wände gebildek wurde. Die Unterhaltung drehte ſich um Irland und die Irländer, ein Thema, das ſie ganz beherrſchte; ſie in dieſer Feſtung anzugreifen, hieß alle Waffen ihres Geiſtes gegen ſich richken. Michk wahr, Du würdeſt bei einem Feuerwerk nicht verſuchen, eine Ferſe in Deinen Skrumpf zu ſtricken?“ ſagte ich ihr; „und ſo kann ich mir an der Seite eines Irländers kein häusliches Glück vorſtellen!“ „Ich liebe dieſes Feuerwerk!“ entgegneke ſie; „ich würde ohne Strümpfe gehen und leichk dieſe proſaiſchen Kerzen entbehren, die man vernünftige Leute nennk; ſie haben kein Herz und ſetzen die Vernunfk an deſſen Stelle — ſtarke Liebe, ſtarker Haß, ernſter Kampf und keine Berechnung, das iſt es, was ich liebe. Der Irländer allein hak Herz, Feuer, Muth — Auch Narrheik und Unbeſtändigkeik', unkerbrach ſie Ir. R. Rach dieſem unerwarketen Einwurf krak ſie vor, war mik einem Schrikk auf der Fußbank, mit dem nächſten auf dem Stuhl und warf, wie ein verzogenes Kind, ein Buch nach dem andern auf die Locken ihres Gegners. Und doch war nichts Rohes in dieſer Kinderei; ich, das junge Mädchen, lächelke wie eine Großmama zu den Schüler⸗ ſkreichen dieſer Frau und Mutter, die von Zeik zu Zeik zwanzig Jahre ihres Lebens vergaß; alles war an ihr natürlich und ungezierk, aber ihre Seele, ihrem Geiſt, ihrem Herzen fehlken die Zügel — wie ſchwer hak ſie dieſen Mangel büßen müſſen! Mr. R. ſuchte mit den Augen einen unauffindbaren Gegenſkand. „Sie ſuchen eine Uhr!“ rief ſie aus; „ich beſitze keine, ich bin dafür 116 zu ſehr Irländerin.“ Erſtaunk erwarkete er eine Erklärung dieſer weder in Roman noch Geſchichke jemals erwähnken Rationaleigen⸗ kümlichkeik. „Das heißk, ich habe eine zu hohe Meinung von Gaſt⸗ freundſchafk; es giebt nichts Gröberes als ſolch eine Uhr, die in jeder Vierkelſtunde die Beſucher an die verfloſſene Zeik erinnerk; ſchlimm genug für die, welche ſich an die Zeik binden, bei mir findek ſie keinen Plahz, um ihre Senſe anzulehnen.“ „Und dadurch“, ankworkeke er, „werden wir unpünkklich, denn die Langeweile verkreibk uns nie!“ „Warken Sie nur, habe ich erſt Salons, Lakaien und ſchöne ſeidene Kleider, ſo werde ich ſchrecklich langweilig ſein. Ich war es ſchon weniger, als ich aus Sparſamkeik noch Talglichker brannke, denn jedesmal, wenn ich ſie putzen mußke, ſah ich meine Gäſte an, ſagte ſchnell etwas Luſtiges, und während ſie lachten, putzte ich ſie geſchwind incogniko. Jehzk bin ich liebenswürdig zwiſchen meinen ſchiefen Wän⸗ den, weil ich ſie dadurch meinen hohen Beſuchern vergeſſen laſſen muß.“ Mr. R. nahm ſeinen Hut, ſie ſagke ihm freundlich Lebewohl, kauſchke einen Händedruck von zehn Jahren Bekannkſchafk mik ihm und kehrke zu mir zurück. „Er iſt doch ſehr ſchön“, ſagke ſie. „Der Bater hat mir eine angenehme Bekanntſchaft ausgeſucht. Er ſoll ein Herzog⸗ thum zu erwarken haben, jedenfalls paßk er gut in mein Herzogthum. Alſo wieder und immer wieder“, rief ich kraurig aus. 50 Du neugierige kleine Katze, ſpielſt du wieder die erfahrene Frau und ich das kleine Penſionsmädchen?“ Währenddeſſen hatke die Phankaſie mik zauberhafker Schnelle andere Bilder aufgezogen. Einem Gedanken ſchien ſie nachzuſinnen, deſſen Schatken ſchon ihre Züge bedeckke. Keinen Brief von H. und doch bin ich jetzk freil“ „Er hak keinen Pfennig, Oktilie, Du weißk es recht guk!“ „Was ſoll mir das Geld! Er wollke Miſſionar werden, ich ſtimme dem bei, es iſt ein edler Beruf. Kannſt du dir in der 117 Mikte der Wilden Deine Freundin vorſkellen, ſie ſelbſt als ſeine er⸗ gebenſte Schülerin? — Auch eine Schule wollke er gründen; ich würde die Wirtſchaft führen —“ Aber, liebes Herz, du verſtehſk ja nichts davon.“ „Die Liebe wird es mich lehren! Rur Eins beunruhigk mich, ich kann Desvoeux nicht vergeſſen; ich ſchrieb davon an H. — UUnd erzählſt es R. morgen.“ Sie lachte, aber ich hatte Recht, denn nichts hatke Beſtand in dieſem Kopfe, in dem die Phankaſie Alleinherrſcherin war. Da warf ſie zwanzig verſchiedene Männerbilder, tauſend Lebenspläne, Gedanken, momentane Empfindungen durcheinander, bis die Bilder zerbrachen, die Gedanken ausarkeken — dann ſaß ſie vor den Trümmern und weinke! Aber wie bei kindlichen Schmerzen, kröſtete ſie die Blume, die ein Fremder ihr reichte, ſie lächelte, ſie berauſchte ſich an ihrem Dufk und warf ſie ſchließlich in die allgemeine Unordnung zu Bildern und Gedanken. Und doch waren edle unter ihnen, Gedanken von Pflicht, Barmherzigkeik und Hingebung, aber kein einziger entſprang einem Grundſatz. Der Urſprung war Liebe, das Ziel war Liebe, das Ceben war Liebe, krotdem dieſe Frau nicht mehr jung und nicht ſchön war. Die Strahlen der Schönheit, mik denen ihr Geiſt ſie oft zu verklären ſchien, warfen ſie nur noch kiefer in Gram und Reue, denn oft enkzündete ſich die Leidenſchafk an dieſem Glanz, um, wenn er erloſch, ebenſo ſchnell zu vergehen; ſah ſie die Flamme matker und matker brennen, fühlte ſie, daß ihr Athem ſie nicht mehr anzufachen vermochte, ſo weihte ſie die Skunden der Racht ihrem wilden Schmerz. Und dennoch enkſagte ſie nichk dieſem Phankom der Ciebe, ſie begehrte in der ganzen Welk nichks als ſie, inmitken brennender Thränen rief ſie aus: „Immer nur Leidenſchaft, niemals Ciebe!“ Aber ſchon im nächſten Augenblick klammerte ſie ſich an die Leidenſchaft, die ihr in der Maske der Liebe nahte — und dann immer dasſelde Frauerſpiel; Hlück, Jeligkeit, Verluſt und Reue. 118 Trotzdem fehlke es ihr nicht an Freundinnen. Sie hatke alke und junge, fromme und kluge, Welkfrauen und junge Mädchen mit der⸗ ſelben Einbildungskraft wie die ihre; Freundinnen mit gebrochenen Herzen und Prieſterinnen der Vernunfk — ſie Alle waren ihr er⸗ geben, denn ſie war von Herzen liebenswürdig — liebenswürdig ſelbſt in ihrer Thorheik. Ja, ſie hatte Freundinnen, doch dieſe hatken ſie nicht! „Glaubſt Du, daß er kommt?“ fuhr ſie fork. „Da ſtehe ich nun den ganzen Tag am Fenſter und warke auf den Briefboten und denke dazwiſchen an D.“ „Du biſk zu müßig, Ottilie!“ „Was ſoll ich kun? D. gab mir zu thun: den Taſſo mußke ich überſetzen und drucken laſſen, dann nahm ich drei Monate lang Zeichenſturden, weil er ſich die Copie eines Bildes wünſchte, und ich hatke noch nie einen Beiſtifk berührk! Uebrigens — doch, du wirſt lachen — nachdem R. mich geſkern Abend verlaſſen hatke, kam mir ein Gedanke, den ich dieſen Morgen aufſchrieb, ich will ihn dir vor⸗ leſen. — Du ſagſt, ich ſei müßig, und weißk doch, daß ich ſechs Skunden des Tages dem Dater widme; ofk kann ich nicht mehr und glaube ohnmächtig zu werden vor Schwäche, doch der Gedanke, daß ich ihm nützlich, ihm nothwendig bin, daß ich ſeine alken Tage ver⸗ ſchönen und in der Welk zu etwas guk ſein kann, dieſer Gedanke giebt mir die Kräfke wieder. Reulich haben wir den Plukarch zu leſen angefangen, und ſchließlich las er mir aus dem zweiten Teil des Fauſt; es war ſchön und groß, als ich aber nach elf Uhr mein Zimmer bekrak, fiel ich, meiner ganzen Länge nach, zu Boden.“ Ich erhob mich, um ſie zu küſſen; ich liebke in dieſem armen Kinde der Phankaſie dieſes Gefühl, dieſe Pflichk, die ihrer Hingebung entſprang, dieſer ſtillen, gewiſſenhaften, rührenden Hingebung mit all ihren kleinen, ſtündlichen Opfern, ihren verborgenen Anſtrengungen bis zur Enkkräftung, deren nur eine Frau fähig iſt. Inzwiſchen hatte 119 ſie auf allen Tiſchen nach ihrer Schrifk geſuchk, doch vergebens; ich kam ihr zu Hilfe und entdeckte endlich unter Büchern, Briefen, Sticke⸗ reien und Roten ein mit einer großen engen Schrifk bedecktes Papier. Ich begann zu leſen; welch buntes Durcheinander: Kleider und Schärpen, Blumen und Bücher, die ſie ſich zum Geburkskage wünſchte, verſchiedene Adreſſen, quer darüber einige Verſe ihrer Taſſo⸗Ueber⸗ ſetzung, den Titel einer neuen Geſchichte Irlands, und endlich in der Mitke fand ich etwas, das eine Fortſetzung zu haben ſchien. „Gib her, das iſt's,“ ſagte ſie und begann: „In einem dunklen Tempel verbreitete eine einſame Ampel ihr krauriges Lichk; lange ſchon hatte ſie gebrannk und Niemand gab ſich die Mühe, ſie mit Lebensſpeiſe zu verſorgen; krohdem leuchtete ſie noch, denn der Tempel lag auf dem Wege frommer Pilger, und ſobald die Flamme nahe am Erlöſchen war, warf eine barmherzige Hand ihr ekwas hin, das Leben zu friſten. Es war nichk immer geweihkes Ol, das ihr gebührke; die Pilger gaben, was ſie hatken: eine Blume, ein Corbeerblatk, einen Dornenzweig; der Eine gab ihr einen Tropfen Bluk, der Andere ſeine Thränen — und die Lampe brennk heuke noch!“ „u biſt es“, ſagke ich; „dieſe Flamme iſt deine Seele, doch der neue Bilger, Okkilie, bringk dir nur einen Dornenzweig!“ „ei es darum, auch dieſer bringk mir Leben.“ Goethe hatke während dieſes Abends den Beſuch eines Freundes, Ottilie war frei, ich blieb bei ihr; um ſieben Uhr kam Herr R. und verſchiedene junge Engländer, ſpäter der Thee auf rundem Tiſch, den zwei Lichter erhellken. Die Unkerhalkung wurde lebhafk, wie immer, ſie drehte ſich um Armuth und Reichthum, und Okkiliens Verachtung dieſer „kleinen Stückchen von ſchmuhigem Metall“ krak deuklich zu Tage. „Doch wie vereink ſich deine Verachtung mit den Anſprüchen einer eleganken Frau? fragte ich lächelnd. 120 „ch, du kriffſt wieder meine ſchwächſte Seike! Stellen Sie ſich vor, meine Herren, ſie moquierk ſich über mich! Über mich, die ich ein neues Mützchen, eine ſeidene Schürze, ruſſiſche Schuhe und die ſchönſte aller Hammetcravatken krage!“ „an ſagke mir, es ſei nicht allzu lang her, daß du dich der Mode fügſt!“ gab ich zurück; „und deine Locken —“ „Hind kauſendmal ſchöner als dein Vogelneſt! Sie ſind — „Vom Jahre dreizehn“, unterbrach ich ſie. „Ja, vom Jahre dreizehn!“ rief Otkilie bewegk; „alles Guke, alles Schöne iſt vom Jahre dreizehn; — damals gab es noch Be⸗ geiſterung, damals war Preußen herrlich, und unſere Herzen hakken ein Baterland! Die Regimenter durchzogen die Skadt und ließen uns ihre Verwundeten; wie Engel des Friedens betraken wir die Krankenhäuſer, und die Kranken ſegneten uns! Des Abends gab die Stadk einen Ball. Wenn wir einem der Officiere einen Walzer ver⸗ ſagen wollken, hieß es: vielleichk iſt es der letzte, und wir gewährten ihn. Dann die Bivouaks und morgens die Trommler, die Schlacht⸗ muſik — ein Gruß, ein Lebewohl mit geſenktem Degen — es gab in Deutſchland keine Schlafmützen mehr, ſie waren alle Männer ge⸗ worden und die Männer Helden! Damals war es der Mühe wert, zu leben und zu ſterben!“ . . . Die Stunden vergingen. Kein Klatſch, keine Frivolität, keine Tack⸗ loſigkeik ſkörke unſer Zuſammenſein. Oktilie hatke es mit jenem Talenk, das keine Frau in dem Grade beſaß wie ſie, verſtanden, Jeden mik ſich zufrieden zu machen; ſie hakte mit ſedem über das ihn am meiſten Inkereſſirende geſprochen, wobei ſeder ſich naturgemäß am wohlſten fühlk; ſie hatke alle Geiſtesgaben geweckt und welche zu ſäen verſucht, wo ſie keine gefunden hatte. So war meine Freundin, als ich wußke, warum mein Herz ihr entgegenſchlug, jetzt — — Ich will dieſe dunklen Myſkerien des Schickſals und der Schuld nicht berühren. Dank dem Himmel, der 121 mich nichk zum Richker dieſer unglücklichen Frau berufen hat! Ihre Seele war glänzend und liebenswürdig, doch für einen anderen Planeken geſchaffen; ſie hatte ſich in ihrem Fluge getäuſcht, ſtatk der blühenden Gärken ihres Sterns fand ſie die kalten Rebel des unſeren, ſtatk der Liebe fand ſie die Vernunfk auf dem Thron, ſtatk des heiteren Lebens fand ſie Arbeik und Sorgen, ſtatt der unendlichen Räume des Sterns ihrer geflügelken Brüder fand ſie die kleinlichen Verhältniſſe unſerer Erde, wo man gehk — oder kriecht. Mik jedem Schrikk verſtieß ſie gegen ein irdiſches Geſeh, jedes Geſetz rächte ſich, jeder Irrthum koſtete ihr eine Feder ihrer Flügel, einen Strahl ihres Lichks, eine Blume ihrer Schönheik — ſie weinke, doch ſie lernte nichks! Man donnerke ihr in die Ohren: Die Vernunfk iſt König, du biſt des Majeſtäksverbrechens ſchuldig; zum Schaffok! zum Schaffot! Sie wollke enkfliegen — ihre Flügel waren gebrochen, ſie wollke durch einen Strahl ihres Lichts ihre Richter gewinnen — das Licht war erloſchen; auf ihrer Harfe wollke ſie ihre Klagen ſingen — zerriſſen waren die Saiten!“ Wie über der Familie Bonaparke, ſo ſchien über der Familie jenes anderen Tikanen ein dunkles Schickſal zu walken, und wie der Schakken des einen über ſennys Leben ſeinen Schleier warf, ſo auch der Schatten des anderen, da die Freundſchafk ſie noch inniger als mik der Mutker das ganze Leben hindurch mik den Enkeln verband und ihr auch den Vater nahe geführk hatte. Die Rachwelk iſt im Urkeil über ihn ſo hark und ungerecht geweſen, wie die Mitwelk grauſam war gegen ſeine Söhne. Jenny charakteriſierke ihn folgender⸗ maßen: „Auguſt Goethe habe ich ſehr guk gekannk; er war nichks Außergewöhnliches, ſondern ein kluger, gukmüthiger Mann, der, als Sohn eines anderen Vaters, einen ernſten, ruhigen Lebensweg ge⸗ funden hätke. Der alte Goethe liebte ſeinen Sohn unendlich, er ſah in ihm ein Stück ſeiner ſelbſt, oder wollte es vielmehr ſehen; das 122 empfand Auguſt aber nicht als Glück, ſondern als drückende Laſt. Goethe hatte viele Kinder verloren, dieſer Eine ſollte ihm alle anderen erſehzen. Er nahm ihn ſchon als Enaben auf ſeinen Wanderungen mit, verſuchke ihm ſeine Paſſionen einzuimpfen. Auguſts friſcher Geiſt faßtke leicht und fröhlich auf, was der Bater ihm lehrte; er zog aber, wie es ganz natürlich war, den Umgang mit gleichalkrigen Gefährken dem alleinigen mit ſeinem Vaker vor. Das ſchmerzte dieſen, denn er vergaß, wie ſo viele Bäter den Söhnen gegenüber, die eigene Kinderzeik. Er wurde ſtrenger, überwachte ſeinen Unker⸗ richt, überhörke ihn zuweilen und unterdrückte die aufwallende Zärt⸗ lichkeik, weil ſie ihm nicht in ſein Erziehungsſyſtem zu paſſen ſchien. Auguſts heißes Herz wandte ſich mehr und mehr der Mutker zu, die ihn von Anfang an verhätſchelte. Sie verſkopfke das ſchreiende Mäulchen des Babys mit Süßigkeiken und anderen Dingen; ſie öffnete dem ſtreng bewachten Knaben jede Hinkerthür; ſie ſteckte, was ſie vom Wirthſchafksgeld erübrigte, dem Füngling zu. Er muß bildſchön geweſen ſein; eine dunkle Erinnerung aus meiner erſten Kinderzeit zeigk ihn mir wie einen jugendlichen Halb⸗ gotk. Run ſkelle man ſich Weimar, ſtelle man ſich die Welk ringsum vor, die von Goethes Namen erfüllk war, und man wird ſich nicht wundern, daß jeder, der zu Goethe kam, um dem Vaker ſeine Huldigungen zu Füßen zu legen, dem ſchönen Sohn alle erdenklichen Järklichkeiken erwies. Ein großer Charakter oder ein großes Talenk allein hätten das Gegengewicht halten können. Die Nähe des Vakers floh er, weil die forſchenden Blicke, die unausgeſprochenen Anklagen ihn einſchüchkerken. So kam es, daß er, der ſonſt ſo Fröhliche, ſich in den Räumen Goethes am liebſten ſtumm und mißmuthig in die Ecken drückte. Das Gefühl, hier nur als der Sohn ſeines Baters bekrachkek zu werden, der Gedanke, daß er den Mund nur aufthun könne, wenn er etwas Geiſtreiches zu ſagen wiſſe, wird Jeder begreiflich finden, der ſich in ſeine Lage verſehzt. 123 Schmeichler, wahre und falſche Freunde umgaben ihn außerhalb des väterlichen Hauſes; unker ihnen ließ er ſich nun vollſtändig gehen, ſie nannken ſeine Streiche genial, die nur jugendlich und unvernünftig waren, ſie bewunderten ſeine Verſe, die heuke von jedem Terkianer beſſer gemacht werden. Nur wenige, die Ottilie mir nach ſeinem Tode mittheilke, ſind tief empfunden und ſchön ausgeführk, die aber kannte Niemand. Goethe ſchien eine Zeit lang des Sohnes Leben nicht zu beachten, vielleicht daß er auch hoffke, ein Genie würde ſich daraus entwickeln. Er warkete vergebens; der Punkt, bis zu dem jeder Menſch innerlich vorſchreiket, war von ihm erreicht, er gehörte nichk zu ſeines Vaters Genoſſen, die „immer ſtrebend ſich bemühen“. Es kam aber auch für ihn eine Zeit, wo er die innere Leere emp⸗ fand. Seine Wünſche gipfelken ſchließlich in dem einen Wunſch: Fork! Rach langem Kampf wagke er endlich, Goethe dieſen Wunſch auszuſprechen. Es kam zu ernſten Scenen, denn Goethe wollke oder konnte ihn nicht begreifen, ſelbſt als Knebel ſich auf ſeine Seike ſtellke. Fern von Weimar, womöglich unker anderem Ramen, hätken Auguſts gute Seiken bald die weniger guken unkerdrückk. Um dieſelbe Zeit ungefähr lernte er Oktilie von Pogwiſch kennen. Man hak erzählt, Goethe habe die Heirath mit ihr bewerkſtelligt, Auguſt habe deshalb eine große jugendliebe aufgeben müſſen. Das iſt nichk wahr; er hatke eine ganze Anzahl mehr oder weniger leichk⸗ ſinniger Verhältniſſe, aber, wenn bei ihm überhaupk von großer Liebe geſprochen werden kann, ſo gehörk dieſe Okkilien allein. Deren Großmutker, Gräfin Henckel, die Oberhofmeiſterin bei Maria Paulowna und alſo auch meine Vorgeſetzte war, ſträubke ſich von Anfang an ſehr gegen dieſe Verbindung. Erſt als Chriſtiane von Goethe ge⸗ ſkorben war, willigke die ſkolze alte Dame in die Heirath ihrer Enkelin. Der ubel und die Glückſeligkeik waren groß damals, ſie glaubken ſich heiß zu lieben, und doch liebke Okkilie in ihm nur den Sohn ſeines Vaters, den ſie mit den ſchönſten Träumen ihrer Phankaſie 124 ausſchmückke. Es war nur Phankaſie! Ihr Geiſt vermochte ihn auf die Dauer nicht zu feſſeln, und eine Schönheik, die ſeine Sinne er⸗ regen konnke, beſaß ſie nicht. So ging bald ein ſeder ſeine eigenen Wege. Ihre Ehe wurde, durch Beider Schuld, ſehr unglücklich. Die Enkkäuſchung, die ſie empfand, wenn ſie nach und nach aus der glänzenden Hülle ihrer Phankaſiegebilde einen gewöhnlichen Menſchen ſich enkpuppen ſah, war immer ſehr groß, am ſchmerzlichſten aber bei ihrem Gakken, bei Goethes Sohn. Sie häkke ihn vielleichk nun mik chriſtlicher, helfender, duldender Liebe kragen und heben können, und er, als der Rauſch der Leidenſchafk verflogen war, mit ernſtem Pflichkgefühl als kreuer Gatke und Baker ihr zur Seike ſtehen — daß nichks davon geſchah, war mehr Schickſal als Schuld. Charaktere, wie die ihren, durfken ſich nie verbinden. Wie das in einer kleinen Stadk immer zu ſein pflegk, wo die Ienſchen dicht an einander wohnen, miſchke ſich der Klatſch auch noch in die Ehe. Beide ſtanden wie auf offener Scene, und beſonders das Galerie⸗Publicum ver⸗ folgke mik gehäſſiger Reugier den Fortgang des Dramas. Oktilie hatte unverdienter Weiſe, denn ſie thak wiſſenklich Keinem etwas Böſes an, viele Feinde, beſonders Feindinnen, die ſie ihrer Stellung wegen be⸗ neideten und ſich zwiſchen ſie und Auguſt zu drängen verſuchten. Es ge⸗ lang ihnen nur zu guk. Die gewohnten Schmeicheleien, die Oktilie ihm bei ihrer unbedingken Wahrheiksliebe nicht zu Theil werden ließ, fand er anderswo zur Genüge; die Träume, die ſein Geiſk ihr nicht verwirklichk hatte, ſuchte ſie in ihrer Umgebung zu finden. Erſchienen ſie öffenklich zuſammen, ſo war ihr Benehmen kadellos; auch zu Hauſe machten ſie den Eindruck eines einigen Paares, ſobald die Kinder bei ihnen waren. In der Erfindung immer neuer Spiele für ſie war Auguſt unerſchöpflich; ſie zogen ihn — wie oft! — von ſeinen Kneipereien ab, die ſeiner an und für ſich ſchwankenden Ge⸗ ſundheik ſchadeten. Aber auch die Freude an ſeinen Söhnen ver⸗ bitterke ihm ſein Mißkrauen. Ich ſtand einmal mit ihm am Fenſter 125 des Eßzimmers kurz vor Tiſch. Im Garken ging Goethe auf und nieder, ſeine Enkel kamen hinuntergelaufen, um ihn zu holen. Jubelnd umſchlangen ſie den Großvaker, erzählken, lachten, ſpielken; er freuke ſich ſichtlich ihrer lieblichen Gegenwark, und ich ſah mit Vergnügen zu. Da fiel mein Blick auf Auguſt: er ſtarrke mit zu⸗ ſammengekniffenen Lippen, blaß und ſchwer athmend, auf dasſelbe Bild, ſein Ausſehen ſagke mehr als Worke. Ein ſchöner, beſonders hervorzuhebender Zug in Auguſks Weſen war ſeine Freundeskreue. Wen er lieb gewann — freilich waren's nicht immer die Würdigſten —, für den ging er durchs Feuer. Sein Unglück war, daß Keiner von ihnen ihn, den Sohn Goethes, günſtig zu beeinfluſſen verſuchte, alle ordneten ſich ihm unker, und doch bin ich überzeugk, daß er ſich hätte beeinfluſſen laſſen. Dem Einzigen, der es verſuchte, Ernſt von Schiller, iſt es ſteks geglückt. Auguſt liebte ihn zärklich, und es wäre von dauerndem Erfolg geweſen, wenn ſein Freund immer hätte um ihn ſein können. Sein ruhiger Ernſt, ſein feſter Charakker, ſeine Abneigung gegen alles Gemeine, ſeine Abſtammung nichk zum mindeſten, denn ſie ſtellte ihn Auguſt gleich, ſkempelten ihn eigentlich zu ſeinem Freunde. Es ſollke nicht ſein — auch hier Schickſal und keine Schuld! Am „Chaos“ betheiligte ſich Auguſt mit großer Lebhaftigkeik; die meiſten ſeiner Reime — Gedichte möchte ich ſie nicht nennen — wurden darin gedruckk. Er ſchrieb hübſche Briefe, eine Tugend, die ich jetzt, wo ſie ſo ganz verloren geht, doppelk als ſolche aner⸗ kenne. Die Briefe an ſeinen Vaker waren weniger nakürlich, ſie zeigken den Iwang, den Goethe, mit der beſten Abſicht, auch darauf ausübte. Auguſt ſollke Beobachkungen über Witkerung, Ratur⸗ erſcheinungen 2c. anſtellen, die ihm fernlagen und ihn gar nicht inter⸗ eſſierken. Von Menſchen und Ereigniſſen erzählke er lieber, be⸗ ſonders von Ikalien aus, wo er ſich endlich frei und als Herr ſeiner ſelbſt empfand. 126 Der Gedanke „Fork von Weimar!“ war ſchließlich zu einer Macht geworden. Fort, recht weik fort, wo er an Leib und Seele zu ge⸗ neſen hoffte. Daß er krank war, fühlke er immer deutlicher. Er kam zur Erkennknis auch ſeines ſeeliſchen Juſtandes, ohne die Kraft zu haben, ſich zu ändern, ungefähr wie ein Wahnſinniger, der in lichken Momenken ſeinen Zuſtand begreifk und dadurch nur noch un⸗ glücklicher wird. In beſonders krüben Augenblicken ſagte er ſich: „Ich will nach Rom, um dork zu ſterben.“ Der Enkſchluß zu fliehen reifte in ihm. Er glich darin dem alten Goethe, der ſich von allen Qualen durch ſchnelles Cosreißen aus den gewohnten Juſtänden befreike. Rur wenige wußken um Auguſts Plan. Mir theilte ihn Oktilie mit, und ich konnke mir nicht verſagen, ihm die herzlichſten Wünſche mik auf den Weg zu geben. Ich war überzeugt, ihn neugeboren wiederzuſehen. Der Abſchied von ſeinem Vater ſoll erſchükkernd geweſen ſein. Mir wurde erzählt, Auguſt ſei ihm plötzlich weinend zu Füßen gefallen und dann davongeſtürzt, während Goethe, überwältigk von böſer Ahnung, auf ſeinem Lehn⸗ ſtuhl zuſammengebrochen ſei. Die Kinder ſchieden fröhlich von ihm mik allen möglichen Wünſchen und Bitken: ſie ſollken den Vaker nie wiederſehen. Ich will nicht mehr am Gängelbande Wie ſonſt geleitet ſein, Will lieber an des Abgrunds Rande Von jeder Feſſel mich befrein! ſo laukeken ſeine letzten Verſe im „Chaos“. Und er ging, befreik von jeder Feſſel, um auch die des Cebens abzuwerfen. Er wurde im Lande ſeiner Sehnſuchk von allen Leiden erlöſt, aber anders, als er es gedacht hatke.“ Die drei Kinder von Auguſt und Oktilie fanden in ſenny eine zweite und ſorgſamere Mutker als die eigene vor. Die Knaben, Wolf und Walker, waren im gleichen Alker mik Jennys Stiefſchweſter 127 Cecile von Gersdorf, Dianens Tochter aus ihrer zweiten Ehe, und innig befreundek mit ihr, ſo daß doppelte Bande der Liebe die Familien aneinander feſſelken. ſenny gab den Kindern zuſammen den erſten Unkerrichk und ſetzke ihn fork, auch als ihr geliebkes Schweſterchen nach Skraßburg in Penſion kam. Sie ſchrieb darüber an dieſe: Weimar, 22. April 1835. „. . . Meine Stunden machen mir und den lieben Kindern große Freude; ſie werden ernſter betrieben als zu Deiner Zeit, wozu Erna's Vernunfk und Wolf's angeborener Ernſt ſehr beikrägk; Letzkerer iſt mir unbeſchreiblich lieb, ſein Charakter entwickelk ſich ausnehmend guk und tüchtig, er iſt ſeinem Alker in jeder Beziehung ungeheuer voraus, läßk das Schönſte hoffen; mein ganzes Herz hängt an dem lieben Enaben und der Gedanke einer Trennung von ihnen wird mir käglich ſchmerzlicher, je unabwendbarer ich ihn in die Wirklichkeit kreken ſehe ... Alma iſt ein gutes, gehorſames, mühſam ſtrickendes und knippelndes Kind, ſpäter verſprichk ſie jedoch mehr zu werden . . . Daß die Stunden ernſt genommen wurden, bezeugk eine Stelle aus einem Briefe Walker Goethes an Cecile Gersdorff vom 6. Dezember 1834, worin er ſagt: „Bei ſenny habe ich mit Anna, Erna und Wolf Skunde, was mir viel Freude machk. Leider mußke ich meine ganze Khekorik kopieren, indem als unſere Stunden begannen, meine Cahiers verſchwunden waren.“ Roch im Alker unterſchrieb ſich Walter in ſeinen Briefen an ſenny: „Dein dankbarer Schüler.“ Perſönlich näher als er ſtand ihr Wolf, deſſen erſte Knabenliebe ſeiner liebreizenden Lehrerin gegolken hakke. Sie ſchrieb von ihm: „enik ſechs Jahren war er ein heikeres, ſehr geſprächiges Kind mik den wunderſchönen Goetheſchen Augen, voll Luſt zu jedem Spiel, der Liebling ſeines Großvakers. Er wurde ein denkender, lernender Knabe, der mit Leidenſchaft auf- und erfaßte. Roch ein halbes 128 Kind, fühlte er die Liebe eines fünglings. So wie ſeine kiefen, dunklen, glühenden Augen alle Mängel in ſeinem Äußeren über⸗ ſtrahlken und ihn ſchön machken, ſo war es eigenklich die Liebe, die ſein ganzes geiſtiges Ich durchſtrahlte und ihn zum Dichker ſkempelte.“ Bezeichnend nichk nur für ihr Verhälknis zueinander, ſondern auch für Wolfs Charakter ſind die folgenden Abſchnikte aus Jennys Briefen an ihn: 6.66. 35. „Sollkeſt du wirklich in deinem jungen Herzen das kiefe, heilige Gefühl der Liebe zum höchſten Geiſte vermiſſen, ſollkeſt du wirklich ſtürmen wollen, wo ſich dein Enie verehrend beugen müßke, nun ſo laß jeden Gedanken an Gotk, an Glauben, an Religion eine Zeit lang dahingeſtellt, richte alle Kräfke deiner Seele auf den einen Mitkelpunkt deines Weſens und enkwickele mit deinem ganzen Streben die Fähigkeik des Rechten in deiner Bruſk, und alles Große muß ſich ſtufenweiſe daran entwickeln. — Erſticke jedes kleinliche Gefühl, ſtreife alles ab von deiner Seele, was nichk aus edler Quelle fließt und kein edles Gepräge krägk; es iſt des wahren Menſchen un⸗ würdig, und möchkeſt du wohl ein Scheinmenſch ſein, der dem Feuer⸗ werk gleicht, das eine Minuke in dunkler Rachk ein Flammenrad bildek, ſich in unruhigen Funken zerſtreuk und dann zwecklos verpufft? Sieh nicht verachtend auf eine ganze große, hohe Welk, laß auch ſie jetzt dahingeſtellt, richte deine Blicke nur auf dich ſelbſt, daß du dich dir ſelbſt erhälkſt; nichk einen Gedanken von Egoismus, von Eitelkeit, von Dünkel darfſt du wuchern laſſen, ſie müſſen alle fork; in den Umriß, den du dir von deiner Seele zeichneſt, wie ſie werden kann und muß, paßk ſolch elendes Gerümpel nichk. Wolf, ich beſchwöre dich, laß nicht ſo winzige Rückſichken dein Ohr vor meiner Stimme ſchließen, daß du keinen fremden Einfluß oder gar einen weiblichen erdulden willſt. Ich fühle mich ganz frei von der Eitelkeit, als könnte ich etwas vollbringen, als ſollkeſt du mir etwas zu Liebe thun, um Im Schatten der Titanen. 9 129 irgend einer Präkenſion zu ſchmeicheln — kein Menſch bekehrk, aber eine Wahrheik thuk es, aus welchem Aunde der Zufall ſie auch fließen laſſe, und nur der Wahrheik ſpüre nach; ihre einzige Offenbarung und Beſiegelung findeſt du im Rechthandeln und edenken. Es giebk nichks auf der Welk außer dem Rechtthun, was von Verwirrung, Unzufriedenheik, Kampf und Irrthum frei wäre, es giebk nirgends Befriedigung als in der Tugend. Ich ſage dir nicht, ſie iſt leicht, aber es ehrk dich, wenn man dir, dem Fünf⸗ zehnjährigen, das Schwere zumuthek. Du willſt nicht, daß ich dir als Beiſpiel deinen Großvaker nenne. ja, er war als Dichker ein Genie, aber als Menſch war er das, was ſeder aus ſich machen kann, der die Krafk, den feſten Willen, das heilige Pflichtbewußkſein in ſich fühlk. Die Bikkerkeik in deiner Seele muß weg, ſie iſt ein Unkrauk, eine Schwäche. Die auf ſich ſelbſt geſtützte Seele muß klar das Schlechte und Erbärmliche in der Welk ins Auge faſſen können, ohne daran irre zu werden; es geht den Menſchen nur inſofern an, als er Krieg dagegen führen muß, auf ihn ſelbſt und ſeine Enk⸗ wickelung aus dem Mittelpunkk des kiefſten Inneren hat es gar keinen Bezug, es iſt von anderem Schrok und Korn als er. 2.74. 37. Du fragſt mich, was ich von meinen Grundſätzen und den Be⸗ ſkrebungen, ihnen zu folgen, habe? Alles, was mir lieb und werth iſt, habe ich durch ſie; ich habe treue Freunde, auf die ich bauen kann, wie auf mich ſelbſt, ſolange ich das in mir erhalke, was mich ihnen achkungswerkh machk; ich habe Kuhe der inneren Gedanken, Troſt für jeden Schmerz, nakürlich ſo lange ich nicht durch phyſiſches Krank⸗ ſein unempfänglich und alſo nicht zurechnungsfähig bin; ſch habe den Genuß, in hohen Geiſtern verkrauend, einſtimmend ſchwelgen zu können, und ſo wenig ich noch das Ideal meines Selbſt erreicht habe, ſo weik ich auch hinter einem Schleiermacher, hinker einer Rahel ſtehe, ſo bin ich doch ſchon hoch genug geklommen, um ſie zu 130 erkennen; ich habe ein ausgefülltes Leben, vollauf zu khun im kleinen Kreiſe der eigenen Ausbildung und der Verkündigung des Wahren, Schönen und Guken, ſo weik meine Stimme reichtk. Es iſt ſchon ein namenlos hohes Gefühl, ſich als freiwilliger Soldat im Heer zu fühlen, das gegen Lüge, Unrecht und Schwäche zu Felde zieht; da iſt von Dank oder Undank, Werth oder Unwerth in den Menſchen gar nicht mehr die Rede, man krägt die Fahne der Wahrheik und ſkeckk ſie freudig auf, wo man ein Plätzchen erobern kann, und weil der Boden, auf dem die Wahrheik lebk, der Menſchen Seele iſt, muß Seele zu Seele reden und ſich nichk darum kümmern, ob der Boden hark oder viel Unkrauk darauf iſt. Run frage ich dich, was haſt du wohl von deiner Denkungs⸗ weiſe? Verachtung aller Dinge, ſelbſt der höchſten, Mißtrauen in alle Menſchen, ſelbſt in lang erprobke Freunde deiner Kindheik, ein mächtiges Streben und kein feſtes Ziel, eine leidenſchafklich auf⸗ geregte Krafk und Langeweile, den Trieb zum Denken und keinen feſten Mitkelpunkt als Stütze. Das Alles biſt nicht du, das iſt dein Irrthum, denn zu deiner Krafk gehörk ein edles Skreben, zu deinem Streben gehörk ein hohes Ziel, zu deinem heißen Herzen gehörk ein wahrer Freund und in dein Denken, Wolf, gehörk ein Gokk! Ich könnte jedes Work noch einzeln faſſen und ein Capitel über jedes ſchreiben, doch ich bin zaghaft, weil ich nichk weiß, ob dich der eine Bogen nicht ſchon ſchreckk. Ich liebe nicht den Spokk in deinem Munde und muß mich immer überwinden, um meinen Glauben an dich dieſem Spotk auszuſetzen; ich liebe nichk deine Zweifel an jeder kreuen, wahren Reigung und möchte dir nie Gelegenheit geben, ſie durch Mißverſtehen zu nähren oder durch Bitkerkeik zu äußern. Ich wollke dir noch von deinen Kinderjahren reden und dir die erſte Wurzel zeigen, worauf der Baum kreuer Freundſchafk ſteht, den ich dir in deinen Lebensgarten pflanzte, doch kannſt du dies den 9* 131 zehn verfloſſenen Jahren nicht glauben, ſo helfen auch die wärmſten Worke nichk.“ Schon damals alſo, zwiſchen Wolfs 15. und 17. Jahre, zeigke ſich bei ihm jenes unheilvolle Gefühl, das ſein Leben in ſteigendem Maße verbiktern ſollte: das Mißtrauen. Mißtrauen gegen die Freunde, weil er glaubke, ihre Freundſchafk gehöre nicht ihm, ſondern dem Enkel Goethes, Mißkrauen gegen ſich ſelbſt, weil er an ſeine Leiſtungen den Maßſkab der Leiſtungen ſeines Großvakers anlegte. Oktiliens Erziehung wirkke dabei nur nachkeilig; ſie verzärtelte ihre Söhne nie, aber ſie erzog ſie für „einen anderen Stern“. „Du weißk ja“, ſagte Wolf ſpäker einmal zu Jenny, „wie wir durch unſere Mukter auf das Edle, auf große Geſinnung dreſſierk worden ſind mit Liebe und, wenn es ſein mußte, auch mit Sporn und Peikſche.“ Eingehüllt in dieſe um ihn geſchaffene, welkfremde Akmoſphäre, kat jede Berührung mik der Welk ſchon den Fünglingen weh. Sie gingen ihr aus dem Wege und lebken nur in dem Kreiſe, den das Goethehaus um⸗ und abſchloß. Zu denen, die ihnen von auswärtigen Freunden am nächſten ſkanden, gehörten zwei der beliebteſten Gäſte in Weimar⸗ Felix Mendelsſohn, der Walkers muſikaliſche Begabung weckte, und Karl von Holkei, der Auguſt Goethes Freund geweſen war. Beide traken auch zu Jenny in nähere Beziehungen. Felix Mendelsſohns erſter Beſuch in Weimar wurde ihr brieflich mitgekeilk, als ſie noch in Straßburg in Penſion war. „Bei meinen Elkern“, ſo erzählk ſie „war er auch einmal zu Tiſch eingeladen, man zeigte ihm ein Bild von mir, und er wünſchte, mich nach ſeinem „Ringelreihen“ kanzen zu laſſen. Die Abſchrifk einer kleinen Compo⸗ ſition von ihm — ich entſinne mich nicht mehr, welche es war — verſetzte mich in helles Entzücken, und lange Zeik hindurch beſchäftigke mich der Gedanke an den „wunderbaren füngling“, an Goethes „David“. Bald darauf kehrte ich nach Weimar zurück, wo Felix Mendels⸗ ſohns Rame in Aller Mund war. Helbſt Auguſt Goethe, der ſehr 132 ſelten ein liebevolles Urtheil über fremde Menſchen hakte, gab zu, daß er das Zeug dazu habe, alle Welk, ſelbſt ihn mik ſich forkzu⸗ reißen. Es vergingen einige Jahre, bis ich die perſönliche Bekannk⸗ ſchafk des jungen Muſikers machte; vergeſſen jedoch konnke ich ihn nicht, da Goethe öfkers Briefe von ihm bekam, die Oktilie ſofork mitgetheilk wurden und die ich dann vorleſen hörke. Sie akhmeten alle die unendliche Verehrung für ſeinen Gönner, eine Verehrung, die nichk bei den Worken blieb, ſondern ſich durch Thaten am ſchönſten äußerke. Das war es ja auch, was Goethe bezweckte, was ich immer mehr an ihm bewunderte: dieſer Einfluß, den er auf Alle, die ihm nahe kraten, ausübke, dem Keiner entging. Er weckte und förderte jedes Talenk, und wie Viele, die ſonſt im Dunkel verkommen wären, zog er an das Licht ſeines herrlichen Geiſtes. Es ging eine Wirkung von ihm aus, die mir, wenn ſie auch heuke noch nicht ver⸗ gangen iſt, doch damals eine unbeſchreibliche elektriſche Krafk zu haben ſchien und die Mendelsſohn, der ſelbſt ein genialer Menſch war, mik doppelker Gewalk empfunden haben muß. Im Sommer 1830 war es, als Okkilie mir unker dem Siegel der Verſchwiegenheik mittheilte: Mendelsſohn kommk. Daß ein muſikaliſcher Beſuch erwarkek wurde, ahnte ich ſchon, als ich die Treppe hinauf kam, Goethes Thür offen fand und hinein ſah: Riemer packke mit Friedrich, Goethes Bedienken, Roten aus, die abgeſtäubk wurden, und der damals einzige Mann, der kranke Flügelſaiken zu heilen verſtand, enklockte dem langen, braunen Kaſten kläglich wimmernde Töne. Ich vermuthete Zelters Beſuch und freuke mich darauf, denn der alte Herr mit ſeiner derben Komik, ſeiner polkernden Sprech⸗ weiſe und ſeinem liebewarmen Herzen war mir ſehr werth geworden. Statk ſeiner kam nun ſein Schüler, das Wunderkind, das Sonntags⸗ kind. Als ich ihm zuerſt begegnete — er ging zu Goethe, ich kam von Oktilie —, beſchlich mich ein leiſes Gefühl der Enttäuſchung, er ſah zart aus, ging etwas gebückt, und ſein Geſichk machte mir keinen 133 bedeukenden Eindruck. Denſelben Rachmittag kraf ich ihn bei Gräfin Henckel und glaubke einen anderen Menſchen zu ſehen: die Leb⸗ haftigkeik ſeines Mienenſpiels, ſeine Grazie, die doch durchaus nichts Weibiſches hatke, ſein ſtrahlendes Lächeln, als ob man einen Vor⸗ hang vor einem Fenſter wegzöge und nun in den ſchönſten Frühling ſähe — das Alles machte ſeine Erſcheinung zu einer ſich der Erinne⸗ rung dauernd einprägenden. Und nun ſein Spiel, das ſo ganz er ſelber war: kein Gefühl, das ins Bizarre ging, keine Disharmonie, die ſich nicht milde auflöſte, keine Virkuoſenkunſkſtückchen, bei deren Anblick uns ſchwindlig wird. Hummel ſchien mir mik mehr Feuer, mit mehr äußerer Leidenſchafk zu ſpielen, aber man empfand nicht, wie bei Mendelsſohn, daß ſo ganz das Herz im Spiele lag. Von Anfang an verbrachte er den größken Theil des Tages im Goetheſchen Hauſe. Er war wirklich Goethes David, denn er ver⸗ ſcheuchte jede Wolke von der Jupikerſtirn unſeres verehrten Dichters. Jedem, der damals Mendelsſohn kannte, wird es begreiflich ſein, trak er doch mit dem ganzen Zauber der Jugend, der Genialitäk, der glücklichen Jukunfkskräume in unſeren Freundeskreis. Es fiel Niemandem ein, wie das heute in anderen Städten der Fall ſein würde, ihn ſeiner Abſkammung wegen mißtrauiſch zu betrachten. Der Gedanke wäre im damaligen Weimar unmöglich geweſen, und wird es ſein, ſo lange die großen Tradikionen nichk zur Fabel ge⸗ worden ſind. Goethe ſchätzte die Menſchen nach ihrem Werth, Karl Auguſt hatte es ſteks gethan und war von ſeiner einmal gewonnenen Überzeugung ſelbſt durch Gegenbeweiſe nicht abzubringen geweſen. Am herrlichſten befolgte unſere geliebke Großfürſtin dieſen Grundſatz, und wir Alle hätken uns geſchämt, nichk dieſen großen Vorbildern nachzueifern. So gehörke Rahel, ſo gehörte Mendelsſohn zu unſerer anerkannten Ariſtokratie.. Vormitkags war er meiſt allein mit ſeinem Gönner, der nie müde wurde, ihm zuzuhören. Wie Goethe es bei allen Dingen liebte, 134 nach einem beſkimmten Syſtem zu verfahren, ſo auch hier: er wünſchte die Geſchichte der Muſik in Tönen nach geordneker Zeitfolge zu hören. Irgendwo las ich einmal, daß man daraus die Folgerung zöge, er habe von Muſik nichts verſkanden und ihre äußerliche Kennknis nur als für ſeine Bildung nöthig erachtek. Das glaube ich nicht. Felix Mendelsſohn war ſtets aufs Höchſte überraſchk von Goethes kiefem Verſtändniß und ſprach ofk mik uns davon: „Goethe erfaßt die Muſik mik dem Herzen, und wer das nichtk kann, bleibk ihr ſein Cebtag fremd.“ In Oktiliens Zirkel, den gerade damals das „Chaos“ vereinigte, beſchäftigte und belebte, trat er als neues, willkommenes Elemenk. Alles, was Kunſt im weiteſten Sinn berührte, faßte er mik Begeiſterung auf, während das wiſſenſchafkliche Gebiek, beſonders das naturhiſtoriſche, nicht in ſeinen Inkereſſenkreis zu ziehen war, obwohl er es gut zu verbergen wußke. Goethe, dem, ſeiner eigenen wunderbaren Ratur nach, jede Einſeitigkeik unverſtändlich blieb, ver⸗ ſuchke ofk auf Felix einzuwirken. Es blieb vergebene Mühe; einmal ſoll Goethe ſogar — ganz Saul! — ſeinem Ciebling zornig den Rücken gekehrk haben, weil er ihn nichk verſtand. Aufs Höchſte erſchrocken ſaß Mendelsſohn wie verſteinerk vor dem Flügel, bis er, faſt unbewußk, mit den Fingern die Taſten berührte und, wie zu eigenem Troſt, zu ſpielen begann, Plötzlich ſtand Goethe wieder neben ihm und ſagke mik ſeiner weichſten Stimme: „Du haſt genug. halk's feſt!“ So erzählte Felix, der lange dem Sinn der Worte nachgrübelke. Ein andermal war er die indirecke Urſache eines heftigen Aufkritkks, der freilich worklos verlief. Er ſpielte Rachmittags bei Oktilie; ein Freund nach dem anderen kam herein, das neueſte „Chaos“ lag vor uns, wurde beſprochen, belacht, ſein Spiel verhallte ziemlich ungehörk. Da ging die Thür auf, Goethe erſchien, warf einen Blick ſo voll Jorn und Verachkung auf uns, daß unſer Gewiſſen uns ſofork mindeſtens zu Räubern und Mördern ſkempelke, ging ohne Gruß an uns vorüber, auf Mendelsſohn zu, und ehe wir zur Be⸗ 135 ſinnung gekommen waren, hatte er mit ihm das Zimmer verlaſſen. Es war dies das einzige Mal, daß ich Goethe oben ſah. Späker ſagke mir Oktilie, der Vater habe ſie noch küchtig ausgezankt und ihr befohlen, auch ihren Beſuchern ſein Urtheil nichk vorzuenthalken. Felix Mendelsſohn machke Verſe, wie wir alle, aber er bean⸗ ſpruchte nicht den Ruhm eines Dichkers. Geſellſchafksſpiele, wobei in möglichſter Geſchwindigkeik hübſche Reime gemacht werden mußten, waren an der Tagesordnung. Der Ungeſchickte oder der, deſſen Versfüße zu ſehr humpelken, war verpflichtek, ein Pfand zu zahlen, das meiſt wieder durch ein Gedichk eingelöſt wurde. In Tiefurt, wenn wir genug getanzk oder geſpielk hatken, ruhten wir uns dabei aus, und vor Kurzem fand ich noch ein Päckchen vergilbter Blätker, mik allen möglichen und unmöglichen Keimen bekritzelk, die mich lebhaft an jene Zeik erinnerken. Darunker befanden ſich auch Mendels⸗ ſohns Verſe, mik denen er einmal in Tiefurk ſein Pfand eingelöſt hatke: Ihr wollk durchaus, ich ſoll ein Dichter werden, Weil ich mit Euch in Weimar bin; Ich aber kam als Muſikank auf Erden, Und meine Reime haben keinen Sinn. Ich will in Tönen Eure Schönheik preiſen Und Eure Machk, die mich zum Dichten zwingt; Verfaßt die Cieder nur zu meinen Weiſen, Und dann verſprecht mir auch, daß Ihr ſie ſingt. Vermeſſen ſcheink mir's, wollk ich weiker dichken, Denn ich verſcherze damik Eure Gunſt; Ihr Schönen ſeid zu ſtreng im Strafen, Richken, Mir hilft's doch nichks, ich lebe meiner Kunſk. Als unſer verwöhnker Muſikank, der doch im Grunde ein Dichker war, wie jeder echte Künſkler, uns ſeine ſchon einige Male hinausgeſchobene Abreiſe verkündeke, war der Kummer groß. Er muhte verſprechen, wiederzukommen, zu ſchreiben, uns einige Lieder 136 zu ſchicken, die uns ſeine Gegenwark ekwas erſetzen ſollken. Urike von Pogwiſch beſchäftigte ſich einen ganzen Abend damik, ſeine Silhouekte auszuſchneiden, die ſie dann unter uns vertheilke. Bei ſkrahlendem Sonnenſchein fuhr er fork, ſein Wagen war angefüllk mit Roſen, die wir ihm zugeworfen hatken; Oktilie und Ulrike gaben ihm das Geleik, und ſo ſchied er von Weimar, recht als ein Sonnenkind. Er hinkerließ nur krauernde Freunde, nichk einen Feind. Als ich ihn nach vielen jahren in Berlin wiederſah, war zwar der lachende Frühlingsglanz von ſeinen Zügen verſchwunden, aber Herbſk⸗ und Winkerſkürme hatken ſie nicht umbrauſt und ſtörten auch wohl nie ſein Sonnenſchickſal. Sein Spiel war gehalkvoller, ruhiger geworden, die ſkürmiſchen Phankaſien ſeiner Weimarer Zeit wiederholken ſich nichk mehr. In der Erinnerung an die Vergangen⸗ heik leuchteten ſeine Augen auf, und er ſagte mik dem Tone tiefſter Ueberzeugung: „Wer weiß, was ohne Weimar, ohne Goethe aus mir geworden wäre!'“ In perſönlich nähere Beziehung als zu Mendelsſohn krak Jenny zu Karl von Holkei. „Er war einer der häufigſten Gäſte unſerer lieben Muſenſtadk“, ſchrieb ſie. „Im Winker 1828 lernke ich ihn kennen, und zwar nach einer ſeiner öffenklichen Vorleſungen, die wir eines Hoffeſtes wegen nichk beſuchen konnken. Bei Johanna Schopen⸗ hauer, wo er ſkets wie ein Glied der Familie aufgenommen wurde, traf ich ihn zum erſten Mal. Wir erwarkeken von ihm, dem Biel⸗ gereiſten, viel Reues, Intereſſantes zu hören. Welch eine Enk⸗ täuſchung, als er eintrak. „Gott Cob, hier bin ich der Engländerpeſt enkflohen“, ſagte er. Das war keine Empfehlung für ihn, da die Engländer eine große Rolle ſpielten. Rach der allgemeinen Vorſkellung begann er über die Inkereſſeloſigkeik der Weimaraner in ziemlich derber Weiſe her⸗ zuziehen, weil ſeine Vorleſung nichk beſuchk geweſen war. Wir be⸗ wieſen ihm, daß die Carnevalszeik keine günſtige für dergleichen ſei, 137 worauf er uns vergnügungsſüchtig ſchalt. Schnell legke unſere liebenswürdige Wirthin ſich ins Mitkel, um einer allgemeinen Ver⸗ ſtimmung vorzubeugen, und bat ihn, uns durch einen Vorkrag zu verſöhnen, das würde uns zugleich reizen, den Saal ſpäkerhin zu füllen. Er ließ ſich nichk lange bitten, las einzelne Gedichte und eine komiſche kleine Erzählung, improviſirke ſodann eine Ark Enk⸗ ſchuldigung in Verſen wegen ſeines erſten Aufkretens im Kreiſe der Grazien und Muſen, wobei er ſich mit einem Sakyr verglich, der zwar einen Bocksfuß habe, aber trohdem die Gutmüthigkeik ſelber ſei; damit war der unangenehme Eindruck verwiſcht, wir nahmen ihn von nun an auf wie einen der Unſeren. Bei Anderen, wo ſein ungezwungenes Weſen ebenſo gegen das Hergebrachte verſtieß, wurde es ihm ofk ſehr ſchwer, ja manchmal unmöglich, ſich ſo zu rehabi⸗ litiren wie bei uns. Um ihn ganz zu würdigen, mußte man ihn näher kennen. Er gehörke zu den Menſchen, die, ſei es aus falſcher Beſcheidenheik oder, was hier wohl beſſer zukrifft, aus einer Ark Hochmuth, ihre guten Seiten ſorgfältig verſtecken. Sie bauen um ihr ſchönes Selbſt eine Dornröschenburg und wundern ſich, wie ſelten ein Prinz die Dornhecke zu durchbrechen verſucht. Sehen wir uns Holkeis Leben an, ſo wird es verſtändlicher, daß er ſein Beſtes miß⸗ krauiſch verſchloß. Er mußke mik viel Gemeinheit umgehen, mit viel Gemeinheik rechnen; edler Umgang war ihm ſelten geworden, und das, was den Menſchen Zeik ſeines Lebens am meiſten ver⸗ bitkerk, eine freudloſe Kindheik in der Rähe unwürdiger Verwandter, hatte er wie Wenige durchkoſten müſſen. Der Kampf mit dem Ceben, der uns ſo leicht zu uns ſelber ſprechen läßt: „Landgraf, werde hark', hatte ihn längſt geſtählk. Bisher war mir der Kampf zwiſchen Pflicht und Reigung, zwiſchen Glauben und Zweifel allein ſchmerzlich bekannk geworden, in Holkei trak mir zum erſten Mal ſener andere harte Kampf gegen die grauen Schweſtern, Sorge und Roth, entgegen. 138 Als Holkei einen kieferen Blick in unſere Welk gethan hatte und ſah, daß man hier frei athmen könne, fiel die rauhe Schale von ſelbſt von ihm ab. Sein nakürlicher Frohſinn, ſein weiches Gemüth, ſein Humor, der zwar immer etwas derb blieb, gewannen die Ober⸗ hand, er fühlke ſich bald heimiſch und war ein gern geſehener Ge⸗ ſellſchafter. Die junge, einheimiſche Herrenwelk Weimars liebte ihn, weil er ihre Abneigung gegen die Engländer unkerſtützte, die Damen freuten ſich, wenn er kam, weil er ſteks ein paar galanke Verſe bei ſich hakke; Goethe empfing ihn häufig, weil er Reues und Inter⸗ eſſankes hübſch vorzutragen wußke. Sehr innig geſtaltete ſich die Freundſchafk zu Auguſt Goethe. Holtei ſah in ihm eine höhere, nur auf falſche Wege geleitete Ratur und gewann den ſegensreichſten Einfluß über ihn, der ſich ſogar im häuslichen Leben angenehm bemerkbar machte. Auguſt liebte Holkei innig, betheiligke ſich ihm zu Liebe an unſeren geſelligen Freuden, ſo daß eine Jeik vollſtändiger Harmonie angebrochen zu ſein ſchien, die aber nur ſo lange andauerke, als Holkei an⸗ weſend war. Unker all den kleinen und großen Feſten, die uns vereinigten, waren bei ſchönem Frühlingswekker die Picknicks die beliebteſten. Zu Fuß, zu Wagen, zu Pferde ging's hinaus nach Diefurk, Ettersburg, Belvedere. Tiefurk beſonders, unker deſſen herrlichen alken Bäumen ſchon unſere Elkern jung und froh geweſen waren, galk als ange⸗ nehmer Vereinigungsplatz, wo bei Spielen, Spaziergängen, dicker Milch, auch wohl bei einem ländlichen Ball im Pavillon große Heiterkeik herrſchte. Dorthin kam jeden Rachmittag Lord Charles Wellesley, der Sohn des Herzogs von Wellingkon, und brachte uns Kirſchen oder Erdbeeren mik, die er ſelbſt bei der Hökerin eingekauft hakte. Er war äußerlich unanſehnlich, etwas kaub, ſehr einfach und ſehr liebenswürdig im Gegenſatz zu ſeinem Bruder, Cord Donero, der ſkolz und zurückhaltend war, ſeinem Dater ſehr ähnlich ſah und nur 139 unker Umſkänden liebenswürdig ſein konnte. Mit Oktilie Goethe und Emma Froriep waren wir zur Zeik von Holkeis Anweſenheik auch einmal hinausgefahren, eine Anzahl junger Leute fanden ſich noch dazu, und wir ſaßen ſchon fröhlich um unſeren frugalen Veſper⸗ tiſch, als Holkei in gehobener Stimmung vom alken Goethe aus zu uns kam. Er war wohl deshalb liebenswürdiger als ſonſt zu den Engländern und verſprach ſogar den Vortrag eines ganz neuen Gedichtes, wenn er dafür noch — dicke Milch bekäme. Die Sakte wurde feierlich vor ihn hingeſetzt, er ſprang auf einen Stuhl und recikierte ein Gedicht, das er auf Weimar verfaßt hatke. Jubelnder Beifall belohnke den Dichker, der ſich ruhig dem Genuß der dicken Milch überließ, während Oktilie einen Zettel aus der Taſche zog und venfalls höchſt witzige Verſe auf Weimar vorkrug, zu denen ſie allerhand aus dem Stegreif dazu improviſirke. Rachdem ein Jeder ſeinen Imbiß mik poetiſcher Begleikung zu ſich genommen hakte, zerſkreuten wir uns im ſonnendurchleuchteten, frühlingsduftigen Park an den Ufern der Ilm, die rauſchend und flüſternd von vergangenem Leid, vergangener Freude erzählke und immer wieder denſelben Cenzeszauber voll Liebesluſt und zugend⸗ glück in ihren Fluthen wiederſpiegelke. Selbſt Holkei wurde nach und nach bei uns ein Rakurſchwärmer, was ihm ſonſt fern lag. Er ſprach es wohl aus, wie ſchnell der Herbſt des Jahres, wie der Herbſk des Lebens all die Freuden ver⸗ nichkek und ihn, den Wandervogel, wieder in die Fremde kreibk. In ſolchen Stunden habe ich ihn kennen und ſchätzen gelernt, in ſolcher Stimmung war es, wo er mir folgende Zeilen in das Album ſchrieb: „Ach“ iſt unſer erſtes Work, Denn des Seufzers bitkre Kunde Dringk in ſtillem Friedensork Aus des Kindes zarkem Munde. 140 Und des Frühlings Zauberhauch. Und der erſten Liebe Beben Will mit bangem „Ach“ ſich auch Kund den bunten Blüthen geben. Und der Trennung ernſter Schmerz Machk ſich Lufk mit dieſem Worte; Seinen Boten ſchickt das Herz Aus der Lippen heil'ger Pforke. Aber einmal noch umwehn Freudig uns des Wortes Schauer, Unerwartek Wiederſehn Staunet: Ach — nach langer Trauer. Ciebſt du dieſes Wortes Klang. So verſchmäh nicht 'jeſe Zeilen. Jeder Vers wird zutte Geſang, Wird dein Aug auf ihm verweilen. Weimar, März 1828. Karl von Holkei. Im Herbſt 1829 kam Holkei wieder nach Weimar. Er kraf mit dem franzöſiſchen Bildhauer David zuſammen, der ſehr gefeierk wurde und ſich krotz ſeiner ſugend ſchon einen Ramen gemacht hatke, deſſen guter Klang durch die Büſte Goethes ihm weik über die Grenzen Deukſchlands und Frankreichs einen bedeukenden Kuf verſchaffte. In der Geſellſchafk machke ſein Talenk, aus Brok die Köpfe der Anweſenden abzuformen, ihn ſchnell beliebk, ſo daß Holkei, der ekwas mißkrauiſch und empfindlich war, ſich zurückgeſetzt fühlte. „Wenn nur die guken Weimaraner mal einen Mondbewohner herbekämen, ſie würden ſogar Schiller und Goethe darüber vergeſſen“, brummke er, und erſt, als David forkreiſte, kam der alte gute Freund wieder zum Vorſchein. Meine Korreſpondenz mit Holkei begann durch das „Chaos“ und ſetzke ſich fork, nachdem es eingegangen war.“ Einige Auszüge aus Briefen Jennys an ihn mögen hier folgen: 141 14./5. 32. Meine Politik finde ich in der Geſchichte und in der Philoſophie, mein Staaksminiſter iſt Herders Remeſis, dieſe allein rechnet gut und gerecht. Sie ſehen am Dakum meines Briefes, daß ich noch in meiner 14.88. 32. Berka. lieben Einſamkeik bin; die Rakur iſt ſo ſchön, die phyſiſche und mo⸗ raliſche Lufk ſo rein, daß die Bruſk freier athmet und alles Treiben und Drehen und Quälen der polikiſchen Welk in dem unreinen Rebel verſinkk, welcher unker den Bergen zu meinen Füßen liegk. Richt Fröhlichkeik, aber Ruhe und Frieden bedarf das Herz, und dieſes findek es in den majeſtäkiſchen Wäldern, in der hehren Rakur, welche, den Menſchen zum Spotk, in Frieden und Krieg, in Sturm und Ruhe, im Ungewikker und Sonnenſchein immer groß bleibk. Möchten die Menſchen, die Rationen, die Könige und Diplomaten ſich ein Beiſpiel daran nehmen! 22./9. 33. Sollke die bibliſche Sage vom Baume der Erkennkniß nicht die⸗ ſelbe Grundidee ausdrücken als die Fabel des Prometheus? Das Licht des Himmels, die Erkenntniß, raubte er, die Fruchk des Para⸗ dieſes, die Erkenntniß, raubke Eva. Ihre Schuld war die Begierde des Wiſſens, ihre Unſchuld ein unbewußtes Rechthandeln. Sie wollken wiſſen, ſo mußken ſie die Unſchuld verlieren, denn nun be⸗ gann das Forſchen, das Streben, das Ergründen, das Zweifeln. Auch die Skrafen des Prometheus und der erſten Menſchen enthalten den kiefen Sinn der unbefriedigten Erkenntnißbegierde. Das Paradies, nämlich das Glück, liegk ſo nah und iſt ſo unerreichbar, der Engel mik dem Flammenſchwerk: die Leidenſchafken der Menſchen, ſtehen drohend vor der Pforte. Der grauſame Adler und das zurückweichende Waſſer in den Strafen des Prometheus — wäre es nicht die Dar⸗ legung des Goetheſchen Ausſpruchs: daß nichk nur das Unmögliche, ſondern ſo vieles Mögliche dem Menſchen verſagt iſt? 142 25./6. 36. Kochberg. Mit der Veredelung der Seele muß der Menſch denſelben Proceß vornehmen, dem der Maler bei den Moſaikgemälden folgt, der Geiſt muß erſt in ſchönem Umriß das Ganze vor ſich haben, was er dar⸗ ſtellen will: ſein eigenes Ich in höchſter Vollkommenheik. Dann müſſen alle Fähigkeiken, alle Kräfte, alle Talente die bunten Steinchen zu⸗ kragen, die das Gemälde bilden ſollen. Es gehörk die Geduld eines ganzen Lebens, die redliche Arbeik jeden Tages dazu, um das Werk zu fördern; jeder Gedanke, jede Kenntniß, jede Handlung mag ein Steinchen ſein — glücklich, wer ſich am Ende ſeiner Tage vor das vollendete Bild ſtellen und in Wahrheit ſagen darf: es iſt vollbracht. 4./7. 36. Ich halke es immer für einen Mangel an Menſchenkennkniß, wenn man ſich über ſchnelle Untreuen wunderk. Gerade in der Auf⸗ regung der Gefühle, in der krankhaften geiſtigen An⸗ und Abſpannung, welche ein großer Schlag hervorbringk, der zerſtörend in unſer ge⸗ wohnkes Geiſtes⸗ und Gefühlsleben eindringk, gerade in ſolchem Zuſtande iſt das Herz eines neuen Gefühls, eines neuen Anſchmiegens am fähigſten, es ſteht gleichſam offen. Späker ſchließt es ſich, andere Gewohnheiten wurzeln feſt, und unter ihnen hat eine liebe Erinne⸗ rung wieder einen feſten, beſtimmken Platz; dann wird ihr Weg⸗ rücken ſchon bedeukend ſchwerer, und ich wundere mich viel mehr über zweiſährige als über zehnjährige Treue. Darum iſt mir die Bemerkung Carochefoucaulks immer ſo wahr erſchienen: „On n'est jamais plus pres d'une nouvelle passion qu'en sortir d'une ancienne.“ Das iſt ſchon ein ſehr kiefes Gefühl, welches dem Keiz der Leidenſchafklichkeik widerſkehk, den die Seele eben gekoſtek hat, das iſk ſchon die Krafk einer ſelkenen Liebe, welche mik Abſcheu den Becher des Genuſſes von ſich ſkößk, den es nur einem Herzen verdanken will; daher finden wir ſo ſehr viel mehr Frauen, die nur eine Liebe enwpfunden haben, als ſolche, die bei einem zweiten 143 oder drikken Verhälkniß dieſer Ark ſtehen geblieben ſind. Bildet nicht das kiefſte, reinſte Gefühl die Grenze, ſo kettek ſich Leidenſchaft an Ceidenſchafk zu endloſer Ketke.“ Von Holkeis Briefen an Zenny ſind nur die wenigen Zeilen vor⸗ handen, von denen ſie ſelbſt erzählk: „Holkei ſchrieb mir nach Goethes Tod, und ſeine Worke bezeichnen am beſten ſein kiefes Empfinden: „Es geht ein Riß durch die Welk und durch die Herzen, nun Er ge⸗ ſchieden iſt. Wer weiß, ob es uns, die wir ihn kannten, nichk beſſer wäre, wir ſprängen hinein in dieſe Klufk und gingen ſo dork hinüber, wo Er herkam und nichk zum zweiten Mal kommen wird!" Der intime Kreis um Okkilie und ihre Kinder ſchloß ſich nach Goethes Tod beſonders eng zuſammen. Es war, als ahnken alle, daß dieſe vier Menſchen es mehr als andere bedurfken, von einer doppelken und dreifachen Mauer der Freundſchafk vor dem Leben, das wie ein barbariſcher Eroberer draußen ſtand, geſchützt zu werden. Und doch war es ſchließlich ſtärker als ihrer aller Liebe! Reben Adele Schopenhauer und Alwine Frommann, gehörke Emma Froriep zu den Inkimen, die Tochker des Medizinalraks und ſpäkeren Leiters des Landesinduſtriekonkors Ludwig Froriep, deſſen Haus auch eines der Mitkelpunkte des damaligen geiſtigen Lebens war. Zenny Pappenheim befreundete ſich innig mit Emma Froriep, in deren elkerlichem Haus ſie viel verkehrke. Wichtiger als die geiſtige Anregung, die ſie im Froriepſchen Hauſe fand, war für Jſenny der Einfluß der ruhigen, charaktervollen Freundin. Sie verkehrte täglich mik ihr, und die beiden jungen Mädchen ſahen es als eine beſondere Weihe ihrer Freundſchafk an, daß ſie im Frühling und Sommer zuweilen in dem lieblichen, nahe⸗ gelegenen Berka wochenlang allein zuſammen hauſen durften. Damals war es, nach den Zeichnungen in ſennys Album, noch ein einfaches Dörfchen und das Landleben kein Badeleben. Aber gerade das enk⸗ 144 ſprach dem Geſchmack der Freundinnen. Die Liebe Jennys zur Ratur beherrſchte ſchon das junge Mädchen. In Wald und Heide ſuchke ſie den Frieden wieder, den ſie im unruhigen geſelligen Leben der Stadt verloren hatke. Emma Frorieps Geſkalk war wie ein Stück dieſer Ratur. Jenny hak ſie auf den folgenden Seiten gezeichnek: „Inmikken der Mißlauke des Irrthums, der Leidenſchaft, der Schmerzen, inmitken der Verwirrungen des Schickſals und der Seele, inmikken der Kämpfe zwiſchen Kopf und Herz, zwiſchen der Pflicht und dem Vergnügen gab mir Gokk eine reine Harmonie. Wenn ſich über meinem Haupk das Gewitker zuſammenzog, der Donner über mir rollte und die Blitze hie und da die Racht in mir erhellten, dann kreuzke ich die Arme, hielk mich gewalkſam aufrecht und warteke, denn bald ſprach meine Harmonie in ſanfken Tönen zu mir; wenn kauſend verſchiedene Stimmen mir tauſend verſchiedene Worke zu⸗ ſchrien, wenn die Welk und das Leben mir ihre gefälſchten Werth⸗ ſcheine zuwarfen, wenn ſedermann um mich nach eigenem Tack ſein eigenes Inſtrumenk ſpielke, warkeke ich wieder, denn bald über⸗ könte der reine Geſang meiner Harmonie alles. Wenn das Schickſal mik ſeiner Rieſenſtimme mir ſeine Befehle zurief, ſo flüchkete ich zitternd zu meiner Harmonie, die jene ſchrecklichen Lauke ſanfk und zärklich wiederholke, ſo daß ich ihnen ohne Angſt zu folgen vermochke. Emma heißt meine Harmonie, mein Gewiſſen, meine Vernunft, Emma iſt der Rame meines einzigen Ideals, das ſich zur Wirklich⸗ keit verkörperk hat. Eins hier unten iſt für mich vollkommen ge⸗ weſen: die Freundſchaft mik ihr. Ich liebe meine anderen Freunde, ich ſpreche und lache mik ihnen, ich theile ihre Freude wie ihren Schmerz, doch nur vor Emma enthülle ich ganz mein Inneres, nur zu ihr ſage ich: „ch leide,“ — und ich habe viel gelitken! Cange ſchon bewohnten wir dieſelbe Stadt, beſuchten dieſelbe Geſellſchafk und kannken uns nichk. Ich war eben aus der Penſion gekommen, war ein lebhaftes, leidenſchaftliches Kind, deſſen Herz und Im Schakten der Titanen. 10 145 Geiſt für nichks Anderes als für den Ramen Goethe Platz hatke. Ich ſkürzke mich in den geſelligen Strudel, das Amuſemenk war mein einziges Ziel; Emma, obwohl viele jahre älter als ich, ſtand be⸗ krachkend, wo ich handelnd war, ſie folgte inſtinctmäßig den Gewohn⸗ heiken der Übrigen, ſie erlaubte ſich nichks, das nicht mit der Sitte übereinſtimmte, ihr galten die Männer als eine andere Ark Geſchöpfe, die ſie ſich immer fern hielk, jeder freiere Blick empörke ihren Skolz, Ciebe erſchien ihr erniedrigend, auch hatke ſie keine Verehrer; ich war überzeugt, daß ſie ſich entſetzlich langweilen müſſe. Trotzdem fühlke ſie ſich glücklich. Um fünf Uhr frühſtückte ſie ſchon mit ihrem Vater, der ihre einzige Leidenſchaft war, dann verbrachte ſie den Tag in weißem Kleid mit friſchem, ruhigem Geſichk und noch ruhigerer Seele; ſie nähte viel, buk vorzüglichen Kuchen, ſang harmloſe Lieder, dachte wenig und ſchlief guk und feſk. Mir erſchien ſie als ein ſkeifes, kühles Mädchen, das mir imponirke, mich aber nichk anzog. Wie viel Thränen mußken auf die Flammen meines Inneren fallen, wie viel Schickſalsſtürme mußten das Feuer ihrer Seele an⸗ fachen, ehe unſere Herzen ſich fanden! Jehzk gehörk das Amuſement nichk mehr unter die Ziele meiner Tage und die ihren haben die Farbe gewechſelk. Zwar iſt ihr Gang noch ruhig, zwar beherrſchtk Geſetz und Sitke ſie noch, doch ſie erblaßt, wenn ſie die Herzenskämpfe ihrer Freunde ſieht; ofk ſteht ſie nach einer ſchlummerloſen Rachk erſt um acht Uhr auf und ſitzk ſtunden⸗ lang ſtumm ihrem Vater gegenüber. Sie ſingt nicht mehr, ſie näht wenig, lieſt viel und denkt immer. Die Männer ſind für ſie keine fremden Weſen mehr, doch ihre Kühle ihnen gegenüber iſt noch nicht gewichen und ihre Rakur wird niemals die zarte Schmeichelei lernen, welche die Frau dem, den ſie liebk, entgegenbringt, dieſen Inſtinck, der uns kreibk, ohne Berechnung das zu thun, was dem König unſerer Seele gefällt, kurz, jenes Etwas, fälſchlich Coquetterie genannk. Und doch, als neulich vom weiblichen Stolz geſprochen wurde, der 146 die Ciebe beſiegen müſſe, unkerbrach Emma ihre Freundin und ſagte: „Was hat der Stolz mit der Liebe zu thun?!“ Ich weiß nicht, ob mein Herz oder meine glühende Phankaſie Emma ihrer glücklichen Gleichgültigkeik entriß; ich glaube, daß ich im Augenblick des Erwachens zu ihr kam, als plötzlich der Vorhang der Vorurtheile und Gewohnheiken zerriß und ihr die wirkliche Welk erſchien. Ich ſprach ihr ohne Zweifel von lauter neuen Dingen, Alles, was ich vom menſchlichen Geiſt und Herzen wußke, kam ihr zunächſt wie eine Fabel vor. Doch ich vermochke ſie zu überzeugen, und ſpäter frug ich ſie, wenn ich ihr meinen Gedankengang enthüllk hakke: „Verſtehſt du ihn?“ und faſt immer ankworteke ſie: „Ja, ich verſtehe ihn!“ „Wir haben in unſerem Leben keine andere Aufgabe, als in jedem Augenblick ſo zu handeln, wie unſer Gewiſſen es uns vor⸗ ſchreibk; die Folgen gehören der Gewalk des Schickſals an, das ihrer doch immer Herr bleiben wird, welches auch unſere thörichten Pläne ſein mögen,“ ſagte ich einſt. „chon längſt iſt dies auch meine Überzeugung. Manchmal er⸗ ſchwerk ſie das Leben, doch als allgemeine Regel giebk ſie uns Geſetze, Sicherheik, Ruhe und verſcheucht auf immer Selbſtvorwürfe und Reue. Nur nenne ich das, was du Schickſal nennſt, Gott! erwiderte Emmd. Du weißk,“ unkerbrach ich ſie, „daß ich Gokk im Goetheſchen Sinn verſtehe.“ „Verſtehſt du ihn? Ich nichk!“ Auch weiß ich, daß Goethe einſt ſagke: Es iſk ganz einerlei, was für einen Begriff man mit dem Ramen Gokk verbindek, wenn man nur gökklich, das heißk guk handelk!“ „Mir,“ lächelte Emma, „iſt Gotk der Gotk der Liebe, der liebe Gokk der Chriſten.“ Doch genug davon — verwelkte Blumen ſind die Worke, denen Blick und Händedruck fehlk; ich kenne keine Sprache, die das lebendige 10* 147 Geſpräch ebenſo lebendig wiederzugeben vermag; Herz, Gefühl und Geiſt haben ihre eigene Sprache. — Eine Erinnerung wird dauernd friſch in meinem Herzen bleiben, es iſt die an unſere in Berka ge⸗ meinſam verlebte Frühlingszeik. Ein Tag daraus mag für das Bild unſerer unſchuldigen Freuden der Rahmen ſein. Auf einer kleinen Erhöhung in jenem Theil von Berka, der Dorf Berka genannk wird, erhob ſich inmitten eines Gartens ein kleines haus. Wie oft, ſobald es am Horizonk aufſtieg, beſchleunigte ſich mein Schrikk, und mein Herz, alle Sorgen von ſich werfend, klopfke vor Freude und Hoffnung; es war keine andere Hoffnung als die auf Frieden und Ruhe, und doch war ich noch nicht zwanzig Jahre alk! In den oberen Räumen richteten Emma und ich unſeren Haus⸗ halk ein. Wir hakten eine kleine Küche, einen großen Flur, ein Zimmerchen für unſere ſungfer und konnken im Rothfall ſogar einen Gaſt beherbergen. Unſer Schlafraum war einfach, aber bequem, unſer kleines Wohnzimmer war reizend: ein Schrank, zwei Bücher⸗ ekageren, ein roſa und weiß drapirker Toilektenkiſch, darauf ein Spiegel mit goldenem Rahmen, zu jeder Seike eine Baſe, mik jenen palmenarkigen Farren gefüllt, die im Tannenwald an den verſteckkeſten Plätzen wachſen; dann unſere Schreibtiſche, nur durch die Fenſter⸗ wand gekrennk, an der auf weichem Teppich zwei Lehnſtühle ſkanden. Reben den kauſend Dingen, die auf keinem Schreibtiſch vermißt werden, ſkanden drei blumengefüllte Gläſer auf einem jeden; wir liebken vor allem die wilden RKoſen, von denen ein einziger Iweig ſchöner iſt als alle Centifolien. Auch ein Sopha, ein runder Tiſch, verſchiedene Bilder fehlken nichk; auf allem lachte die Frühlingsſonne, die bis zum Abend auf unſerer Diele ihre Skrahlen kanzen ließ, und aus jedem Winkel des Zimmers fiel der Blick auf das helle Grün der Hügel, auf die dunklen Tannen, auf drei breike, ſich durch das Thal ſchlängelnde Wege, in nächſter Rähe auf die Häuſer der Bauern und jene regelmäßige Thätigkeit, um die man ſie beneidet, ſobald 148 ein böſer Gedanke drückend auf der Seele liegk. Aus dem anderen Fenſter ſah man den kleinen Fluß, die Kirche, die Brücke und den Markt, von deſſen Häuſern man nur die Dächer bemerkte, in der Ferne ein weites Thal, durch ein Dorf und einen altken Thurm ge⸗ ſchloſſen, dann Hügel auf Hügel und jedes Jahr ein neues rothes Dach, das ſich darauf erhob; ſchließlich ein ſpitzer, kahler Berg, auf dem der Fluch der alken Frau zu ruhen ſchien, die im Anfang des vorigen jahrhunderks dork verbrannk worden iſt. Dieſer freundlichen Landſchafk gebührk der dankbare Blick, mit dem wir jede Gegend bekrachten, die das Glück mik uns bewohnk hat, der freundliche Gedanke für die Zukunfk, eine Handlung der Barmherzigkeit für die Gegenwark, die Hand eines mikfühlenden Freundes in der unſeren. Bei meinem Erwachen ſtand Emma neben mir, zum Ausgehen bereik; ſie ging, der Ratur ihren Morgengruß zu bringen. Als ſie zurückkam, war ich angezogen, die Skube aufgeräumt, friſche Roſen, die ich im Garken gepflückk hatte, auf dem Tiſch und das Frühſtück daneben. Rachher mußken die Wirkſchafksſorgen erledigt werden, bis daß Jede ſich an ihre Vormiktagsbeſchäftigung begab, die wir bis drei Uhr ausdehnken, nur hier und da durch gegenſeitiges Vor⸗ leſen aus Büchern und Briefen unkerbrochen. Der ruhige Schritk unſerer blonden, freundlichen ſungfer mahnke uns an die Eſſenszeik; ihr ſkrahlender Blick galk heute ihren Küchenerfolgen, die unſere vollſte Anerkennung fanden. Haſtiges Klopfen ſtörke unſere ſehr makeriellen Freuden, und auf unſer „Herein“ flogen zwei Knaben lachend auf uns zu. „Wolf — Walker!“ riefen wir wie aus einem Munde, und nun überſtürzten beide ſich im Erzählen, wie es gekommen war, daß der Großvaker ſie im eigenen Wagen hierhergeſchickk habe. „ch habe ihm geſtern vorgeſpielt.“ „ch habe einen guken Aufſahz geſchrieben.“ Es gab viel zu fragen und zu erzählen, dazwiſchen wurde unſerer Erdbeerſpeiſe kapfer zugeſprochen. Wolf berichkete von den Stadt⸗ 149 neuigkeiken, von dem Großvaker, der ſich wieder einmal mit Tante Ulrike gezankk habe. Er ging, nach Ark desſelben, langſam, die Hände auf dem Rücken, den Oberkörper ekwas geneigt, den Kopf gehoben, die weik offenen Augen auf uns gerichket, im Zimmer auf und nieder, dabei ſagke er mit grollender Stimme: „Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen, ihr kreibk's mir bald zu arg.“ Ich mußke lachen, ermahnte aber doch meinen jungen Freund, des Großvaters nicht etwä zu ſpotten. „Zu ſpotten?!“ rief er, „Du glaubſt, ich könnte das? Iſt er nichk unſer liebſter, beſter, einzigſter Großvater?“ Dann er⸗ zählten ſie von den Elkern; dem Vater, der viel Kopfweh habe und ſelken zu Hauſe ſei, der Mukker, die ſich eifrig mik dem Plan zu einem Sommerfeſt beſchäftige, und ſchließlich ſprangen ſie hinaus und fuhren davon, uns in einer Ark Bekäubung zurücklaſſend. In unſeren Frieden war die Welk mit ihrem Zwieſpalk gedrungen. Bald darauf rüſteken wir uns zum Spaziergang: weiße Kleider, runde Hüte, das ſchokkiſche Tuch über dem Arm, ein Buch in der Hand, das freilich nur ſelten geöffnek wurde. Wir gingen ſkumm Arm in Arm neben einander, meine Gedanken waren in jenem klaſſiſchen Hauſe, in dem ein über alles Erdenleid erhabener Zupiter zu thronen ſchien und deſſen Mauern doch ſo viel Kummer ver⸗ bargen; iſt es nicht auch immer die mühſam zu erſteigende jakobs⸗ leiker, an deren Sproſſen nichk Engel, ſondern Dämonen ſkehen, gegen die der Klekkernde kämpfen muß, damik ſie ihn nichk hinunkerwerfen; wie Wenige ſind ſtark genug, um den ſtrahlenden Tempel menſchlicher Größe zu erreichen, wie wenige ſind ſo ſtark, um die ſchwächeren Genoſſen nach ſich zu ziehen. Ich wäre längſt am Boden zerſchellt ohne den vorſchreitenden erhabenen Führer! Wir hakten den Wald erreicht, ſein Dufk ließ uns freudiger athmen, und ein weicher Moosſitz enkſchädigte uns, wenn wir zu haſtig gegangen waren. Manchmal könken aus der Ferne Axkſchläge gegen einen zum Tode verurtheilten Baum; ein Krach, ein Fall, der 150 wie ſchluchzend verklang, entlockte uns einen Seufzer — der Tag war ſchön, wer wünſchte ſich, zu ſterben? Rach und nach ver⸗ längerken ſich die Schakken, unſere Unkerhalkung hatte zwiſchen Gefühl und Erzählung, zwiſchen Philoſophiren und Schweigen, zwiſchen Ver⸗ gangenem und Zukünftigem, zwiſchen Ernſtem und Heikerem ge⸗ wechſelk. Wir hatten neue Pfade entdeckt, neue hochgelegene Matten, auf denen ſich ſchöne Luftſchlöſſer bauen ließen, und kraken aus dem Wald, als der Mond ſchon hoch am Himmel ſtand. Sobald wir⸗ die erſten Häuſer erreichken, begrüßken wir die freundlichen Bewohner, deren roſige Kinder ſchon ſchlafen gegangen waren, um den nächſten Morgen noch roſiger zu erwachen; die Elkern ſaßen vor der Haus⸗ thür, der Bater rauchte ſeine Pfeife, die Mukker legte die Hände in den Schoß. Kennk ihr ſolch ein beſeligendes Ausruhen, ihr Unthätigen, die ihr euch mit euren leeren Gedanken gelangweilk in den Lehnſtuhl werfk?! — Zwei Schrikke weiker ſahen wir ein neues Häuschen enk⸗ ſtehen; es hatte, wie die anderen, nur eine Skube, eine Kammer, Küche und Ziegenſtall. Wir hatken oft in bewohnke Käume geſehen, überall fanden wir die peinlichſte Hauberkeik; vor der Thür neben der Skeinbank einen blühenden Roſenſtock, ein kleines Gärkchen hinter dem Hauſe mik guk gepflegken Gemüſe⸗ und Blumenbeetken, ein Höfchen daneben mit ordentlich aufgeſchichketem Holzvorrath, einige unglückliche Vögel in Käfigen, die ſangen und die weißen Wände garnirken, und dazu zufriedene Geſichker, einen freundlichen Gruß für Federmann. Unſere jungfer erwarkeke uns: „Der Pächter hat ſchon wieder⸗ holk nach Ihnen gefragt, und das Abendbrok warkek. Auch hak der Boke Briefe in Menge gebrachk.“ Der Mond leuchtete uns zu unſerem einfachen Imbiß, den wir in Geſellſchafk unſeres guken alken Pächters, der zugleich unſer Haus⸗ wirth war, einnahmen. Er erzählke uns von einem armen Tage⸗ löhner, der ſich beim Holzfällen verwundek habe und nun für ſich 151 und ſeine Familie nichks verdienen könne; dabei ſah er uns erwarkungs⸗ voll an. Ich wollke ſofork hinſtürzen, Emma hielk mich zurück. „orgen in aller Frühe packen wir unſeren Korb mit Fleiſch und Brok, vergeſſen auch unſer Verbandzeug nichk, und freuen uns, daß es Menſchen giebt, denen mit ſo wenig Mühe geholfen werden kann.“ Und denken an all das namenloſe Elend, dem wir nicht ſteuern können!“ Der Abend war herrlich, wir ſaßen noch lange vor der Thür und ſahen, wie nach und nach ein Lichk nach dem anderen hinker den Fenſtern erloſch. Die Stille herrſchke und ſchien durch die Majeſtäk des Mondes zu regieren; die Ilm flüſterte kaum, ſie fürchtete durch ihr Gemurmel das ſilberne Licht zu ſkören, das friedlich auf ihrem Waſſer flimmerke. Fülleſt wieder Buſch und Thal Still mik Rebelglanz — Cöſeſk endlich auch einmal Meine Seele ganz, Breikeſt über mein Gefild Ruhig deinen Blick, Wie des Freundes Auge mild Ueber mein Geſchick. Zukunfksbilder ſtiegen vor mir auf, Träume von Glück wurden lebendig; weik in der Ferne verſchwand die Vergangenheik. Die Lampe im Zimmer machte uns wieder geſprächig, während eine Schleife nach der anderen ſich langſam löſte. Wir dachten mik Schrecken an die Stadk, an den Winker, den Schnee, den Kerzenglanz, an die falſchen Blumen und an das falſche Lächeln, an Toilekten und Geſellſchafksklatſch, und freuten uns der Gegenwark, in die nichts von alledem gehörke. Roch eine zärkliche „Gute Racht“ und es wurde ſtill in Haus und Herzen. In den Kahmen dieſes Tages gehört das Bild meiner Freundin; dann iſt alles Harmonie, Friede, Klarheik. Ihre ſchöne Geſtalk, ihr 152 ruhiger Gang, ihre glatten, über der ſanften Stirn geſcheitelten Haare, dieſer ganze Typus einer deutſchen Schloßfrau, paßten ſo guk zu den ſchlanken, ernſten Tannen, zu dem maſeſtätiſchen Wandel des ſilbernen Mondes auf dem klaren Firmamenk; ihr verſchleierkes, weibliches Herz, ihre angeborene Keinheik des Charakters paßken ſo gut in dieſe ruhig kräumende Landſchaft ohne zerriſſene Felſen, ohne feuer⸗ ſpeiende Berge. Und in mein Leben gehörke dieſer Engel des Friedens. In einem direkten Gegenſatz zu dieſem Engel des Friedens ſtand eine andere Freundin ſennys, Gräfin Louiſe Vaudreuil. Aber auch bei ihr, der Weltdame großen Stils, bewährke ſich das Talenk, das Jenny in ihren ſpäteren Jahren zur höchſten Kunſt entwickelke: das Beſte aus den Menſchen herauszuholen. Etwas von dem all⸗ umfaſſenden Goethegeiſt, dem „nichks Menſchliches fremd war“, lebte in ihr und machte es ihr möglich, ſchon mit einundzwanzig Jahren — zu dieſer Zeik ſind die Charakkerbilder Oktiliens, Emmas, Couiſens und das des Profeſſors Scheidler enkſtanden — in den Seelen ihrer Freunde, wie in einem offenen Buche zu leſen. Louiſe Vaudreuil ſchilderte ſie folgendermaßen: „Es war zwei Uhr Rachmikkags, als ich in ein elegantes Boudoir krak, das nur durch auf allen Stühlen und Tiſchen umherliegende Toilettengegenſtände verunzierk wurde. Eine junge Frau ſaß vor dem Spiegel, ſie war blaß, ihre Augen ſchwarz umrändert, doch jeder ihrer edlen Züge von rührender Schönheik; ſie hielk einen ihrer glänzenden ſchwarzen Jöpfe in der Hand und legte ihn mit größter Vorſicht um ihre Schläfen; Alles verrieth, daß ſie eben erſt das Bekk verlaſſen hatke. „Guten Tag, mein Kind,“ ſagte ſie; „ich freue mich ſehr, dich zu ſehen. Denke dir, ich habe heute keinen Brief von Alfred und bin ſo beſorgk.“ „Doch warum dich ängſtigen, liebe Couiſe, erſt vorgeſtern hatteſt du Nachrichten aus Paris. 153 DDoch du weißt, ich bin unker einem Unglücksſtern geboren, auch nehme ich immer Alles von der krüben Seike. Und gerade heute bin ich ſchlechter Laune; Margarethe iſk wieder unartig geweſen; meine Tochter hak kein Herz, keine einzige Reigung wurzelk darin, ſie iſt ſo ſelbſtſüchtig und ſo kalk!“ „ber liebe Freundin, ſie iſt drei Jahre alk!“ Der Huk und das Kleid, das ich für dich beſtellke, ſind auch noch nicht angekommen.“ „Gnädige Frau haben es vor achk Tagen beſtellk,“ ſagte die alte Kam⸗ merfrau, „man kann die Poſtpferde von Paris hierher nicht beflügeln! „Schweigen Sie, man hat Sie nicht gefragt.“ Dann eine Pauſe. Die junge Frau hatte ihre Friſur beendek, doch ſie war noch immer damik beſchäftigt, eine widerſpenſtige Locke zu bändigen; es ſchlug dreivierkel auf drei Uhr, ehe dieſe große Arbeik gethan war. Ich habe fürchkerliche Kopfſchmerzen, das ſind ſicher die Vor⸗ boken einer neuen Krankheik.“ „as kommk von dem ſcharfen Dufk, den du an dir krägſt und in allen Räumen verbreiteſt.“ Ach nein, Kind; das Ausbleiben des Briefes regk mich zu ſehr auf, auch iſt der Klatſch, mik dem dieſe Stadk mich verfolgk, zum Verrücktwerden! Ich ſchrieb meinem Mann davon, der mich beruhigke und ſagte, er würde zurückkehren, um wie früher in ſeinem Lehnſtuhl hinter der großen Zeikung zu ſitzen, während ich mich mit Prinz Friedrich Schwarzenberg unkerhalke. Man iſt zu ſchlechk in dieſem kleinen Weimar; denke nur, daß Graf K. vorige Rachk vor meinem Hauſe warkeke, bis der Prinz fortging, um dies Ereigniß mik ſeinem Commentar jedem Menſchen zu erzählen.“ Couiſe weinke und ihre Stimme zitkerke. Ich verſichere dir, liebe Freundin, daß ich glaubke, du habeſt dich längſt über den Stadtklatſch erhaben gefühlk. Außerdem kannſt 154 du nichk annehmen, daß deine langen Unterhalkungen mit dem Prinzen unbemerkk bleiben würden; wir ſind hier nicht in Paris. In Weimar geht man um zehn Uhr ſchlafen, wenn bei euch die Feſte anfangen, und ſtehk auf, wenn ſie enden; es iſt ganz nakürlich, daß gewöhn⸗ liche Leuke den Maßſtab ihrer Gewohnheiten auch an Andere legen; doch da dein Mann davon weiß, hat es nichts auf ſich, und dein Kummer verfliegt, ſobald er zurück iſt. Gehſt du an den Hof heuk Abend?“ „Ja, man ſagk, er wäre voll von kleinen deutſchen Prinzchen, und dieſe Stückchen Souveränikät amüſiren mich. Am liebſten freilich bliebe ich zu Haus, ich finde keinen Geſchmack an der großen Welk; mein Buch, meine Malerei, meine Kaminecke, das iſt es, was meiner Ratur entſpricht, die faul und indolenk iſt; auch ſchwöre ich dir, daß ich, wenn es nichk um die kleinen Triumphe der Eitelkeik wäre, die mir Spaß machen, gar nicht ausgehen würde; ich begreife deshalb nichk, wie eine häßliche Frau daran Freude haben kann! Haſt du heute den Alken ſchon geſehen?“ „Couiſe!“ rief ich vorwurfsvoll. „Soll ich ſagen den Meiſter?! Ich kheile eure kniefällige Bewunde⸗ rung nicht, dafür iſt er mir zu menſchlich, hat zu ſehr, wie wir ge⸗ wöhnliche Skerbliche, ſeine kleinen und großen Avenküren gehabk. „Trotz eurer kleinen und großen Avenküren ſeid ihr aber Alle kein Goethe geworden!“ Couiſe lachte, jede Spur von Thränen und Aerger war verwiſcht. Man meldeke den Schneider, er kam von der Ceipziger Meſſe. „rau Gräfin haben noch zweiundzwanzig Kleider im Stück liegen, meinke die jungfer kopfſchütkelnd; doch der Schneider wurde emp⸗ fangen, mußte alle ſeine Waren ausbreiken, die aufs Gründlichſte examinirk wurden; Louiſe ſuchke drei der ſchönſten Skoffe aus, ſchenkte mir einen davon, ließ die zwei anderen in den Schrank legen und den Preis dafür auf die Rechnung ſehzen. Der Schneider wurde 155 von dem Ankiquar abgelöſt, dem ſie ein Rokoko⸗-Armband für vier Couisd'or abkaufte. „Der Kammerdiener des Prinzen fragt, ob Antwork nötig wäre,“ ſagke der einkretende Bediente, indem er Louiſe ein Billek übergab. Ich werde ſehen.“ Hie las, während ich in einem Pariſer Mode⸗ ſournal bläkkerke. „Höre nur, Zenny, wie prachtvoll er ſchreibk“ — auf ihrem Geſicht malke ſich ſkaunende Bewunderung, doch ſie galk nur der Schönheik des Stils; ihre Stimme klang erregt, doch nur aus geſchmeichelker Eikelkeik: „Wenn der Verdammte, an der Himmelskhür ſich anklammernd, nach einem einzigen Ton des Geſanges der Engel verdurſtek, wenn das Kind des Verderbens, in deſſen Ohr das furchk⸗ bare Work Ewig klang, durch das RKütkeln der Verzweiflung jene ehernen Thore erſchüttert — würden Sie, Gräfin, es in den dunkelſten Abgrund ſkoßen, weil es ſich mik rieſiger Krafk zu dem herrlichſten Glücke emporhob? Ich ſah durch das Gitter, welches mich vom Himmel krennt, ſein ſtrahlendes Licht, ich ſah die Träume meiner ugend, die Wünſche meines Herzens, das Ideal meines Lebens in Wirklich⸗ keik an mir vorüberſchweben — ich ſtreckte flehend die Arme danach aus — das war mein Verbrechen; ich büße es durch das fürchter⸗ lichſte Erwachen, ich büße es durch erneute Verdammniß. Sie werden mir verzeihen; von nun an ſollen Sie in mir nichts als den ergebenen Haushund finden, der nach dem Hieb ſo kreu bleibk wie nach der Zärtlichkeik, der kreu bleibk, wenn ihm Unrecht geſchieht, kreu bleibk, wenn er nur der Gleichgültigkeik begegnek — — Ich hörke ihr verwunderk zu und verſkummke. Ich verſtand, daß er zu weik gegangen war, daß ſie ihres Widerſtandes wegen kriumphirke, daß ſie ſkolz auf ihre tugendhafte Handlungsweiſe war, die niemals häkke nothwendig ſein dürfen. Ein Beſuch rechk⸗ fertigte meine Schweigſamkeit, oder vielmehr ſie zog uns aus der Verwirrung, denn Louiſe ſah zu klar, ihr Urtheil war zu fein, als daß ſie meine Gefühle nicht, worklos wie ſie waren, verſtanden 156 hätte. Die Beſucher gehörken zu jenen Menſchen, die ihrer Güke, ihrer Familienbeziehungen, ihrer negativen Verdienſte wegen von der Geſellſchafk geduldet werden; die böſen Jungen entſchädigen ſich für deren Richtigkeik durch wohlfeile Witze über ſie; die Geiſtreichen behandeln ſie wie Tiſche und Skühle, ſie benutend, wenn der Augen⸗ blick es mik ſich bringk; die Liebenswürdigen ſprechen im Vorüber⸗ gehen mit ihnen; im Ganzen iſt Alles, was man ihnen bietek, gerade lau genug, um ſie nichk vor Froſt zitkern zu machen. Ich fürchtete Couiſens Ungeduld und Spokkluſt; es wäre nicht nöthig geweſen, denn nie habe ich ſie geſprächiger, freundlicher, zuvorkommender ge⸗ ſehen, nie hat ein Gaſt befriedigker über ſie und ſich das Zimmer verlaſſen. „u warſt äußerſt liebenswürdig, zu meiner größken Ueber⸗ raſchung“, ſagke ich, als wir allein waren. Und du, Kind, beurtheilſt mich falſch. Ich ſpokke nie über guke, anſpruchsloſe Leuke und habe Freude daran, Unkerdrückte zu unkerſkützen.“ In der Ebbe und Flukh meiner Gefühle dieſer eigenkhümlichen Frau gegenüber gingen nach dieſer wahren, gütigen Antwork die Wogen zu ihren Gunſten hoch. „Habe ich dir ſchon erzählk“, ſagte ſie, „daß ich einen Brief von Frau von Z. gehabt habe? Die Arme leidek ſo ſehr und iſt dabei ein Engel an Güte und Tugend; Gotk weiß, was aus ihrer unglück⸗ ſeligen Leidenſchafk werden ſoll! Iſk ſie allein mit Georg, ſo könnte die Welt zu Grunde gehen, der Tod neben ihnen ſtehen, ſie würden es nicht bemerken. Reulich beſuchte ſie Georg, ſie war allein — doch eine einzige Thür nur krennte ſie von ihrem Gatten, und dieſe Thür war nur angelehnt, und dieſer Gaite vergöttert Charlotte. Manch⸗ mal ſchaffk ſeine Phankaſie ihm einen Rebenbuhler: „das wäre kein langer Schmerz“, ſagt er dann, „eine Kugel für ihn, eine für mich und für dich die Qual des Cebens! 157 Und ſie iſt im Stande, dieſe Liebe zu bekrügen!“ rief ich empörk: „und du kannſt von ihrer Tugend ſprechen!“ „un ja, meine Liebe, denn ſie bekrügk im Grunde ihren Gatken nichk. Ihre Mutker hak ſie, als ſie fünfzehn Jahr alk war, mit ihm verheirathek; er verlangte keine Liebe von ihr und gab ihr ſeinen Ramen wie ſein Vermögen. Georg, ihr Bekter und Spielgefährke, hatte nichts!“ Ich hörke zu, wie man ein Capikel der „Vie privée“ von Balzac lieſt, Couiſe erzählke das Trauerſpiel, deſſen Heldin Charlotte war, wie dieſer Schriftſteller es beſchrieben haben würde. „ſabella hat mir von ihrem Bekk aus geſchrieben“, fuhr Louiſe in ihren Reuigkeiken fork; „ſie iſt geſtürzk und hat ſich ſchwer verletzt'. „ſt ſie nicht die Gattin des Mannes, den du zuerſt heirathen ſollkeſt? „Ja gewiß. Das war meine erſte Erfahrung! Ich hatte mit dieſem Gedanken die Kinderſtube verlaſſen; er war ſchön und reich, er ſprach von Liebe und ich war glücklich. Da erfahre ich eines Tages, daß er ſich mit Iſabella verlobk hak, ſie konnte ihm ihre Mitgifk baar auf den Tiſch zählen, ich hatte erſt nach meines Vakers Tod eigenes Vermögen zu erwarken. Kurz nachher wohnte ich ſeiner Heirath bei, dann hak er mir auf die niedrigſte Weiſe den Hof ge⸗ machk, und du verlangſt, daß ich die Männer achte, daß ich ſie be⸗ mitleide und ſchone — ſie verdienen kaum, daß man ſich über ſie luſtig machk; auch iſt es nichk meine Schuld, wenn ſie ſich nicht an mir rächen. Ah, wie ich die Rache liebet“ Ich ſkand auf. „Hier, Kind, ſind noch zwanzig Thaler für deine Armen. Werden wir ihre Schuld bald bezahlk haben?“ „och dreißig Thaler und ſie ſind ſorgenfrei.“ „Die bettele ich heute Abend bei Hof zuſammen!“ Der Hof war vollzählig erſchienen. Louiſe kam als Letzke: ihre Schönheit war die einer Sulkanin, ein bunker Turban hob ihre regel⸗ 158 mäßigen Züge, ihre ſchönen ſchwarzen Haare glänzken auf dem tadel⸗ loſen Teink, den das Lichk noch ſtrahlender machte, prachtvolle rothe Seide floß in ſchweren Falken um ſie, es war ein Bild, auf das die Ratur ſkolz ſein könnte, wenn die Coquetkerie nicht die Ratur be⸗ trogen hätte. Die Männer umgaben ſie, ſie entwickelke all ihren Geiſt, all ihren Witz, all das Feuer ihrer Blicke, und ich ſah mit tiefſter Traurigkeit dieſes glänzende Arſenal der ſchönſten Fähigkeiken zu einem Feuerwerk verpufft. Richks mahnte an die Bläſſe und Traurigkeik dieſes Morgens, ſie lachke, ſprach und ſah mik ihrem durchdringenden Blick, hörte mik ihrem feinen Ohr Alles, was in vier Sälen gethan und geſagt wurde. Der Großherzog näherte ſich in all ſeiner kadelloſen Höflichkeik. Rach einigen einleikenden Liebenswürdigkeiten begann Louiſe eine ſammervolle Armengeſchichke zu erzählen von Kindern, die auf dem Ofen ſchliefen, um nicht zu erfrieren, von Elkern, die ihnen Karkoffel⸗ ſchale als Delikateſſe vorſetzten u. ſ. w., das ſah der Wirklichkeik nichk ähnlich, und doch war dieſe Wirklichkeik ſchon kraurig genug! Couiſe brachke mir kriumphirend zwei Couisd'or. „Ich danke dir ſehr“, ſagte ich; „aber ich erkläre dir, daß, wenn der Großherzog mich nach der Sachlage fragt, ich deine Märchen nicht unkerſtützen kann und von deinen Armen nichks wiſſen werde, denn ich weiß wirklich nichts von ihnen“. Iie lachte und fuhr fort, mik mehr oder weniger Er⸗ folg ihre Geſchichte zu erzählen. Später kraf ich ſie noch einmal, und ſie erwähnke wieder ihrer Freundin, Frau von Z.: „Im Grunde iſt ſie eigenklich ein kleines, mage⸗ res, thörichtes Ding, das ſich gehen läßt, obwohl dein deutſch⸗ſenkimen⸗ kales Mikleid für den Gatten mir auch nicht angebrachk ſcheink. Auf eine Heldenthat in ihrem Leben iſt ſie ſehr ſtolz, hak ſie doch eigen⸗ händig einen Pflaſterſtein aufgehoben, um ihn auf die unglücklichen Soldaten zu ſchleudern, die ſich für dieſen verrückten Karl X. maſſa⸗ criren ließen! Das iſt gerade keine edle Handlung, und von einer 159 Frau ausgeführk, wird ſie gemein; auch habe ich ihr einmal gründ⸗ lich meine Meinung geſagk. Ich ſprach bewundernd von England, und von dem, was dort beſſer iſt als bei uns, ſie glaubke ſich als Pakriotin zeigen zu müſſen, und plötzlich höre ich eine ſpitze Stimme, die mir zuruft: SHie haben wohl nichk das Glück, Franzöſin zu ſein? — O doch, gnädige Frau, ich bin ſogar im Herzen von Paris geboren, ohne jemals ſein Pflaſter zu beſchädigen“. Alles lachke; ich ſchlich bei Seike. Hatke ſie doch dieſen Aorgen erſt in den höchſten Ausdrücken der Bewunderung von derſelben Frau geſprochen! Mich widerke es an, zu ſehen, wie all ihre Geiſtes⸗ gaben der Frivolikäk geopferk wurden; meine Liebe zu ihr thak mir weh, und doch habe ich ſie mir nie aus dem Herzen reißen können. Sie hatte genug Verſkand, um über Alles zu plaudern, ſie fand ſteks die paſſendſte Ankwork, um ſelbſt Klügere zu verwirren, ſie hakke Beobachtungskalenk, um ihren Märchen den Schein der Wahrheik zu geben, ſie beherrſchte die Sprache, um die Abenkeuer ihrer Freunde geſchickt erzählen zu können, ſie hatte die Herzen der großen Welk durchſchauk, um mit Effeck Sentenzen à la Rochefoucauld auszu⸗ ſprechen, ſie kannte Hingebung und Opferfreudigkeik, um ſie von Anderen zu verlangen, ſie inkereſſirke ſich für Alles, um über Alles zu ſchwatzen. Sie war die Welkfrau, die Pariſerin, die ſchöne Frau, das Kind der Eitelkeik und der Schmeichelei und hätte der Skolz ihres Geſchlechtes, der Engel der Tugend, die echte Frau ſein können, die ohne zuſammenzubrechen eine Welk voll Kummer krägt, die liebk, leidet, kröſtek und die Sprache der Menſchlichkeik hörk und ver⸗ ſkehk“. Couiſe Daudreuil war ſteks von Bewunderern umgeben; Prinz Friedrich Schwarzenberg, der einſt viel genannte Verfaſſer der Me⸗ moiren eines Candsknechts, war einer ihrer kreueſten. Während einer Badereiſe, als ſenny das kleine Töchkerchen Louiſens in ihre Obhuk genommen hatte, ſchrieb ihr Graf Vaudreuil: „Couiſe hak viele Ver⸗ 160 ehrer, Prinz Schwarzenberg und Prinz Kotſchubey vor allem. Ich liebe dieſe Mehrzahl, denn nur die Einzahl forderk die böſe Rachrede heraus. Übrigens hat bisher weder die Einzahl noch die Mehrzahl mein Verkrauen in eine Frau zu erſchükkern vermocht, die Herz und Geiſt beſitzt, und die weiß, daß ein guter Gatte, den man liebt, einem Goldbarren gleicht, den nur der Wahnſinn gegen die kleine Münze der Bewunderer eintauſchen wird.“ In demſelben Briefe heißk es: „Vom Tode des Herzogs von Reichsſtadk haben Sie ge⸗ wiß erfahren. Was ich bei dem Erlöſchen der napoleoniſchen Race empfinde, werden Sie am beſten verſtehen, denn trotz Ihrer Bekonung Ihres Deutſchkums haben wir uns in der ſkaunenden Bewunderung für einen der größten der Menſchen immer gefunden.“ Jenny ank⸗ workete darauf: „Mir erſcheint Rapoleon als eines jener gewaltigen Werkzeuge der Allmachk, die zuweilen nokwendig ſind, um das unterſte zu oberſt zu ſchütkeln, damik der von Jahrhunderken aufgehäufte Skaub und Moder davon fliegen und die Erde für neues Blühen bereiken kann. Auch wie ein großer Iflug iſt er, der ſie aufrührk, der welke Pflanzen, die das neue Leben hindern wollken, in Dünger verwandelk und unkerirdiſches Gewürm kötek. Rur ſchade, daß die Arbeik diesmal ſo wenig vorhielk: mir ſcheink, als käte uns jetzt ſchon ein neuer Pflug nok, und ich würde ihn herbeiſehnen, wenn nicht mein Herz von Grauen erfüllk wäre vor allem Bluk — auch vor dem des Gewürms, das ja nichks dafür kann, daß die Ratur es zu dem machte, was es iſt.“ Ein merkwürdiges Urkeil für ein ein⸗ undzwanzigjähriges Mädchen. Vielleichk war es doch der unbewußke Einfluß des Blutes, der ſie alſo empfinden ließ und dadurch noch unkerſtützk wurde, daß ihr nichk die deutſche, ſondern die franzöſiſche Sprache Gedankenſprache war: Sie dachte in ihr, wie ſie haupk⸗ ſächlich in ihr ſchrieb. Es war ja auch ihre Mutkerſprache: Diana, die Elſäſſerin, ſprach nach wie vor faſk ausſchließlich franzöſiſch, und am Hofe herrſchte ſeik dem Tode Karl Auguſts die franzöſiſche Im Schatten der Titanen. 11 161 Sprache um ſo mehr, als ſie für die Großherzogin Maria Paulowna, die geborene ruſſiſche Großfürſtin, die gewohnte war. Seit 1829 war Zenny als Hofdame in deren Dienſte getreten. Durch ihre Freundſchaft mit den Prinzeſſinnen, vor allem mit Auguſta, wurde ſie jedoch ſteks mehr als ein Kind des Hauſes, wie als Mit⸗ glied des Hofſtaaks angeſehen. Das zeigte ſich auch in der geſchwiſter⸗ lichen Beziehung, die ſich zwiſchen ihr und dem um ſieben fahre jüngeren Erbgroßherzog Karl Alexander entwickelke. Sie wurde ſeine Verkrauke, der ſeine Bewunderung galk, und wenn er ihr als Sechzehnjähriger, ähnlich wie Wolf Goethe, eine ſchüchtern⸗poetiſche Knabenliebe widmete, ſo war das nur eine weitere Grundlage für die lebenslange Freundſchafk. Zu Maria Paulowna ſah ſenny, die ſie in ihrem Sein und Wirken käglich beobachten konnte, in ehrfürchtiger Liebe empor: „Sie war für ſich ſelbſt“, ſo ſchrieb ſie, „demütig und anſpruchslos: ihr ganzes Leben, Wirken und Sein gipfelte in der fürſtlichen Pflicht des Beglückens. Sie übke die größte Strenge gegen ſich; jede Stunde ihrer bis zur Ermüdung ausgefüllten Tage hatte eine Wohltat oder eine Pflichk zum Ziel. Sie ſtand ſehr früh auf, und wenn dann die letzke Pflichk des Tages, die Hofgeſelligkeik, an ſie herankrak, war es denen, die das Glück hatken, ihr nahe zu ſtehen, rührend, wie oft die Müdigkeit des Körpers ſie zu ihrem eigenen Schrecken übermannte. Nie klagte die ruſſiſche Großfürſtin über die kleinen Verhälkniſſe Weimars; ſie ſprach es aus, wie das ſchöne Work Schillers bei ihrem erſten Einzuge in Weimar ſich ihr als Cebensregel eingeprägk habe: „Wiſſe, ein erhabener Sinn legt das Große in das Leben, aber ſuchk es nichk darin.“ Weimars geiſtiges Leben, das verſicherte ſie oft, erſetze ihr voll⸗ kommen den Glanz des ruſſiſchen Hofes, darum unterſtützke ſie es auch und förderte es, wo ſie konnte. Dabei war ihr Goethes Urkeil ſtets maßgebend; wie ofk ließ ſie einen Wunſch fallen, weil Goethe 162 nicht damik einverſtanden war, wie ergreifend war ihr Schmerz bei ſeinem Tode, wie kreu blieb ſie ſeinem Geiſte. Die Wohlthaten, die ſie öffenklich und noch mehr im Geheimen that, die durchdachten praktiſchen Pläne zu Erziehungsanſtalken und Krankenhäuſern, welche alle zur Ausführung kamen, das Alles zeugt für ihr tiefes Erfaſſen des Berufs einer Landesmutker. Trotzdem hatte ſie ſtets noch Zeit und Luſt zu geſelliger Unkerhalkung, aber eine unüberwindliche 2b⸗ neigung gegen das gewöhnliche Hofceremoniell mit ſeiner öden Langen⸗ weile. Deshalb löſte ſie gern dieſe drückenden Feſſeln und wünſchte ihre Umgebung, wie ihre Gäſte, in freier körperlicher und geiſtiger Bewegung zu ſehen. Auch den Fremdeſten wandelte ſie nach und nach, ihm ſelbſt unmerklich, zum nakürlichen Menſchen um, dem ſie die Maske leiſe abnahm, ohne welche die meiſten nicht glauben, bei Hofe erſcheinen zu können. Ebenſo unmerklich beſtimmte ſie auch die Grenzen des freiheitlichen Umgangs, und ſchwer verzieh ſie es, wenn ſie überſchrikken wurden. Die Sommer in Wilhelmskhal ſind mir in freundlichſter Erinnerung geblieben. Dork in der herrlichen Lufk und reizenden Umgebung ſchien alles Unnatürliche von ſelbſt von uns abzufallen. Wir vergnügten uns mik heikeren Spielen, beſonders das Federballwerfen war ſehr beliebt, machten Spaziergänge, laſen und ſchrieben enkweder im Schatken der ſchönen alken Bäume oder in unſeren einfach⸗ländlichen Stübchen. Dabei kamen ſo mancherlei Phantaſien, Gedanken und Verſe zu Papier, die nichk unſer Geheimniß blieben, denn die liebe Großfürſtin inkereſſierte ſich lebhafk für jedes Glied ihres Hofſtaats und hörke mit gütiger Rachſicht, aber auch mik ſcharfem Urtheil der Vorleſung unſerer Schreibereien zu. Rach und nach wurden die dilettantiſch⸗likerariſchen Abende zur Gewohnheik, ſie waren eine an⸗ genehme Unkerhalkung für die jüngere Hofgeſellſchafk und den da⸗ maligen Erbgroßherzog, der auch, wie wir, Beiträge dazu lieferke. Es gab nur noch Wenige, die ſich der Zeiken des „Tiefurker Journals 11* 163 erinnerken und das Wilhelmskhaler ſournal“ für eine recht ſchwache Copie desſelben halken konnten; näher lag der Gedanke an das mit Goethe zu Grabe gekragene „Chaos“ oder an die literariſchen Abende, die während des Aufenthalks in Weimar eine große Anzahl be⸗ deukender Gelehrker bei Hof verſammelken. Wir hörken Vorkräge von humboldk, Schleiden, Apelk, Froriep, Schorn, Schöll und vielen Anderen, die uns weik mehr bildeten, als es dicke Bücher gethan häkken.“s Dabei gewöhnken wir uns daran, das Gelernte aufzuſchreiben, was auch in Wilhelmsthal forkgeſetzt wurde, ſobald Inkereſſankes uns auffiel. Die Anregung zu dieſem geiſtigen Leben ging von Maria Paulowna aus; ſie wußke, daß darin Weimars Größe lag und immer liegen würde, deshalb erzog ſie auch ihre Kinder in dieſem Gedanken und hob uns in ihre Akmoſphäre, die allem Klein⸗ lichen fern war, die eine belebende Kraft ausſkrömte.“ Wenn kindliche Verehrung, wie hier, mit zu lichten Farben malk, ſo iſt das immer begreiflich gefunden worden, aber man pflegk im Urkeil ungerecht zu werden, wenn der Freund auch beim Freunde die Schatken vergißk. Und doch iſt gerade das am nakürlichſten. Je näher wir einen Menſchen kennen, je mehr uns jede Skufe ſeiner Entwicklung verkraut iſt, deſto mehr verſtehen wir ſeine Ratur und die Fehler erſcheinen uns nicht wie dem Außenſtehenden als etwas ſelbſtändig Verdammenswerkes, ſondern als die Bedingungen oder Ausarkungen ihrer Tugenden. Wir gewinnen ſie beinahe lieb, wie jene. So ſah ſenny ihre Freunde an, und ihre Schilderungen ihres Weſens ſind dann immer beſonders ſchwer zu verſtehen, wenn es ſich um Perſönlichkeiken handelk, die der Geſchichte angehören und der Krikik aller unkerliegen, die je nach der Geſinnung und dem politiſchen Skandpunkk eine andere ſein wird. Das gilk vor allem von Auguſta, der ſpäteren deutſchen Kaiſerin, der ſich Jenny mik jener kreueſten Freundſchaft verbunden fühlte, von der es heißk: 164 Caß adlermutig deine Liebe ſchweifen Bis dicht an die Unmöglichkeik heran; Kannſt Du des Freundes Tun nicht mehr begreifen, So fängt der Freundſchaft frommer Glaube an. Aus der Jugendzeik, die ſie zuſammen verlebken, erzählk ſie folgendes von ihr: „Früh ſchon enkwickelke ſich in ihr jene weiblichſte Lugend, das Mitleid, die ſich aber nie in Klagen und Thränen äußerke, ſondern, geleikek von der Mutter, zur praktiſchen Thatkrafk wurde. Wir be⸗ ſuchten ofk zuſammen unſere Armen und mußten daher nicht ſelken hören, daß wir im Gefühlsübermaß zu viel gethan hakken oder ihnen ſkatk Arbeik, Kleidung und Rahrung, Geld gegeben hatten, das nur zu bald wieder ausgegeben war und zur Trägheik führte, während Anleitung zur Selbſthülfe die beſte Armengabe iſk.“ Als Prinz Karl und Prinz Wilhelm von Preußen an den Weimarer Hof kamen, wußke ſeder, daß ſie um die Hand der Prinzeſſinnen Marie und Auguſka werben wollken. „Merkwürdig ſchnell“, ſo ſchreibt Jenny, „faßte Prinzeß Auguſta Verkrauen zu Prinz Wilhelm, deſſen Güte und Liebenswürdigkeik uns ſehr gefiel, deſſen milikäriſche Straff⸗ heik uns, denen der preußiſche Drill etwas ganz Fremdes war, ſehr imponierke. Langſam, aber ſketig zunehmend, entwickelke ſich bei der Prinzeß eine kiefe Reigung zu ihm. Sie ſprach nicht davon, ihr Stolz verbok ihr, die Unkerwerfung ihres ganzen Weſens unter einen Mann einzugeſtehen, von dem ſie wußte, daß er ihr jetzt nur Freund⸗ ſchafk enkgegenbrachte. Man hatte ihr dienſteifrig ſeine Herzens⸗ geſchichke zugekragen, ihr auch nicht verhehlt, welch ausgezeichnetes Mädchen deren Heldin war. So ſtand es um ſie, als ihre Schweſker ſich vermählke. Heiker und glänzend waren die Feſte dieſer zu Ehren, wehmükig der Abſchied. Sie ſchenkte mir noch zuletzk ein Album, in das ſie folgende Worte geſchrieben hatte: 165 This above all, to thine own self be true, And it must follow, as the night the day, Thou canst not then be false to any man. Votre souvenir est toujours là! Marie. Faſt zwei Jahre vergingen, ehe Prinz Wilhelm die zur vollendeten Schönheik erblühte Prinzeß Auguſta heimholke. Sie hatte ihn kreu im Herzen getragen, wie ſie ſedem Treue bewahrke, den ſie einmal lieb ge⸗ wann. Er war und blieb die einzige, große Leidenſchaft ihres Cebens, die ſie zu ſchöner Weiblichkeik enkwickelke und alle Härten ihres Weſens abſchliff. In meinem Album finden ſich dieſe Zeilen von ihr: Doux lieux oü l'amitié vint charmer mon enfance II faut, hélas, vous fuir, Mais vous viendrez me consoler mon absence Par un doux souvenir! Otez l'Amitié de la vie, Ce qui reste de biens est peu digne d'envie, On n'en jouit qu'autant qu'on peut les partager; Désir de tous les ccurs, plaisir de tous les äges, Trésor du malheureux, divinité des sages, T'Amitié vient du ciel habiter ici bas, Elle embellit la vie et survit au trépas! Weimar, 3. 6. 29. Ces vers expriment ce que j'éprouve en les tracant, puissiez- vous en étre persuadée, chere Jenny. Vour faithful Augusta. Eine eifrige Korreſpondenz enkſpann ſich zwiſchen den Freundinnen, die, da ſie ſich faſt durch ein halbes fahrhundert fortſpann, ein inter⸗ eſſankes Bild der Zeit gegeben haben würde, wenn ſie nicht, einem 166 gegenſeitigen Verſprechen gekreu, zum großen Teil verbrannt worden wäre. Aus der erſten Zeit der Abweſenheik Prinzeß Auguſtas finden ſich folgende Stellen aus Briefen Jennys an ſie: 1.77. 1832. . . Die Herzen der Leute der großen Welt ſind alle nach einer Form gegoſſen, die leider in allen Ländern die gleiche iſt, und in die ſie ſo genau eingepaßk werden, daß ſchließlich für nichks als für Gleichgültigkeik und Langeweile Platz übrig bleibk. 29.78. 1832. Die Erziehung ſollke die Einleikung, die Vorrede des Lebens ſein; man ſollke daraus den Iweck der ganzen Arbeik, ihre Tendenz und wenn möglich ihren Preis, ihren moraliſchen Werk kennen lernen. Darum iſt es nokwendig, daß die Eltern, ohne den klaren Himmel der Kindheik zu krüben, die Kolle des Schickſals ſpielen, ſodaß die Fehler der Kinder ſich ſo viel als möglich durch ihre nakürlichen Folgen beſtrafen; ſie würden frühzeitig dazu gelangen, nichk den Himmel der Ungerechtigkeik und die Menſchen der Falſchheik anzu⸗ klagen, wenn ſie ſehen, daß faſt immer ſie ſelbſt die Haupturſachen ihrer Schmerzen und Leiden ſind, wenn ſie in der Tiefe ihres eigenen Weſens die Urſachen des Unglücks erkennen, das ſie kriffk. Nur ſelken dürfke ihr Gewiſſen ihnen keine zu zeigen vermögen. Iſt die Vorrede eine vollkommene geweſen, ſo muß ſie, indem ſie uns eine ſichere Vorſtellung von dem Buche giebt, das Intereſſe dafür ſteigern, unſere Erwarkungen würden nicht getäuſchk werden können, und die Eindrücke, die wir vom Styl und von den Dekails erhalten, würden mehr von unſerem Herzen abhängen und von der harmoniſchen Verbindung unſerer Seele mit dem Aukor. Die allgemeine Idee, die uns die Vorrede gegeben hat, ſollke uns vor großen Ueber⸗ raſchungen und Enktäuſchungen bewahren. 12./9. 1833. Wenn man das Leben mik ſeinem Unglück, ſeiner Riedrigkeik, ſeinen getäuſchken Hoffnungen kennen gelernt hat, ſo iſt nichts natür⸗ 167 licher als die Reigung zur Miſanthropie und zur Menſchenverachtung, und dies Gefühl, das man gewöhnlich für eine Folge reifſter Er⸗ fahrungen und tiefgründigſter Gedankenarbeik anſiehk, entſprichk nur dem gewöhnlichſten Einfluß des Unglücks auf die Menſchen. Eine ſtarke und edle Seele iſt die, die ſich aus dem Schiffbruch des Lebens den Glauben an die Menſchheik und die Liebe zum Menſchen rekten konnte — eine ſtarke und edle Seele, weil ſie den Schlüſſel des Rätſels in ſich ſelbſt ſuchte und fand. 1.711. 1835. Alle großen Leidenſchafken ſind gökklicher Rakur; ſie ſind die Emanationen Gotkes im Herzen der Menſchen. Man kann ſie weder willkürlich heranrufen, noch vernichten, ſie ſind Inſpirationen des Himmels, denen wir uns unterwerfen müſſen, und die für ihren gökk⸗ lichen Urſprung dadurch Zeugniß ablegen, daß ſie über den allgemeinen Geſetzen der Rakur ſtehen und dieſe ſich ihnen unkerordnen müſſen.“ Dieſe wenigen Proben — alles andere ſchlummerk in mir unzu⸗ gänglichen Archiven — zeigen, wie weik der Briefwechſel unſerer Großelkern von dem Depeſchenſtil der Gegenwark entfernk war. Sie wollten nichk nur mit ihren fernen Freunden vereinigt bleiben, es gelang ihnen auch, weil ſie die Verbindung durch Gedankenmikkei⸗ lungen, nichk durch bloße Lebensdaten, hinker denen ſich die tief⸗ gehendſten Weſenswandlungen verbergen können, aufrecht erhielken. Außer Prinzeß Auguſta war es noch eine andere Prinzeſſin, mit der ſenny auf dieſe Weiſe in naher Beziehung blieb: Helene von Mecklenburg, ſpätere Herzogin von Orleans. Ihr Gatte war ſener franzöſiſche Thronfolger, den ein köklicher Sturz davor bewahrke, durch die Revolution ſeiner Hoffnungen beraubk zu werden. Die Schilderung ihrer Beziehungen zu Helene leitete ſenny folgender⸗ maßen ein: „ . . . Die Armuk, die Riedrigkeik darf klagen und weinen, auf den Höhen der Menſchheik regierk das Lächeln, das klagloſe Ver 168 ſkummen. Und die nichk geweinken Tränen wiegen zentnerſchwer. Mir war es vergönnt, in das Herz, in die Seele ſolch einer Märtyrerin zu ſchauen, als ſie noch unberührk war von dem giftigen Hauch des Welken⸗Schickſals, als ſie noch nichk ſelbſt mitken im Wirbelwind des Cebens ſtand. Faſt ein Kind noch, kam Helene von Mecklenburg zum erſten Mal nach Weimar. Im Andenken an ihre verewigte Mukker, Karl Auguſks liebliche Tochter Caroline, wurde ſie ganz als Kind Weimars empfangen und blieb vom erſten Tage an des Großvakers Liebling. Trotzdem dauerke es ſehr lange, bis ihr durch⸗ aus unkindlicher zurückhaltender Ernſt einem offen⸗freundlichen Weſen Platz machke. Ich gab mir viel Mühe um ſie, weil ihre kiefen, for⸗ ſchenden Augen mich reizten, ſie zu enkräthſeln. Was mir zuerſt ſeltſam auffiel, war die hinker dem kühlen Aeußeren verſteckte ſchwärmeriſche Phankaſie, deren realer Mittelpunkt damals ſchon Frankreich war. Ihre franzöſiſche Gouvernante wie die franzöſiſche Hofdame ihrer Stiefmukker mochken wohl dieſe Gedankenwelk in ihr mik geſchaffen haben, die nach und nach alles Andere verdrängke. Unſere Unkerhalkungen drehten ſich meiſk um franzöſiſche Geſchichke, franzöſiſche Likeratur, und immer, wenn ſie wieder nach Weimar kam, erſkaunte ich, welche Fülle neuer Kenntniſſe ſie ſich darin er⸗ worben hatke. Ich hakke ihr verſprechen müſſen, alles Reue, das an guken franzöſiſchen Büchern erſchien, ihr mitzutheilen oder zuzu⸗ ſenden, was dann auch gewiſſenhaft geſchah. Iein Berather war der liebenswürdige, geiſtreiche Graf Alfred Vaudreuil, der mit fran⸗ zöſiſcher Gewandtheik und Leichklebigkeik deutſchen Ernſt und deutſche Gründlichkeik verband und mir immer neben ſeinem Freunde, dem Prinzen Friedrich Schwarzenberg, von dem Ida von Düringsfeld ſo richtig ſagke: „er war immer ohne Umſtände er ſelber“, als der Typus wahrer Vornehmheik erſchien. Wir hatken bisher, wie Vaudreuil ſich ausdrückte, nur mit den Blumen und Zephyren Lamarkines ge⸗ ſpielk; jehzt gab er uns Werke von Dumas und Bickor Hugo, auch 169 las er aus Chakeaubriands Büchern vor und unterrichteke uns in der ſonſt nur in verworrenen Bildern zu uns dringenden franzöſiſchen Zeikgeſchichte. Es war auch zum Theil ſein Verdienſt, daß er uns, eine ſonſt der Politik fernſtehende Geſellſchaft, auf die Geſchehniſſe des äußeren Lebens aufmerkſam machte und uns etwas ablenkte von der ausſchließlichen Beſchäftigung mit Seelen⸗ und Herzenskämpfen. Mein Stiefvaker Gersdorff, ſelbſt ein Staaksmann, war mir gegenüber mehr Philoſoph; er meinke, Politik ſei nichts für Frauenzimmer. Als aber die erſte Kunde der Juli⸗Revolution zu uns drang, da war auch uns auf lange Zeik ein Geſprächsthema gegeben. Der Eindruck, den ſie auf uns machte, war ein anderer als der, den ſie bei der vor⸗ nehmen Geſellſchaft im übrigen Deukſchland hervorrief. Wir ſchwärm⸗ fen für die Ideen der Volksbeglückung; wir ſchwärmten für Griechen⸗ land, ſelbſt für Belgien, warum ſollken wir es nicht für Frankreich thun und in Louis Philipp den RKetker des Volksglücks bekrachten? Wer ahnte denn, daß er es nicht ſein konnte? Am intereſſankeſten war mir, mit welcher Lebhaftigkeik Goethe die Dinge verfolgte. Mein Stiefvaker ſchrieb lange polikiſche Berichte für ihn, ſo ſehr er ſonſt mit Geſchäften überlaſtek war, und unſer Diener ſagke uns, der alke Herr ſei ihm ofk aufgeregk entgegengekommen, um die Briefe ſelbſt in Empfang zu nehmen. Roch waren wir ganz erfüllk von dem Thronwechſel in Frank⸗ reich, als Prinzeß Helene wieder nach Weimar kam. Ihre Be⸗ geiſterung für Couis Philipp und ſeine „Miſſion“ ſpokkete jeder Be⸗ ſchreibung, und es dauerte nicht mehr allzu lange, ſo fing man an, erſt leiſe, dann immer lauker davon zu ſprechen, daß ſie ſeinem Sohne beſtimmk ſei. Sie ſelbſt ſprach nie davon, auch brieflich nicht, ſo offen auch ihr Herz ſonſt vor mir lag; aber ich las die Hoffnung auf Erfüllung ihres Kinderkraumes in ihren ſeelenvollen Blicken. Während ſie ſich mit ihrer Mutker in Jena aufhielt, beſuchte ich ſie häufig. Man nahm die Krankheik der Herzogin zum Vorwand des 170 Fernbleibens von Mecklenburg, während die unerquicklichen Ver⸗ hältniſſe dork es nöthig machten. In ſena verſammelte ſich bald ein geiſtig bedeukender Kreis um die Fürſtinnen; ich vermittelke die Bekanntſchafk mik meinem lieben Freunde, dem Profeſſor Scheidler, der ſeiner Taubheik wegen ſehr menſchenſcheu war, und hatke die Freude, zu ſehen, wie Prinzeß Helene ſich ihm anſchloß und ſich von ihm bilden ließ. Dork und in Weimar fühlke ſie ſich weik mehr zu Hauſe als in Mecklenburg; wäre ſie ein echtes Kind jenes ſtrengen, nordiſchen Landes geweſen, niemals häkke ſie dem Sohne des Bürgerkönigs die Hand gereicht. Obwohl ſie, wie geſagt, nie mit mir darüber ſprach, war mir dieſer Schrikk nichk unverſtändlich. Sie liebke den Herzog nicht, denn ſie hakke ihn nie geſehen, ſie war nichk ehrgeizig, dazu war ihr Charakter ein viel zu weiblicher. Was ſie wollke, ſuchte, erſehnte, war ein Beruf, eine Pflichk; was ſie glaubte, war an ein unabänderliches Schickſal, das ihr ſchon früh die Liebe zu Frankreich ins Herz geprägt habe. Sie war überzeugt, Rechk zu thun, auch als ſie mik ihrer Familie brach und wie eine Ausgeſkoßene von ihrer Heimak ſcheiden mußke. Strahlend glücklich waren ihre Briefe; ſtrahlend ſchön ſoll ihr Aeußeres geweſen ſein, ſchrieben mir meine Verwandten aus Paris, und ich freute mich ihres ſonnigen Schickſals. Erſk nach und nach gingen ihr die Augen auf über den König, über das Treiben am Hof, über die ſogenannte „Volksbeglückung“. Es ſchmerzke ſie tief, aber ſie hatke ja ihren Gatten, der ſie in keiner ihrer Träume und Hoffnungen jemals ge⸗ fäuſcht hak; ſie hatte ihre Kinder, denen ſie ſich mik der vollſken Gluth der Mutkerliebe widmete; ſie hatte Frankreich und ſeine Zukunfk! Da begann ihr Märkyrerthum. Langſam, mit fürchterlicher Grau⸗ ſamkeik riß das Schickſal ein Glück nach dem anderen aus ihren Armen, enthüllke ihr eine bitkere Wahrheik nach der anderen, bis das Ceben, all ſeiner roſigen Schleier entkleidek, ein grauſiges Skeletk vor ihr ſkand. Sie ſchauderte wohl davor zurück; aber nichk lange 171 währke es, ſo ſaß ſie wieder am Webſtuhl und ſchuf neue Hoffnungs⸗ gewänder für dies Bild des Todes.“ Jenny korreſpondierke eifrig mik Helene. Von den Briefen der Herzogin ſind eine Anzahl verwahrk worden, die aus ihrer Mädchenzeik und aus der erſten Zeik ihrer Ehe ſkammen, ebenſo einige von jennys Ankworken. Helene zeigt ſich in ihnen als eine Schwärmerin, die uns kühlen Modernen, die wir ſelbſt Empfindungen, die wir haben, ſchwer ausſprechen, ganz fremd erſcheint. Ihre ganze Perſönlichkeit wird nur dann verſtändlich, wenn wir ſie als Kind ihrer Zeik betrachken, das ſich über die Gefühlsſchwär⸗ merei der Romantik ſelbſtändig nicht zu erheben vermochte, und ihre Briefe ſind als Spiegelbild des Seelenlebens vieler Frauen jener Epoche ſo bezeichnend, daß einige von ihnen, krohz ihrer kakſäch⸗ lichen Inhaltloſigkeit, hier folgen mögen. Wenn ſenny ſich auch dem Einfluß ihrer Zeik nicht zu enkziehen vermochte, ſo unkerwarf ſie ſich ihm doch nicht. Das zeigt ſich auch in ihrem Briefwechſel mit Helene. Aus ihren Briefen an ſie ſei folgendes angeführk: 3./8. 33. „Mir giebt es neben der Rakur keine ſicherere Kunde von Gotk, als den umfaſſenden Geiſt des Menſchen, keine höhere Schwungkrafk zum Guken und Großen, als deſſen Erkenntniß in allen ſeinen Iweigen; hätte ich nur Krafk und Zeik und Gedächkniß, um Alles zu prüfen, was der menſchliche Geiſt ſeit jahrhunderten hervor⸗ gebracht hat, wie gänzlich würde dann alles Kleinliche verſchwinden! — Ich möchte keine Unruhe in Ihre Seele bringen, Ihren Glauben nicht ankaſten, denn darüber liegk der heilige Schleier der Jahr⸗ hunderte; Beweiſe ſind ſchwer, es wäge ſie daher ſeder in ſeiner eigenen Seele mit Glauben und Vernunfk ab, an der reinen Moral der Chriſtuslehre änderk es ja durchaus nichks. Mit Ihnen möchte ich herder. Schiler, den Fauſt leſen, mit Ihnen die Heſchichle, 172 die erfahrenſte Lehrerin der Menſchheik, ſkudiren, mit Ihnen die Höhen des Geiſtes und Lebens erklimmen, wo die Bruſt frei athmet und die Seele ſich rein und enkzückt zu Gotk erhebt. 3./9. 33. Wie verſchieden die Philoſophien, die Religionen, die Gedanken der Menſchen auch ſeien, in einem Spruch ſtimmen alle Vernünftigen überein: „Wer nach ſeiner innigſten Ueberzeugung Recht thut, hat vor dem Tode nichks zu fürchken.“ Dieſer Spruch muß als heiligſte Wahrheit aufgeſtellk bleiben, und ſo laſſen wir die Frage über Richks und Ewigkeit, laſſen wir die Sorge für die Zukunfk und das Grübeln über Unerforſchliches dahingeſtellk. Wir haben genug, wir haben vollauf zu thun, um Recht zu thun allerwege. 9./10. 34. Man ſollke eigentlich nur Unglück nennen, was tief in die Seele eingreift, was einen Charakter und ein Lebensglück umzuändern mächtig genug iſt, was eine bleibende Kränkung in der Seele läßt und was, wenn auch die Zeik ihren milden Einfluß übt, immer als umflorkes dunkles Bild in der Erinnerung bleibk, es ſei nun zu moraliſcher Kräftigung oder zu ewiger, innerer Trauer. Und doch, wie viele ſolcher Unglücksfälle ſtehen gerade nicht auf der Liſte der von den Menſchen im Allgemeinen anerkannten und aufgezählten, wie ofk jammern ſie vor dem Schukke eines alken Hauſes und wiſſen nichts von dem Schutke, der allein von einem ganzen, glänzenden Jugend⸗ und Lebensglücke übrig blieb!“ Unker den Büchern, die ſenny der jungen Prinzeſſin ſandke, be⸗ fand ſich auch Vickor Hugos „Hernani“, das ſie ihr nach Eiſenberg, dem Landſitz des Herzogs von Alkenburg, geſchickt hatte. Darauf beziehk ſich folgender Brief Helenens: Eiſenberg, den 10. April 1834. „Empfangen Sie meinen herzlichſten Dank, mein theures Fräulein, für die Freude, die mir Ihre Güte bereikeke, und käuſchen Sie nicht meine Hoffnung, die verkrauensvoll auf Ihre Rachſichk rechnete, als 173 Ihr Büchlein Tage und Wochen — ja — Monake bei mir ruhke. Meine Entſchuldigung kann nur in der Vorliebe für dieſes Werkchen und in dem ſicheren — vielleicht zu ſicheren Glauben an Sie beſtehen. Rein, ſicher genug kann nie der Glaube an die liebe ſenny ſein! Ein Herz, wie das Ihre, kann vergeben, wenn man ihm edelmütige Geſinnungen zukrauk, und wird vergeben, wenn ich ſage, daß ich der Beſitzerin wegen das Büchlein hoch hielk, und des Inhalks wegen mir der Abſchied ſchwer fällk. Sie ſind der freundliche Engel meiner Cektüre geweſen, bleiben Sie es und deuken Sie mir, ich bitte Sie, die Schriftſteller an, die Ihnen vielleichk noch Graf Vaudreuil als empfehlenswerth nannke, ehe er ſchied; denn ſeinem Geſchmack, glaube ich, dürfen wir getroſt folgen — und die Perlen der neuen franzöſiſchen Likkeratur noch mehr kennen zu lernen, iſt mein lebhafter Wunſch. Rechk lang ſcheink mir die Zeik, die ſeik unſerer letzken Begrüßung liegk; ich glaube, es war auf dem Kinderball, wo Sie des kleinen Findlings Schutzgeiſt waren; ein unfreundlich Geſchick krennke uns ſeitdem; doch hoffe ich, Sie verbannen mich nicht ganz aus Ihrem Andenken, denn hak man ſich einmal gefunden, ſo mag Zeik und Raum kämpfen, Ein freundlicher Skern leuchtet ſegnend am Horizonk und führk zuſammen hier oder dork. So unendlich glücklich und froh ich hier im liebenden Kreis der Familie lebe, ſo ſehr werde ich mich dennoch freuen, mein liebes Weimar, mik ſeinen freundlichen Bewohnern wieder zu begrüßen, denn ihm gehörk ein großer Teil meines Herzens, — Sie, liebes Fräulein Jenny, wiederzuſehen, wird mir eine wahre Herzens⸗ freude ſein. Ihre Helene.“ Etwas ſpäker bekam Zenny ein Gypsrelief der Freundin mit dieſen Zeilen: Ludwigsluſt, den 27. Sept. 1834. „Um einen freundlichen Blick meiner lieben ſenny möchke ich bikken, indem ich ihr das unbedeukende Dingelchen in die Hand drücke, 174 welches meine Züge vor ihre Augen führen möchke. Ruhen ſie von Zeik zu Zeik auf den kalken koten Gyps, ſo werden ſie auch Leben hinein hauchen und die Seele hervorrufen, die es verbirgt, die die Ihrige liebk und verſkehk und ſich in froher Vergangenheit vertrauk mit ihr fühlke. Mag auch jene Vergangenheik immer mehr zur Vergangenheik werden — mögen gleich kauſend Eindrücke das Gemük berühren, ſie wird nimmer zurückgedrängt, ſondern wie ein Glanzpunkt meines Lebens mir teuer und unvergeßlich bleiben. Sie, liebe ſenny, waren eine der freundlichſten Erſcheinungen derſelben, und Ihr Andenken wird ſich nie verwiſchen, es erweckt nur den Wunſch in mir, Ihnen näher kreken zu können, und tiefer noch in ihre liebliche zarke Seele blicken zu dürfen. Sollke uns auch eine lange Zeik krennen, ich glaube, wir werden uns doch immer wieder verſtehen und gleich nahe ſtehen. Meine innigſten Wünſche für Ihr Glück werden Sie umgeben. „Es gehe dir nie anders als wohl“, ſage ich mik Zean Paul, „und die kleine Frühlingsnachk des Cebens verfließe ruhig und hell — der über⸗ irdiſche Verhüllke ſchenke dir darin einige Sternbilder neben dir und nichk mehr Gewölk als zu einem ſchönen Abendrok vonnöken iſt!¹ Denken Sie, wenn Ihr Herz ſich freut, auch einmal an Ihre Helene.“ Bald darauf wurde Helene von einem für ſie, der die IRutter ſchon ſehr früh geſtorben war, doppelk großen Unglück bekroffen, das wie eine Vorahnung des künftigen, noch größeren, erſcheink: infolge eines Skurzes vom Pferde ſtarb ihr zärtlich geliebter Bruder Albrechk. Jenny ſchrieb ihr voll warmen Mitgefühls und bekam dieſe Ankwork: Ludwigsluſt, den 12. Nov. 1834. „Den innigſten, den liebewärmſten Dank meiner lieben keilnehmenden Jenny für die Worke, die Sie in meinem Schmerze zu mir reden, und die in ihrer ſeelenvollen Tiefe mich ſo innig rühren und erheben, 175 daß ich ſie ofk wieder durchleſe. Ihr Herz wird durch Gotkes Gnade vor einem ſolchen Verluſt bewahrk werden. Er, der Sie liebt und ſchützt, wird Sie durch freudigere Wege zum Ziele führen, deſſen ſtiller Sinn ſchon in ihrem edlen Gemüke liegk. Das iſt mein Wunſch, denn ſe mehr ich leide, je mehr möchte ich die, die mir keuer ſind, mit Freude und Glück umringen können. Ach, aber blicke ich im Geiſte hinein in Ihr tiefes dunkles Auge, dringe ich in die Schriftzüge, die mir Ihre Grüße und Worte der Liebe brachken, — ach, da ergreifk mich ein ſchmerzvoller Klang aus kiefem verborgenem Quell, und ich muß weinen, um Sie weinen, um die Klage Ihres eigenen Herzens. Sie weinen gewiß oft, meine liebe ſenny, aber in Ihren Thränen brichk ſich der Strahl des Himmels und die Ielancholie, die das Gepräge Ihres ganzen Weſens iſt, die Sie umgiebk wie ein Glanz des Mondes, ſie zieht Sie ab von der tändelnden Richtigkeik des Tageslebens, und enthüllt Ihnen in eigner Bruſt das Leben der Liebe, das ewig Rahrung gebende Prinzip, das vom Himmel ſkammend uns Tatkrafk und Muk in den Kämpfen, Ergebung eines Kindes in den Fügungen, Glaube und Freudigkeik in jeglichem Wechſel des Lebens verleihk. Die Leichtfertigkeit der faden Welk verletzk das verwundeke Gemüt — ich weiß es und Sie müſſen es empfunden haben, drum hinein in's eigene Sein, in das Herz — „my heart my only kingdom is“ . . Ciebe jenny — mir iſt das Herz ſo voll, daß meine Worke mir immer dürr erſcheinen — Worke ſagen wenig, die Sympathie verſteht aber auch kaum angedeuteke Gefühle. Ich möchte Ihnen die Hand reichen über die weiken Fernen hinüber — wir ſind beide bekrübt — ich weiß nicht, warum ich Thränen in Ihren Worken leſe, käuſche ich mich, ſo danke ich Gott, wenn er Ihnen einen froheren Weg zeigt als mir. Sagen Sie es mir, wenn Sie glücklich ſind, und Sie finden gewiß ein Lächeln der Freude in meinem getrübten Gemük. — Sind Sie geprüft, nun ſo blicken wir vereink hinauf, von wo uns Hülfe kommk. Gotk mik Ihnen und Ihrer Helene. 176 Mein Brief war geſiegelt, da öffnete ich das Zeitungsblakk und fand die Todesnachricht des Grafen Vaudreuil! Richks konnke mir unerwarkeker ſein, heute noch dachte ich an ihn, an ſeine Liebens⸗ würdigkeik und freuke mich ſeiner Bekanntſchaft, nun iſt auch er hin⸗ übergezogen in das „ſtille Land“. .. Was wird jetzk aus Ihrer kleinen Marguerike, die er ſo liebte! Könnke ſie doch zu Ihnen! Aus dem folgenden Zahre ſkammt ein acht Seiken langer Brief, der nichks iſt als ein einziger Gefühlserguß und durch Jennys Ge⸗ ſtändnis ihres kraurigen Herzensſchickſals hervorgerufen wurde. Er beginnk: Cudwigsluſt, den 4. Febr. 1835. „ein Herz krieb mich zu Ihnen, liebe verkrauensvolle enny, ſeik Sie meinem Blick erſchienen ſind, wie viel mehr ſeit Ihre holde reine Seele der meinigen ihr Leben, ihr keuerſtes Geheimniß anverkraute und damik Gegenliebe dem liebedürſkenden Gemüte bewies . . . Ja, ich irre ſicher nicht, Sie wußken es längſt, welchen wehmütigen Lebens⸗ glanz Ihr Brief auf mein Herz geworfen hatte, Sie wußken, wie innig ich Sie liebe, ſeik ich mik Ihnen geweink . ..“ Die Verbindung zwiſchen Beiden blieb über alle Freuden und Leiden des Lebens hinaus beſtehen, wenn es auch zweifellos iſt, daß hier, wie im Verkehr mit Prinzeß Auguſta, ſenny die Gebende war, die anderen die Empfangenden. Ihre Briefe, von denen leider ſo wenige erhalken blieben, ſind ſtets die ſtärkſten Emanakionen ihrer Seele geweſen. Die Form des Briefes wählke ſie auch da am liebſten, wo ein größeres Publikum der Adreſſak war, wie z. B. im „Chaos“ und ſpäker im „Wilhelmsthaler ſournal“. Für die Hofgeſellſchafk war dies ein likerariſcher Mitkelpunkk geworden, wie das „Chaos“ es für Oktiliens Kreis geweſen war. Manche jener ſchwärmeriſchen Briefe der Herzogin Helene fanden Aufnahme darin; da jedoch das Blatk nicht gedruckt wurde, ging der größte Teil ſeines Inhalks verloren. Im Schatken der Titanen. 12 177 Von ſennys Beikrägen dagegen iſt viel erhalken geblieben: Re⸗ flexionen, Erinnerungen an Perſonen und Bücher, Erzählungen, Märchen, auch Familienſagen und Anekdoten, die von den verſchiedenen Gäſten erzählk und von ihr feſtgehalken worden waren. Gerade dieſe kenn⸗ zeichnen die Richtung einer Zeik, der die napoleoniſche Epoche noch ſo nahe war, daß Lebende ſich ihrer erinnern und von ihr erzählen konnten, und in der Kriege aller Ark die Gemüter erregten. Alte Offiziere Rapoleons erzählken von ihm; andere, wie Prinz Friedrich Schwarzenberg und Alfred von Pappenheim, berichtetken von ihren Er⸗ lebniſſen in den ikalieniſchen, polniſchen und kürkiſchen Feldzügen, oder im griechiſchen Freiheikskrieg. Auch die romankiſch⸗myſtiſche Reigung der Zeik kam zu ihrem Rechk: der Eine wußte von dunklen Schickſalen zu berichten, die wie ein ehernes Fakum über beſtimmten Familien ſchweben, oder von geheimnisvollen Einwirkungen einer unſichkbaren Welk. Und während ſo die bunten Bilder des Lebens und der Phantaſie an den geiſtigen Augen der Zuhörer vorüber⸗ zogen, ſaßen die jungen Mädchen ſtill im Kreiſe und ſtickten Vergiß⸗ meinnichk und Roſen mit glänzenden Perlen auf Brieftaſchen und Geldbeukel für die, die ihrem Herzen nahe ſtanden. Nur ſenny ſkützke zumeiſt, ihrer Gewohnheik gemäß, das Köpfchen auf die feine, ſchlanke Hand, denn ſie konnke ſich nie mik dem, was man weib⸗ liche Handarbeik nennt, befreunden, die ihrem künſtleriſchen Geſchmack widerſtand. Lieber nahm ſie den Bleiſtifk und das Skizzenbuch und porkrätierke die Anweſenden. Ihr Talenk dafür war ein nichk ge⸗ wöhnliches. C. A. Schwerdgeburth, der das letzte Porkräk Goethes zeichneke, war ihr Lehrer, und eine Mappe voller Bildniſſe aus dem Ende der zwanziger Jahre ſpricht noch heute für den Cehrer wie für die Schülerin. Erfindungs⸗ und Darſtellungsgabe zeigen ihre kleinen Erzäh⸗ lungen für das „Wilhelmsthaler ſournal“, wenn auch der ſchwärme⸗ riſch⸗ſentimentale Inhalk ſie uns heuke ſchwer genießbar macht. Was 178 ſie dagegen in der Form freundſchaftlicher Briefe an Erfahrung und Cebensweisheik bok, läßt es erſtaunlich erſcheinen, daß ein ſo junges Mädchen die Verfaſſerin ſein konnke. Iwei dieſer Briefe mögen hier folgen. Im erſten, der Ankwork auf ein in den Schleier der Anonymitäk gehüllkes Schreiben Karl Alexanders, gibk ſie ſich als alke Frau. Er lautek: „Wie guk ſteht es der zugend, wenn ſie ihre Spiele, ihr Lachen, ihre Thorheitk vergißk, um dem krüben, ernſten Alker ihr Leben und ihre Farbe zu borgen; ſie gleicht dem Epheu, der mik ſeinem friſchen Grün den ſterbenden Stamm umſchlingt, dem wilden Wein, der ſich zärtlich um die Kuinen der Jahrhunderte windek. Sie kommen zu mir mit der Güte der erſten zugend, mit den liebenswürdig höflichen Formen der großen Welk; Sie bitten um Verzeihung wegen Ihrer Gabe, Sie enkſchuldigen ſich Ihrer Liebenswürdigkeik wegen, mit dem Mankel der Demuth wollen Sie Ihre Gefälligkeik bedecken, für die Sie mir den Dank zu erſparen ſuchen; krohdem ſollen Sie ihn haben und offenherzig haben: ich danke Ihnen für Ihren reizenden Brief, ich danke Ihnen, daß Sie einen jener glücklichen Augenblicke erfaßt haben, die ich dem Anſchein nach für dauernd halken würde, die dem Ausdruck der Gedanken ſo günſtig ſind; ich danke Ihnen ſogar für den Krieg, den Sie gegen die Einſamkeik und das Gefühl er⸗ öffnen — denn, haben Sie nie von jenem magiſchen Trank gehört, der plöhzlich verjüngt, von jenen Skreichen mit dem Zauberſtab, die ſene Hexerei der Zeit, Alter genannk, verbannen? Run denn, mein Herr, Ihre Worke enthalken dieſe magiſche Krafk; meine Krücke werfe ich fork, ich richte den gebeugten Rücken auf, meine grauen Haare färben ſich wieder, meine Stimme wird ſtark und jung und ruft Ihnen den Kriegsruf entgegen; jawohl, den Kriegsruf, denn Sie haben den Troſt und die Freude meines ganzen Lebens angegriffen; Ein⸗ ſamkeik, dunkle Wälder, Gedanken, die das Herz erforſchen und unter der ſichtbaren Form der Thaten in das tägliche Leben eingreifen; 179 12* das Alles verdammen Sie mit dem einen Work: Sentimenkalikät. Erinnern Sie ſich der Worte von Caſimir de la Bigne an Lamartine: Pourquoi-donc trop séduit d'une fausse apparence Nommer la liberté, quand tu peins la licence? Mein Herz erkennk dieſe Entheiligung des Gefühls, Sentimenkalität genannt, nichk an: zwar ergeht ſie ſich gern in der Ratur, hak ſtolze Worke für die Schönheik des Waldes, heiße Thränen für den Tod einer Blume, doch das wahre Gefühl allein hak Krafk und Thaken⸗ Die Rakur in ihrer Prachk und Schönheik hat für dieſe Kinder des menſchlichen Geiſtes zwei verſchiedene Sprachen, ſie ſagt der Senti⸗ menkalität: „Athme dieſes weiche, unbeſtimmte Glück der Lüfke, der Sonne, der Blumen ein, mache eine Ode daraus, ſinge ein Lied dafür, und vor Allem entſinne dich alles deſſen, was Andere in ähnlicher Lage empfunden haben, um auszuſprechen, wenn du nicht ſo fühlſt“, dann wirfk ſie ihr einige Keime, wie „Herzen — Schmerzen, Thränen — Sehnen“ in den Schoß, machk ihr ein Recepk nach ihrem Geſchmack: kräumeriſches Schmachten, Blicke gen Himmel, ſüße Traurigkeik und, ſiehe da, die Senkimenkalikät iſt fertig! Sie brauchk weder Vernunfk noch Stärke, ſie kümmerk ſich weder um die Seele noch um den Rächſten, ſie badek ſich wohlgefällig in dem echten oder künſtlichen Genuß des Augenblicks — ich überlaſſe ſie Ihnen, mein Herr, wir wollen ſie zuſammen richten, und alle Kräfke unſeres Geiſtes ſprechen ein furchtbares „Schuldig“ gegen ſie aus. Aber das iſt nicht die Lehre der Rakur, der Einſamkeik für das echte Gefühl; dieſe Sprache iſt in anderen Sphären enkſtanden, ihre Worte verlangen Thaken: „Mein Donner, mein Sturm predigk dir Gotkes Macht, meine Tannen und Eichen predigen dir ſeine Größe, meine Felſen, die Pfeiler der Schöpfung, predigen dir ſeine Kraft; mik den Strahlen der Sonne ſendek er dir ſeine Liebe und Güke, in ſede Blume, in jede Vogelfeder hak er die heiligen Geſetze ewiger Ordnung eingeſchrieben, und du, Widerſchein ſeines Geiſtes, du wagſt 180 es, ſchwach und ſchüchtern zu ſein; erhebe dich aus deinem kleinen irdiſchen Leid, ſchau um dich, auf dieſer reichen Erde giebt es Weſen, die hungern, die frieren, geh, hilf ihnen; du haſt Brüder, die dich beleidigken, dein Herz brachen, dein Leben zerriſſen, geh, vergieb ihnen; ſiehſt du furchtbare Irrthümer, ſchreckliche Verirrungen, geh und bekämpfe ſie; du ſeufzk, du wankſt unter der Laſt deiner Thränen; ſchnell, krockne ſie, und dann vorwärts, vorwärks ohne Furcht! Der Reid, der Leichtſinn, die Selbſtſucht ſchlagen Wurzel in deinem Herzen, reiße dieſes Unkrauk aus, du darfſt nicht, nein, du darfſt nicht ſchwach und klein ſein inmikken der Unendlichkeit!“ Die Ratur hak dem Gefühl ihre Predigt guk gelehrk — nicht wahr, ſie verdienk die Prieſterweihe, wir werden ihr die erſte freie Oberaufſicht anverkrauen; ich freilich werde verlieren, da ich ſie bisher allein meines Hauſes Hüter, meinen Lehrer und Beichtvater nannte, aber ich opfere mich der Geſammtheik und werde ihren Worten folgen, die ſie zu Allen ſpricht. Während meiner langen Wanderungen zog dieſer unſichtbare Prieſter meine Seele vor Gericht, wir ſprachen mit einander über mein Ceben, über meine Schmerzen und die Schmerzen Anderer, wir theilken ſie in zwei Hälften und nannten die eine Schickſal; ſie enthielt alles Leid, das wir nicht ändern können; die andere Hälfte trug verſchiedene Tikel, wie: Pflichten, die zu erfüllen, Fehler, die zu ver⸗ meiden ſind, und zum Schluß den Wahlſpruch: kämpfen! Und wenn ich mich in Theorien verlor, wenn Gedanke ſich auf Gedanke thürmte, ſo hoch, daß die Erde drohte zu verſchwinden, hielk mein Führer mich zurück und zeigke mir eine Tanne, die ſich ſtark und gerade zu den Wolken erhob. „höre die Geſchichke dieſes Baumes“, ſagke er, „vergiß nicht, eine Lehre für dich darin zu finden, und wende ſie, die von oben kam, hier unten an,“ Auf ſeinen Flügeln krug der Weſtwind die Samen zweier Tannen bis zu jenem Hügel, und bald entſchlüpfte das Ceben 181 dem Kerker und erſchien grün und friſch in den Strahlen der Sonne. Die eine von ihnen war bezauberk vom Anblick des blauen Himmels, von ſeinem wunderbaren Glanz, und beſchloß, ſich bis zu ihm zu erheben. Sie ſtrengte alle ihre Kräfte an, ſie wuchs, zum Reide ihrer Rachbarn, mik fabelhafker Geſchwindigkeik zu nie geſehener Höhe. So lange nur der Zephyr mit ihr ſpielke, freuke ſie ſich ihres Wachsthums, doch als der Sturm nahke, ſchlug ſein hochgeſchwungenes Scepker mik einem einzigen Schlag den ehrgeizigen Skamm zu Boden.“ Sein Genoſſe war viel kleiner als er; er hatte, während er wuchs, nie ſeinen Urſprung vergeſſen und feſt die Wurzeln in die Erde ge⸗ ſenkk; er widerſtand dem Sturm, er wuchs empor, er ſah jahrzehnte ihn bewundern, doch nie in ſeinem höchſten Kuhm vergaß er die Erde. Des Himmels heiliges Lichk nährte ihn, doch was er empfing, gab er der Erde als Krafk und Geſundheik zurück, ſie brachke ſeinen Wurzeln den Saft und er gab ihn als Schönheik und Größe dem Himmel wieder.“ Ich liebte die Lehren meines Predigers, ich dachte ihrer ſteks, und ich ſchämte mich ſehr, wenn ich bei der Kückkehr von meinen langen einſamen Spaziergängen keinen guken Rath für den, der ihn bei mir ſuchte, kein Hülfsmittel für den Leidenden, keinen Troſk für meinen Kummer gefunden hatte, kurz, wenn ich keinen Gedanken der Thak aus meinen dunklen Wäldern heimbrachte. Wie guk ver⸗ ſtand ich die Sage der Alten von der Göktin der Wälder, deren Diener auf glühenden Kohlen ſchrikten, ohne ſich zu verbrennen; die Kohlen ſind die Proben des Lebens, die ihre geflügelken Füße kaum berühren. Und doch bin ich ein Weib, der Kreis meiner Thätigkeit iſk eng begrenzt; es kommk vor, daß ich nur mein Herz zu unter⸗ ſuchen habe, daß mein Rath, meine Hülfe nichk geforderk wird, dann denke ich manchmal an alles das, was mein Prediger mir zu ſagen hätke, wenn ich über Andere geſtellk wäre, wenn ich einer jener Männer wäre, die von Tauſenden geſehen werden, an denen die 182 Hoffnung von Tauſenden hängk, von denen ſie mit Rechk Glück und Troſt verlangen; wie viel würde er zu thun haben, um mich von Stadk zu Stadk zu führen, ihre Einrichtungen, ihre Leiden, ihre Wünſche kennen zu lernen, um meine Gedanken von der Haupkſtadt zum Dorf, vom Verbrechen des Einen zur Arbeik des Anderen zu führen; zu wiſſen, ob der Bürger Handel kreiben, der Bauer ſein Feld beſtellen kann, ob die Behörden der Gerechtigkeik dienen, die Thatkrafk das Grundgeſetz des Landes iſt, was der Boden krägt und kragen könnte; ferne Reiche aufſuchen, um dork zu finden, was dem meinen nützlich und angenehm ſein könnte; die Univerſitäten, die Schulen im Auge behalken, um in der jungen Generation den Samen einer ernſten Erziehung zu ſäen, den Keim einer einfachen, ſkarken Moral einzupflanzen. Doch genug der Predigk! Vorwärks ihr kleinen Rymphen des Waldes, ihr kleinen Dämonen der Unkerwelk, ihr kleinen Elfen der Blumen und des Waſſers, zu euren Tänzen, euren Spielen und Poſſen! Bringk uns die Freuden eurer Wälder und Haine, naht euch auf den Sonnenſtrahlen, die durch die Blätter kanzen, die ſich hinker Baumſkämmen verſtecken und die ſich, wenn man ſich gut mit ihnen ſtellk, auf dem Papier, dem Anklitz, den Augen niederlaſſen; ſchnell eine Wendung, und die Schatken breiker Blätter zeichnen ſich auf dem Schoß, ein leiſer Weſtwind rührk den Iweig und wieder kanzk der Sonnenſtrahl vor dir, enkreißt dir neckiſch den eben ge⸗ ſponnenen Gedanken und enkflieht mit ihm. Du ſkreichſt mik der Hand über die Stirn, du erfaßt ihn wieder, du bringſt ihn zu Papier — huſch — ein kleiner Dämon wirfk dir eine Hand voll geflügelter Teufelchen zu: rothe, grüne, blaue, bunke, vielfarbige, kurze und lange, kleine und große, eine ganze Sammlung niedlicher Käfer, des An⸗ ſehens werth. ſehzt gilt's ein wenig träumen — da ſchleuderk ein Dämon, ein böſer Dämon einen mächtigen Kaubvogel durch die Cüfte gerade auf eine arme Taube zu, nun fühlſt du die Erſchükkerung 183 des Trauerſpiels in deiner Seele, dein Herz ſchlägt, du nimmſt die Partei der Schwachen, du möchteſt der Unſchuldigen zurufen: Komm zu mir, ich kann dich beſchützen! — aber der Räuber und ſeine Beute ſind verſchwunden, der Ausgang bleibk dir unbekannk — man denkt noch einen Augenblick an den Tod, an die rohe Gewalk, an das Unglück, um zu ſeinem Buch zurückzukehren. Man läßt die Käfer ſummen, die Sonnenſtrahlen auf der Stirn kanzen, man ſieht nicht einmal nach dem Eichhörnchen, das ſich vor unſerem Anblick erſchreckt, man will leſen — Rymphen, Dämonen, Elfen tanzen und ſpielen, man beachkek ſie nicht, da ſammeln ſie einen Vorrath ſüßer Gerüche, ſie ſuchen in den Tannen, den Blumen, im Heu, in der Lufk und kehren beladen zurück — lebk wohl, Fleiß, Buch, Ernſt, kiefe Ge⸗ danken — die Träume kommen wieder und all die kleinen Geiſter der Ratur triumphiren! O, dieſe lieben kleinen Schauſpieler, die Niemand bezahlt, dieſe reizenden Feuerwerke, die keinen Pfennig koſten, dieſe geiſtreichen Unkerhaltungen ohne Verleumdung und Klatſch, dieſe friſchen, ſtrahlenden Gewänder, die Keinen zu Grunde richten, dieſer liebliche Dufk in all den weiken Räumen, dieſe herrlichen Con⸗ cerke der ſelbſtloſen kleinen Sänger! — Run, mein Herr, was ſagen Sie zu den heimlichen Freuden dieſer melancholiſchen Einſamkeik? Ich bieke Ihnen Oper, Drama, Ballek, Feuerwerk, ich bieke Ihnen Unkerhaltung, Predigt und Farben und Diamanken, ſo viel Sie wollen, und lebende Blumen und wahre Freuden, und all das ſtark und ſchön und groß, und doch habe ich noch die Seele des Freundes vergeſſen, der dazu gehörk, das Herz, das ein Theil des unſeren iſt, die Augen, die die unſeren wiederſpiegeln, die ſanfke Hand, die unſere Thränen trocknek; ich will nicht davon ſprechen; für den, der es erfuhr, iſt es bekannk, daß Gotk uns über ſolche Freuden ſchweigen heißt, er gab uns keine Worte, um ſie auszudrücken. Ich bin nur eine alte Prophetin an dem Alkar des Lebens, der Kummer hat mich inſpirirk, im Kummer verſchrieb ich mir ſelbſt die 184 Mitkel dagegen und ich habe ſie erprobk. Sie, Sie ſind jung, es iſt guk, es iſt nakürlich, daß Sie die Städte und die Welk und die Sonne und die lachende Landſchafk lieben, deren Freuden keine Ayſkerien ſind; doch all das thuk den Augen weh, die viel geweink haben, ſie brauchen Schakken und Stille; nach einem erfahrungsreichen Ceben ziehk mein Alker die Bäume den Thürmen und Dächern, die Deco⸗ rationen des Schöpfers denen der Menſchen vor. Doch ich ſehe voraus, daß mein Predigen, mein Klagen und Fabeln die Faden Ihrer Geduld faſt ganz zerriſſen hak; zunächſt den, welchen Sie meinem Alter gewährten, wie meinem Geſchlecht und meiner Freundſchaft; ſo halte ich mich nur noch an dem einen ſtarken Faden Ihrer Güke, wenn dieſer mich nicht aus dem Abgrund der Ungnade emporzieht, bleibk mir keine andere Hülfe und ich verliere die Hoffnung, mich ferner nennen zu dürfen Ihre ganz ergebene Schwäherin vom Walde. Der zweike Brief war auch an einen jungen Freund gerichtet: „Denken — —. Unter zehn Menſchen können nicht zwei denken, und ein richtiger, wahrer Denker findek ſich noch unter kauſend nichk — und ich ſage tauſend Deutſche — die denkendſte unter allen Nationen. Denken — die meiſten Menſchen haben noch keinen Begriff, was dieſes Work in ſich faßk — alle Fähigkeiken des Geiſtes auf einen Gegenſtand heften, ihn durchdringen, ihn von allen Seiken beleuchten, ihn dem Für und Wider des Scharfſinns wie einer Waſſer⸗ und Feuerprobe unkerwerfen — ihn durch anderer Menſchen Weisheit behukſam durchſichten und dabei recht Achk haben, daß uns nichts Falſches imponire, nichks nur Liebliches irre leite, daß nichts Aeußerliches uns unterjoche — die Vernunfk als Menkor nie aus dem Auge laſſen — dann das Herz reinigen von Rebenabſichten und 185 in letzter Inſtanz an das Gefühl als Beſtätiger appellieren — dies iſt, meines Erachtens, der Proceß des guken und nützlichen Denkens. Zuerſt ſei unſer Denken auf uns ſelbſt gerichkek — wir ſind das wichtigſte Studium für uns ſelbſt. Haben wir ſchon einen Charakter oder nur die Fähigkeiken dazu? d. h. iſt unſer Inneres mik beſtimmten Skrichen gezeichnek und hingeſtellk — oder iſt es noch ein Chaos, in dem ſich die Elemente kreuzen, ſkoßen, verwirren? Wiſſen wir ſchon, was aus uns werden kann und muß? oder haben wir von der Wiege an Tag für Tag hingeſpielk und genießend oder leidend hin⸗ weggelebk? Haben wir einen Lebenszweck? Skehen wir und unſere Beſtimmung als Ganzes vor uns? Sind wir Arbeiker oder Müßig⸗ gänger im Weinberge des Herrn? — Was haben wir gethan, ſeik⸗ dem wir von der Welk etwas wiſſen? was haben wir in unſerem Beruf geleiſtet? was haben wir vor Allem an uns ſelbſt hervor⸗ gebrachk? welche Fähigkeik entwickelt, welche Fehler zurückgeworfen, welche Tugend gekräftigt? Haben wir uns ein Bild gemacht von uns ſelbſk, was wir erreichen können, haben wir danach geſtrebt, es einſt in höchſter menſchlicher Vollkommenheik darzuſtellen? — und dürfen wir ohne zu erröthen uns ſelbſt im Innerſten der Seele be⸗ ſchauen? Und wenn nein auf alle dieſe Fragen erfolgte, und wenn wir noch nichks gedacht, erreicht, begonnen oder erſtrebk hätken — nun denn friſch ans Werk — es iſk immer Zeik; aber klar und ſtark und muthig muß man daran. Wehe dem, der ſich nicht herausraffen känn aus der ſchlaffen Sinnesexiſtenz, wehe dem, der ſeine Kräfte verſauern läßk im Kochtiegel des käglichen Waſſer⸗ und Broklebens, er wird auch an das Cebensziel angeſchlenderk kommen, d. h. er wird gegeſſen, gekrunken, geſchlafen haben und dann geſtorben ſein, aber er weiß nichts von neuen blühenden Gefilden im innerſten Sein, er weiß nichks von den reichen Fruchtgärken der Wiſſenſchafk, er weiß nichts von dem edeln Selbſtgefühl, das zu Gotk aufſieht und ſagk: Herr, ich war ein Kind, und vor dir und durch dich bin 186 ich zum Manne geworden; Herr, ich war arm, und vor dir und durch dich bin ich reich geworden; Herr, ich klebke an der Erde und war erdrückk von ihren Sorgen und ihrem kleinen Treiben und ihren elenden Inkereſſen, und vor dir und durch dich habe ich mich empor⸗ geſchwungen und kenne eine höhere Heimath und ein höheres Ziel! Wie ruhig ſchauk der irdiſch vollendete Menſch auf die Ewigkeik; und wäre ſie nicht, und käuſchke uns die eigene Seele über eine Zukunft ihres Lebens, doch hätten wir auch hier ſchon ſchöneren Gewinn, denn ſo eng iſt die Tugend und das Recht in der Sphäre unſerer irdiſchen Laufbahn mik der höheren Tugend, die nur auf die Ewig⸗ keik ihre Credikbriefe zieht, verſchwiſtert, daß der Menſch, der in ſich hoch ſkeht, ſchon einen erhöhten Skandpunkt im Kreiſe der menſch⸗ lichen Geſellſchafk einnimmk, und er wird ihm inſtinktmäßig von ſeinen Iikmenſchen ohne Geſetz und ohne Iwang eingeräumk. Die⸗ ſelbe Weisheik, die ſeine eigene Seele erzieht, dieſelbe Vernunfk, die ſeinem Herzen Geſehe giebk, thuk ſich auch kund in den Handlungen, die er in die äußere Welk hinausſchickt, ſo wird ohne ſein Zuthun, ohne welkliches Inkereſſe ſein Wirkungskreis erweiterk, weil er in ſkekem Verkehr mik ſeiner Vernunfk iſt, werden auch ſeine bloß welk⸗ lichen Handlungen vernünftig ſein. Weil er denken gelernk hat, wird er auch die käglichen Lebensereigniſſe beſſer durchdenken und leiken können als ſein nicht denkender Bruder, und ſo dienk ihm zum irdiſchen welklichen Wirken das erſtrebte Große in ſeiner Bruſk. Dem Rebenabſichtsloſen verkrauen die Menſchen, den eiſern Tugendhaften ſuchen ſie ſich zur Skütze, dem Wahren glauben ſie, dem Edlen unkerwerfen ſie ſich; hak alſo der Menſch ſich ſelbſt be⸗ meiſterk, erkannk und gebildek, ſo fällk ihm von ſelbſt die Herrſchaft über Andere zu, und nun kann er ſein Leben ausfüllen, nun kann er Gutes ſtifken, nun kann er jeden Tag einen Kranz des kreuen, guken Wirkens auf den Alkar ſeines Gottes legen — da iſt das Leben nicht mehr leer, öde und wüſt und langweilig, da braucht 187 man des Frivolen nicht mehr, um die ſchöne heilige Zeik zu ködten, ſie ziehk nichk mehr zürnend, rächend, ſtrafend vorüber, ſie ſchüttek freundlich ihr Füllhorn aus vor unſere Füße, und jede Stunde winkt gern ihrer Schweſter, daß ſie uns neue Gaben ſpende. Dann erſt ſehen wir mik kiefem, wahrem jammer hin auf die armen Menſchen, die ſo gar nichts vom eigenklichen Leben wiſſen, und wir möchken ſie herbeirufen und heranziehen und ihnen die Schätze in ihrer eigenen Seele zeigen, und ihnen begreiflich machen, daß ſie die Taſche voll Ducaken haben und ſich mit Zahlpfennigen herumplagen. Wohl dem der dieſer Stimme folgk und nichk blind iſt ſeinem eigenen Heile, der nicht, wie Mummius in Athen und Korinth, ſein reichliches Mahl verzehrk und den Beukel mik ſchlechken Drachmen füllk, während die ſchönſten Werke des Alkerthums unbeachtet oder verſkümmelk oder mik roher Gleichgültigkeik auf den Straßen gelaſſen oder auf die Schiffe als Ballaſt gepackt wurden. Was ofk den erſten Schrikk hinderk auf dem Wege der Selbſt⸗ erkenntniß und der Veredelung, iſt ein gewiſſes Ungeſchick im, ich möchte ſagen, Mechaniſchen des Werkes, man weiß die Ark, die Stunde, die Gelegenheik nichk; aber Gelegenheit iſt der erſte Gedanke und Enkſchluß, jede Stunde iſt guk, und die Ark verlangk nur Beharr⸗ lichkeik, Geduld und Klarheik. Man ſetzk ſich hin und beſchauk ſeine Seele wie einen fremden Gegenſtand, man machk ſich eine Liſte der Fehler, der guten Eigenſchaften, der Schwächen, der Fähigkeiken, die man hak. Iſt man heftig und aufbrauſend, ſo muß dieſer Fehler ganz gemildert werden — das thuk die Vernunft, wenn man ihr ununterbrochene Wache gebietek —, und iſt er gemildert, ſo muß von ſeinem Feuer ſo viel Krafk übrig bleiben, daß es unſere Thätig⸗ keik aufregk und uns friſchen Enthuſiasmus für das Guke giebk; iſt man neidiſch, ſo muß dieſer Fehler fotal weg, davon kann kein gutes Hälmchen kommen, er muß mit der Wurzel heraus — zu dieſem braucht man nichk allein Vernunfk, ſondern auch Gefühl; da 188 muß die Rächſtenliebe eingreifen und geſtärkk werden und mik un⸗ unkerbrochener Sorge wachen, daß der häßliche Gaſt unter keiner Form und keiner Maske ſich einſchleiche. Iſt man faul, ſo muß dieſer Fehler kokal weg, denn nichts Gukes gedeihk dabei; dazu gehörk nur Conſequenz und eine unerbitkliche Disciplin über den Fehler; man muß ſich vorſchreiben wie einem Kinde, was an jedem Tage gethan werden ſoll, und dieſes muß ohne einen Erlaß Monde und Jahre durchgeführk werden. Iſt man leichtſinnig, ſo muß der Ernſk herausgebildek werden, dazu iſt Denken, fortgeſetzkes Beſchäftigen mik gehalkvollen Büchern und Männern der Weg; doch kann dieſer Fehler bis zur Tugend gemildert werden, und es darf uns der philoſophiſche leichke Sinn bleiben, der unnöthige Sorgen über Bord wirfk, überkriebenen Schmerz nicht aufkommen läßk und uns durch Abwenden oder heikeres Aufnehmen der Schatkenſeiken des Cebens die innere Krafk zum Wirken erhälk. Sind wir nun im Reinen mik unſeren Fehlern und Mikkeln da⸗ gegen, ſo müſſen wir eine ebenſo ſtrenge Prüfung unſerer Fähigkeiken vornehmen, damik wir unſer Pfund nicht vergraben. haben wir uns ſo nach jeder Richtung geprüfk, ſo haben wir zunächſt einen Blick auf die uns umgebende Welk zu werfen, um zu ſehen, was wir in Bezug auf ſie wirken können, was ihre Haupk⸗ mängel ſind, wo wir ihnen abhelfen können; der Frau iſt ein enger Kreis gezogen, aber weik genug, um ihr Leben, ihre Seele, ihre Be⸗ ſkimmung auszufüllen — ſo verzweigk mit ſeinen Wurzeln in die ganze Welk und die ganze Zukunft, daß ihr ſtiller magiſcher Einfluß unberechenbar in ſeinen guten und ſchlimmen Wirkungen iſt. Dem Manne iſt die ganze Welk offen, und auf einmal krikk ſie ihm enk⸗ gegen, da beſchaue er ſie vom engſten Kreis aus in immer ſich aus⸗ dehnendem Bogen, bis daß er an die fernſten Ufer mit ſeinen Gedanken reiche; er möge denſelben Proceß ausführen wie der Skein, den man ins Waſſer wirfk: von ſeinem Cenkrum aus bilden ſich Kreiſe, die 189 vom engſten zum weiteſten nach und nach das entgegengeſetzte Ufer berühren. Er bekrachte mithin zuerſt ſeine nächſte Umgebung, prüfe ihr Thun und Treiben, den Grund, den Erfolg desſelben, den Geiſt, der ſie beſeelk, frage ſich, was ſie leiſten und ausführen, was ſie ſind und werden, was ſie ſein ſollken und könnken — und dieſem Gedanken ſchließt ſich unmitkelbar der an: was kannſt du zu ihrer Förderung thun? Und ſo iſt das erſte Glied geſchmiedek, das unſere Veredelung mik der Veredelung des Rebenmenſchen verkettek. Hier fängk ſchon der Einfluß eines ſtillen Beiſpiels an. Run blicken wir weiker um uns und machen uns bekannk mit dem Skaak, in dem wir leben, überlegen uns ſeine Thätigkeik und ſeine Mängel, ob und was wir dabei zu wirken fähig ſind oder werden können; jetzk ſchon erklären wir innerlich den Krieg allem unredlichen Treiben, allen Irrungen, allen Übelſtänden — der Kreis dehnk ſich aus. Sind wir Deukſche, ſo liegk uns nun Deutſchland als Ganzes am nächſten, das Verhältniß unſeres Staakes zu den vakerländiſchen Nachbar⸗ ſtaaten, ihr Einfluß, ihr Zuſkand, ihr Forkſchrikk — nun muß noth⸗ wendig die Geſchichte uns zur Seite ſtehen, damik wir die jetzigen Juſkände aus den früheren entwickeln und beurtheilen und die Wurzel der Uebelſtände kennen lernen, um ſie womöglich ausrotten zu helfen, und die Wurzel des Guken, um ſie zu ſchonen. Von Inkereſſe zu Inkereſſe ſteigerk ſich ſchon in uns die Wißbegierde aufs höchſte, unſere Kreiſe er⸗ weikern ſich, unſere Anſichten gewinnen neue Formen, unſere Er⸗ kenntniß bildek neue Regionen, und ſchon iſt ein kieferes, gehalk⸗ volleres Leben in uns eingegangen, ohne daß wir noch die philo⸗ ſophiſchen und polikiſchen Höhen erſtiegen haben. Jeder Fähigkeik ſind ihre beſonderen Wiſſenſchafken angewieſen. Haben wir uns geprüfk, unſeren Geſchmack und unſere Kräfke er⸗ wogen, ſo entſcheiden wir uns für einen oder zwei Zweige, und dieſe kreiben wir nun mik Ernſt und Eifer. Wir müſſen uns nach den beſten Büchern in dieſen Zweigen erkundigen, nach den Autoren, 190 die darüber geſchrieben haben; wir machen eine Liſte von ihnen, um ſie nach und nach durchzunehmen, wir nehmen ein Werk und machen Auszüge, ein anderes leſen wir nur durch, je nachdem wir es rathſam finden — ſchämen uns vor uns ſelbſt, wenn wir uns von den Schwierigkeiken abſchrecken laſſen, erlauben es uns nicht, feuern uns immer von Reuem an und werden ſo nach und nach ein küchtiger, brauchbarer, befriedigker Menſch, dem ſeine Stellung in der Ge⸗ ſellſchafk und in der Welk nicht fehlen kann — weil leider dieſe Klaſſe noch ſehr in Minderzahl ſtehk — und der mik Ruhe, Juverſichk und Hoffnung jeder Zukunft in die Augen zu ſehen vermag. Die Kakſchläge, die ſie hier anderen erkeilke, hatke ſie ſelbſt befolgk und erprobk. Für ſie gab es jenen Widerſpruch nicht, durch den werkvolle Menſchenkräfke der Wirkung auf die Allgemeinheik ſo ofk enkzogen werden, jenen Widerſpruch zwiſchen einem bis in ſeine letzken Konſequenzen verfolgken Individualismus, der ſich die Ausbildung des eigenen Ich zum Ziele ſetzt, und dem ſozialen Alkruismus, der im Wirken für andere ſeine Aufgabe ſieht. Verfolgen wir Jenny in ihrer Selbſterziehung, die ſie ſo früh ſchon zu einer harmoniſchen Perſönlichkeik machte, ſo dürfen wir freilich nichk aus dem Auge laſſen, unker welchen günſtigen äußeren Bedingungen ſie aufwuchs: Nur an den großen Schmerzen und Kämpfen des Herzens und des Geiſkes enkwickelke ſich ihre Kraft; jene quälenden, zehrenden Röte des Lebens, die Sorgen ums kägliche Brot, die ſchon im Kinde, das der Angſt der Eltern zuſieht, die beſten Keime erſticken können, kannke ſie nichk. Noch andere Urſachen aber mußten zuſammen⸗ wirken, um ſie zu dem werden zu laſſen, was ſie war. Ein Durch⸗ ſchnikksmenſch wird weder durch den Reichtum geiſtiger Anregungen, der ihm zuſtrömke, noch durch die bittere Erfahrung getäuſchker Liebes⸗ hoffnungen, die ihm zukeil wurde, ſolcher Entwicklung keilhaftig werden. Cebk doch ſo mancher inmikken geiſtigen Überfluſſes und bleibk ſelbſt blukarm, und anderen begegnek ein großes Geſchick, um, wie es 191 ſcheint, nur ihre Kleinheik durch den Vergleich beſonders ſcharf hervor⸗ zuheben. Jennys Ratur dagegen war ein fruchtbarer Boden, deſſen Akem nach dem Gewikkerſturm doppelk erquickend iſt, weil er den ganzen Reichkum der Früchke ahnen läßt, den er hervorbringen wird. Ihre nakürliche Anlage war es, die ſie befähigte, aus allem — dem Guken und dem Böſen, den Menſchen und den Büchern — den für das Wachskum ihres Geiſtes und für die Bereicherung ihres Herzens nötigen Rährſkoff zu ſaugen. So wenig ſie über ſich ſelbſt geſchrieben hak — im Unkerſchied zu der Mehrzahl der Memoirenſchreiber, bei denen die Lebens⸗ und Seelenanalyſe der eigenen Perſon ſteks im Vordergrund ſtehk — ſo läßk ſich die Bedeukung dieſer Seike ihres Weſens für ihre Enkwick⸗ lung ziemlich genau nachweiſen. „Sage mir, mik wem du umgehſt, und ich will Dir ſagen, wer du biſt“, das gilk für die lebendigen wie für die koten Freunde — die Bücher. In ihrem oben zitierken Brief legk Jenny ihnen im Hinblick auf die Selbſkerziehung die größte Bedeukung bei. Die Lektüre war für ſie nichk eine Ausfüllung müßiger Skunden, und darnach richtete ſich auch ihre Auswahl. Mik Hilfe der ſchöngebundenen, mik zierlicher Goldpreſſung verſehenen, von anmutigen Bronzeſchließen zuſammen⸗ gehalkenen Quarkbände, die ſenny mit Auszügen füllke, läßt ſich nichk nur verfolgen, was ſie las, ſondern auch wie ſie geleſen hat. Da ſind Seiten und Seiten mik Auszügen aus Byrons, Scotks und Shelleys Werken gefüllk. Aber bald darauf zeigt ſich ſchon, daß die Beſchäftigung mit den engliſchen Dichtern, ſie zu England ſelbſt geführk hat: Auszüge aus hiſtoriſchen und kulkurhiſtoriſchen Werken folgen, denn mik jenem Feuereifer, den ſie bei allem enkwickelke, was ſie ergriff, ſkudierke ſie engliſche Geſchichte. Ihr Intereſſe und ihre Sympathie für England, für ſeine demokratiſche Verfaſſung, ſeine Ark der Erziehung, der Armenpflege, der ſozialen Geſetzgebung wurden dadurch geweckt und blieben dauernd lebendig; die politiſche 192 Überzeugung ihrer ſpäteren Jahre wurzelke in dieſen Jugend⸗ eindrücken. Von den deutſchen Dichtern ſtehk Goethe, was die häufigkeik und den Umfang der Auszüge betriffk, an erſter Stelle, Schiller findek ſich ſelkener, dagegen ſean Paul um ſo häufiger; ſelbſt Zacharias Werner, der wie ſeine Freundin Schardt katholiſch geworden war und deſſen „Kreuz an der Oſtſee“ viel geleſen wurde, erſcheink neben den Klaſſikern. Sehr früh ſchon — ein Zeichen für das perſönliche künſtleriſche Empfinden ſennys, das Schönes ſelbſtändig zu finden wußke — wird Grillparzer und Heinrich Heine zitierk. Einen weik größeren RKaum aber als Poeſien nahmen Proſaſtellen ein. Goethe erſcheink wieder als der Bevorzugke, auch die Briefwechſel mit ſeinen Freunden, die Schrifken, die über ihn erſchienen, verfolgte ſie genau. Zuweilen werden auch die Eindrücke, die die Bücher hervorriefen, kurz feſtgehalten. So ſchrieb ſie über Goethes Briefe an Lavater: „Für das große Publicum ſind vielleichk dieſe Briefe von keinem großen Inkereſſe, für das deutſche Publicum aber von dem allergrößten, denn wenn auch die eigenklich bedeukenden und kräftigen Gedanken in zehn Seiten zuſammengefaßt werden können, ſo läufk doch durch jede Zeile die jugendlich wirkſame, ſtrebende Kraft, welche unſere Literatur und Sprache gewaltſam aus dem Schlummer der Zeiten zu herrlichem Ceben rief. Der Rieſengeiſt, der ſich fühlk, das Jüng⸗ lingsherz, das ſich innig an- und aufſchließt, die reife Männerſeele mik der großartigen Toleranz und dem ſicheren Adlerblick, der planende Kopf, der die Zukunfk mik Schönem bevölkerk, der feine, ſatkiriſche Witz, der den Mephiſto ſchuf — es liegk Alles ſkizzirk in nicht zwei⸗ hunderk kleinen Seiken. Und dann welches Leben und Regen, welches geiſtige Zuſammenleben, welcher Frühlingshauch von Lufk und Friſche! Es kam mir vor, als ob ich unker Gräbern wandle, und auf einmal zöge ſich vor mir ein Vorhang auf, und Karl Auguſt, Herder, Wieland, Lavater, Jacobi 2c. 2c. ſtänden lebendig vor mir. Im Schatten der Titanen. 13 193 Es war nur Traum, denn bloß Knebel iſt noch nicht hinker den großen, dichten, räthſelhaften Vorhang getreken!“ Und über Schillers Leben von Frau von Wolzogen: „So, ganz ſo, wie ſie ihn ſchildert, ſtand Schillers Bild ſeik meiner früheſten ſugend vor meiner Seele, ſo rein, ſo groß, ſo erhaben über alles Kleinliche ſchwebke mir ſein edler Geiſt vor, und in jeder Zeile fand ich eine Ahnung meines Herzens in ſchönſte Wirklichkeit getreten! Mir fällk dabei ein, was Goethe zu Oktilie ſagte, als ſie meinke, Schiller langweile ſie oft: „Ihr ſeid viel zu armſelig und irdiſch 4 für ihn!“ Herder, Schleiermacher, Schelling, Jean Paul ſind weiter viele Seiken gewidmek, und wenn wir ihren Inhalk prüfen, ihn mit den ſranzöſiſchen Abſchriften aus Chateaubriands und Lamartines Werken zuſammenſtellen, ſo gehk die Reigung Jennys zu religiöſer Verkiefung, ihre Sehnſucht nach einem feſten Gokkes⸗ und Unſterblichkeiksglauben deutlich daraus hervor. Von jener Zeik ſprechend, heißk es in einem ihrer Briefe an mich: „Als ich zwanzig Jahre alk war, ſchrieb ich mein Glaubensbekenntniß, das alſo begann: Ich verehre den Gott, den Pythagoras verehrke“, und in einem anderen: „Mein Verſkand befand ſich mik meinem Gefühl dauernd im Streik; Beide kaken ein⸗ ander weh wie biktere Feinde.“ Reben den philoſophiſchen Schriften gehörten naturwiſſenſchafk⸗ liche zu ihrer bevorzugten Lekküre, und auch an Auszügen aus Memoiren und Reiſebeſchreibungen fehlk es nicht. In bezug auf die erſtgenannten bevorzugke ſie die franzöſiſchen, beſonders alles, was ſich auf Mapoleons Zeik bezog. Unter den Reiſebeſchreibungen wurden den Auszügen aus Fürſt Pücklers „Briefen eines Verſkor⸗ benen“, die leider heuke zu den vielen vergeſſenen guken Büchern gehören, viele Seiken gewidmek. Pückler war ein alker Weimaraner und Jenny perſönlich guk bekannt, was ihr beſonderes Intereſſe an 194 ihm erklären dürfke. Charakteriſtiſch für ſie iſt folgendes Urkeil über ihn, das ſie 1833, alſo mik 22 ahren, niederſchrieb: „ . . Ich kann nichk leugnen, daß ich ſeine Briefe mit wachſender Sympathie geleſen habe. Wie ofk habe ich ſein Gefühl und ſeinen Geſchmack für die Rakur, die reine ungekünſtelke Rakur, mitempfunden, und die Leere in der großen Welk, die doch durch ein unwiderſtehliches Beob⸗ achkungsbedürfniß bei heikrer Stimmung eine philoſophiſche Ausfüllung findek, und dann dies Gefühl von Einſamſein unker Menſchen, und vereink mik allen Lieben in der einſamen Rakur. Es liegt eine kiefe Religioſikäk in der Seele dieſes geiſtesadligen Menſchen, und ich habe durchaus nichk jene Frömmigkeik vermißk, wegen deren Mangel ihn die Pietiſten verdammen. Starke Geiſter mögen ihre menſchenrecht⸗ lich angeborene Freiheik benutzen, um ſich ihren Glauben ſelbſt zu bilden . . . In vielen kleinen Geſchmacksſachen habe ich meine Mei⸗ nungen, ja ofk meine Worke gefunden, in Frauen⸗ und Garkenſchön⸗ heiken, in ſeiner Anſichk über Häuslichkeik und geſelliges Leben. Auch in größeren Dingen: ſeinem poetiſchen Aberglauben, ſeiner Geiſter⸗ Ahnung und ſeinen mekaphyſiſchen Träumen über Seelenwande⸗ rungen, vor allem auch in ſeiner Bewunderung Rapoleons und ſeiner Entrüſtung über das ſeiner Familie bereikete Ende.“ Daß bei der jungen Ariſtokratin, die den beginnenden Kämpfen um die Rechte der Frauen perſönlich zunächſt fern ſtehen mußke, das Verſtändnis für deren geiſtige Bedeukung in vollſtem Maße vor⸗ handen war, zeigk ihre Beurkeilung jener drei Frauengeſtalken, die als letzte Repräſenkankinnen der Romantik gelken können, von denen zwei jedoch, auch von der fernen Warke unſerer Zeik aus bekrachket, als Führerinnen in die neue Welk der Frau angeſehen werden müſſen: Rahel Varnhagen, Betkina von Arnim und Char⸗ lotke Stieglitz. Im Anſchluß an Varnhagens Buch des Andenkens an Rahels Freunde, an Bekkinas Briefwechſel Goethes mik einem Kinde und an Theodor Mundts Madonna, Geſpräche mik Charlotte 195 13* Stieglitz — jener unglücklichen Frau, die ſich das Leben nahm, weil ſie glaubte, die durch ihren Opferkod hervorgerufene ungeheure Erſchütterung würde ihren geliebten Gatten aus geiſtiger Lethargie erwecken — ſchrieb Jenny das folgende über ſie: „Drei wunderbare Erſcheinungen im weiken Bereiche der Like⸗ rakur und Pſychologie ſind in neuerer Zeik wie glänzende Mekeore in der Frauenwelk Deukſchlands erſchienen; die kiefe Beſchaulichkeik des Rordens mik ſeiner ſinnenden Philoſophie, mit ſeiner nebelhaft oſſianiſchen Ideenpoeſie, mit der ſchwärmeriſchen Aufopferungsluſt, mik allen Reizen und Gefahren der reinen Geiſtigkeik, ſtehen feen⸗ haft, hinreißend, in tief empfundener Seelen⸗ und Herzensverwandk⸗ ſchafk vor den deukſchen Frauen. Jedem der drei Genien in ihrer Größe und in ihren Irrthümern könk ein leiſer, geiſtiger Schweſterngruß aus dem heiligſten Innern ihrer Landsmänninnen entgegen. Un⸗ berechenbar iſt daher der Eindruck, das Forkwirken dieſer Bücher auf die Frauenwelk: als geiſtige Heerführerinnen kreken dieſe Er⸗ ſcheinungen an die Spitze der ſich längſt im ſkillen Sinnen, Bilden, Denken emancipirenden Frauen Deukſchlands; ſie erkämpften ſich mit ihrem Geiſt Sitz und Stimme unker den Intelligenzen ihres Landes, ſie räumen den Plah zu dem einflußreichen, weiblichen Wirken, was zwar höher in Deutſchland anerkannk iſt als in allen anderen Ländern Europas, was aber doch noch lange nicht zu ſeiner Blüthe, zu ſeinem eigentlich angemeſſenen Umfang ſich enkfalkeke. Sie zeigen, wie die reine, nebenabſichksloſe, unegoiſtiſche Seele der Frau in jede Geiſtesfaſer eingreifen kann, ſie zeigen die Gewalk ihres Denkens, ihres Fühlens, ihres Wollens und Voll⸗ bringens. Sie fordern durch ihre weiſe Erkenntniß und klare Auf⸗ faſſung, ja, mehr vielleichk durch ihre Irrthümer, die Bildung, die ihren Geiſk von den Schlacken des Falſchen befreien und in lichtem Wiſſen und Erkennen darſtellen kann; ſie fordern die ſorgſame Be⸗ achtung ihres intellectuellen Forkſchreikens, um ihres edlen Selbſtes 196 willen; ſie fordern ſie mehr noch als Mütker der Bakerlandsſöhne, als Geliebke ſeiner fünglinge, als Gaktinnen ſeiner Männer. Sie treten hervor in aller Würde ihrer Geiſtesmacht, und iſt auch ſeit den älkeſten Zeiten die Skellung der deutſchen Frauen ihrer Be⸗ ſtimmung und ihrer inneren Höhe angemeſſener geweſen als in anderen Theilen der Welk, hat ſich auch gern der deutſche Mann in Ciebe und Verehrung vor ihrer Reinheik gebeugk, ſo war doch im Allgemeinen ihre Schätzung noch viel zu ſehr auf das bloß dienſt⸗ bare häusliche Wirken, nicht eigentlich auf die Würde ihrer Beſtimmung, auf die Machk ihres Einfluſſes gerichtek. Jetzk, in dem Fahrhunderk der Berechnung und eines ofk klein⸗ lichen Rühlichkeiksprincips, trikt die große Seele einer Rahel an das Cichk der Welk, mit dem Princip des allgemein Großarkigen, des ewig Rechken, mik der einzigen Berückſichtigung des Wahren, mit der enthuſiaſtiſchen Liebe des Schönen und Guken. Sie gehk umher in Ländern, in Verhältniſſen, in Charakkeren mik der gigantiſchen Fackel, die ſie am Alkar der Wahrheik enkzündete; ſie beleuchkek das Kleinliche, Lügenhafke und Elende vor der ganzen Welk, und manches Johanniswürmchen, das uns ein Edelſkein ſchien, ſtellk ſie auf ſeine Füße, und es wird dunkel, und manchen Edelſkein, den wir für einen Kieſel hielken, ſchleifk ſie zurechk, und er wird leuchtend. Sie ſelbſt greifk mit ihrer Philoſophie in das Leben ein, ihr Denken wird zur Thak, und wie ſie mik ihrem Geiſte in anderen Seelen unermüd⸗ lich Geiſkesfunken weckk, wie ſie, das kleinliche Inkereſſe in allen Herzen abzuſtreifen ſucht, wie ſie im Kreiſe ihrer Pflichten beglückt und wirkk, wie ſie, ohne aus ihrem weiblichen Beruf herauszukreten, das Große in den Männern förderk und die kleinen Räder der Skaaksmaſchine, die ihrer Sorgfalk anverkrauk ſind, fleißig von jedem Stäubchen reinigk, ohne die ſchwache Frauenhand in die großen Räder⸗ werke zu wagen, bei einem doch ſo richtigen Blick in die großen Verhältniſſe, ſo ſteht ſie in dem praktiſch häuslichen Kreiſe mik voller 197 Berufskennkniß da, in ſchweren Kriegszeiken die Tröſterin und Pflegerin der Verwundeken, die Rekterin der Elenden, Arzk, Räherin, Warkfrau, Bittende bei Reichen, Ermunkernde bei Armen, ohne Ruhe und Raſt, voll Einſichk und ununterbrochener Aufopferung, unbekümmerk um ihre eigenen Körperleiden, unbekümmerk um Dank oder Undank, die Gukesthuende um des Guken willen, die echte, wahre, reine deutſche Frau! Richk nur aus ihrem Buch habe ich das Alles geleſen, in ihren Augen, in ihren Worten, in ihrem ganzen Benehmen war es aus⸗ gedrückt. „Da werdek ihr Bedeukendes kennen lernen“, ſagke Goethe zu uns. Einfach und ohne Präkenſionen krak ſie auf, ſchien mik ihren klugen, forſchenden Blicken in unſeren Seelen zu leſen, regte uns an zu frohem Geplauder, ſcherzte und lachke mik uns und wußke nach und nach das Geſpräch auf die höchſten Dinge zu lenken. In wenigen Skunden lernte ich ſie kennen und ſie mich, denn in der reinen Lufk ihres Seins vermochke ich mich nicht anders zu geben als ich war, mein Herz lag auf der Zunge, ſie erreichke, was ſie wollke; denn ausgebreikek, wie der Enkwurf eines Gemäldes, lag meine Seele vor ihr. „So jung und ſchon ſo viel gekämpfk', ſagke ſie, „kämpfen Sie nur weiter, immer weiter; hüten Sie ſich vor der Ruhe, der Seelen⸗ Bequemlichkeik; das giebk's nichk für uns. Fauſk iſt auch in weiblicher Geſtalk vorhanden, in Ihnen, in mir.“ „Iſk nichk aber Ruhe das, wonach Alles in uns ſtrebk?“ wandte ich ein. Michk Ruhe, Leben iſt es und immer wieder Leben. Nur der allzeik Cebendige, Wache, Thakkräftige erreichk große Ziele, übk große Wirkungen aus. Glauben Sie nichk den Propheken der Ruhe, glauben Sie dem Allmächtigen, der ſchaffend überall in der Rakur ihnen enkgegenkrikk.“ „Aber ich bin Chriſtin, möchte Chriſtin ſein“, bemerkte ich ſchüchtern, zund dem folgen, der ſagt: Meinen Frieden laſſe ich euch! 198 Rahel ſah mich gütig lächelnd an und erwiderke: „Folgen Sie ihm getroſt, aber lernen Sie ihn verſtehen. Den Frieden, den Chriſkus meink, überſehe ich mik Befriedigung. Sie allein giebt innere Ruhe, giebk Krafk und Lebensfreude; ſie wird aber auch nur durch Thätigkeik in uns und außer uns, durch Pflichterfüllung, Gott und den Menſchen gegenüber, erreicht.“ Das war meine kurze und doch nachhaltig wirkende Bekanntſchaft mik ihr. Varnhagen ſchenkte mir nach ihrem, ach, ſo ſchmerzlich be⸗ weinken Tode das erſte Buch „Rahel“, das nichk im Buchhandel er⸗ ſchien. Auch meine Freundinnen Okkilie Goethe, Alwine Frommann und Adele Schopenhauer waren dadurch erfreuk worden. In der Abſichk, unſerem tiefgefühlken Dank würdigen Ausdruck zu geben, ſchenkken wir ihm eine Schreibmappe, auf der ich Rahels ſchönen Traum illuſtrirke. Sie kräumke von einem ungeheueren Skurm, und mitken in den Wogen ihr Lebensſchiffchen; aber vom Himmel herab rollke der blaue Mankel Gotkes, ſie fühlte ſich als kleines Kind, legke ſich in eine große Falke des Gotkesmankels und ſchlief ein. Einige Widmungsverſe begleiketen die Gabe. Unbegreif⸗ lich blieb, mir immer, wie dieſer Mann der Welk, der Reclame, des Egoismus zu dieſer Frau nach dem Herzen des Höchſten paſſen konnke. Die Erinnerung an ihre reine Erſcheinung wollke ich mir durch den Verkehr mit ihrem Gakken nichk krüben laſſen, deshalb gab ich möglichſt ſchnell die Correſpondenz mik ihm auf. Das Buch, das er mir gab, läßk mich jedoch dankbar ſeiner gedenken, und ſo ofk ich es aufſchlage, wehk Rahels lebendiger Geiſt mir daraus entgegen. Sie krak ein in unſere Krümel liebende Zeik, die gigantiſche, ganze Seele. Es hebk ſich die Bruſt der Frau, daß ſie Frau, des Menſchen, daß er Menſch iſt, und mik neuem Schwunge regt ſich mancher Geiſt, und ein großarkiger Maßſkab wird von Tauſenden an die Beſtimmung des Lebens, an die Forderungen unſerer Welk gelegt. Rahels 199 magiſche Geſtalk ſchwebk über der Akmoſphäre der Gebildeken, und vor dem leuchkenden Kreis ihres Weſens zieht ſich das Kleinliche beſchämt zurück. Was ſoll aber in dem ſogenannken vernünftigen, überpraktiſchen Jahrhunderk eine Bettina? Was will die kleine Elfe unter den Rützlichkeiksmenſchen? Was fördern ihre gaukelnden Tänze, ihre Wipfelſpiele, ihre Blumenpaläſte? Sie ſchwankk mik den Elfen⸗ ſchweſtern ihrer Phantaſie in goldenen, glänzenden Rebeln, ſie ſingt ihre Herzensphiloſophie in das Wehen der Frühlingslüfke, zuerſt an niemand, für niemand, wegen niemand. Die Menſchen ſind ihr nichk da, von Iweck und Ruhen hak ihr nichts geredek, die Sünde hat ſie nichk geſehen, Geſetz und Regel hak ſie nichk gekannk; ſie träumk, ſie ſpielk, ſie liebk, ſie ſingk in die Welk hinein, und ihre auserwählken Spielkameraden findet ſie in der Ratur. So kanzk und ſchwebk ſie auf und nieder in Gottes großen Schöpfungswerken; man überlegt ſich lange, woher ſie kam. Da iſt's, als hätte man auf einmal die Sage ſingen hören, daß einſt an einem ſchönen Maienkage viel deutſche Kinderſeelchen zurück zum blauen Aether kehrken, und als ſie an die Himmelspforke kamen, überzählte Pekrus ihre Reihen und ſagte: „Eine iſt zu viel, nur neun hat der Herr gerufen,“ Die zehnte ſah betrübt hinab auf die kleine dunkle Welk: „Es iſt ſo kalk, ſo farblos auf der Erde, und iſt ſo warm und farben⸗ reich bei Gotk!“ rief ſie weinend. Das Gebok aber war unumſkößlich; Da gaben alle Kinderſeelen ihre Poeſie dem einen Erdbeſtimmken und ſagten: „Damik ſchaffe dir Wärme und Farben auf der irdiſchen Welk, wir ſchöpfen ſchnell aus ewigem Borne, was wir dir jetzt geben,“ und kraurig lächelnd flog das Kind zurück. — Dies iſt die Seele, die in Bekkinens Briefen lebk und dichkek. Sie konnte als Kind wohl unker Blumen ſchwelgen und wild und ungebändigt mit der Ratur verkehren, doch das Kind ward Mädchen, und das Mädchen liebte. Nicht wie Undine wird ſie dadurch gezähmt, nein, 200 ſie bleibk die wilde, ungeſtüme, unfügſame Kinderſeele, und nun paßt nichks mehr auf der ganzen Welk, nicht andere Menſchen, nicht Ver⸗ hältniſſe, nicht die Lebensweiſen und nichk ihr eigenes Ich. Da ſucht ſie in Rakur und Poeſie die Elemente, um ſich einen Herzensliebling zn ſchaffen, denn kief in ihrer Seele fühlk auch ſie das einfach große Work: „Es iſt nicht gut, daß der Menſch allein ſei.“ Als ſie fertig mik dem Bilde iſt und es nun ſchön und groß vor ihrer Phankaſie vollendek ſtehk und ihre Herzensgluth ihm Leben giebk, da ſieht ſie ſich nach einem Ramen um. Mik dem herrlichſten, den ſie erfahren kann, „Goethe“, benennk ſie ihren ſelbſtgeſchaffenen Gokk. Sie um⸗ gaukelk in Elfenkänzen und mit Elfenliedern unſeren Hohenprieſter, und ihn, den Ernſten mik der Götterſtirne, will ſie als Schäfer mit in ihre Tänze ziehen. Er reichk ihr wohl die Hand, er läßt ſich von ihren Blumen umdufken, er läßt den Elfenreigen im Monden⸗ ſchein an ſich vorüber ziehen, doch der Genoſſe der Elfe kann der greiſe Denker nichk ſein! Im reinſten Lichte, in der einzig klaren, ungekrübken Akmoſphäre ſtehk ſie der Mukker ihres Weiſen gegenüber; ganz herrlich, ohne Irrthum, ohne Verkehrtheik, ohne Mißverſtehen läßk das Leben dieſen Bund. Doch Goethes Mukker ſtirbk, die zugend fliehk Bettinen, aber ihre wilde Poeſie bleibk; ihr Weſen kritk nun aus aller Harmonie, unheimlich werden beim ergrauenden Haupte ihre Spiele und Tänze, und, wie Varnhagen von ihr bemerkte, die Elfe krikk zurück, die Hexe krikk hervor. In dieſem Stadium lernke ich ſie kennen. In leidenſchafklichſter Aufregung kam ſie nach Weimar. Sie hatte in Berlin eine Klak⸗ ſcherei über Oktilie gemacht, die ihr Goethe ſehr übel nahm; ſie wollke ſich enkſchuldigen, er beharrke dabei, ſie nicht zu ſehen. Otkilie, die immer groß und guk war, aber nichks für ſie erreichen konnte, räumte ihr ſchließlich ein Kämmerchen im Garkenhaus des Stadtgarkens ein, wo ſie den Zürnenden wenigſtens aus der Enk⸗ 201 fernung ſah. Rachher ſprach ich ſie. Ihre großen Augen, die ekwas Richtirdiſches an ſich hatken, muſterken mich mißtrauiſch. Ich war jung, war täglicher Gaſt in Goethes Hauſe, genug, um ihre flammende Eiferſuchk zu erregen. Sie war ſehr unfreundlich, und als ich mich in die Fenſterniſche zurückzog, rief ſie: „Aha, ich gefalle wohl der Demoiſelle nichk?“ Ich wurde feuerroth, ſagte aber nichks, ſondern verſuchte das Fenſter zu öffnen, um mich fortwenden zu können; dabei klemmte ich mir die Hand, und während Oktilie davoneilke, um einen Verband zu holen, wurde ich ohnmächtig. In Bettinens Armen fand ich mich wieder, Voll Mikleid ſah ſie mich an und ſagte freundlich: Armes Kind, liebes Kind, thuk es ſehr weh?“ Sie kühlke und verband meine ſchmerzhafke Wunde, lief hinunter, um gleich darauf mik einem Blumenſtrauß und einer darin verborgenen Düte voll Schleckereien wieder zu kommen. Ihr Groll, ihre Aufregung waren vergeſſen, ſie war ganz Weib: liebevoll und ſorgſam. Da, wie ich fortgehen wollke, verabſchiedeke ich mich unvor⸗ ſichtiger Weiſe von Oktilie mik den Worken: „Alſo morgen zu Tiſch bei Goethe.“ Bettina ſah mich ſkarr an, brach in herzzerreißendes Schluchzen aus, lief wild im Zimmer umher und ſkürmte dann an uns vorüber, die Treppe hinunker, zum Hauſe hinaus, ohne Hut, ohne Handſchuhe, gleichgültig gegen die verwunderken Blicke der Menſchen. So war ſie und ſo erſchien ſie mir: unordentlich in Geiſt, Haus und Weſen. Was ich am meiſten bei ihr ſchätzte, war ihre glühende Barmherzigkeik, durch die ſie ſogar prakkiſch werden konnte, ihr Mitleid, das ſie thatkräftig machke. Doch was ſoll Bektinens Buch für unſere Zeit? Iwar hatte ihre Seele als bunter Schmetkerling ſich auf allen Blumen geſchaukelk, als emſige Biene aus allen geſogen: Weisheiks⸗ ſprüche, Liebesköne, Schönheikshymnen, Philoſophenworke, die kiefſte Offenbarung über das Reich der Töne; aber, wie es die Poeſie des Augenblicks ihr eingegeben, wie es der fliegende Gedanke ihr ge⸗ 202 brachk, wie es die Phantaſie ihr eben zugekragen; nicht, wie bei Rahel, geht ein Princip des ewig herrſchenden Rechts, ein Streben des Erkennens, ein Lebenszweck der höchſten Ausbildung durch ein ganzes, herrliches Daſein; Bettina lehrk nicht das Leben kennen, ver⸗ ſtehen und im höchſten Sinn ergreifen — was, frag ich nochmals, ſoll uns dann ihr Buch? Verkreter ſoll es ſein für das poetiſch Schöne, das unabhängige Bereich der Kunſt und des Gefühls ſoll es beſchützen, das nicht als dienende Iagd Moral und Rechk befördern ſoll, ſondern frei für ſich ſelbſt im eigenen Reiche beſtehk. Im Schönen finden ſich dann beide wieder, nur Schönes kann vollkommene Kunſt erſchaffen und erwecken, nur Schönes kann Moral und Rechk im höchſten Sinn erzeugen, im Schönen reichen beide ſich ſchweſterlich die Hand. Im Schönen reifk das echte, glänzende Gefühlsleben, das durch Bettinens ganzes Werk die reichſten Farben trägk. Auch dem Gefühl ſoll es Verkreker ſein, auch ihm ſoll es ſein altes Rechk beſchützen, und weil es in früherer Zeik vom Lande der Vernunfk zu viel beſeſſen, ſoll es jetzk nicht um Haus und Hof, um Sitz und Stimme gebracht, aus ſeinem alten Erbtheil verkrieben werden, um ehrgeizigen Gene⸗ rälen der Vernunfk einen bequemen Ruheſitz zu ſchaffen. Jurück⸗ geführk in ſeine Grenzen, ſoll das Gefühl dork Herr und Meiſter bleiben; iſt es doch die letzke Inſkanz für jede Wahrheik, die ſich der Ueberzeugung des tiefſten Innern vermählen will. Für unſere Frauenwelk iſt Bettinens Buch ein giltiges Meiſterſkück des weiblichen Vermögens, für das fahrhunderk eine Bittſchrifk der Poeſie, daß man ſie nicht im Schatten der Vernunfk erſtarren laſſe, daß man die bunken Flügel vor dem Verſchrumpfen, die zarken Glieder vor dem Erfrieren retten möge! — — Wie naht man dem Lager eines Fieberkranken, der einer ſchlimmen Seuche unterliegk, weil er durch ſeine kreue Pflege den Bruder von dem Uebel heilen wollke? Wie nahk man wohl in Gedanken dem 203 Menſchen, der muthig, ſtark, mik Engelsſeelengröße für einen falſchen Glauben ſtarb? Mik heiliger Scheu, mik kief ergriffenem Herzen, mik billigem Erkennen ſeiner Größe, mik tiefem Schmerz um den unſeligen Wahn. Nur ſo nahk würdig dem Todtenbett der Charlotte Stieglitz; laßk vor der Thür ihrer ſtillen Kammer das Klatſch⸗ geſchwätz der Baſen eurer Stadk; paßk Allkagsurtheil an die Alltags⸗ menſchen, ſprecht über Oberflächlichkeik das ſchnelle, unbedachte Work des Tadels aus, doch hier bleibk ſtehen, denkt tiefer, fühlk beſonders ehe ihr redek, denn auch in große Seelen ſchleicht der Irrthum ein, und dies iſt der Fluch des engbegrenzten Wiſſens, daß reines Wollen nichk vor dem Wahne ſchützk. Dem Gehalke dieſes Denkmals nach, als Darſkellung des Lebensinhalkes der Charlotte Stieglitz, ſteht es bei weikem hinker Bektina und Rahel zurück; es enthälk weder die ewig ſprudelnde, feenhafte Quelle der Poeſie der einen, noch die tapfere, kugelfeſte, immer vorwärksdringende, kiefe Philoſophie der anderen. Die erſten Briefe ſind durchaus unbedeukend, ja ſogar in einem Grade, der ſogleich im Ceſer die Vermuthung aufſteigen läßt, daß der Heraus⸗ geber, der ſie wichtig finden konnke und nicht nur einen oder zwei als Probe und zum Belege ihrer ſpäteren Enkwickelung dem Publi⸗ kum gab, wohl nichts in dem Leben ſeiner Heldin unbedeutend fand und einen Maßſkab an ihr Weſen legte, der nichk von der Vernunfk allein geferkigt war. — In den letzten Jahren ſind ihre Aeußerungen und Tagebuchblätker größkentheils um vieles bedeutender, das Sinnen, Denken, Erfahren, das reiche innere Fühlen thuk ſich kund, und es iſt nichk zu bezweifeln, daß ſie in der ſchönſten Blüthe ihrer geiſtigen Enkwickelungsperiode dem Leben entſchwand. . . . Zwei meiner Couſinen und ich hatken von Charlotte gehört und wünſchken, ſie enkweder in Weimar begrüßen zu können oder mik ihr in brieflichen Verkehr zu kreten; wir ſchrieben alle drei im Sommer 1833 an ſie, an Mundk und an Stieglitz und bekamen 204 umgehend die drei Ankworten, die beſſer als jede Krikik die unglück⸗ Charlokke kennzeichnen. Sie ſchrieb: „eine inniggeliebke, unbekannke Freundin! Wahre Seelengröße zeigen Sie mir, denn dieſelbe ſetzk ſich mutig im Gefühl ihrer Würde über Hergebrachtes hinweg; darum fürchten Sie kein Mißverſkehen von meiner Seike. Ein gemeinſames Band umſchließk uns Frauen, das des Leidens, und leichker kragen wir die Bürde, wenn wir ſie zu⸗ ſammen kragen. Sie ſind noch jung, ſo ſcheink es, denn es geht ein freudiger Zug durch Ihre Worte, der mich wie aus anderer Welt berührk. Haben Sie noch nichk gelikken? Haben Sie noch nicht Ihr Ciebſtes leiden ſehen? Ihr Theuerſtes verloren? Glauben Sie noch an einen gütigen Gott? Oder lernken Sie, wie ich, durch namen⸗ loſe Schmerzen nur der eigenen Krafk verkrauen? Kennen Sie die heiße Gewitterſchwüle eines Sommerkages und die Sehnſucht nach Blitz und Donner? Laſſen Sie mich kiefer in das Heilige Ihres In⸗ neren ſchauen, damik auch ich Ihnen meine Seele ganz enthüllen kann. Aber erwarten Sie kein Frühlingsbild zu ſehen, ſondern einen tiefen, dunklen See, zu deſſen Spiegel nur ſelken ein Sonnenſkrahl ſich verirrte. — Leben Sie wohl, Sie liebes Herz; es drückt Sie, feuriger Empfindung voll, an den Buſen Ihre Charlotte Stieglitz. Theodor Mundt und Heinrich Stieglitz ſprachen ſich ähnlich aus. Erſterer ſchrieb: „Theuerſkes Fräulein! Wie das Mädchen aus der Fremde kraten Sie in die enge Hütte unſerer Alltäglichkeik. Seien Sie mir gegrüßt im Ramen unſerer Heiligen, Charlokke. Sie wollen von ihr Räheres wiſſen? Was ſoll ich Ihnen ſagen? Soll ich ſie mik menſchlichen Worken preiſen, mit irdiſchen Lauken ſchildern? Wollen Sie den Glanz ihres Auges beſchrieben haben, oder den Glanz ihrer reinen Seele? Erlaſſen Sie dies einem Mann, der nur zu verſtummen vermag, wenn er bewunderk. Und auch ihren Gatten möchten Sie kennen? Wünſchen Sie es nicht. Ach, er iſt ein gebrochener Skamm, noch 205 vor der Blüthe. Die Melancholie ſeines Weſens iſt in ſeinem Leiden begründek. Ofk hak er blitzarkig herrliche Gedanken, eines Goethe, eines Schiller, noch mehr eines Jean Paul würdig; dann verſinkt er in dumpfes Brüken, aus dem ſelbſt die götkliche Liebe ſeines Weibes ihn nichk erweckk. Dunkle Schakken ſchweben um uns Alle, darum ſuchen wir den Verkehr mik Menſchen nicht. Wir müſſen ſtill in unſerer Klauſe bleiben und des Helden warken, der uns von den laſtenden Kekken des Unglücks befreik. Bewahren Sie ein mit⸗ leidig⸗wehmüthig⸗liebevolles Gedenken Charlokkens kreuem Freunde Theodor Mundt.“ Als ſeltſamſtes Schrifkſkück gebe ich noch den Brief des Gakken wieder: Holde mitleidige Genien! Von uns wollen Sie wiſſen, uns wollen Sie kennen lernen? Aus dem Lichk Ihres Daſeins möchten Sie in die dunklen Wohnungen verbannker Sünder ſehen? Senden Sie uns Ihr Lichk, daß es mich erhelle, und einſtimmen will ich in Ihre Hymnen zum Lobe des Schönen, des Guken und Wahren. Und nach Weimar rufen Sie uns, um am Grabe Ihres Propheken zu weinen, Lebenskräfte zu ſchöpfen. Wiſſen Sie denn, ob er auch mir ein Prophek iſt? Und der Glaube allein kann Wunder verrichten. Für uns giebk es keine Wunder. Leſen Sie Byron und Sie kennen mich; leſen Sie, wenn Sie es können, die goldene Schrifk der Sterne, und Sie kennen Charlotte. Dem gütigſten Schickſal befehle ich Sie, Heinrich Stieglitz.“ Wir ſchrieben noch einmal an Charlokke und bekamen im De⸗ cember 1833 ihre merkwürdige Ankwork: „Ich flatterke ängſtlich am Lebensbaum umher, von Zweig zu Zweig; ich brachke ihm Fruchk um Fruchk hinab, und er erſtarkte nicht; ich ſang, und er erſtarkte nichk; ich hob ihn liebend empor auf meinen Flügeln, und er erſtarkte nicht; und da ich alle Mitkel meines durch Liebe und Pflichk geſchärfken Denkens umſonſt verſucht hatte, da dachte ich des erziehenden Unglücks. 206 Wenige Monate ſpäker ward ſie Schickſal und Opfer durch eigenen Willen und durch eigene Kraft! Irrke auch der Gedanke in dieſer kreuen Frau, war auch ihre Thak ein grauenvoller Wahn — die Abſichk trägk das edelſte Gepräge, und im Gefühl offenbark ſich in reiner Glorie das „ewig Weibliche“! Triumphierk nicht, ihr Alltagsfrauen; rufek ihr nichk über dem Strickſtrumpf und der Karkoffelſuppe ein „überſpannke Rärrin“ nach; denkt ſinnend ihres keuſchen, muthigen Todes. Sie ſtarb für einen Irrthum, doch ſie ſtarb groß, wie jede Heilige für ihren Glauben. Ihr nennk, die Bruſt bekreuzend, die Ramen der Märkyrerinnen, keine ging muthiger in den Tod; ihr beugk das Knie vor Müttern, Gatkinnen, Geliebten, die freudig für die Lieben ſkarben; ihr ſinget ewige Lieder den Helden, die für das Baterland die blukige Weihe ſuchten, — aus Herzen wie Charlokkens gingen dieſe Thaten! Der Irrthum, unſer ewiger Erbfeind, hat dies ſchöne Opfer zu ſich hingelockt. Laßk dies ſtille Grab unentweiht, lernek daran Selbſtverleugnung, Opfermuth, Liebe!“ Iennns jugendbild würde ein unvollkommenes bleiben und vieles in ihrer ſpäkeren Enkwicklung bliebe unverſtändlich, wenn des Mannes vergeſſen würde, der ihr unker ihren männlichen Freunden nicht nur am nächſten ſtand, ſondern auch den nachhalkigſten Einfluß auf ſie ausübte: Der Jenaer Profeſſor der Philoſophie K. H. Scheidler. Dieſer kapfere Menſchenfreund, der krotz ſeiner Taubheit ſein Leben lang ein Optimiſk geblieben iſt, brachte dem ſchönen, klugen Mädchen freilich mehr als Freundſchafk entgegen, aber erſt ſehr viel ſpäter, als ſie längſt Frau und Mutker war, erfuhr ſie von ſeiner kiefen, ſtummen Liebe. Er blieb auch dann, und mit noch größerem Rechk als zuvor, ihr Hausphiloſoph, und als er ſich nach Jahren doch noch 207 zur Ehe entſchloß, wurde ſeine Tochker ihr Patenkind. Ihre philo⸗ ſophiſchen Studien betrieb ſie unter ſeiner Leitung und pflegke in Er⸗ innerung daran zu ſagen: „Er führke mich vom Kinderparadies durch das Dunkel irdiſcher Hölle zum himmel reiner Menſchlichkeik“, und ihre in ihren Kreiſen ſo ſeltene Fähigkeit, auch den polikiſchen Idealen der äußerſten Linken ein weikgehendes Verſtändnis entgegenzubringen, hatke ſie ihm, dem ehemaligen Fahnenkräger der Wartburgfeier, zu verdanken. Das Bild, das ſie von ihm zeichnete, iſt der beiden Menſchen und ihrer Freundſchafk würdig: „Ich war einſam und bekrübk. Ich hatte gebekek ohne Troſt. Ich hakke ein geſchichkliches Buch zu leſen verſuchk, es war mir in den Schoß geſunken. Der graue Himmel hatte keinen Sonnenſtrahl für meine Blumen und keinen Strahl der Freude für mein Herz. Vergebens hakke ich zu den Schriften gegriffen, in denen ich in Weihe⸗ ſkunden des lebendigen Auffaſſens edler Weisheikslehren angeſtrichen hakte, was mir als zuverläſſiger Leikſtern, als Pilgerſtab auf meinem Cebenswege erſchienen war. Richks war mir übrig als die Geduld; ſie flüſterke mir jenes Work immer wieder zu, das zugleich land⸗ läufige Redensark und kiefes Geheimniß Gotkes als ein Lebens⸗ räthſel für ſung und Alk in ſedermanns Iunde iſt: Alles geht vorüber. Ich ſchlug die Arme ineinander, ſenkte das Haupk und ſagte mir leiſe: es geht vorüber. Ich wollke das abwarken. — Da könk auf dem Corridor ein feſter ſporenklingender Schrikk, man meldet den Profeſſor Scheidler. Ich ſtehe auf, reiche ihm die Hand und heiße ihn durch Zeichen willkommen, denn das kraute Work hätte er nicht gehörk; ſeik mehr als zehn Jahren unheilbar kaub, lebk er von Todesſtille umgeben. Dieſer Mann der Tapferkeik, der Reinheik, des kiefen Denkens und edlen Thuns, der Mann, welcher höher ſteht als das Unglück, der Mann urſprünglicher Rakur, er iſk mein Freund. Riemals hak der Schmerz weniger Gewalt über einen Sterblichen gewonnen, obwohl er vielleicht keinen mik grauſamerer Hartnäckigkeit 208 angefallen hak. Denn dieſer Mann mit der heikeren Stirn und dem Blick eines Kindes, mit ſeinem ſicheren Aufkreten, ſeinem Ausdruck von Zufriedenheik, dieſer Mann, der nie klagt, nie müde wird, nie murrk, iſk inmikken alles menſchlichen Treibens allein, allein mit ſeinem Herzen voll Theilnahme und Liebe. Keine Familie, kein Herd, an dem er einem Blick begegneke, der ihm ſagte: ich gehöre dir an. Kein Haus, wo er Karl genannt wird, er iſt für Jeden nur der Profeſſor Scheidler. Keine Frau, die „wir“ ſagke, kein Weſen auf Erden, deſſen erſte und oberſte Reigung ihm gehörke. Dieſer thak⸗ kräftige Mann, der alle Mißbräuche, alle Irrthümer bekämpfen möchte, der ſeine hochgegriffenen Ueberzeugungen auszubreiten ſich berufen fühlk, der den Drang empfindek, ſeine Lehren der Uneigen⸗ nützigkeik und des Fortſchritks in die Seele jedes Fünglings hinein⸗ zudonnern, als Apoſtel der Sitklichkeik das Böſe zu zerſchmettern, das Guke bis in ſein kleinſtes Fünkchen hinein zu ſchützen, dieſer Mann iſt ausgeſchloſſen vom vertrauken und lebendigen Verkehr mit Seinesgleichen, ofk verlierk ſeine Skimme ſich ins Leere, bei jedem Schrikk iſt er gefeſſelk und aufgehalken, eine eherne Wand iſt zwiſchen ihm und der Welk, und der Gedanke der Vervollkommnung, für den er lebt, kann ſich bloß für ihn ſelbſt und einen engen Kreis von Freunden gelkend machen. Richk einmal von Sorgen um das kägliche Brok iſt dieſer Mann der Hülfe und des Rathes für die Leidenden frei, bei aller Einfachheik und Einſamkeik; er, der niemals an ſich denkt, wenn es gilt, Einem, der weniger hat als er, zu geben. Er hak keine Vorkehr gekroffen gegen das Kommen der Armuth im Krankheiksfalle oder in dem des frühen Alkers: ſein Vermögen ſind einzig ſein Arbeiken und ſeine Bedürfnißloſigkeik. Er hak aber Zeiken erlebk, wo die ſchwere Laſt des Leides, das er dauernd zu tragen hat, durch äußere Enkbehrungen noch ſchwerer wurde. Auch da hak er ſich nichk beklagt, niemals dem Schmerz gegenüber die Waffen geſtreckk; nein, dieſe Stirn hat ſich nicht gebeugt, auch wenn ihre Im Schatten der Titanen. 14 209 Heikerkeik von dunklen Prüfungswolken überſchatkek wurde. Der Kampf hak ihn niemals erſchöpft, ſteks behielk er, um dem Rächſten zu helfen, die Hand frei. Einſk legte er mir Rechnung über das, was ich mik ihm zuſammen für einen in Roth befindlichen jungen Gelehrten an Hülfe zu ſchaffen geſucht hatte, und da ich mich wunderte, wie viel er zuſammengebracht hatte, obwohl, wie ich wußke, er ſelbſt nichk bei Caſſe war, fragke ich nach dem Woher. „Das iſt nichk ſchwer,“ antworkeke er in aller Schlichtheik: „ich habe käglich zwei Stunden mehr gearbeikek.“ Er führk ein durchaus geiſtiges Leben; ſeine Bücher kröſten, be⸗ leben, erquicken ihn; ſie ſind ſein Genuß und gegen das Andringen innerer Feinde ſeine Waffe. Auch war kein Arſenal jemals ſo wohl⸗ verſorgt, kein Vorrath von Vertheidigungs⸗ und Angriffswaffen, um allezeik bereik zu ſein, ſo wohlgeordnet. Scheidler iſt ein Mann der ſtrengen Wiſſenſchaft, ohne daß er darum aufhörte, ein Freund der ſchönen Literakur zu ſein; ein zierliches Gedichk, ein guter Roman findet bei ihm offenen Eingang neben den kiefſken Gedanken über Philoſophie und Geſchichke. Und wie die es thun, die Freunde und Familie haben, theilk er zwiſchen ſeinen ſtillen Gefährken ſeine Zeik ein; er hat regelmäßige Skunden für das Studium, für den Brokerwerb, für die Erholung. Er redek mik den großen Geiſtern der Vergangenheit, die in ihren Werken forkleben. Iſt dann der lange Morgen würdig verwendek, ſo forderk der Körper eine Rückſichk: nach dem einfachen Mitkagsmahl ein Spazierrikk, hierauf eine Fechkübung, abends zu⸗ weilen Schach oder Whiſt, häufiger einſames Denken. Menſchen⸗ furchk, Eigennut, Reid, Unwahrhaftigkeik kennt Scheidler nur, ſoweik er ſie in Anderen zu bekämpfen hak, ſeinem eigenen Herzen ſind ſie fremd; er hak jene Unſchuld der Seele, die das Böſe kennk, wie man Geſchichte weiß, niemals aber damik durch eigene Erfahrung befleckt iſt; die mik der Sünde zu ſchaffen gehabt, nie aber ſie in ſich auf⸗ genommen hak; eine Unſchuld, die nicht, wie bei einem Kinde, Un⸗ 210 wiſſenheik iſt, vielmehr angeborene Keinheik, Unnahbarkeik, ein Tugend⸗ granik, dem Sturm und Tropfenfall nichts anhaben, über den die Zeik keine Machk beſitzt. — Von Luxus wird Scheidler in keinerlei Form berührk. Auf Gold und Purpur der Kaiſer würde er blicken, ohne daß ſeine ſchwarze Tuchweſte mik der einfachen Stahlkekte darüber, ſein noch nicht zur Cravatke gewordenes ſchwarzes Hals⸗ kuch, ſein blauer, je nach den Umſtänden neuerer oder älterer Ueber⸗ rock und ſeine derben Sporenſtiefel ihm auch nur in den Sinn kämen. Ob ein Zimmer elegank iſt, ſieht er nicht, und wenn man ihm das Auge auf ein comforkables Möbel oder eine hübſche Zierlichkeik lenkt, ſo lacht er, wie wir über eine ingeniöſe Spielküche für Kinder lachen; er findek ſie allerliebſt, aber in ſeiner Miene erſcheink kein Gedanke, daß er ſie beſitzen möchke. So war der Mann, der in mein Zimmer krak. Und ich, ich wagte ihm gegenüber kraurig zu ſein, zu klagen, den Schmerz zu fliehen. „Ihr letzker Brief war betrübk; ich bin herübergekommen, um Ihnen zu ſagen: ſeien Sie kapfer. Machen Sie es wie ich. Kommt mir ein Leiden, ſo ſehe ich ihm ins Geſicht, und dann ſage ich: Bagakelle! — und nehme es auf mich. Dergleichen Gäſte ſind der Seele heilſam; ich weiſe ſie nicht ab, ich nehme ſie auf in mein Herz und laſſe ſie da arbeiken. Sie bringen die Seele in Bewegung, ſie ſind für unſere Entwickelung, was der Sauerkeig für das Brok, ſie machen, daß ſie ſich hebk. Und greifk der Schmerz kief, ſo ſiehk man ihm noch tiefer ins Antlitz und ermißk daran ſeine eigene Kraft, die, um ihn eine Minute auszuhalken, allemal reichk. Halken Sie ihn ſo eine Minuke nach der anderen aus, und wenn Sie nachher in der Erinnerung die Minuken zuſammenrechnen, ſo werden Sie froh ſein über den guken Kampf und den guten Sieg. Daß wir im Kampfe mik dem Schickſal unſere Krafk zu entwickeln ſtreben, iſt einmal unſer Cebenszweck. Friſch ſein! Das Götkliche in uns zur Erſcheinung bringen! Für einen edlen Gedanken leben und gegen 14* 211 Alles furchtlos kämpfen, was ſich ihm enkgegenſtellk! Keine Schwach⸗ heiken. Einem vernünftigen Weſen geſtattek iſt ſie höchſtens im Falle der Krankheik, das aber iſt die einzige Ausnahme. Riedergeſchlagenheit iſt Zeitverſchwendung. Immer arbeiten! Immer ſeine Ideen klären! Die Philoſophie in die Thak umſehzen! Sie darf nichk verwahrk werden, wie der Schatz eines Geizigen, vielmehr ſie muß Zinſen tragen. An Andere denken lernen — voran an die Armen! Alles, Alles, Alles, was uns auf dieſem Wege begegnet, aufnehmen! Immer inwendig thätig, immer gegen den Irrthum bewaffnek ſein! Dann hak man ſo viel zu thun, daß man gar nichk einmal Zeik hat, ſeine Thür dem Schmerze aufzuſchließen.“ Ich begann freier zu athmen. Ich horchte auf jedes Work und blickte in das Angeſicht, das für ſo kapfere Worte den Stempel der Wahrhaftigkeik krug. Ich ſchämke mich meiner Schwäche; das iſt der erſte Schrikt, wieder Krafk zu gewinnen. Ich mik meinen ge⸗ ſunden fünf Sinnen, meiner jugend, meinen Zukunfksausſichten, mit der geſicherten und bequemen Fülle meiner Lebenslage, mit meiner Familie und meinen Freunden ließ mich niederſchlagen durch ein Ceid, und Er, der Arme, Einſame, dem die Welk keinerlei Ausſicht bot, redeke mir zu. Dafür hatke ihn der Himmel mit ſeinem heiligen Geiſte erfüllk und mit ſeinem götklichen Feuer entzündek. — Dennoch wagke ich noch, das Work „Glück“ aufzuſchreiben. Er ſchüttelke den Kopf, und indem er mit gütigem Lächeln meine Hand ergriff: „Auch da ſoll man ſagen: Bagatelle. Glück iſt ein ganz gleichgültiges Ding. Man muß nichk daran denken, dazu iſt die Welk nicht da. Hätken Sie, was Sie Glück nennen, Ihr ganzes Leben lang, was wollken Sie damik im Grabe? Glauben Sie, Sie würden Ihre An⸗ lagen dann enkwickelk haben? Glauben Sie, daß in der lauen Lufk eines beſtändigen Wohlſeins Sie das Bild des Menſchen, wie Gotk ihn gewollt hat, würden dargeſtellk haben? Rein, dazu iſt Skurm und Wirbelwind nöthig. Sie müſſen dahin kommen, den Schmerz 212 zu ſegnen. — Das Leid, das mich ſelbſt betroffen hat, ermißt Riemand: es kann ſich Keiner vorſtellen, was es heißk, dies niemals eine Menſchenſtimme vernehmen, dies Geſtorbenſein für die Muſik, die ich leidenſchafklich liebte, die ich ſo guk kannke, daß ich noch heuke neue Compoſikionen leſe wie ein Buch. Sie wiſſen, wie ich bei jedem Schrikk im Verfolgen meiner Lebensziele gehinderk bin, und andere Genüſſe haben keinen Werth für mich. Dennoch, wenn Gotk mir zur Wahl ſkellte, das Gehör niemals wiederzuerhalten oder niemals verloren zu haben, ich würde das Nichk⸗Wiedererhalken wählen, denn der Verluſt hat mich umgewandelk, mich durchgearbeitet, mich zum Philoſophen gemachk, mich mehr gelehrt als ein Leben voll Glück. Ja, wenn ich jetzk wieder hören könnte! Aber das wäre zu glück⸗ lich, ich könnte es vielleicht nicht ertragen. Jedenfalls,“ ſetzke er mit Rachdruck hinzu, „ſoll es nicht ſein, denn es iſt nichk.“ Es war das erſte und einzige Mal, daß er mir von ſeinem Unglück geſprochen hak. Ich blickte zu ihm auf mik der tiefen Verehrung, die ein Mann, der ſein Leben mik dem Heiligenſchein eines einzigen götklichen Ge⸗ dankens umgeben hat, einflößk. Ich allerdings war nichk im Skande, ſein Leid zu ermeſſen; ich ſtand davor wie vor einem jener großen grauen Gefangenhäuſer, die man anſchauk, ohne alle die Seufzer und Thränen zu kennen, die ſie umſchließen. „Ja,“ ſchrieb ich ihm auf, „daß Glück nicht die Hauptſache iſt, weiß ich und fühle ich, und verſpreche, mein erſter und oberſter Leikſtern ſoll allezeik das Guk⸗ ſein bleiben. Aber nach dem Gukſein kommk mir das Glücklichſein. Biekek es ſich mir dar ohne Sünde, ſo will ich, indem ich es er⸗ greife, Gotk auf meinen Knieen danken, daß Er es mir geſchenkt hat. Es gleichgültig zu finden, werde ich niemals ſtark genug ſein.“ Er ſchüttelte ſein Haupk. Seine Philoſophie erſchien mir rieſengroß; aber er redete von außerhalb der Welk her und ich war inmitten der Welk; er ſtand zu fern und zu hoch, um zu verſtehen, was ich zu erwidern hatte. Niemals war ihm der Kreis nahe gekreten, in 213 den ich vom Schickſal geſtellk war, mit ſeinen Irrthümern und Feſſeln, ſeinen Kleinlichkeiken und ſeiner Eleganz, ſeinem Glanze und ſeinen Pflichken, ſeinen Masken, ſeinen Regeln, ſeinem Katechismus des Scheins. Seine Verſuchungen waren ihm fremd, ſeine läſtigen An⸗ forderungen thörichk; er nannke Schwachheik, was ich als ein pflichk⸗ gemäßes Opfer empfand. Dennoch, vor dem Gerichte der unbeirrken geſunden Vernunfk war Alles richtig, was er ſagke, Alles gut, was er rieth. Die Welk hatke allemal Unrecht, wo er und ſie Entgegen⸗ geſetzkes verlangken. Allein ſie iſt die mächtigere: Scheidler rieth, die Welk befahl. Ich hakke mein Gleichgewichk wieder. Ich fühlte, dieſer Mann war mein Freund, er hatke Recht, ich mußte ihn hören und ſeinen edlen Grundſätzen gehorſam ſein. Als er mich neu belebk ſah, ge⸗ wann ſein Geſichk den Ausdruck reinſter Befriedigung. „Richk wahr?“ ſagte er, „wir ſind von einer Parkei. Es giebk bloß zwei in der Welk, die eine für das Gute, die andere für das Schlechte, für eine muß man, wie Solon von den Athenern es verlangte, ſich entſcheiden. Wir beide kämpfen für das Guke, wir ſind Krieger desſelben Heeres, und auf unſerer Seite kämpfen alle Menſchen, die das Guke wollen. Keine Schwachheik! Man muß ſie wegweiſen. Kein Schmerz um ein Ding der Welk! Man muß ihn bekämpfen und zu ihm ſagen wie ich: Bagakelle. Sie wiſſen, meine Philoſophie iſt die der Tapfer⸗ keik. Keine Feigheit! Keine Klage! Man ſoll die Erde nichk zum moraliſchen Krankenhauſe machen, ſondern zu einer lebenskräftigen Schule und zu einem Schlachtfelde, auf welchem man Siege erficht. — Er ſtand auf, drückte mir die Hand mehr wie es ſeiner männ⸗ lichen Stärke, als wie es meinen ſchwachgebauten Mädchenfingern entſprach, ſeine Sporen verhallken auf dem Corridor und er kehrte zurück zu ſeiner einſamen Arbeik. Scheidler iſt recht eigenklich ein Kind deutſcher Erde. Er iſt der echte deutſche Mann. Vor Allem, er iſt der Mann von deutſchem 214 Gemüth, deſſen angeborene Redlichkeik und feſtgewurzelke Gerechtig⸗ keik ein ſo freies und offenes, allem Menſchlichen mik brüderlichem Verkrauen entgegenkommendes Herz giebt. Er iſt der Mann der Güte, der zwar durch Erfahrung vorſichtig wird, aber ohne einen Tropfen von Galle; der Mann der Uneigennütigkeik, der niemals ſich als ſouveraines Ich fühlt, dem Andere nachſtkehen müßken. Zum Rächſten ſagt er nicht: krage die Laſt, denn ich habe Machk, ſie dir aufzulegen, er nimmk ſie auf die eigenen Schulkern und ſagk: ich bin der Stärkere, ich will ſie kragen. Niemals hak die Frivolikäk mik ihren graziöſen Oberflächlichkeiken dieſen Mann zum Diener gehabk. Seine Manieren ſind brüsk, und auch Das kommk vor, daß von dem gewaltigen Schwunge des Gedankenrades, das die härteſten Gegenſtände, die inhalkreichſken Körner zermalmend, unabläſſig in ihm arbeitek, kleine Blumen der Freundſchafk und der Freude ohne Erbarmen erfaßt und geſkalklos, duftlos, leblos uns vor die Füße geworfen werden. Einerlei. Gott ſei gedankt, daß Er den guten und ſkarken Mann geſchaffen, ihm Seinen Geiſt der Wahrheik und der Liebe geſchenkt, ihm den Stempel edler Menſchlichkeit auf Stirn und Herz gedrückt hak.“ Folgende Briefe Jennys an ihn mögen als Ergänzung ſeiner Charakkeriſtik dienen und zugleich die Ark ihrer Freundſchafk beleuchten: 25./7. 32. „Manche Erfahrung hat mich gelehrk, daß das Beiſpiel auch bei intimen Freunden die beſte Predigk iſt und dieſer ſtille, ſich immer wiederholende Vorwurf viel mehr Eindruck macht als ausgeſprochener Tadel. Skrafpredigten laſſen faſt immer eine kleine Bitkerkeik zurück, das liebe Ich fühlk ſich gekränkt, die Eitelkeik, dieſe mächtige Gewalk in jedem Menſchen, wird beleidigk, und ofk enkſteht wenig Gukes aus dieſem direcken Erziehen. 3./1. 33. Ich halke die Freude für ein ſolches Mikkel zur Kraft, zum Leben, zum Fortſchreiken, ich bekrachke ſie ſo ſehr als den erwärmenden 215 Skrahl der Sonne, ohne welchen nichks zur Reife kommk bei deſſen gänzlicher Abweſenheit die Seele verkümmerk und zuſammenſchrumpft, daß ich beim lehzten Bektler neben dem Ruhen der Gake auch die Freude berückſichtige. So kaufe ich dem jungen Mädchen einen warmen Rock im Winter und gebe einige Groſchen mehr aus, um bunte Streifen daran zu ſehen, weil dies das Theilchen Freude iſt; ſo gebe ich zu Weihnachten ſedem Kinde neben dem Rütlichen auch Spielſachen und ein Zucker⸗ bäumchen, und wenn ich der Mukker Mehl gekaufk habe, ſo bekommt jedes Kind zwei Groſchen, um auf das Schießhaus zu geſen. Dann erſt glänzen die Augen, und die Armen ſagen ſich: Das Leben iſt nichk immer hark! Dieſe Momenke ſind ekwas werth, das nenne ich das Freudenalmoſen. 17./6. 33. Die in unſerer Zeik Reugeadelken kommen mir vor wie jene Ruinen, die nie Schlöſſer oder Tempel oder Klöſter gaveſen ſind, ſene Trümmer ohne Vergangenheik, die hingebauk werden, um einen Park zu zieren. Man ſieht ſie an ohne Ehrfurcht ohne das philoſophiſche Gefühl der Richtigkeik auch des Großen und Feſten auf Erden, ohne den Forſcherblick, der auf den Steinen die Geſchichte der Jahrhunderte leſen möchte; man bekrachtek ſie lächelrd und lobt die Rachahmung, wenn ſie wirklich guk, bemikleidek ſie, wenn ſie geſchmacklos iſt. Sie gilk nur als Zierde, wie der Reugeadelke auch nur zum Putz eines Hofes oder Höfchens geſtempelk wird. Die Macht des Adels iſt an der Zeik und der Unvernunfk ihrer Geſchlechter zerſplikterk, die geſchichkliche Erinnerung iſt geblieben und nird bleiben, ſo lange man lieber einer Reihe von Herren als von Dienern an⸗ gehört, — das aber läßk ſich nicht erkaufen. 17./8. 33. Der Charakker iſt die Compoſikion des Menſchen, ſeine Tugenden ſind die Melodie, ſeine Fehler das Accompagnement, das Inſtrument 216 iſk das Ceben, wohl dem, der es zu ſtimmen verſtehk! Das Schickſal ſchlägk den Tack dazu, und nur ein großer, ſtarker Menſchengeiſt wird es ſelbſt thun können und ihn feſt und ohne Schwanken bei⸗ behalten. 10./9. 33. Es giebk einen anſcheinenden Leichkſinn, den die Philoſophie gerade den kiefſten Gemüthern lehrt, es iſt das ofk mühſame Ueberbord⸗ werfen von Schwerem und Trübem. Wenn die Leiden der Menſchheik das innerſte Herz zerreißen und die Trauer darüber faſt jede Kraft lähmk, ſo muß man das zu lebhafk fühlende Herz zu einem gewiſſen Leichtſinn erziehen, damik die Krafk ungebrochen und das Leben er⸗ kräglich bleibe, damik man Muth und Stärke habe, wo es Hülfe und Thaken giebk. Wenn Sie wüßten, wie ſchwer und wie nöthig gerade mir dieſer Leichkſinn iſt, wie ſehr ich ſchon meinen Hang zur Schwermuth be⸗ kämpfk habe, wie ködkend die fortwährende Verletzung meines Herzens war! Jetzk habe ich durch Helbſterziehung Krafk gewonnen zum Un⸗ vermeidlichen und Einſichk zum Wegräumen des Vermeidlichen. Ich empfinde für Thiere ebenſo wie für Menſchen, und ſeik den zwei⸗ undzwanzig fahren, die ich lebe, habe ich mich noch gar nicht an den Mord der Thiere und das Rechk des Menſchen dazu gewöhnen können. Der Gedanke an einen geblendeten Vogel oder ſelbſt das Prügeln eines Hundes verbikterk mir jede Freude. 5./12. 33. Rur kranke Herzen mißkrauen und mißverſtehen einen wahren Freund. In dem ganzen klaren Spiegel ſtehk hell und deuklich das Bild, welches er reflectirt, in dem zerbrochenen ſteht es zerſtückelt, zerſchnikten, verdoppelk, verdreht, und das Auge, das wir uns an⸗ lächeln ſahen, wird zur Carricatur, während es doch eben ſo heiter vor dem Spiegel ſteht als zur Zeit, da er ganz war. 217 21./9. 34. Ich fühle mich ofk wie eine Taube mik Adlersgedanken; meine eigenkliche Täubchengeſellſchafk langweilk mich, fliege ich zu den Adlern, dann athme und lebe ich erſt, aber die Lufk drückt meinen Taubenkopf, die Sonne füllk meine Taubenaugen mik Thränen und ich ſchaudere vor den zermalmten Gliedern der Adlernahrung, ſo daß ich zu meinen Körnern zurückfliege und Tauben wie Adlern fern bleiben möchke. Soll ich mir nun die Flügel beſchneiden, um gewiß bei den Tauben zu bleiben? oder ſoll ich mich auf einen befreundeten Adlersfiktig ſkützen und Lufk und Sonne ſuchen und die Wildheik der Höhe mir zur Heimath gewöhnen? Die Rakur hak nicht, wie bei Ihnen, alle Linien meines Charakters 13./10. 35. deuklich gezeichnek, ſie hak hie und da zu ſchwach aufgedrückt, da habe ich nachhelfen müſſen und das wird leicht krumm und verkehrk. Ich habe viel anſchaffen müſſen, was am Ganzen fehlte, ich habe viel wegſchaffen müſſen, was verunſtalkete, und noch fühle ich zu deutlich, wie unvollkommen mein Weſen iſt. Doch gerecht und kreu für meine Freunde, das bin ich, und darum werde ich Sie nie durch meine Schuld verlieren und nie durch irgend eine Schuld verkennen. 2./4. 37. Die dogmatiſch hiſtoriſchen Fragen über Chriſkus haben mich lange ſehr gequält, dann bin ich zu der Ueberzeugung ihrer Uner⸗ weislichkeik gelangt und bin eigenklich ganz zufrieden mit dem Dahin⸗ geſtellkſeinlaſſen. Ich verehre Jeſum auf dem Throne der Tugend und Wahrheik und dieſer iſt mir mit ſo viel glänzenden Wolken um⸗ geben, daß ich die anderen Throne der Weiſen daneben nicht ſehe und auch nichk ausmeſſen wollke, in welchen Graden ſie von⸗ oder aneinander ſtehen. Wie ofk höre ich, was meiner Anſicht ganz zu⸗ wider iſt, daß der Glaube an Chriſti vollkommene Perſönlichkeik, das Hängen an ihm als Perſon das Haupterforderniß zum Chriſtſein 218 ſei. Meiner Seele iſk hingegen unerſchükkerlich gewiß, daß einzig und allein der ein Chriſt ſich nennen darf, der, wie der Heiland ſagk: „ſeine Gebote hälk“, daß Chriſtus uns fremd, ſogar unbekannk ſein könnke und daß wir doch echte Chriſten wären, wenn wir den Geiſk ſeiner Worte kennken, glaubken und übten. Darum erſcheink mir auch das Beweiſen der Sündloſigkeik oder Gökk⸗ lichkeik ec. gar nicht ſo wichtig, und ich kann mir vorſkellen, daß Chriſtus ganz aus den Annalen der Geſchichte verſchwände und daß es noch eben ſo vollkommene Chriſten geben könnke. Wie Rahel ſagk: „Ein gukes Buch muß guk ſein und wenn es eine Maus geſchrieben hätke“, ſo müßke das Chriſtenthum herrlich ſein und wenn es aus der Erde gewachſen wäre.“ Inzwiſchen war ſenny 26 Jahre alk geworden, ein Alker, das. das übliche Heiraksalker der jungen Mädchen ihrer Kreiſe bei weikem überſtieg. Ihre Stiefſchweſter war erwachſen, ſie, wie ihre lieben Schüler Walker und Wolf Goethe bedurfken ihres Unkerrichks nicht mehr, Okkilie, deren unruhiger Geiſt nicht mehr durch Goethe ge⸗ zügelk wurde, und die halklos ihren Leidenſchaften folgke, rüſtete ſich, um Weimar zu verlaſſen, die Freundinnen hatken ſich alle ihren eigenen Herd gegründek, Emma Froriep zog mit ihrem Vaker nach Berlin — es wurde merkwürdig einſam um ſie her, und jeder Ab⸗ ſchied mahnte leiſe an den Abſchied der erſten Zugend. An ihr Herz klopfke, ſtärker und ſtärker Einlaß begehrend, jene nakürliche Weibes⸗ ſehnſuchk, die ſich, wenn das Herz ſchon entſchied, im Verlangen nach Mannesliebe äußert, die aber, ſolange eine leiſe Stimme an den auf immer verlorenen Geliebten mahnk, im Verlangen nach dem Kinde zum Ausdruck kommk. Um ſo ſtärker wird die Sehnſuchk nach dieſer Richkung alle Empfindungen beherrſchen, je reicher die weib⸗ liche Perſönlichkeik iſt, je mehr ſie alſo, bewußk oder unbewußt, da⸗ 219 nach drängk, einen ihr enkſprechenden Lebensinhalk zu finden. Auf dieſer Skufe ihrer Entwicklung, die keiner unverdorbenen Frau erſpark bleibk, die nicht ſehr jung ſchon geheiratek hat, war ſenny angelangk. Ein paar Worke aus dem Briefe einer Freundin an ſie, die ſie zur Hochzeik beglückwünſchk hatte, zeugen dafür: „Mein Lieblingsgedanke iſt, Sie mir in einem ähnlichen Verhälkniß zu denken. Ich wünſche es um Ihrek⸗ und um der Welk willen, O, Jenny, wie müſſen Sie beglücken können! Mir war es ſehr lieb, Sie der Ehe geneigt ſprechen zu hören. Sie haben recht, man macht Ihnen den Vor⸗ wurf, daß Sie mik der Liebe nur tändeln, alle ernſten Bande ver⸗ ſchmähen. Doch ich weiß es beſſer! ein Blick in dies Auge, in Ihr Innerſtes hak mich belehrk, daß Sie die Liebe kennen, daß Sie ihrer bedürfen.“ Roch mehr aber ſpricht dafür ein Gedicht von ihr, in dem fol⸗ gende Verſe ſich finden: „ . . Mein Auge ſucht auf Erden ſehnend Liebe, Im himmel nur erſcheint ſie hehr und groß; Daß ſie verzehrend mir im Herzen bliebe, War, Herr, du weißk's, mein jugendködtend Coos. Und weil ich Irdiſches durch ſie verloren, hab ich ſie mir als Himmelkglück erkoren.. Doch willſt du freundlich mir das Ceben ſchmücken, So gieb mir, Gokk, ein Herz voll Liebe nur, Ich faß es feurig dann, und mit Enkzücken Ceiſt' ich dem Himmel meinen Liebesſchwur. Gieb, Herr, mir Einſamkeik im Schoß der Ciebe, Daß ich dir kreu in meinen Kindern bliebe . . Um dieſe Zeik kam Werner von Guſtedt als Gaſt ſeiner Tanke, der Hofmarſchallin von Spiegel, nach Weimar. Er war nichk viel älter als Jenny, der Typus eines vornehmen jungen Mannes ſeiner Zeik mik dem feinen, glattraſierten Geſichk, vom hohen Biedermeier⸗ kragen eingefaßt, den vollen kurzen Locken, der ſchlanken, hohen, biegſamen Geſtalk. Er gehörke einem braunſchweigiſchen Geſchlechte 220 an, das ſich rühmen konnke, älker zu ſein als die Hohenzollern, und deſſen Güter ſeik Menſchengedenken keinen anderen Herrn gehabt hatken als einen Guſtedk. Hofdienſt war nie dieſer echken Freiherren Sache geweſen, von keinem Fürſten beſaßen ſie den Adelsbrief; ſie ſaßen ſtolz und ſelbſtzufrieden auf ihrem Beſitztum und kümmerken ſich wenig um die Schickſale der großen Welk. Wenn Werner eine höhere Bildung genoſſen hatte, als es ſonſt bei dieſen Landjunkern für guk befunden wurde, ſo hatke er es dem Umſtand zu verdanken, daß er als Zweitgeborener keine Anwartſchafk auf das väterliche Guk beſaß und ſich durch akademiſches Skudium zu einer anderen Caufbahn als der des Guksbeſitzers vorbereiken ſollke. Wie ſenny aber ſpäker ofk ſelbſt erzählke, war es weder die äußere Erſcheinung, noch die Geiſtesbildung — die in Weimar als ekwas Selbſtverſtänd⸗ liches bei jedem vorausgeſetzk wurde —, die ihn anziehend machte, ſondern neben der großen Friſche und Rakürlichkeik die unberührte Reinheik ſeines Weſens. Problematiſche Rakuren, ſogenannte inker⸗ eſſante Männer mik bewegter Vergangenheik und differenzierten Gefühlen, oder ſentimenkale Schwärmer, bei denen die Empfindung Modeſache war, hatte ſie bisher kennen zu lernen Gelegenheik genug gehabk. Hier krak ihr die durchſichtige Rakur eines einfach-klaren Mannes entgegen, und jenes Gefühl, das nächſt dem Mikleid bei den Frauen ſo oft der Übergang zur Liebe iſt — Vertrauen — mag wohl das erſte geweſen ſein, was ſie ihm gegenüber empfand, und blieb das Grundelemenk ihrer Beziehung zu ihm. Eine Rakur wie die ihre, die in ihren Gefühlen wie in ihren Taten ihr ganzes ungekeilkes Selbſt ausſtrömte, hatke die volle Gluk der Leidenſchaft nur dem einen, dem Toten geben können; als ſie Werner Guſkedt ihr awork gab, geſchah es in ruhiger, verkrauender Liebe. Daß ſie ſich dabei glücklich fühlke, daß ſie der Zukunfk hoffnungsvoll enkgegenſah, geht aus einem Glückwunſchbrief der Herzogin von Orleans hervor, der alſo lautet: 221 Petik Trianon, d. 8. Oktober 1837. Wie ſehr hak mich die Kunde Deines Glückes erfreuk, meine liebe keuere ſenny — wie innig feilk mein Herz die Gefühle, welche das Deinige erfüllen und ihm in der Zukunfk ſo ſchöne geſegnete Tage verheißen. Laß mich es Dir aus voller Seele ausſprechen, wie ich Dir das reiche Glück wünſche, welches der Himmel mir beſcheerk hat, wie ich von dem Leiker unſerer Schickſale und unſerer Herzen die Erfüllungen Deiner goldenen Hoffnungen erbikke. Schon einige Tage vor Empfang Deines ſo lieben Briefes, für den ich Dir den wärmſten Dank ſage, erfuhr ich, daß Dein Coos beſtimmk ſei, Du meine liebe Tanke verlaſſen würdeſt — was mir recht leid thuk — und die glückliche Brauk eines vortrefflichen jungen Mannes wärſk — deſſen Rame Dein guker Onkel wohlweislich vergeſſen hakte . . . Rechne in allen Verhältniſſen des Lebens auf meine Liebe und auf die warme kreue Teilnahme, welche Dir immer widmen wird Deine Helene. Eine Bleiſtifkzeichnung Friedrich Prellers, des Meiſters der Odyſſee, der ein häufiger Gaſt im Gersdorffſchen Hauſe war und manch reizende Skizze in Jennys Album zeichneke, hak das Bild der Brauk feſt⸗ gehalken: das kindliche Wangenrund hak dem feinen Oval des Anklitzes Platz gemachk, um den Mund ruhk ein Zug tiefen Ernſtes, die Augen erſcheinen größer und kiefer als früher, die Locken an den Schläfen ſind dem glatten Scheitel gewichen, der ſich um die hohe Skirn legk, von einem Schmuckſtück umſchloſſen wie von einem Königsreif. Den Bräutigam ſchilderk ſenny ſelbſk: „ſeine dunkel⸗ blauen, glänzenden Augen, ſein ekwas wolliges, dunkelblondes Haar über der ſchönen weißen Stirn, das lebhafte Kolorik, der ſcharf und fein geſchniktene Mund, die feſt und edel geformte Raſe, der männ⸗ liche Schritt — das alles vereinke ſich zu einem Bilde ſelbſtbewußker, deutſcher Vornehmheit. 222 Ehe ſie ſich ihm auf immer verband, nahm ſie in aller Stille Abſchied von der Vergangenheik: im Kaminfeuer ihres Mädchen⸗ ſtübchens ſchichteke ſie aus ihren Tagebüchern den Scheikerhaufen, legke die Briefe deſſen darauf, den ſie geliebk hakke, und weihte alles dem Feuerkod. Zur Dämmerſtunde ging ſie dann in jenes ſtille Goethe⸗Haus mit den geſchloſſenen Fenſterläden, das ihrer ugend Glück und Weihe verliehen hatte; die breite Treppe ſchrikk ſie hin⸗ auf und wieder hinab — es war vorüber! Im INai 1838 fand die Trauung ſtakk. Roch einmal verſammelte ſich Weimars glänzende Geſellſchafk um das gefeierte Hoffräulein Maria Paulownas —, weinend, glückwünſchend, ſegnend umgaben ſie die Gefährken und die Beſchützer ihrer Jugend, noch einmal zog vom offenen Hochzeitswagen aus, der ſie enkführte, das Bild ihrer Heimak an ihren Augen vorüber: die engen, holprigen Straßen, das Schloß mik ſeinen ſonnenglitzernden Fenſtern, das Vakerhaus an der Ackerwand mik dem murmelnden Brunnen davor, die hohen Bäume im Park und die rauſchende Ilm, und zuletzk: das ſtille Goethe⸗Haus mik den geſchloſſenen Fenſterläden — ſchluchzte nichk doch in der ſungen Frau das alke Leid noch einmal auf —? Oder grüßte ſie nur ernſten Blicks den Geiſt ihrer Jugend, ihm Treue ſchwörend fürs Ceben, wie ſie ſich dem Manne neben ihr zugeſchworen hatte? 223 Der Leidensweg der Mutter Im ſtillen Winkel. ine Reigung, die für die Geſtalkung ihrer Zukunfk beſtimmend a werden ſollke, hatten ſenny und Werner von Guſtedk gemein⸗ ſam: die für ein Leben auf dem Lande in ſtiller Arbeik und Zurück⸗ gezogenheik. Jenny hatte das Leben der großen Welk genug ge⸗ noſſen, ſeine Keize waren für ſie erſchöpft, und nichk nach Vergnügen und Zerſtreuung, ſondern nach Tätigkeik und Sammlung krug ſie Verlangen. Bei Werner wieder machte ſich die Familiengewohnheik der jahrhunderke gelkend, und beide ſtimmken in der Anſichk über⸗ ein, die Jenny ausſprach, indem ſie ſchrieb: „Richks, auch kein König⸗ kum iſt mir vergleichbar mit dem ausfüllbaren, überſehbaren Wirken eines großen, reichen Guksbeſitzers. Der Beruf, zu ordnen, zu be⸗ glücken, zu verſchönern, zu verbeſſern, der Land und Leuke, Nakur und Geiſk umfaßt, erſcheink mir ſo guk und ſo groß wie kein anderer.“ Und ſo hatte ſich Werner Guſtedk enkſchloſſen, dem Gedanken an den Skaaksdienſt zu enkſagen. In Weſtpreußen, in ſchöner wald⸗ und ſeenreicher Gegend, zwiſchen Deukſch⸗Eylau und Marienwerder, kaufte er das Ritkerguk Garden, und hier her, in kiefe Einſamkeik, fern allem gewohnten Verkehr mit den geiſtesverwandten Freunden, führke er die junge Frau, das einſtige gefeierte Weimarer Hoffräulein. Nun erſt forderke das Leben den Beweis für das, was ſie geworden war. Ihr ganzes Weſen hatte ſchon längſt ſo ſehr nach Betätigung verlangt, daß ſelbſt eine ſo ſchwere Aufgabe, wie die ihr geſtellte, ihr nur willkommen ſein konnke. Die Erfüllung der prakkiſchen Pflichken einer Guksfrau iſt für die an den ſtädtiſchen Haushalk gewöhnten niemals leichk; um wie viel ſchwieriger mußte ſie vor ſiebenzig Jahren im äußerſten Oſten Deutſchlands, inmitten einer halbpolniſchen Bevölkerung, ohne ſtädtiſche Rachbarſchaft, ohne Eiſenbahn, ja ſelbſt ohne Chauſſeen, ſich ge⸗ ſtalken, noch dazu für eine junge, nur an das Hofleben gewöhnte Im Schatten der Titanen. 15 225 Frau. „Wie ofk muß ich in meinem Haushalk von 30 Perſonen“, ſchrieb Jenny an Frau Wilhelmine Froriep, der Schwigerin ihrer lieben Emma, mit der ſie ihre praktiſchen Erfahrunger eingehend auszukauſchen pflegte, „meine hofdämiſche Unwiſſenheik bißen.“ Und doch beſchränkte ſie ſich nichk allein auf den Kreis der gegebenen häuslichen Pflichten. Leid und Armuk waren ihr auch in Weimar begegnek, und ſie hatke nach beſten Kräfken zu helfen ceſucht, aber was ſie dork ſuchen mußke, das krak ihr hier auf Schrik und Tritk enkgegen, was dork ihr mitleidiges Herz bewegke, dafür fühlke ſie ſich hier verankworklich, wo es ſich um die Bevölkerung des eigenen Gukes handelke. Es war im großen Ganzen ein verwahrloſtes, den Trunk er⸗ gebenes, in Unreinlichkeik und Unordnung dahinvegikierendes Volk. Kranken⸗ und Armenhäuſer gab es meilenweik in der Kunde nicht, die Schule war ſchlechk, um das körperliche und geiſtige Wohl der Kinder kümmerte ſich niemand. Jenny empfand dieſe Mängel auf das ſchmerzlichſte. „Für die Kollekte der hieſigen Provinz für Spikäler in ſeruſalem“, ſchrieb ſie einmal, „während wir faſt in keinem Kreiſe eines haben, gebe ich keinen Pfennig“; und ein andermal: „Was uns verdrießt, iſt die alberne Errichkung eines Dmkmals für den verewigten König, — eine ſo koſtſpielige Schmeichelzi in einem Cande, wo es faſt gänzlich an Kranken-, Waiſen-, Armen)äuſern, an Chauſſeen und Kanälen fehlk.“ So viel in ihren Krifken ſtand, ſuchke ſie die Unkerlaſſungsſünden von Staak und Gemeirde auf dem Gebieke, das ihr unkerſtellk war, gukzumachen. Was ſie eiſteke, war weniger Wohlkätigkeik im damals üblichen Sinn, als ſcziale Hilfs⸗ arbeik, wie wir ſie heuke verſkehen. Wo ſie Armuk fand, ſuchte ſie ihr durch Überweiſung von Arbeik abzuhelfen; ſie ſetzte es bei ihrem Manne durch, daß eine Dreſchmaſchine, durch die eirige dreißig Familien im Winker broklos geworden wären, erſt angeſchaffk wurde, als eine andere Erwerbsarbeit ihnen geſicherk war; wo ihr Trunk⸗ 226 ſucht begegnete — und das geſchah in jenem fernen Winkel Preußens noch häufiger als anderswo — bekämpfke ſie ſie zunächſt durch Ver⸗ abreichung von geſunder und kräftiger Rahrung; wo Alker und Krankheik zur Arbeik unfähig machten, da ſuchte ſie neben allzeik be⸗ reiker perſönlicher Hilfe die Gemeinde und den Kreis zur Erfüllung ſelbſtverſtändlicher Menſchenpflichken heranziehen. Sie ſtieß bei ihrer Arbeik auf viel Übelwollen, viel Iißverſkehen: Von der einen Seite ſagke man ihr achſelzuckend: „Armuk hat es immer gegeben, und die Leute, deren Elend Sie als etwas ſo Entſetzliches empfinden, ſind daran gewöhnk.“ Was half es, wenn ſie empörk ausrief: „Mag ſein, daß dem Menſchen der Janmer zur Gewohnheik wird, aber nie, nie gewöhnk ſich eine Mukter an die Rok ihres Kindes“, und von der anderen Seite ihre Hilfe nur zu ofk als unbequeme Bevor⸗ mundung empfunden und dem Säugling ſchon der ſchnapsgekränkte Lutſchbeukel in den Mund geſchoben wurde. Zu lange ſchon, das fühlke ſie bald, hatte das Elend, der ſchlimmſte aller Erzieher, unter deſſen Peitſchenhieben der Menſch ſich nur zum Sklaven enk⸗ wickeln kann, auf den armen Knechten und Mägden, den faſt noch leibeigenen Inſtleuten gelaſtet, als daß ſie ſelbſt noch hätten wand⸗ lungsfähig ſein können. „Zu ſo großem Iweck reicht ein Menſchen⸗ leben nicht aus,“ ſchrieb ſie; „wollen wir von der Zukunfk irgend eine Beſſerung erwarken, ſo müſſen wir nicht bei den Erwachſenen anfangen, die wir nur vor Rok zu bewahren vermögen, ſondern bei den unſchuldigen Kindern.“ Ihre Rakur, die ſich mit dem einen Work, „Mütkerlichkeit“ am beſten charakkeriſieren ließ, hatke ſie ſkeks, ſchon als ganz junges Mädchen, zu den Kindern gezogen. Alles Leid, das ihr begegnete, empfand ſie bis zum körperlichen Schmerz, das der Unſchuldigſten — der Kinder — verurſachte ihr die größten Qualen. Richt nur, weil es die Wehrloſen kraf, ſondern auch weil es immer aufs neue ihren ſchwer errungenen Glauben zu erſchütkern drohke. Ju der 15* 227 Überzeugung vom Vorhandenſein eines allgütigen Schöpfers, eines Gottes der Liebe, eines himmliſchen Vaters nach Chriſti Lehre, ſkand das Elend in der Welk und das Unglück des Lebens in einem furchk⸗ baren Widerſpruch, den ſie nur dadurch glaubte löſen zu können, daß ſie es als Strafen für begangene Sünden auffaßte, und zwar für Begehungs⸗- wie für Unkerlaſſungsſünden der Beſitzenden wie der Beſitzloſen. Würden alle Beſitzenden ihre Menſchen⸗ und Chriſken⸗ pflicht erfüllen, würden alle Armen echte Chriſten ſein, ſo gäbe es bald — davon war ſie damals noch überzeugt — weder Rok noch Elend. Um dieſe Auffaſſung zu verſtehen, muß zuerſt Jennys Be⸗ griff des Chriſtenkums verſtanden werden. „Religion iſt Tat, ſchrieb ſie, „Chriſtenkum iſt Tak, lauker Tak, nur Tak.“ Der religiöſe Glaube hak, wie ſie meinke, nur für den Menſchen ſelbſt, den er beglückt, Bedeutung, für die Allgemeinheik kommk es allein auf das Handeln an. An einen Freund ſchrieb ſie ein⸗ mal darüber: „Glauben iſt nicht das gewöhnliche Fürwahrhalten, wie etwa bei einer geſchichtlichen Thatſache, es iſt die Hand, die ſich Gotk enk⸗ gegenſtreckt. Es iſt nichk wie ein Wiſſen, das der Schulmeiſter ein⸗ paukt, es iſt die Krafk des Schaffens und der Liebe, die durch chriſt⸗ liches Wollen, Wandeln, demüthiges Forſchen zu unſerer Seele herangezogen wird, wie Eiſen durch den Magnek. Wer glaubt, daß Chriſtus Gotkes Sohn iſt, und ſeinen Diener oder auch nur ſeinen Hund mißhandelk, der iſt kein Chriſt! Wenn Sie dieſe Aeußerlich⸗ keiken nicht für wahr halten können, ſo laſſen Sie doch die Geburk, die Wunder, die Höllenfahrk, die Auferſkehung des Herrn ganz bei Seike, wandeln Sie nur mik allen Kräften Ihrer Seele nach ſeinen Geboten, aber ſo, daß das kägliche Leben wie eingehüllt iſt darin und alle Beziehungen zu Ihren Rebenmenſchen darin wurzeln. Denkk man, der Glaube ſei ein Fürwahrhalten aus genügenden Gründen? Aber die Gründe ſind nie genügend. Er ſei eine Juverſicht deſſen, was man 228 nichk ſiehk und doch weiß? Die Prüfung kommk und die Zuverſichk weichk. Glaube iſt Leben, nur Leben, lauker Leben.“ Das Rechte kun und nicht den Glauben predigen — das forderte ſie als Beweis für echtes Chriſtenkum, und ſie war ſo überzeugk davon, daß die „Sünde der Leute Verderben“ iſt, daß ſie alles Un⸗ glück aus dem Unrechtkun ableiken zu können glaubte; ein langes Ceben voll harker Erfahrungen vermochte zwar ihre Anſichk auf der einen Seike zu modifizieren, auf der anderen zu erweitern — im Grunde aber war und blieb ſie der Grund und Boden, in dem ihr geiſtiges Ceben wurzelke. Ein Brief, den ſie von Garden aus an ihre Freundin Emma Froriep ſchrieb, iſt dafür bezeichnend: „Mik dem Verweiſen auf künftige, ewige Seligkeit lockſt du keinen Hund hinker dem Ofen des Makeralismus. hervor. Dieſe Hoffnung, ſo wahr und ſo kröſtlich für den Gläubigen, iſt nur ein Reiz zu Spokk und Zweifel für den Ungläubigen. Suche das Welkkind auf ſeinem Feld zu ſchlagen, und zwar mik der beweisbaren, augenſchein⸗ lichen Wahrheik, daß die Sünde auch hier auf Erden der Leute Ver⸗ derben iſt; male in hunderk Bildern die Gegenſätze, z. B. die arme Tagelöhnerfamilie, bei der der Vater nach ſchwerer Arbeik in ſeiner reinlichen Hütke ſitzk, den Löffel freundlich mik Frau und Kind in die Mehlſuppe tkaucht, noch eine Stunde vor der Thür ſein Pfeifchen raucht, mik den Kleinen ſpielk, bekek und ſich zur Ruhe legk; dagegen den Trunkenbold, der fluchk, dem Wucherer für Schnaps mehr als den Tagelohn hingiebk, die Frau ſchlägt, die Kinder verwünſcht, in Schmuh und Lumpen verkommk. Male den Guksbeſitzer, der Rath, Hülfe, Troſk für jeden ſeiner Leuke hat, und den, der in Erpreſſung und Liebloſigkeit alle Arbeikskrafk ausnutzk; male den reichen Officier, der ſein Vermögen verthut, vertrinkt, verſpielk und mit einer Kugel durch den Kopf endek, und den armen Mann, der durch geiſtige oder körperliche Arbeik ein Vermögen gewinnk und Gutes für die 229 Menſchheik leiſtek; male kreu ihr inneres und äußeres Leben und dann laß aufrichtig die Frage beankworken: Auf welcher Seike iſt das Glück?“ Auch dann, wenn nach dieſem Leben nichks wäre, auch dann iſt der Chriſt der glücklichſte Menſch auf Erden.“ Das Leiden der Kinder aber — und ſchließlich auch das der Tiere, für das ihr Mikleid faſt ebenſo rege war — ſchien die Grund⸗ pfeiler des ganzen Gebäudes ihrer Religion zu erſchütkern. Iſk es möglich, angeſichts eines gequälten Tieres, eines mißhandelken Kindes an den Gott der Liebe zu glauben?! Kann ein gütiger Bater im Himmel ruhig mit anſehen, was für einen guken Menſchen ſchon unerkräglich iſt?! Selbſt die weikere Erklärung des Unglücks als einer Prüfung, an der die moraliſchen und geiſtigen Kräfte reifer Menſchen wachſen ſollen, verſagte angeſichts derer, die noch keine Kräfte haben. Und die altkeſtamenkariſche Anſichk von den Sünden der Bäker, die ſich rächen bis ins drikke und vierke Glied, erſchien ihr unvereinbar mik dem Gotk der Chriſten. Sollke ſie ſich mit Goethes Weisheik, „das Erforſchliche erforſchk zu haben und das Unerforſch⸗ liche ruhig zu verehren“ zufrieden geben, wo ſie nur Verabſcheuungs⸗ würdiges ſah? Nach vielen ſchweren Gewiſſenskämpfen — „wie Jacob mik dem Engel, ſo habe ich mik mir ſelbſt gerungen“ — glaubte ſie darin einen, wenn auch keineswegs befriedigenden, ſo doch als weikeren Anſporn zur Tak dienenden Ausweg gefunden zu haben: „Kinderleiden ſind gewiß zum Teil eine Folge der ungeheuren Schuld der Geſellſchafk gegenüber den Armen, und ſie rächen ſich an derſelben Geſellſchafk, indem ſie Verbrecher, moraliſche und phyſiſche Krüppel, Lebens⸗ und Arbeiksunfähige enkſtehen laſſen. Hier alſo ſchloß ſich der zerriſſene Ring ihres Gedankengangs wieder. Iſt das Leid Folge der Schuld, ſo wird es im ſelben Umfang ver⸗ ſchwinden, als die Schuld abgetragen wird. Ihr kiefes Mikgefühl und ihre Überzeugung wurden zuſammen zur Triebkrafk ihres Tuns. 230 Ju einer Zeik, wo Fröbels Erziehungsgedanken noch nicht bis zu dem einſamen Guk in Weſtpreußen gedrungen ſein konnten — ſeinen erſten Kindergarken eröffneke er ungefähr im ſelben Jahr — ſammelte Jenny von Guſtedk die Kinder der Landarbeiker und der Inſtleuke um ſich, „um ihnen neben warmen Kleidern, guker Milch, reinen Händen und Geſichkern, durch Spiel, Erzählung und Geſpräch die primikivſten Ideen des Guken, Wahren und Schönen beizubringen.“ Zur weiteren Unkerſtützung ihrer Beſtrebungen veranlaßte ſie ihren Mann, die bisher in einem fernen Dorf gelegene Schule nach Garden zu verpflanzen, und einen jungen guken Lehrer anzuſtellen, der Hand in Hand mit ihr zu arbeiken fähig war. „Unſere Träume und Hoffnungen für Garden“, ſo ſchrieb ſie an Wilhelmine Froriep im Hinblick auf das bisher Erreichte, „treken allmählich als Wirklichkeiten hervor: ein junger eifriger Lehrer, unker⸗ ſtützt von unſerer häufigen Anweſenheik beim Unkerricht, von Preiſen und kleinen Kinderfeſten, bringk ſchnell die liebe Schuljugend zu Ordnung, Fleiß und Reinlichkeit, und da beim Verderb der Erwachſenen nur durch die Kinder ein Heil für die Zukunfk zu erwarken iſt, hak Werner das etwas große Opfer nicht geſcheut, ganz allein die Koſten dieſer Stelle zu kragen.“ Aber den unglücklichſten der Kinder war durch all das doch nur zum Teil geholfen: da gab es Verlaſſene und Waiſen, denen ſelbſt das ärmlichſte Zuhauſe fehlke. Jenny entſchloß ſich, zunächſt vier von ihnen in ihr Haus zu nehmen und, mit Hilfe einer dafür ange⸗ ſtellten Pflegerin unker ihren Augen erziehen zu laſſen. Das erſte Kind, daß ſie aufnahm und von dem ſie noch als alte Frau be⸗ ſonders gern zu erzählen pflegke, war ein wunderſchönes kleines Mädchen, das ſie im Straßengraben neben der ſchwerbekrunkenen Mukter liegend fand. Erſkaunt über den ſorgfältig gepflegten Körper des Kindes, erfuhr ſie, daß die Mutker es mit dem Schnaps zu waſchen pflege, ehe ſie ihn krinke. Fünf Jahre blieb das Mädchen 231 in Jennys Obhuk, dann enkführke es die Mukker, nach weikeren fünf Jahren fand man es eines Morgens ſterbend vor der Türe, einen elenden Säugling im Arme. Die Beſchäftigung mit den Zöglingen, deren Zahl ſchließlich auf ſieben anwuchs, führke im allgemeinen zu erfreulichen Reſulkaken. Über die Anfänge des Stifkes ſchrieb ſie: „Das kleine Mädchenſtift iſt auch ins Leben gekreken, und vier ſehr nette Mädchen im Alter von 3—11 Jahren werden unker meiner Aufſichk erzogen; da es die ärmſten und verwaiſkeſten waren, fühlen ſie ſich ſehr wohl .. Zu Weihnachten wurde durch dieſen Zuwachs der Familie die Freude ſehr erhöht, und ich kann nicht ſagen, wie rührend mir die kleinen Weſen waren, die zum erſten Mal in ihrem Leben eine Weihnachts⸗ freude, dieſen Glanzpunkt der Kindheik, kennen lernken.“ Was wäre aber Fennys Leben, ſo reich und vielſeitig ſie auch ſeinen Inhalk geſtalkete, für ſie ſelbſt geweſen, wenn ihrer Mütker⸗ lichkeik nur fremde Kinder anverkrauk worden wären. „Man ſagk ofk,“ ſchrieb ſie einmal, „daß ein Weib, das fremde Kinder erzieht, aller Mukkergefühle keilhaftig würde. Rur ein Mann oder eine Kinder⸗ loſe kann das behaupten, die von den Wundern des Mukkerſeins, den geheimnisvollen Einflüſſen des Blukes keine Ahnung haben. Alle Qualen der unglücklichſten Ehe wiegen federleicht gegenüber der Seligkeik der Mukkerſchafk, alle körperlichen Röke und Schmerzen ſind nichks als ein notwendiger winziger Erdenreſt, der daran mahnt, daß ſie nichk reine Himmelswonne iſk. Dabei iſt das Mukterherz ein beſonders merkwürdiges Ding: neben der Gatkenliebe findek eine andere ähnliche keinen Platz, ohne ſie zu beeinkrächtigen oder zu verdrängen, das Mukkerherz aber iſt wie ein Diamank: bei jedem Kinde wird eine neue Seike geſchliffen und eine neue Flamme erzeugt, die der früheren nicht ſchadek, ſondern ſie noch mehr verklärk.“ Als ſie dieſen Brief — ein Gratulationsſchreiben an eine jung Ver⸗ mählte — abſandte, war ihr zweites Kind, ein Töchkerchen, das dem 232 älkeſten, einem Sohn, nach kaum einem Jahre gefolgk war, gerade geboren worden, und die Kinder bildeken ihr wachſendes Entzücken, den Mikkelpunkk ihres Denkens und Tuns. Welche mütkerlichen Träume und Zukunfksgedanken umſpielken jetzt ſchon Oktos ſchwarzes Köpfchen und das goldig ſchimmernde der kleinen Marianne! Die Kinder ſind unſere Unſterblichkeit — wer vermag dieſen Gedanken in ſeiner ganzen Tiefe, in der ganzen Schwere der Ver⸗ ankworkung, den er auferlegk, ſkärker zu empfinden als eine Mutker, als eine ſolche Mukker, bei der „Gefühle und Erfahrungen ſo un⸗ verlöſchbare Eindrücke hinkerließen und eine ſüdliche Phankaſie ins Ungemeſſene trug.“ Rach ihren Briefen aus jener Zeik zu ſchließen, überließ ſie die Kinder ſo wenig als möglich anderen. Gerade die unbewußten Ein⸗ drücke der erſten Kindheik erſchienen ihr als ausſchlaggebend für das ganze Leben. Das ſprach ſie ſchon aus, als ſie bei der Geburk des Grafen von Paris an die Herzogin von Orleans ſchrieb: „O, gieb wohl Acht, aus welchen Zweigen du die Wiege des Kindes flichtſt. denn die Iweige wachſen zu Bäumen empor und beſchakten das Menſchenleben; umſonſk umwindeſt du dann die Stämme mit Kränzen, umſonſt ſchmückſt du die Wipfel mik Blumen, ein Windſtoß des Schickſals verwehk ſie, und es zeigt ſich wieder, ob eine Trauereſche oder eine immergrüne Tanne darunker wuchs.“ Keinerlei geſellige Anſprüche enkzogen ſie ihren Mukterpflichten; bei den weiken Enkfernungen und ſchlechten Verbindungen war an nachbarlichen Verkehr nichk zu denken, und das Leben war ſo aus⸗ gefüllk, daß er nichk vermißk wurde: „Ich lebe nach all meinen Ein⸗ ſamkeikskräumen und finde ſie in Wirklichkeik noch lieber,“ ſchrieb ſie nach dreijährigem Aufenthalk in Garden und fügke hinzu, daß ſie ſich nichk vorzuſtellen vermöchke, jemals in das ſtädtiſche Leben zurück⸗ kehren zu können. Rur leiſe klang hie und da die Sehnſuchk nach fernen Lieben durch. „Von mir,“ heißk es in einem Brief an Frau 233 Froriep „kann ich nur Erfreuliches berichken: meine lieben Herzens⸗ kinder gedeihen an Geiſt und Körper, und übermorgen iſt Weihnachten!! — Ottchen iſt groß und kräftig, und ſeine Liebe und Zärtlichkeik be⸗ glückk mich unendlich. . . Wir ſehen niemanden, und jeder Tag iſt ſich gleich — gleich lieb und angenehm, ich zeichne, ſtricke, ſchreibe, leſe zuweilen, ſpiele abends mit Werner Schach, oder wir leſen ein⸗ ander vor. Die Grundfarbe des Lebens ſind immer die zwei lieben Engelchen, und hätke ich meine Mama und meine Emma, dann möchte ich niemals ſterben.“ Das liebe Bild Weimars mochte aber doch immer lockender vor ihrer Seele ſtehen, und das Verlangen, ihr Frauenglück, ihren Mutker⸗ ſkolz dork ſtrahlen zu laſſen, wo alle Freuden und Leiden ihres Mädchenlebens ſich abgeſpielk hakken, war bald ſtark genug, um ſie die beſchwerliche Reiſe im Wagen mik zwei kleinen Kindern nicht fürchten zu laſſen. Im Februar 1841 ſchrieb ſie an eine ihrer Weimarer Freundinnen: „Wie ich mich freue, Dich wieder zu ſehen, Dir meine lieben, lieben Kinderchen zu zeigen! Wie ich die Unerſchöpflichkeik über dieſes Thema nun ſelbſt übe, kann Dir Emma ſagen; jetzt, wo ich die ſüße Hoffnung habe, ſie nach Hauſe zu bringen, ſie dork lieben und hoffenk⸗ lich gefallen zu ſehen, kann ich eher ſchweigen, obwohl mir Okkos Geſchichten bei weikem intereſſanter erſcheinen als die Berechnungen über den Durchbruch der Weichſel und die Angelegenheiken vom Gleichgewichte Europas! . . . . Jetzk habe auch ich die ſtille Ruhe eines befriedigten Herzens und eines ausgebildeten und ausgefüllken Cebens; mein Werner, meine Kinder, mein Haus, meine Lebens⸗ weiſe, meine Gegenwark, meine Ausſichk für die Zukunfk, alles er⸗ füllk mich mik der gleichen unausgeſetzten Dankbarkeik gegen Gokk, und die Opfer vieler Lieblingsbeſchäftigungen erſcheinen mir um ſo unbedeukender, da ich mit regem Inkereſſe Werners Tätigkeik, ſeinem ſo reichen und viel umfaſſenden Berufe folge. 234 Alke und neue Freunde, unker dieſen der Gatke ihrer Skief⸗ ſchweſker Cecile, Graf Fritz Beuſk, machten ihren Weimarer Aufenthalk zu einem ſehr wohlkuenden, und doch kehrte ſie gern zurück in den Kreis ihrer Wirkſamkeik, zu ihrem Gatken, den ſie mehr und mehr lieben lernke. Manche Ausſprüche in ihren Briefen legen von dem unge⸗ krübten Glück ihrer erſken Ehejahre Zeugnis ab. So ſchrieb ſie ein⸗ mal, als Werner in Geſchäfken längere Zeik abweſend geweſen war: „Während meiner ſechswöchenklichen Strohwikkwenſchafk war ich ſehr einſam, und gegen das Ende dieſer Zeik ergriff mich eine große Sehnſuchk, dennoch habe ich mich durch ſtille Beſchäftigung und namenklich durch die ununterbrochene Gegenwark meiner Kinderchen erheiterk — als aber einmal mitten in der Rachk mein Werner neben meinem Bekte ſtand und leiſe meinen Ramen rief, da wußte ich mich doch kaum eines ſchöneren Momenks in meinem Leben zu er⸗ innern; ſeikdem kann ich der Freude ſeiner Gegenwark gar nicht ſakk werden, und ſo einförmig und ſtill unſere Tage ausſehen, ſo ſind ſie doch lebendig durch unſer Glück und unſere Liebe.“ Und in einem anderen Briefe heißk es: „ . . ich bin ſchon einige⸗ male mit den Kindern und deren Kameraden zu dem unſchuldigen Feſt der Schlüſſelblumenleſe auf einer runden allerliebſten Wieſe mitken in einem herrlichen Buchenwald geweſen — wenn ich da mik einem Buche ſitze und die kleine jubelnde Geſellſchafk um mich herum ſpielk, ſcheink es mir, als gäbe es gar keine anderen Feſte in der Welk, und komme ich dann nach Hauſe und gehe mit meinem Werner herum, ſo ſcheink mir dies wieder wie ein beneidenswerkes Feſk — kurz, ich bin eine glückliche Frau . . . Wie wenig die Außenwelk ſie lockte, mit der ſie nur durch den Briefwechſel mit ihren Freunden verbunden war, wie ſicher ſie ſich glaubke in ihrem ſtillen Frieden vor allen Zweifeln, aller Zerriſſen⸗ heik des Innern, unter der ſie einſtmals likt, gehk aus folgenden Zeilen hervor: „Die liebe Prinzeß Auguſta hat meiner Ignoranz in 235 der neueſten ſchönen Litterakur ekwas nachgeholfen und mir die Reiſebilder der hahn und einige andere Bücher geſchickk; ich habe ſie mik großem Inkereſſe geleſen, mich dabei mit einigem Grauſen an die Akmoſphäre von Otkiliens Salon und leider recht viel an ihr armes zerriſſenes Gemük erinnert, — ich bin mit einigen Kopfwunden und einigen radikal verwachſenen Rarben durch den Strom ge⸗ ſchwommen, der die arme Ottilie umbrauſte und dem ſie ſich hingab und hingiebk wie die verrückte Hahn, — jetzk wo ich am friedlichſten Ufer ſtehe, wo der Strom nicht einmal mik ſeinem Schaum hin⸗ kommt, erſcheinen mir die Herzen doppelk unſelig, die ſich hin⸗- und herſchleudern laſſen, anſtatk einen kühnen Sprung zu kun und ans Cand zu kommen.“ Denſelben Gedankengang folgke ſie, als ihr junger Freund, der Erbgroßherzog Karl Alexander ſich verlobk hatke und ſie ihm ſchrieb: „Am ruhigen Afer angelangt zu ſein, wie ich, ſich ſelbſt freudig in dem geliebten Anderen und dann in den Anderen aufgehen zu ſehen, wie ich, von dieſer ſicheren Stätke aus nach außen im Großen zu wirken, wie ich es nur im Kleinen vermag — darin vereinigen ſich meine höchſten und beſten Wünſche.“ Auf ihren Brief erhielk ſie folgende Antwork, die der erſte Anfang zu dauernder brieflicher Verbindung ſein ſollke: Weimar, den 1. März 1842. Meine liebe guke Frau von Guſtedk! Sie werden vielleicht erſtaunk ſein, einen Brief von dieſer Hand zu erhalten, die es wagk, in einem Tone zu ſchreiben, der auf alke freundſchaftliche Beziehungen ſchließen läßt, aber wenn ich Ihnen ſage, daß die Perſon, die Ihnen ſchreibk, von allen Ihren Freunden der Treuſte und Ihnen am aufrichkigſten zugekan iſt, und deſſen dauernde Freundſchafk für Sie aus ſeiner Kindheik ſtammt, werden Sie leicht erraten, welche Hand ſich heuke zum erſten Mal die Freiheik nimmt, Ihnen zu ſchreiben. Es iſt ein alter Wunſch von mir, Ihnen 236 einmal brieflich zu wiederholen, daß weder Zeit noch Enkfernung ſemals aus meinem Herzen die Erinnerung und meine tiefe An⸗ hänglichkeik an Sie auslöſchen können, aber die Furcht, indiskrek zu erſcheinen, hat mich zurückgehalten, heute aber, wo ich an einem der wichtigſten Abſchnitke meines Lebens angekommen bin, habe ich das Bedürfnis, meine Gefühle dem Herzen einer Freundin anzuverkrauen, und hätke ich da, ſagen Sie es ſelbſt, gnädige Frau, ſchweigen und mich nichk an Sie wenden ſollen? Arbeiken aller Ark, zwingende Briefe haben mich verhinderk, den Wunſch, den ich hatte, Sie zu ſprechen, zu verwirklichen, denn es giebt Dinge, die zu wichtig und zu zark ſind, um beſprochen zu werden, wenn nicht Körper und Geiſt in Ruhe ſind. Ich weiß bereiks, welche Teilnahme Sie für meinen letzken wichtigen Entſchluß empfunden haben, es war auch kaum nötig, es noch zu verſichern, denn ich wußte im Voraus, daß Sie mir bei dieſer Gelegenheik Ihre Glückwünſche nichk verweigern würden, die mir ſo notwendig ſind und denen ich einen ſo hohen Werk bei⸗ meſſe. Dafür möchte ich Ihnen jetzt meinen aufrichtigen Dank aus⸗ ſprechen, nehmen Sie ihn an mit der Verſicherung, daß er aus dem Grunde eines Herzens kommk, das Ihnen ganz ergeben iſt. Ich wage die Bitke hinzuzufügen; geben Sie mir Ihren Segen als Freundin, er wird mir Glück bringen, er wird mir die Krafk geben, Sie nach⸗ zuahmen in der Erfüllung Ihrer Pflichten und in der geiſtigen Enk⸗ wicklung, die Sie zu ſo ſchönen Erfolgen geführk hat und die alle Menſchen ergreifk, die das Glück haben, ſich Ihnen zu nähern. Sie müſſen von nun an auch meiner Brauk ein wenig Freundſchafk enk⸗ gegen bringen, denn ich liebe ſie aufrichtig, und ſie verdient Ihre Achkung. Ich darf wohl ſagen, daß ſie alle Eigenſchaften hat, die hoffen laſſen, daß wir guk mikeinander leben werden, ihr ſanfter Charakter, ihre immer frohe und gleiche Laune, ihr gebildeter Ver⸗ ſtand und die Zuneigung, die ſie mir enkgegenbringt, berechtigen mich, wie ich glaube, zu dieſer Hoffnung. Ich wage ſogar zu hoffen, daß 237 ſie dereinſt den beſchwerlichen, aber ſegensreichen Weg wandeln wird, den auch meine Urgroßmutker, meine Großmutter und meine Mutter gegangen ſind und noch mit ſolchen Erfolgen gehen; und das iſt nichk der geringſte Vorkeil, den ſowohl das Land wie auch meine Familie aus dieſer geplanten Vereinigung ziehen werden . . . . . . Meine 23 Jahre und ihre 17 ſind allerdings kein hohes Alter, aber das Sprichwork ſagk: „wem Gotk ein Amt giebt, dem giebt er auch die Kraft“, das läßt mich hoffen, daß unſere Jugend kein Un⸗ glück iſt, um ſo mehr als ſich dieſer Fehler ja mik jedem Tage ver⸗ ringerk, Ich wünſche herzlich, Sie bald mik meiner Brauk bekannk machen zu können, und hoffe, daß, wenn ich erſt verheirakek bin, Sie ſich mit eigenen Augen davon überzeugen werden, wie es in meinem kleinen Haushalk zugeht. Der Gedanke, daß ich von meinem Haus⸗ halk ſpreche, kommt mir ſo ſelkſam vor, daß ich zu kräumen glaube. — Aber dieſer Brief wird ein Buch, und ich muß geſtehen, daß ich vergaß, daß ich Ihre Güke und Ihre Geduld mißbrauche, wenn ich in einem fork von mir ſpreche. Geſtakken Sie mir noch, Sie zu bikken, Ihrem Gatken meine Empfehlung zu vermitkeln, und bewahren Sie Ihre Güte und Freundſchaft dem, der für das Leben bleibt Ihr ergebener Freund Carl Alexander. Es gehörk zu jenen freundlichen Märchen, an die die Menſchen ſo gerne glauben, ſolange ihr Herz noch jung iſt, daß Freundſchaft und Liebe dem Dache gleichk, das vor den Unbilden des Wetters Schutz biekek, oder dem Ol, das die heranbrauſenden Wogen des Schickſals beſänftigk. Wäre es Wahrheik, wie geſicherk vor allem Böſen hätte Fennys Leben verfließen müſſen! Aber das Unglück kennk keine Hinderniſſe, wenn es ſein Opfer erreichen will, und um ſo größer und vernichtender iſt es, ſe reicher und kiefer die Seele iſt, 238 die es triffk. Ein Pfeil, der an der Hauk des Elefanken abprallk, durchbohrk die Taube; ein Schrokkorn, das im Fell des Bären ſtecken bleibk, kötek die Nachkigall. Vielerlei Erlebniſſe, die für robuſte Raturen ohne tieferen Ein⸗ druck vorübergegangen wären — Undankbarkeik und Unkreue bei denen, die mik Wohlkaken überſchükkek wurden, Fehlſchlagen der liebe⸗ vollſten Erziehungsmethoden — wirkten beinahe verdüſternd auf Jennys Gemük. Schlechte Ernten, getäuſchte Hoffnungen auf Ver⸗ beſſerungen im Kreis und in der Provinz überwand ſie nicht, wie glücklichere Raturen, durch neue Hoffnungen, ſie ſteigerken vielmehr ihre Sorgen. Kamen krübe Rachrichken von Freunden und Ver⸗ wandten, ſo überwand ſie ſie ſchwer. Als Wilhelmine Froriep ihr vom Tode ihres Kindchens Mitkeilung machte, ſchrieb ſie ihr: „Wie mein höchſkes Glück in meinen beiden Kindern liegk, ſo iſt dies auch gleich die wunde Stelle, an der mein Mikgefühl für andere Mütker faſt phyſiſch ſchmerzhaft iſt — in jeder Fingerſpitze fühle ich körper⸗ lich, was im Herzen vorgehk . . .“ Waren die eigenen Kinder krank, ſo pflegte ſie ſie bis zur Erſchöpfung, aber ſie litk weit mehr unter der Angſt, als unter dem Verſagen der Körperkräfke. Die lang an⸗ dauernde, ſchmerzhafte Krankheik ihrer zärklich geliebten Mutker, der ſie fern bleiben mußke, weil ſie ſich zwiſchen ihr und den Kindern nicht zu keilen vermochte, erfüllte ſie mit dauernder Angſt. Die Geburk ihres dritken Kindes, eines Mädchens, das auf ihren Ramen gekaufk wurde, vermochte ſie darum nicht mit derſelben Wonne zu begrüßen, die ſie ſonſt empfunden hatke — ein Umſtand, der ſie Zeik ihres Lebens dieſem Kinde, meiner Mutker, gegenüber etwas wie Schuldbewußtſein empfinden ließ. Ein halbes Jahr nach⸗ her, im Dezember 1844, rief der beſorgniserregende Zuſtand der Autker ſie nach Weimar. „Wenn man nicht mehr für die Seinen leben kann, warum dann überhaupk noch leben?“ hatte ſie in einem ihrer letzten Briefe geſchrieben, „ich kann ihnen nichts mehr ſein, 239 kann ihre Järklichkeik nur mik einem Blick der Verzweiflung beank⸗ worten. O gütiger Gotk, erhöre mich, laß mich heimkehren zu Dir! Von dort aus werde ich meine Kinder ſegnen, werde ihnen danken für alles Glück, das mir geworden iſt durch ſie! Alle Seligkeik des Cebens verdanke ich ihnen, und die Worke, die ich ſo gern wieder⸗ hole: Ich bin eine glückliche Mutker, ſollen auch meine letzten ſein und mir den Abſchied verſchönen!“ ſenny kraf ſie nichk mehr am Ceben. Sie gab ihr noch das letzte Geleik, dann kehrke ſie heim, um vieles gealterk, wie jeder, an deſſen Lebensweg der erſte Grab⸗ ſkein ſich aufrichkek. Lange vermochte ſie ſich nicht zu erholen. „Meine Rächte“, ſo ſchrieb ſie, „ſind durch ſchreckliche Träume des vergangenen zammers, der durch die Lebhaftigkeik derſelben immer wieder zur Wirklichkeik wird, ſehr peinlich; dann erwache ich in Angſtſchweiß gebadek mit Herzklopfen und mik einer demnach wieder neuen Täuſchung, weil ich zwar die kroſtloſe Überzeugung des nahen Todes meiner geliebken Mutker kräume, in der Regel aber nicht, daß er wirklich erfolgk ſei — daher mir die Gewißheik beim Er⸗ wachen einen neuen Schreck giebk. Am Tage erhole ich mich durch die Stille, den freundlichen Sonnenſchein, der zu jeder Stunde meine behaglichen Zimmer erhellk, durch die geiſtige Ruhe, die unſchuldige Fröhlichkeik meiner drei lieben Kinder und die Liebe meines Mannes. Es iſt mir ſehr wohlthuend, daß mir niemand von meinem Schmerze ſprichk, und mich wieder niemand ſkörk, wenn ich davon ſprechen oder daran denken will. So vergehen leiſe und ſanfk meine Tage in einer ſtillen Trauer, die mir ſo mit meiner Seele verwebk zu ſein ſcheint, daß ich nichk weiß, wie ſie je aufhören kann, oder wie ſich neben ſie die Fähigkeik, eine frohe Botſchafk, eine rechk volle Cebens⸗ freudigkeik zu empfinden, ſtellen wird. Ich beſchäftige mich auch ſo leiſe hmn und fühle mich nichk allein nichk geiſtig gelähmk, ſondern ſogar durch den Gedanken an meiner Mutker Liebe und Segen zur Tätigkeik, die ſie billigke, angeregk. 240 Die ländliche Ruhe empfand ſie jetzk doppelk wohlkätig. Den Schmerz durch Zerſtreuung zu betäuben, jenes Rezepk ſchlechter Seelen⸗ ärzke, die nichk wiſſen, daß er die Heilkraft in ſich ſelbſt trägt, wies ſie weik von ſich: „Der Schmerz ſoll ſein, wie der Schnitk an der wilden Roſe, der ihrer Veredelung durch ein neues Reis vorangeht, ſchrieb ſie, und auf einen keilnehmenden Freundesbrief ankworkeke ſie: „Meine Pläne konzenkriren ſich alle auf Garden, meine letzke Reiſe hat einen kiefen Eindruck nichk allein auf mein Herz, aber auch auf meine Phankaſie gemacht, erſt jetzk kommen Rächte vor, wo ich ſie nicht im Traume wieder durchlebe, und das Work „reiſen“ hat einen ſchmerzlichen Klang für mich . . . Ich lebe ganz klöſterlich, ſtill, ernſt, beſchäftigk und ergeben, obgleich wehmütig bis im Innerſten der Seele, meine Kinder ſind mein Glück, ſie gedeihen in dem ge⸗ ſegneken Landleben, wo ich alles auf ſie einrichken kann, auch der ſtrenge Winker iſt ihnen nicht entgegen, da ſie käglich, und Okko oft den ganzen Tag, draußen ſind; jetzk fahren ſie im Schlitten ſpazieren, und mein ſennchen hälk mik ihren zwei dunkelroken dicken Bäckchen auf dem weißen Kopfkiſſen ihren Mittagsſchlaf. Während ſie mit ihrem Beſitztum ſich immer mehr verwachſen fühlke, je mehr Liebe und Arbeik darauf verwandt worden waren, und jede Ausgeſtaltung des Hauſes, jede Gartenanlage es ihr mehr und mehr zur Heimak machte, in der ſie und ihre Kinder Wurzel faßten, erſchien dem Gakken das Feld ſeiner Tätigkeik immer enger. Der Wunſch, ins Weike zu wirken, beherrſchte ihn immer lebhafker. Fenny beobachtete dieſe Entwicklung mit ſtillem Kummer. Sie hoffte, er würde als Landrak Befriedigung finden, und unkerſkützte daher ſeine Beſtrebungen nach dieſer Richtung. „Ich wünſchte ſehr für Werner,“ ſchrieb ſie, „daß er Landrat wird, da mein viel ehn⸗ licherer Wunſch, daß er ſein Leben mit dem in jeder Hinſichk an⸗ geſtrengten Eifer ausfüllen möchte, ſein Guk materiell und moraliſch zur höchſt möglichen Vollkommenheik zu bringen, nicht erfüllk wird, Im Schatten der Titanen. 16 241 und ſein Intereſſe gemeinnütziger iſt und in weikerem Kreis ſich bewegk, ſo würde er als Landrat auf andere Weiſe meine Cebensidee erfüllen, denn ſeine Pläne für Chauſſeen, guke Wege, Sparkaſſen, Krankenhäuſer, Turnanſtalten, ökonomiſche Landver⸗ beſſerungen, ſind nichk allein dem Plan, aber auch den Vorarbeiten nach, reif, und ich zweifle nicht an ſeiner Energie zu ihrer Aus⸗ führung.“ Für ſie ſelbſt gewann der Plan an Reiz, da ſeine Ausführung ſie nichk von Garden forkzuführen ſchien und ſich ihr dabei die Mög⸗ lichkeik bok, für ihre ſozialen Beſtrebungen einen breikeren Boden zu finden. Ihre Briefe aus dem Anfang des Jahres 1845 laſſen über⸗ haupk einen zuweilen bis zum Krampfhafken geſteigerten Tätigkeiks⸗ drang erkennen. Die verſchiedenſten Pläne durchkreuzten ihr Hirn, und für die, die der öffentlichen Wohlfahrk dienken, ſuchte ſie ihre fürſtlichen Freunde vor allem zu intereſſieren. Schaffung von Rekkungs⸗ häuſern für uneheliche Kinder, Suppenanſkalken für Arme, Heime für die ſchulpflichtige Arbeikerjugend ſchlug ſie ihnen im Dekail vor. Sie bekam damals dieſelben Ankworken, die heute die Regierungen zu geben pflegen, wenn ſie zur Abhilfe dringender Rokſkände auf⸗ geforderk werden: man wolle die Frage unkerſuchen laſſen. „Als ob es der Unkerſuchung noch bedürfke,“ ſchrieb ſie, „wo im 19. Jahr⸗ hunderk in Preußen Menſchen verhungern und erfrieren und Kinder aus Mangel an Rahrung und Pflege elendiglich zu Grunde gehen! In einem längeren Brief des Erbgroßherzogs von Sachſen⸗Weimar — einem der ſehr wenigen, die erhalken blieben — findek ſich eine Bemerkung, die auch auf eine ſolche Anregung ihrerſeits ſchließen läßt, aber auch die weiche Liebenswürdigkeit des jungen Fürſten, die damals ſchon für energiſche Tatkrafk nichk viel Raum ließ, ſo daß jenes „Weh dem, daß du ein Enkel biſk!“ auch auf ihn Anwen⸗ dung finden mochte, kritt gerade in dieſem Schreiben beſonders deuklich hervor: 242 Weimar, den 12. März 1845. Was Sie von mir denken, kann ich, verehrte und geliebte Freundin, weder raten noch wiſſen; was mich angeht, ſo weiß ich nur, daß ich dieſen Brief mik einem Gefühl wirklicher Beſchämung beginne. Auf Ihre liebenswürdigen und freundſchaftlichen Worke durch ein Schweigen von mehreren Wochen zu antworten, — nicht danken, wo ſoviel Güte es zur heiligen Pflicht macht, das iſt ein Verhalken, das den ſchärfſten Tadel verdienke, wenn das Gewiſſen des Angeklagken ihn nichk be⸗ rechtigte, ſeinen Richter um Milde zu bikten. Es giebk Briefe und Briefe, wie es Freunde und Freunde giebt. Sie ſelbſk bezeichneten eines Tages die verſchiedenen Arken und teilken ſie ein in Freunde, die wir lieben, ſolche, die wir nicht lieben, und ſolche, die wir nichk leiden können. Es beſteht eine große Ähn⸗ lichkeit zwiſchen den verſchiedenen Arten von Freunden und den ver⸗ ſchiedenen Arken von Briefen; es giebk welche, die man aus Pflicht⸗ gefühl ſchreibt, ſolche, die man aus Rückſichk ſchreibk, und es giebt endlich Briefe, die man aus innerem Drang, aus Freundſchaft, aus Begeiſterung ſchreibk. Ich brauche Ihnen, glaube ich, nicht zu ſagen, daß die Briefe, die Sie mir an Sie zu richten geſtakken, zu dieſer letzken Klaſſe gehören, und gerade weil ſie dazu gehören, können ſie nicht zu jeder beliebigen Zeik geſchrieben werden, wie man auch nicht jeden Augenblick eine gute Unterhaltung führen kann. Deshalb ſchien es mir, als ob die im Tumulk des Carnevals verbrachten und durch eine Familienverſammlung unkerbrochenen Wochen kaum die geeignete Ruhe boken, um mit Ihnen zu ſprechen. Caſſen Sie mich nun von einer Verpflichtung zu einer anderen übergehen und Ihnen im Geiſte die Hand küſſen für den lieben, freund⸗ lichen und zarken Brief, durch den Sie mich geehrk haben und der mich ſo erfreuk hat. Ich will ihn im einzelnen beankworken und ich kann nicht beſſer beginnen, als indem ich von Ihrer Geſundheik ſpreche, die, wie ich hoffe, zur Skunde wieder vollkommen hergeſtellt iſt. Die 243 16* Eindrücke, die Sie im letzken Winker gehabk haben, waren zu kief, zu ſchmerzlich, um nichk Ihre Geſundheik zu erſchüttern, aber ich habe eine zu hohe Meinung von Ihrem Willen, von Ihrem Eifer für das Gute, von Ihrer Tätigkeik und endlich von Ihrer Religion, um nicht überzeugk zu ſein, daß Sie ſchon ſeik langem Ihre Ruhe und Ihre Geſundheik wiedererlangk haben. Gokk behüte mich davor, Ihren Schmerz nicht achten zu wollen, er iſt viel zu heilig, um nicht Gegenſtand allgemeiner und aufrichtiger Teilnahme zu ſein; aber es bleibk ewig wahr, daß eine regelmäßige Beſchäftigung heilenden Balſam in ſolche Wunden gießk. Darum ſehe ich ſie mutig den Weg weiter verfolgen, der Ihnen, ſeik Sie uns verlaſſen haben, den Segen Ihrer Untergebenen eingekragen hat, ebenſo wie die, für die Sie hier ſorgten, Sie ſegneken und noch ſegnen. Der Plan, den Sie mir vorlegen, oder vielmehr der Vorſchlag, den Sie mir machen, mich für eine Anſtalk zu inkereſſieren, deren Iweck ſein ſoll, für die Kinder von Ammen und unverheirateten Müttern zu ſorgen, iſt ein neuer Beweis dafür. Ich beeile mich, alle erforderlichen Informationen einzuziehen und in Kurzem werde ich die Ehre haben, Ihnen davon zu berichten. Auf jeden Fall bin ich von dem wahrhafk chriſtlichen Gefühl überzeugt, das Ihnen dieſen edlen Plan eingegeben hat, auch von dem Schmerz, den Sie empfinden, wenn Sie an das Unrecht denken, mit dem ſo viele Menſchen in dieſer Beziehung ihr Gewiſſen belaſten. Es gehk ja mit dieſem Unrechk wie mit ſo vielem anderen, das man begeht, ohne daran zu denken, ich kann ſagen: glücklicher⸗ weiſe, ohne es zu vermuten. Wenn man ſich immer beobachken würde, wenn man immer Acht gäbe, würde man in ſeinen eigenen Augen ganz anders erſcheinen, als man ſich zu ſehen gewohnk iſt. Ich weiß nicht, ob Ihr Gemahl, dem ich mich zu empfehlen bitte, Landrak geworden iſt oder nicht; es wäre mir lieb, wenn Sie mir das mitkeilen würden. Ich wünſchke es ihm aufrichtig, und wenn die Verwirklichung von mir abhinge, hätte ich mich nicht auf 244 bloße Wünſche beſchränkk. Wie gern ſähe ich Sie in der richtigen Sphäre für Ihre Thakkrafk und Leiſtungsfähigkeik. Doppelk gern, weil Sie, auf einen ſozuſagen unkulkivierken Boden geſtellk, alles ſelbſt erſt ſchaffen mußken; eine ganz von Ihnen geſchaffene Welk, meine liebe Jenny, muß ſehr ſchön ſein, beinahe ein Para⸗ dies, denn über dem Schönen, das Sie immer ſchaffen, werden Sie ſteks das Gute herrſchen laſſen! — Damik wäre Ihr Brief an⸗ nähernd beankworkek, ich ſage annähernd, weil im Grunde nur das Leben allein die rechte Ankwork geben kann auf die Worke, die ſich an alle fühlenden, empfindenden und handelnden Faſern meines Weſens zu richken ſcheinen. Ich bitke Sie demnach, von meinem Ceben die Antwork auf Ihr Inkereſſe, Ihre Freundſchafk und Ihre Teilnahme zu erwarten. — Ich kann die Feder nicht fortlegen, ohne Ihnen noch ein wenig von hier zu erzählen. Ihr Vater und Ihre Schweſter befinden ſich wohl; Cecile geht ſeik einigen Tagen wieder aus und ſcheink ſich guk von Ihrer Entbindung erholk zu haben. Die Kleine wurde in Gegenwark von Mama und uns allen gekauft, was mich tief gerührk hat, denn Beuſt gehörk ſo ſehr zu meiner eigenen Familie, er bildek ſo ſehr einen Teil meiner ſelbſt, daß es mir vorkommt, als ob alles, was ihm begegnet, Gutes und Böſes, mir ſelbſt geſchähe. Ich ſehe häufig Fräulein von Froriep, deren liebenswürdigen Charakter ich mehr und mehr bewundere, ohne von den anderen Eigenſchaften zu ſprechen, die ſie auszeichnen. Sie erinnerk mich ofk an Sie, und ich glaube deshalb um ſo mehr, daß das, was ſie ſo liebenswürdig, ſo gleichmäßig gut und intereſſank macht, eine Gabe iſt, die ſie von Ihnen hat. Denn das iſt eine wirkliche Wohlthat der Freundſchafk, eine ihrer Segnungen, daß ſie die guken Eigenſchafken eines Freundes auf den andern überkrägt. Es ſcheink mir eine der ſchönſten Erinnerungen zu ſein, die man an ſemanden haben kann, ſich zu ſagen, daß dieſe oder jene gute Eigen⸗ ſchaft, die ich beſonders liebe, von dieſem oder jenem Freunde ſtammt. 245 — Vor einigen Tagen kam Frau von Goethe an, die ſich wegen Familienangelegenheiken herbegeben hatke. Es ſchmerzke mich, ſie zu ſehen; ich kann ſie nur einem enkwurzelken Skamm ver⸗ gleichen, der auf dem Waſſer ſchwimmk, ſo ohne Ziel, ohne feſte Abſichken, ohne Plan, ohne Zukunfk iſt ſie. Durch ihre manchmal etwas barocke Eigenark brach zuweilen ihr mükkerliches Gefühl durch, und dann ſagke ſie mit Tränen in den Augen von Alma: zunſer aller Frühling iſt hin.“ Ich ſah auch Walther, der bald nach ſeiner Mutker kam; er ſieht ſo ſchwächlich und gedrückt und lebensunkauglich aus, — verzeihen Sie den Ausdruck, — daß es einen ſchmerzk, wenn man ihn ſiehk. Man kann ſagen, daß ein großer Rame, wenn er nicht Ruhm und Auszeichnung bedeukek, zur Laſt wird. Unker den Freunden, die wir im Laufe des Winkers hier ſahen, befand ſich auch ein gewiſſer Herr von Schober, ein Mann von Geiſt und Talenk, deſſen ſchöne Gedichte ihm in Deutſchland einen Ramen gemacht haben. Ich erfreute mich des Verkehrs mik ihm . . . Eine Reiſe nach Holland, die ich jetzt während dieſes Januarwekkers unternehmen muß, kommk mir recht ungelegen. Es iſt die Zeik, in der ich mich am liebſten vollkommen in meine Skudien vergraben und von nichts ſtören laſſen möchte. Vermuklich keilen Sie meinen Geſchmack, darum verzeihen Sie, daß ich Ihre Zeik ſo ungebührlich lange in Anſpruch genommen habe. Mik vielen Empfehlungen von meiner Frau und den herzlichſten Grüßen von mir Ihr kreuſter Freund Carl Alexander. Als im Herbſt 1845 dem Gardener Ehepaar ein Töchkerchen ge⸗ boren wurde, das den Ramen der koken Großmutker erhielk, ſah Jeunn ühre Täligkeit nach außen für eine Jeiklang unkerbrochen und 246 auf die Kinderſtube beſchränkk. Ihrer vergeſſenen Künſte erinnerke ſie ſich nun wieder und zauberke in zarken Aquarellfarben die reizenden Köpfe ihrer vier Kinder aufs Papier. Otko, einen ſchlanken, feinen ſungen mik dem klaſſiſchen Profil der Bonaparkes, „der“, wie ſie ſchrieb „für mein Mukterauge das vollkommenſte Idealchen iſt“, malke ſie am liebſten keck auf ſeinem Pony ſitzend; Mariannen, mik den großen Märchenaugen, gab ſie blaſſe Koſen in die Hand; während ſenny, „der kleine blondgelockte Engel, bei deſſen Anblick mir Tränen der Liebe und Dankbarkeik in die Augen ſteigen“, mik ernſtem Geſichtchen auf der Garkenfußbank Sandkuchen backt oder das kleine Dianchen, den Liebling aller, auf dem Schoße hälk. Die zwei älkeren Kinder gingen ſchon in die Dorfſchule — eine Maßnahme, die Freunde und Verwandke entſetzke — während daheim eine junge Schweizerin, die Jenny aus der einfachen Bonne ihrer Kinder allmählich zur lieben Freundin wurde, ſie im Fran⸗ zöſiſchen unkerrichteke. In Religion und Geſchichte unkerrichtete Jenny ſelbſk und nach einer Methode, die damals noch eine ganz neue war: mik der Geſchichke der engſten Heimak begann ſie. Beim eigenen Vorſkudium hatke ſie ſich dabei für die Geſchichte der preu⸗ ßiſchen Ordensrikker ſo begeiſterk, daß ſie einzelne Geſtalken daraus, wie z. B. die Winrichs von Kniprode, zum Vorbild aller Ritker⸗ kugenden erwählke. Als noch größerer Held jedoch erſchien ihr der große Friedrich, deſſen Lebensgeſchichke ſie in ſchlichten Reimen zu⸗ ſammenfaßke, um ſie den Kindern rechk genau einzuprägen. Auch die Enkel lernken ſie, als ſie noch nichk leſen konnten, und keine hiſtoriſche Perſönlichkeik iſt mir infolgedeſſen ſo lebendig geblieben wie der „alke Fritz“. Roch mehr als ihr hiſtoriſcher wich ihr religiöſer Unkerrichk vom Gewohnken ab. Die Kinder lernken weder Bibelſprüche noch Ge⸗ ſangbuchverſe, von der bibliſchen Geſchichte erfuhren ſie wie von ſchönen Märchen, an die zu glauben, im Sinne des Fürwahrhaltens, 247 ſie nie gezwungen wurden. Rur ein Geſetz gab es für ſie als das unbedingte, dem zu folgen Tugend ſei und ſelig mache, das zu ver⸗ letzen, den Weg zu moraliſchem Zuſammenbruch, zu Unglück und Elend betreten heiße: Du ſollſt Deinen Rächſten lieben als Dich ſelbſt. Wie ſenny ihren Kindern dies Geſetz verſtändlich zu machen ſuchke, wie ſie ihnen an Beiſpielen aus dem käglichen Leben die Folgen des Gehorſams und des Ungehorſams ihm gegenüber auseinander⸗ ſetzke, das hat ſie in einem kleinen Büchlein zuſammengefaßt, deſſen vergilbte Seiten mich wehmütig anſchauen, und hinker denen die Köpfe all der Kinder, die daraus lernten, aufzukauchen ſcheinen. Auf dem weißen Marmorkreuz aber, das auf ihrem Schreibtiſch ſtand, leuchken noch immer in goldenen Lettern die Worte: Die Liebe höret nimmer auf. Im Herbſk 1846 kraf Jenny der ſchwerſte Schlag: die kleine Diana ſkarb — die große Diana zog ſie nach ins Grab! Was ſenny empfand, kann ihr Riemand nachempfinden als eine Mutker und zum erſten Aale fühlte ſie ſich, krotz der liebevollen Rähe des Gatten, allein mit ihrem Schmerz. Niemand begriff, daß der Tod eines ſo kleinen Kindes einen unausfüllbaren Lebensabgrund auf⸗ reißen kann; niemand konnke verſtehen, daß für eine Mutker das Kind ein Teil ihrer Selbſt iſt, und ſie immer verſkümmelk bleibt, wenn es ihr enkriſſen wird — wie ſie denn eigenklich nur vollkommen wird durch ihre Kinder. Wilhelmine Froriep gegenüber, die eine Mutter war wie ſie, ſprach ſie ſich aus: „Seikdem ich den kiefen unauslöſchlichen Schmerz empfunden habe, den dein Mukterherz doppelk gekannt hat, habe ich unzählige Male mit dem Gedanken in deiner milden wohltuenden Rähe verweilk, mein liebes, liebes Minele, und ſehnke mich, in deinen Augen das volle Mitgefühl zu leſen, das nur Mükker empfinden können, namenklich bei dem Tode eines ſo jungen Kindes; — aber du weißt, ich war faſt den ganzen Winter ſo krank, daß ich, ſtatt 248 meine Einſamkeik zu nutzen, ſie als eine große Bürde fühlte; — meine drei mir gebliebenen Kinderchen hatke ich ſehr viel um mich, aber ich war zu ſchwach, um dies ſo recht freudig und dankbar zu empfinden, und hätte mein Körper das Work führen dürfen, ſo hätte er ſich ſogar ſehr darüber beklagk. Im Seebad fühlke ich mich wohl, die Lufk war ſo herrlich, und das Meer ſcheink ſo ganz ohne Ab⸗ ſchnitk mik der Ewigkeik zuſammenzuhängen, daß die Seele ruhiger wird; doch meiner Rückkehr nach Garden folgte eine unbeſchreiblich trübe Zeik. Wenn die Leiden der Phankaſie ſich zu denen des Herzens geſellen, werden beide unendlich vermehrt, und iſt dann der Körper nichk ſtark genug, um den Willen zu unterſtüten, kann die Tätigkeik nichk den Damm der Gedanken bilden, ſo wird das Leben recht ſchwer; ich kämpfe noch fortwährend mit dem kraurigen Ein⸗ fluß, den die alte Umgebung ohne das heißgeliebte Kind auf mich übk, und noch ſehne ich mich ſkündlich von hier weg; da dies Gefühl ſich aber milderk, meine Geſundheit ſich ſtärkk, und meine Tatkraft zunimmk, ſo faſſe ich Geduld mik mir, und wo Vernunfk und Er⸗ gebung nichk ausreichen, hoffe ich auf die Zeik.“ Der alte Freund — Arbeik — der ihr noch immer geholfen hakke, ſollke auch jehzk wieder helfen. „Ich lebe nur meinen Kindern, die mir viel Freude machen, ohne daß freilich die Schakken fehlen, ſchrieb ſie. „Ofk ſitze ich auch auf alte deukſche Ark mit meinem Mädchen in der Zungfernſtube, weil meine Lampe und mein Buch ihnen vorkeilhaft ſind, und mich der fleißige Kreis erfreuk . . . Wäre meine Seele ohne Sehnſuchk nach Mukker und Kind, und hätke ich eine Freundin, der ich mich ſo recht innig mikkeilen könnte, ſo wäre dieſe Exiſtenz ganz nach meinem Geſchmacke.“ Bald jedoch ſollke ſich zeigen, daß das tiefe Leid eine große ſeeliſche Umwälzung in ihr hervorgerufen hatke: Garden, die kraute Heimak ihrer Kinder, wo ihr die Wälder ſo freundlich gerauſcht, die Seen ihr lachendes blaue Auge vor ihr aufgeſchlagen hatken, erſchien 249 ihr nur noch wie das Grab des einen Kindes, und ihr Geiſt und ihr Herz, die verlernk hatken, ein eigenes Leben zu leben und darum ſo qualvoll likten, wenn ein Teil ihres Lebens, das Kind, ihnen ge⸗ nommen wurde, ſehnten ſich hinaus, zurück nach der Heimak ihrer Jugend. In einem ihrer Briefe aus jener Zeik heißk es: „Daß meine Wünſche ſich nach Weimar richken, kann ich nicht leugnen und zeigt ſich auch jetzk keine, auch gar keine Ausſicht, uns dorthin zu verpflanzen, ſo mag man ſich doch gern bereik halten, glückliche Jufälligkeiken und Schickungen zu ergreifen. — Den Winker dork zuzubringen, hak immer große Schwierigkeiten: den Kindern iſt der hieſige gleichmäßige Winker zukräglicher, Okto hat Schlitken, Pferd und alles Zubehör eigen, und fährk nach Belieben, bis es 10 Grad Kälke überſteigk, dann iſt die Freude kurz und er bleibk auch gern zu Hauſe. Das Kleinſte, wenn es Gotk gibt und erhält, macht ſchon nächſten Winker die Reiſe wenn nichk unmöglich, doch ganz unwahrſcheinlich. Der günſtige Einfluß unſeres Schullehrers auf Mariannchen wird ſchwerlich erſetzk werden, eine franzöſiſche Bonne ſkehk mir ſeik Oſtern in dieſem Zweige der Erziehung bei, und für Jennchen ſind die großen ganz durchwärmken und zugfreien Räume und die Spiele mik den kleinſten meiner Skifkskinder auch ſchwer zu erſetzen. Werner hat ſein Guk und ſeine Provinzial⸗ intereſſen, auch angenehme Männer zum Umgang und meiſtens eine Reiſe, die den Winker durchſchneidet, und ſeine Laune iſt ſo gleich⸗ mäßig, und ſein Ausdruck ſo zufrieden, daß er keinen hinreichenden Grund zu einem andern Winkeraufenthalke bietek. Nun bleibe ich, die ſich wohl ofk die Abende in Weimar vormalk, wo alles Lebensluſtige bei Ball und Theater und ich mit Emma, dir, Luiſe, meiner lieben Cecile zuſammen wäre, oder der Familienkreis, der jetzt ſo gemütlich geworden iſt, mit Karls und Beuſts und Papa — aber ich bin eins gegen 5, und da außerdem das Beſte meines Selbſtes in den 5 ſteckk, iſt das, was Lavon übrig bleibh, nicht lebensfriſch genugh um egoiſtiſch zu ſein. 250 Viele ihrer Freunde keilken ihren Wunſch und ſuchten ihn dadurch zu verwirklichen, daß ſie an berufener Stelle Schrikte kaken, um Werner Guſtedk den Weg in den Weimariſchen Skaatsdienſt zu er⸗ öffnen, der auch ihm als angenehme Ausſicht erſchien. Jenny zweifelke von vornherein an dieſer Möglichkeik, ihr Mann war zu ſehr Preuße, zu wenig Hofmann, um willkommen zu ſein. Sie wußke außerdem, daß auch von Seiken des Stiefvakers, der mit ihrem Mann nicht guk ſtand, nur Oppoſikion zu erwarten war, daß auch der Erbgroßherzog, ſo ſehr er ihr nahe ſtand, für ihn keine Sym⸗ pathie beſaß, und zwar um ſo weniger, je mehr ſeine Schweſter, die Prinzeſſin von Preußen, für ihn eintrak. Aber krotz dieſer Erwä⸗ gungen der Vernunft, überließ ſenny ſich eine Zeik lang nur zu gern ihrer Phantaſie, die ihr ein Leben in Weimar in den ſchönſten Farben malke. Selbſt wenn der Aufenthalk dork kein dauernder würde ſein können, ſo hätke ſie ihn doch der drückenden Einſamkeik Gardens vorgezogen; „nach ein paar jahren“, ſo ſchrieb ſie, „könnken wir im ſchlimmſten Fall wieder werden, was wir jehzt ſind, nur in der Rähe einer großen Skadk, unſerer Verwandken und im Mikkel⸗ punkk des Forkſchrikks und eines regen geiſtigen Lebens.“ Wie anders klingen dieſe Worke der Sehnſuchk, als ihre Einſam⸗ keiksſchwärmerei der dreißiger fahre! So fern ab ſie den Welk⸗ ereigniſſen lebke, ſie ſpiegelken ſich doch in ihrer eigenen Seele wieder: der Traum der Romankik war ausgekräumk, die Wirklichkeik forderke ihre Rechte; dem Schauſpiel wich die Idylle. Wenn ſie ſich, in innerſter Seele unbefriedigk von einem Leben, das krotz aller ſelbſt⸗ gewählken und geſchaffenen Arbeik, doch nur ein Ceben des Genießens, wenn auch des reichſten geiſtigen Genießens geweſen war, in die ländliche Einſamkeik zurückgezogen hatte, um dork in ihrem Mann, in ihren Kindern, in ihren Armen und Pflegebefohlenen aufzu⸗ gehen, ſo hakte ſie dabei vergeſſen, was den Mädchen ihrer Zeit zu vergeſſen freilich zur Pflicht gemachk wurde, daß ſie ſelbſt eine 251 Perſönlichkeik war, die ihre Rechte früher oder ſpäker zur Gelkung bringen mußte. Unker dem Druck der Erziehung und der Vor⸗ urkeile war die Wandlung von einem geiſtig lebendigen Mädchen in eine gute Hausfrau, deren höchſter Ruhm es war, die eigene Individualitäk mehr und mehr abzuſtreifen und das Ideal weiblicher Pflichterfüllung dadurch zu erreichen, daß ſie dem Willen und den Wünſchen der Familie blindlings nachkam, niemals aber die eigenen lauk werden ließ, bei dem größten Teil des weiblichen Geſchlechks damals eine ſelbſtverſtändliche. Eine ungewöhnlich ſtarke Ratur mußke es ſein, die nicht zwiſchen den Mühlſteinen der Weibespflichten zerrieben wurde, und es mußken ihr Kräfte von außen zu Hilfe kommen. Hatke der Tod ihres Kindes ſie aufgeſchreckk aus gefühlvoll⸗ kräumeriſchem Verſunkenſein in das friedliche Glück des Hauſes, ſo riſſen die polikiſchen Zeikereigniſſe ſie aus einem Gedankengang, der ſich nur um das Wohl und Wehe der ſie zunächſt Umgehenden drehte. Es war nicht nur die Rok daheim, die um Abhilfe ſchrie und der mit perſönlichen Maßnahmen beizukommen ſein mochte, es war der furchtbare Gegenſahz zwiſchen Kapikal und Arbeit, der ſich wie ein dunkler klaffender Abgrund deutlicher und deuklicher vor Jedem, der ſehen wollke, aufkat. Wer war geneigker als die Kinder der Romantik, ſich von der Rot der ſchleſiſchen Weber, der hungernden preußiſchen Bauern, bis zu dem Elend der engliſchen Fabrikarbeiter aufs tiefſte bewegen zu laſſen und ſich mit der ganzen Überſchweng⸗ lichkeik ihrer Liebes- und Mikleidsempfindungen ihnen zuzuwenden? Bettinens Buch an den König, George Sands Begeiſterung für die Sache des Volks liefern den Beweis dafür. Kam eine religiöſe Über⸗ zeugung dazu, wie die ſennys, die vom chriſtlichen Glauben ausging und in der Forderung der Rächſkenliebe der Tat gipfelke, ſo mußken die Ereigniſſe der Zeik auf ſie wirken, wie Frühlingswetker auf wohl vorbereiteten Ackerboden. Mik noch weik größerem Eifer als in 252 ihrer Mädchenzeik vertiefke ſie ſich wieder in ernſte Studien, deren Iweck für ſie jetzk nicht mehr allein die perſönliche Aufklärung war, deren praktiſche Ergebniſſe ſie vielmehr hoffke, dem Allgemeinwohl einmal nutbar machen zu können. Für ihre Betrachtungsweiſe iſt ein Brief an Gersdorff aus dem Jahre 1846 charakkeriſtiſch, der an die Lektüre philoſophiſcher Schriften anknüpfk, und in dem es heißk: „Die Wahrheik, an die ich glaube, liegk zwiſchen Seneca und Bacon; Bacon's Ziel: der Rutzen und makerielle Fortſchrikk durch die Wiſſenſchafken, als Mitkel zu Seneca's Ziel: die größte mora⸗ liſche und geiſtige Enkwicklung des Menſchen. Dieſe Enkwicklung iſt das Endziel alles Strebens; wäre es im rohen Raturzuſtande erreichbarer als durch Ziviliſation, ſo würde ich für den rohen Ratur⸗ zuſtand ſtimmen, ſo aber glaube ich: es liegt der Wiſſenſchaft ob, Raum, Kraft, Zeit, Mittel zu ſchaffen, um den Geiſt möglichſt un⸗ abhängig von der Makerie zu machen, zugleich die Inkelligenz zu üben und zu ſchärfen, und dem flügelloſen Menſchen Flügel zu ſchaffen. — Die Mitkel, welche mit dem wenigſten Zeikaufwande und dem geringſten Verbrauch an Kräfken die Bedürfniſſe der phyſiſchen menſch⸗ lichen Rakur befriedigen, mithin das Vergeſſen des Körperlichen er⸗ leichtern, enkfeſſeln den Geiſt und geben ihm Zeit, Raum, Kraft und Mitkel zum wachſen und gedeihen. — Deshalb kuk die Wiſſen⸗ ſchaft göttlichen Dienſt, wenn ſie Dampfmaſchinen, Luftheizungen, Gasbeleuchkungen, Hebel, Wölbungen, Heilmethoden, Ackerwerkzeuge, Produktionsmittel aller Art erfindek, und ſo lange muß ſie raſtlos dieſem göktlichen Dienſte vorſtehen, bis die Maſſen der Menſchen Muße gewinnen, um geiſtige Entwickelung pflegen zu können.“ Als dann das Jahr 1847 erſchien, mit hohlen Augen und ein⸗ gefallenen Wangen, eingehüllk in das fadenſcheinige Gewand des Hungers, und die Rok auf Schrikk und Trikk Jenny mehr als je enk⸗ gegenſtarrte, ſah ſie noch deutlicher als je die Unzulänglichkeit 253 bloßer privaker Hilfe ein. Iwar ſchuf ſie einen großen leeren Raum ihres Hauſes zur Volksküche um und ſtellte Frauen an, die in großen Keſſeln die Mahlzeiken für die Scharen von Hungernden kochken, die Tag für Tag herbeiſtrömten; zwar gelang es ihr, Rach⸗ barn und Gemeinden zu ähnlichen Einrichtungen anzuregen, aber ſie gehörte nicht zu denen, die voll eikler Freude über die eigene Leiſtung die große allgemeine, nicht zu erreichende Rok vergeſſen, weil ein paar Menſchen während ein paar Tagen ſatt werden. Unbekannkmik all jenen polikiſch⸗ökonomiſchen Syſkemen, die die Sozialiſten Englands, Frank⸗ reichs und Deutſchlands aufgeſtellk hatken, um für Alle menſchen⸗ würdige Verhältniſſe zu ſchaffen — in ihren Bücherliſken und Aus⸗ zügen iſt kein einziges Buch der Ark aufgeführk — und immer noch durchdrungen von der Machk des guten Willens der einzelnen mußten ihre Ideen, ſobald ſie ſich auf Bekämpfung der allgemeinen Mißſtände bezogen, nokwendigerweiſe unzureichende bleiben. Aber daß ſie ſich überhaupk mit ihnen beſchäftigte, daß ſie, die gläubige Chriſtin, niemals in den verbreiteten Fehler ihrer Glaubensgenoſſen verfiel, der ſo bequem iſt für die, denen es guk geht, und ſo ein⸗ ſchläfernd für beunruhigte Gewiſſen: die Armuk für eine götkliche Einrichtung anzuſehen, und Rok und Jammer für göktliche Prüfungen — das allein beweiſt, daß eine Fauſtnatur in ihr lebendig war. Die Eindrücke der Zeik diktierken ihr folgenden Brief an Gersdorff: „. . . Alle Welk ſtimmk darin überein, daß der Augenblick ge⸗ kommen iſtk, wo für das Wohlergehn der breiten Maſſe des Volks ekwas gethan werden muß, — der edelſte wie der egoiſtiſchſte Menſch begegnen ſich heuke in dieſer Erkenntniß. Es iſt inkereſſank zu be⸗ obachten, was ein jeder heranſchleppt, um den Damm gegen jene Sturmfluk bauen zu helfen, die näher und näher kommk, um uns zu erkränken. Die einen ſehen in ſchönen Parlamenksreden die Rektung, die anderen in der Organiſation der Arbeik. Und zu dieſen gehöre ich: vom König bis zum lehzten Straßenkehrer müßte jeder 254 ſich der Vollendung dieſer Aufgabe widmen, alles Andere als neben⸗ ſächlich bei Seite ſchiebend, kein Opfer zur Erreichung dieſes Zieles für zu gering halkend. Die Schwierigkeiken ſind enorme, aber ſie ſind nicht unüberwindlich, und die Arbeit lohnt der Mühe, weil ihr Ziel die erſte Skufe zu vollkommener Radicalcur der kranken Menſchheik iſt. Preußen iſt von allen europäiſchen Staaken derjenige, der zu ihrer Aus⸗ führung am geeignetſten erſcheink; ſeine milikairiſche Organiſation, die Gewohnheikt jedes Preußen, zu gehorchen und den Geſetzen per⸗ ſönliche Opfer zu bringen, das Prinzip der Bevormundung, daß die Regierung immer befolgk hat, kurz ihre ganze Machinerie haben das Terrain vorbereikek. Ueberall herrſcht Ordnung, nur in der Arbeik herrſchk blinde Anarchie. Die Philoſophen machen Preußen gerade aus der Bevormundung einen großen Vorwurf, wer aber tiefer ſieht, kann nicht ſo ſehr in ihr das größte Uebel erblicken, als in ihrer Einſeikigkeik. Ein Kind muß gekragen werden, ehe es ſelbſt gehen kann: aus der Orggniſakion der Arbeik, die Willkür ebenſo aus⸗ ſchlöſſe wie Ausbeutung und Unbokmäßigkeik, würde nach und nach erſt die Kraft, die Freiheik, die Selbſtändigkeik ſich entwickeln . . . . An einer uns Landbewohnern naheliegenden Aufgabe könnke die Organiſation der Arbeik durch den Staak einſetzen: Der Errichkung von Fabriken auf dem Lande, die auch im Winter der Landbevölke⸗ rung Arbeik böke, damit die Einführung der Dreſchmaſchine ſie nicht mehr und mehr zum Hungern verdammk.“ Zu dem ſtarken Einfluß, den die Zeikereigniſſe auf Jenny aus⸗ übken, und deſſen Grad ſich an ihren ebenſo vertieften wie ge⸗ ſkeigerken und erweikerken Inkereſſen ermeſſen läßk, der auch den Wunſch in ihr weckte, der Enkwicklung näher ſein, an ihr mitwirken zu können, krat noch ein anderer, rein perſönlicher hinzu: die Auf⸗ klärung über ihre Herkunfk. Am 1. Oktober 1847 hatte ſerome Rapoleon nach zweiunddreißig⸗ ährigem Exil den Boden Frankreichs wieder betreten. Ob er über 255 den Aufenthalk von ſeiner und Dianens Tochter Pauline im Kloſter immer unkerrichtek geweſen war, ob ſie ſich ihm als „Mukter Maria vom Kreuz“ auf Grund der Briefe Dianens erſt zu erkennen gab, als er Paris wieder zur Heimat wählen durfte — darüber fehlten mir Rachrichken. Ob Briefe der Nonne an Diana von ſenny ge⸗ funden wurden und zur Verbindung der Schweſtern führken, läßk ſich auch nichk mehr feſtſtellen, ebenſowenig wie der erſte Brief der Ronne an ſenny mit der Mikkeilung, weſſen Töchter ſie beide waren, erhalten wurde, Eines nur ſtehk feſt: daß Diana ſelbſt es war, die es Pauline zur Pflichk gemachk hatte, ſenny aufzuklären und ſie zu bikken, den zu lieben, dem ſie das Leben dankte. Wie groß mußte Dianens Liebe geweſen ſein, wenn ſie über den Tod hinaus dem Mann, der Schmach und Leid und Verlaſſenheik über ſie herauf⸗ beſchworen hatte, die Liebe ihrer Tochker zu ſichern ſuchte! Wie erſchükternd aber mußte die Rachrichk von der Mutker heimlichem Ciebesbund, die ihr Ende des Jahres 1847 zugegangen war, auf Jenny wirken! Iwar hatke ſie in Weimar nie gelernt, die Be⸗ ziehungen der Menſchen zu einander mit dem Maßſtab der Prüderie zu meſſen, aber von der Heiligkeik der Ehe war ſie doch kief durchdrungen, und in ihrer Mukker hatke ſie das Iuſter aller chriſtlichen Tugend verehrt, und nun: welch ein Aufruhr all dieſer Gefühle! Ihre gute, edle Mukker war die Geliebte eines der verrufenſten Könige geweſen, ſie war ſein Kind, Baſtardbluk floß in den Adern ihrer Kinder! Wie mochten die böſen Zungen der Welk ihre Mukker beurkeilk haben und noch beurkeilen, was für ein Schickſal ſtand ihren Kindern bevor, wenn man erfahren würde, daß ſie eine außerehelich Geborene zur Mutker haben. Sie kannte ja dieſe Welk nur zu guk: hatte ſie ſich nichk mik einem merkwürdigen Ahnungsvermögen am meiſten zu den unehelichen Kindern hingezogen gefühlt, die von allen Enkerbken die unſchuldigſten und die verachtetſten ſind? Und während ſie ſo empfand, klang zu gleicher Zeit die flehende Skimme der koken Mutker 256 an ihr Ohr, die um Liebe bak, um Liebe für ſich und den Vaker. Sie ſah ſie vor ſich in ihrer ganzen Cieblichkeik, die doch ſteks von leiſer Melancholie beſchakkek blieb; ſie ſah ſie, wie ſie ſelbſt in ihren Todesqualen ihrer Kinder in heißer Liebe gedachte. Wie mochke ſie gelitken haben ein ganzes langes Leben lang, von dem Augenblick an, da ihr der Säugling vom Herzen geriſſen und fern von ihr im Kloſter aufgezogen wurde. Hatke ſie nicht dies furchtbare Opfer — enk⸗ ſehlicher noch, als wenn der Tod ein Kind enkführk — ihren anderen Kindern zu Liebe gebracht? ſennys Herz, das noch blukete von der Wunde, die des Töchterchens Tod ihm geſchlagen hakke, erbebte vor Mikleid und Liebe, und alles, was die hergebrachte Moral ihr an erkältender Weisheik noch eben gepredigk hakke, verſchwand vor dem einen großen Gefühl. Nun aber begann auch ihre Phantaſie, ſich ihrer Gedanken zu bemächtigen. Steks, ſelbſt als der Haß gegen ihn in Deutſchland noch alles beherrſchke, hatte ihr Geiſt dem großen Korſen Altäre gebauk. Und nun war ſie ſeines Blutes, und die Stimme dieſes Blukes war es geweſen, die ſie gezwungen hakke, dem Schickſal der Bonaparkes voll tiefer Ankeilnahme zuzuſehen, es in ſeiner kragiſchen Größe zu erkennen, als alles um ſie her voll Ge⸗ nugkuung in ihm nur die gerechte Skrafe Gotkes erblickte. Und hatte ſie ſich nichk doch des Vakers zu ſchämen?! Ihre Mukker hatte ihn bis zur Selbſtvergeſſenheik geliebk, ihre Schweſter ſchilderke ihn als einen der beſten Menſchen, und zweiunddreißig Jahre des Exils waren auch für ſchwere Sünden eine harte Buße. Gehörte er aber zu den vielen von der Welk über Gebühr Verläſterken und Ver⸗ folgten, dann war er der Liebe doppelk bedürftig. So ſtieg endlich aus dem Chaos der Empfindungen und Ge⸗ danken all jene Zärklichkeik hervor, die ſie, nach der Innigkeik ſeines Dankes zu ſchließen, dem Vater entgegengebrachk haben muß. Aber die neue Verbindung des Herzens gab auch ihren Intereſſen eine neue Richtung. Hatte ſie bisher die polikiſchen Ereigniſſe Frankreichs Im Schalten der Titanen. 17 257 lebhafk verfolgk — die Freundſchafk mik der unglücklichen Helene von Orleans hatke dazu beigetragen —, ſo fühlte ſie ſich von nun an innerlich mit ihnen verknüpfk, und die rege Korreſpondenz ließ ſie ihr vollkommen gegenwärtig erſcheinen. Der Wunſch Jeromes, die Tochter in ſeine Arme zu ſchließen, fand in ihrem Herzen ein lebhafkes Echo. Wie ihre Empfindung ſie zu dem Vater zog, ſo ihr geiſtiges Ich zu jener Stadk, die wie eine Feuerkugel wieder einmal nach allen Richkungen Europas die erleuchtenden und erwärmenden ebenſo wie die zündenden Skrahlen ihres Weſens zu werfen ſchien. Die Märzſkürme der Revolukion machten zunächſt die Reiſe nach Paris für Jenny unmöglich. Aber auch aus anderen Gründen war ſie ans Haus gefeſſelk: im Juli 1848 wurde ihr ein Sohn — ihr letzkes Kind — geboren, und die nächſten Monate gehörken ſeiner Pflege. Ihr Mutkerherz klopfke ſo ſtark und heiß für dieſes Kind wie für die anderen, aber ihre Gedanken, die ſich ſonſt bei jedem neuen kleinen Erdenbürger um ſo mehr auf die Kinderſtube kon⸗ zenkrierk hakken, konnke ſie diesmal nichk hindern, weik über die Mauern des Hauſes hinauszuſchweifen. Was ſie fühlke und dachte, als der Widerhall der Berliner Barrikadenkämpfe bis an ihr Ohr drang, als Preußens König ſich dem Willen des Volkes beugen und die Gefallenen mik entblößtem haupke ehren mußte, und als der Gatte ihrer lieben Freundin, Prinzeß Auguſta, heimlich das Cand verließ — darüber befindek ſich nichks mehr unker ihren Papieren. Daß ſie die Ereigniſſe aber mit anderen Augen bekrachkeke, als es in der Sphäre ſtreng konſervativen preußiſchen Junkerkums, in der ſie lebte, üblich war, dafür legk ein merkwürdiger Artikel von ihr „Meine Ideen zur Reorganiſakion des Staakes nach 1848“ Zeugnis ab, den ſie ihrem Stiefvaker ſowohl wie dem Erbgroßherzog von Weimar und der Prinzeſſin Auguſta von Preußen zuſandke. Ihre Ankworken ſind leider nichk mehr vorhanden — wenn ſie überhaupk jemals ge⸗ ſchrieben wurden. Der Arkikel laukek: 258 „Ein großer mächtiger Geiſt ziehk durch die Welk, — ein Geiſt des Schreckens, der Leidenſchafk und — der Gerechtigkeik; Schrecken und Leidenſchafken müſſen weichen vor einem reinen, guken Willen, der Geiſt der Gerechtigkeik muß bleiben, denn er iſt der Geiſt Goktes, der heilige Geiſt des Evangeliums; — laßk uns thun nach ſeinem Gebote, denn ein höheres giebk es nicht; laßk uns hell ſehen bei ſeinem Lichke, denn es iſt dasſelbe Lichk, das jenſeik des Grabes leuchket, das Licht, das nimmer vergeht — die Wahrheik und die Liebe!! Wir, die Reichen, die irdiſch Begünſtigken, haben ſeik einer Reihe von Jahren die Lawine beobachkek, welche die ganze bürgerliche Verfaſſung zu zerkrümmern drohk; wir haben die Rothwendigkeit kommen ſehen, daß der Arme, auch der fleißige und genügſame Arme, im Schweiße ſeines Angeſichts, mik Aufopferung aller Lebensfreuden, nichk mehr das kägliche Brok für ſich und die Seinen verdienen kann; wir haben eine Einſichk in die mercantiliſchen, ſtatiſtiſchen, politiſchen Verhältniſſe haben können. — Mancher hat einzeln gern etwas, auch viel, aber lange nichk genug gethan, um dem Uebel zu ſkeuern, und eben weil es einzeln geſchah und ein jeder begriff, daß er doch nicht helfen könne, iſt es dürftig geſchehen, und je greller die Schauer und der ſammer des Elends, welches ſeder allein nicht bewältigen konnte, in die Seele ſchnikt, deſto mehr beſchränkte man ſich, und mik Rechk, auf einen kleinen Kreis, auf Hülfe an Einzelnen, deſto mehr ſorgte, ſparke, erwarb, vermehrke man, um für die eigenen Kinder allen irdiſchen Unglücksfällen vorbeugend zu begegnen, weil man an den verhungerken, mißhandelken, verküm⸗ merken, elenden, an der Seele gekränkten Kindern, an den vernach⸗ läſſigken Greiſen und Kranken, an der nicht zu bewältigenden Fluth moraliſcher und phyſiſcher Verſunkenheik und Verzweiflung ein ſchreckliches Bild von dem hatte, was möglicher Weiſe den Ciebſten und Rächſten geſchehen konnte. Ich brauche nur an 17* 259 das Hungerjahr 1847, an die Webernoth in Schleſien, an die Rothjahre durch Dürre und Ueberſchwemmungen in der Provinz Preußen, an die Thatſachen z. B. in Betkinens Buch an den König über die Berliner Juſtände zu erinnern, ich brauche nur Jeden zu bikken, in der Reſidenz, auf dem Lande, namenklich in den kleinen Provinzſtädten, auf der Straße ſich umzuſehen; wer Arzk, Bürger⸗ meiſter, Schullehrer, Fabrikherr oder Landwirth iſt, der brauchk, dem Elende zu Gefallen, noch keinen Schrikk außer ſeiner Berufsſphäre zu machen, um zu wiſſen, zu ſehen, zu fühlen, daß unker Menſchen, unker Chriſten die Juſtände nichk ſo bleiben können. — Es iſt grauenhaft, daß eine Mukter vom Skaake gezwungen werden kann, ihr Kind ver⸗ hungern zu ſehen — und dem iſt ſo: ſie läufk zehnmal zum Bürger⸗ meiſter, der ſie nichk einmal anhörk — er iſt nicht härker, nichk ge⸗ wiſſenloſer als ein Anderer, aber er hak käglich zwanzig Fälle, wo Hülfe Roth khuk, und er hak nicht die Mitkel, er kann nichk helfen; ſo die Gemeinde namenklich in Jahren von Mißwachs, und ſo end⸗ lich der Staak — Willen, Einſicht, Mikleid, Wünſche ſind da, aber keine Mikkel — dieſe ſind es, die geſchaffk werden müſſen, und wehe, wenn der Spruch des Heilandes auch jetzk in Erfüllung gehen müßte: „Wahrlich ich ſage euch, es iſt leichker, daß ein Kameel durch ein Radelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Himmelreich komme! Ich frage, was der Reiche verlierk, wenn er den Überfluß abgiebt, um die Armuth möglichſt aus der Welk zu ſchaffen? Der Beſſere unter den Reichen genießk im Angeſichk ſo vielen Elends ſeinen Cuxus mik ſchlechkem Gewiſſen; Seide, Silber, Diener, Paläſte ſind Dinge der Eitelkeik, der Convenienz, der Sitke, ſind aber weder Glück noch Genuß, wenigſkens keine höheren, als ein comforkables bürgerliches Leben auch gewährk; Vielen ſind ſie Gewohnheik, deshalb ihre Entbehrung ein anzuerkennendes Opfer, bei weikem den Meiſten ſind es nur Rothwendigkeiken des Standes: man möchte ebenſo gern ein wollenes als ein ſeidenes 260 Kleid kragen, ebenſo gern eine behagliche Stube als zehn beſitzen, ebenſo gern zwei Gerichte als zehn eſſen, ebenſo gern ein küch⸗ tiges Dienſtmädchen als zwei anſpruchsvolle Kammerjungfern haben, aber man meink, es ginge nicht, man wird als Sonderling zum Ge⸗ ſpräch und Spotk der Leutke, man muß demüthigenden Momenken Trotz bieken, ſich vertheidigen, ſeine Einfachheik erkämpfen, und das thuk man nichk — man brauchk es ja nichk. — Der Reiche wird nichk mehr große Feſte geben, aber fragk, wieviel wahrhaft Fröhliche auf dieſem Feſte ſind? Wo hunderk Hausſtände auf ein jährliches Feſt in Wohnung, Dienerſchafk und Hausgeräth verſehen ſein mußken, wird ein einziges Ekabliſſemenk, wie jede Stadk es jehzk hak, mit wenig Koſten für den Einzelnen dieſelben Freuden und größere ge⸗ währen, weil ſie ſich nicht bis zum Ueberdruß häufen können. — Der Reiche wird nicht mehr reiſen können? O ja, dieſelbe Reiſe, die er noch vor zehn Jahren mit vier Poſtpferden in acht Tagen für ſechs- bis achthunderk Thaler machte, macht er mik der Eiſen⸗ bahn für ſechzig oder achtzig, und ſo wird nichk einmal ſein Genuß geſchmälerk werden. Der Luxus beförderk die Induſtrie — dieſer Satz enkbehrk alles wahren Gehalkes. Gewinnk die Induſtrie nichk mehr, wenn eine geſchäftige Hausfrau zwei Catkunkleider zerreißk, als wenn eine Dame ein ſeidenes Kleid auf dem Sopha aufkrägk? Gewinnk nichk die Induſkrie mehr, wenn ſechs Porzellan⸗Milchköpfe zerbrochen, als wenn alle hunderk ſahre eine ſilberne Milchkanne umgeſchmolzen wird? Die Koſtbarkeit des Stoffes macht nicht den Verdienſt des Arbeikers, ſondern die Maſſe der Arbeik. Wenn ſtatk einer Brüſſeler Spitze, die die Augen der Stickerin verdirbk, zehn ſächſiſche geklöppelte Spitzen gebrauchk werden, welche von den ärmſten Leuken im Erzgebirge gemacht werden, wo iſt da für das Allgemeine der Rachtheil? — Der Luxus beförderk nicht die Induſtrie, aber ein reges Ceben, eine allgemeine Wohlhabenheik thun es im wahren 261 Sinne des Workes — der obige Sah war ein Troſt, den ſich der Reiche machte, eine Rechtferkigung, die man für ihn erfand, aber keine Wahrheik. Dem Armen muß ein menſchliches Leben geſchaffen werden, Kinder, an denen ſich ſein Herz freuen kann, deren Geburk nicht ein Unglück, deren Daſein nichk eine Laſt, deren Tod nicht eine Erleichte⸗ rung iſt; Frauen, die im Hauſe walken und wachen können, die ſeinen Herd erfreulich, ſeine Feierſtunde ſanfk, ſeine Mahlzeik reichlich be⸗ reiten können; ein ruhiges Krankenbekk, wo er nicht mit Angſt und Kummer über das verſäumke Rothwendigſte liegk, wo er ſich nicht zur Arbeik quälk, ehe er halb geneſen iſt, wo er nicht den Vorwurf der Seinigen über ihre Laſt und Mühe zu erkragen hat, einen warmen Rock gegen die Kälke, eine geſegnete Einſichk gegen Aberglauben und Irrthum, ein unvergällkes Herz beim Anblick der Wohlhabenden — endlich einen ungebettelten Sarg und ein gepflegkes Grab. — An dieſem Gewinne ermeßk ſeine Entbehrungen, an dieſen Enk⸗ behrungen ſeine namenloſe Geduld. Wer dürfke ſich einen Chriſten nennen, der zu dieſen nächſten, ſelbſtverſtändlichſten Zielen einer Reor⸗ ganiſation der Geſellſchafk nicht gelangen und ſeine ganze Krafk dafür einſehen wollke?“ Profeſſor Scheidler, deſſen brieflich geäußerte Anſichken ſie wohl am meiſten in ihrer Gegnerſchafk zu der landläufigen Auffaſſung ihrer Standesgenoſſen unkerſtütten, ſchrieb ihr darauf: „Wären Sie ein Mann, ſo würde ich von Ihrer öffenklichen Tätigkeik Großes von Ihnen erwarken, ſo aber fürchte ich faſt, daß Ihre Ideen nicht zu Ihrem Glück gereichen.“ Seine Befürchkungen ſollten ſich nur zu bald bewahrheiken. Jum erſten Mal kam es zu tieferen Differenzen zwiſchen dem Ehepaar. Werner Guſtedk rechnete ſich zwar zu keiner beſtimmten Parkei; er war ſeiner Geſinnung und ſeinen Beſtrebungen nach eher liberal als konſervativ, aber er war ein Gegner jeden Philoſophierens und 262 Spintiſierens über Zukunfksprobleme, war ein Mann praktiſch⸗nüch⸗ terner Gegenwarksarbeik. Den Bhankaſien ſeiner Frau war er nie⸗ mals gefolgk, ihre Vorliebe, umfaſſende Pläne zu ſchmieden, hatke ihn ſkeks geärgerk, und er war immer nur froh geweſen, wenn ſie ſich bei der Ausführung einer prakkiſchen Aufgabe eine Zeiklang beruhigke. Viel⸗ leicht hätken ihn ihre radikalen politiſchen Geſinnungen auch nur verſtimmk oder ihm ein Lächeln abgelockt, wenn ſie nicht den Verſuch gemacht hätke, in weikeren Kreiſen für ſie Propaganda zu machen. Das wünſchke er nicht, und dieſem Wunſch gab er deuklichen Aus⸗ druck. Für Jenny war es, wenn nichk eine Folge verſtandesmäßiger Erwägungen, ſo doch eine Folge inſtinktiven Gefühls, daß die geiſtige Selbſtändigkeik der Frau ein die Ehe auflöſendes Momenk in ſich trägt, und zwar um ſo mehr, je mehr ſie öffenklich zum Ausdruck kommk; daß ſie ſich in ihrem Tun und Laſſen ihrem Gatten unter⸗ zuordnen hakke, war für ſie ſelbſtverſkändlich. Aber das Recht auf ihre perſönliche Überzeugung wollte und konnte ſie darum nichk preis⸗ geben. Weder der Wunſch ihres Mannes, noch ſeine abweichenden Meinungen konnten ihr daher ſo wehe kun, wie die geringſchätzige Ark, mik der er ihren eigenen Anſichten begegneke — eine Ark, die ihr deuklich genug zeigte, daß er ihnen die Exiſtenzberechtigung abſprach. Das war für ſie das ſchmerzlichſte, weil es ihr Rechtlichkeiksgefühl verletzte, und um des häuslichen Friedens willen lernke ſie, was ſo viele Frauen glauben lernen zu müſſen:) Schweigen — jenes Schweigen, das den Frieden nur vorkäuſcht, in der Tak aber zwiſchen den Menſchen eine höhere Scheidewand aufrichtek, als der bitterſte Streik es vermag. Denn dem Streik kann Einigung oder Verſöh⸗ nung folgen, das Schweigen iſt der Anfang eines leiſen, langſamen Voneinandergehens. Jenny beſchränkte ſich von nun an wieder auf den Auskauſch ihrer Ideen im Briefwechſel mik ihren Freunden. Zu ihren alten Korreſpondenken: ihrem Stiefvater Gersdorff, Prof. Scheidler, und 263 einem alken engliſchen Freund, Mr. Hamilkon, der ſie über die innere und äußere Politik Englands auf den Laufenden erhielt, ſollken bald neue hinzutreken, und auch an neuen, großen Anregungen ſollke es nichk fehlen. Im Jahre 1849, als die polikiſche Sikuakion es geſtatkeke, folgke Fenny der Einladung Zeromes nach Paris. Mik welchen Empfin⸗ dungen mögen Vaker und Tochker ſich zum erſten Mal umarmt haben, und wie merkwürdig muß das erſte Begegnen zwiſchen den beiden Schweſtern geweſen ſein: der preußiſchen Proteſtankin und der franzöſiſchen Ronne! — Eine neue, reiche, wunderbare Welk kak ſich auf vor ihren Augen: die Welk bewegken politiſchen Lebens, in deren Mitkelpunkt die Familie Bonaparte ſtand; die glanzdurch⸗ glühte, ſchönheikerfülltke Welk der katholiſchen Kirche und der unver⸗ gleichliche Reichtum alker, künſtleriſcher Kulkur. Welcher Menſch, der von den Wäldern und Seen, der halb⸗barbariſchen Bevölkerung Weſk⸗ preußens und dem engen Inkereſſenkreis ſeines junkerkums an die Geſtade der Seine verſetzk wird, könnte ſich des gewalkigen Ein⸗ drucks entſchlagen? Um wie viel mehr mußte eine Frau, wie ſenny. von ihr überwältigk werden, in deren Innern, ihr ſelbſt faſt unbe⸗ wußk, die Sehnſuchk nach geiſtigem Leben, nach reifer Kulkur ge⸗ brannt hatke. Paris wird immer, krotz Revolution und Republik, die ariſtokratiſchſte Stadk der Welk bleiben — wie Berlin ihren bourgeoiſen Charakker nie zu verleugnen vermag. Jenny, eine Ariſko⸗ kratin im beſten Sinne, mußte ſich dork wie zu Hauſe fühlen. „Es giebk Augenblicke im Leben,“ ſchrieb ſie in Erinnerung an ihren erſten Pariſer Aufenthalt, „die uns, wenn ſie einkreken, ganz ver⸗ krauk erſcheinen, weil eine dunkle Erinnerung uns ſagt, daß wir ſie irgendwann und wo ſchon im Traume verlebken; in Paris konnte ich mich tagelang auf Schrikk und Trikk des gleichen Eindrucks nicht erwehren; ich fühlte mich ebenſo ſehr hingehörig, wie ich mich in Berlin immer fremd gefühlt habe.“ Warme Sympathie verband ſie 264 ſehr raſch mik ſerome und Pauline, ebenſo mit ihrem Stiefbruder Rapoleon, deſſen politiſch⸗radikale Geſinnung ſie auch in Zukunfk mit ihm freundſchafklich vereink bleiben ließ. Im Kreiſe der Ihren lernte ſie eine Reihe der führenden Geiſter der Zeik kennen, die der wieder aufgehende Stern der Bonaparkes an ſich zog, und knüpfke die faſt zerriſſenen Familienbeziehungen mik den Verwandten ihrer Mukter wieder an. Nach ihrer Heimkehr entwickelke ſich eine vielſeitige, rege Korreſpondenz daraus, von der mir leider nur kärgliche Bruchſtücke zugänglich geworden ſind. Einer derjenigen, von dem ſie, wie ſie ſagke, außerordenklich ge⸗ förderk wurde, war der bekannte Rational⸗ökonom 7. 2. Blanqui, der ſich durch ſeine Geſchichte der polikiſchen Ökonomie in Europa, der erſten ihrer Art, weit über die Grenzen ſeiner Vakerlandes einen Ramen gemacht hakke. Als ſenny nach Paris kam, war ſein infolge eines Aufkrags der Pariſer Akademie der Wiſſenſchafken enkſtandenes Werk über die Lage der arbeitenden Klaſſen in Frankreich gerade erſchienen und hatte durch die rückſichksloſe Enthüllung grenzenloſen Elends berechtigkes Aufſehen gemachk. Seine Vorſchläge zur Ab⸗ hilfe der Rot, die er auf Grund der ſieben Fragen der Akademie zum Schluß zuſammenſtellke, gipfelken in der Forderung der Beſeiti⸗ gung aller Zollſchranken und Monopole. In Wirklichkeik aber ging er viel weiker, als er es hier im Rahmen eines offiziellen Aufkrags ausſprechen konnke. Wenn er auch nichk, wie ſein Bruder, der Kommuniſt C. A. Blanqui, zum äußerſten linken Flügel der da⸗ maligen Sozialiſten gehörte, ſo war er doch als alker Saink⸗Simoniſt ein überzeugker Gegner der gegenwärtigen Geſellſchafksordnung — der erſte der Art, der ſenny Guſtedk begegneke und bei ihr von vornherein, ihrer ganzen eigenen Entwicklung nach, ein ge⸗ neigtes Ohr finden mußke. Den Briefwechſel mik ihm leiteke ſie durch eine Reujahrsgratulation ein, auf die er folgendes zur Ant⸗ work gab: 265 Paris, 18. Januar 1850. Gnädigſte Frau! Im Augenblick, wo ich mir geſtakken wollke, meinen Dank für Ihr freundliches Gedenken, das Prinz erome die Freundlichkeik hakke, mir mitzukeilen, perſönlich auszuſprechen, erhalte ich Ihren überaus liebenswürdigen Brief. Keine Unterſtützung könnke mich mehr beglücken, als die Ihre, und ich werde ſie als die werkvollſte Ermutigung treu im Gedächtniß bewahren. Gewiß, gnädige Frau: es iſt das parlamenkariſche und politiſche Geſchwät, das uns heuke kökek und ganz Europa gefährdek! Alle unſere Revolukionen haben Millionen ſogenannter Skaaksmänner hervorgerufen, die ſich ſchmeicheln, Alles zu wiſſen, ohne jemals etwas gelernk zu haben. In der Un⸗ kennkniß der elemenkarſten Dinge beſteht eine große Gefahr. Unſere griechiſchen und lakeiniſchen Skudien — und noch dazu welches Griechiſch und Lakeiniſch! — haben aus uns kein gebildekes, ſondern ein halbbarbariſches Volk gemacht, ähnlich den Griechen, die zur Beute der Türken wurden. Die Türken, die uns bedrohen, ſind aber gefährlicher als die Mahomeks II. Denn die Barbaren, in deren Mitke wir leben, haben es vor allen Dingen auf das Wohl des Rächſten abgeſehen. In dieſer groben und vulgären Form fauchk die gleiche Frage überall auf: in Frankreich, in Preußen, in Deutſchland. Gegenüber den wenigen gewiſſenhafken Männern, die aus Ueberzeugung für die Verbeſſerung der Lage der arbeitenden Klaſſen einkreken, giebk es ſo und ſo viele, die dieſe Frage nur im Inkereſſe ihrer egoiſtiſchen polikiſchen Paſſionen auszubeuten ſuchen. Wer aber heuke den erſten Schrikk auf dem Wege zum wahren Volks⸗ glück kun will, der muß jede perſönliche Eitelkeik abſtreifen, und zwar um ſo mehr, je mehr er von Geburk der Bourgeoiſie angehörk, ſich alſo eigentlich zum Beſten der Rotleidenden in das eigene Fleiſch ſchneiden muß. Sie werden jetzk begreifen, warum grade Ihre Sympathie mir doppelk rührend und werkvoll iſt. Sie haben mir 266 die Ehre erwieſen, dieſe Korreſpondenz durch Ihren liebenswürdigen Reujahrsgruß zu eröffnen, geſtatken Sie mir, gnädigſte Frau, das vergangene Jahr als das für mich glücklichſte zu bezeichnen, weil ich in ſeinem Verlauf das Glück gehabk habe, Sie kennen zu lernen. Ich habe mich heute kurz gefaßt, um Sie nicht zu entmutigen, und auch infolge einer reſpektvollen Zurückhaltung, die mehr als Sie glauben, meine kiefe Sympathie zum Ausdruck bringk, die Ihr vor⸗ nehmer Charakter mir von Anfang an einflößke. Was Sie ſonſt ſind, konnte ich erraken, indem ich Sie ſah, und ich bin ſkolz darauf. Es bedurfke auch nur kurzer Zeik, um in der verſchleierten Tiefe Ihres Frauenherzens das zu entdecken, was Sie beſcheiden vergebens zu verſtecken ſuchen: einen gereiften Geiſt, ſkolze und großmütige Emp⸗ findungen. Es würde mir zu höchſkem Glück gereichen, Ihnen dienen zu können und dafür das zu empfangen, was in allen Cebenskämpfen ſo unſchätzbar iſt: das Verſtändniß der Freundſchafk, die Ermuthi⸗ gung durch Sie. In größker Verehrung bleibe ich, gnädigſte Frau, Ihr ergebener J. A. Blanqui. Von dem Verlaufe des Briefwechſels, der bis 1854, Blanquis Todesjahr, ſich ausdehnte, ſind nur noch einige Stücke von ſennys Hand vorhanden. So ſchrieb ſie ihm einmal folgendes: „Mik Ihrer ſchroffen Ablehnung aller kommuniſtiſchen Ideen bin ich nichk ganz ein⸗ verſkanden. Warum ſollke, eine lange vorbereikende Entwicklung, vor allem eine guke, gleichmäßige Erziehung vorausgeſetzt, nicht ein Zuſkand möglich ſein, der eine Gemeinſamkeit des Lebens und des Beſitzes zur Grundlage hak? Selbſtverſtändlich ſtehe ich, was die Ukopiſtereien der heukigen Kommuniſten anbelangk, auf Ihrer Seike: mik Bluk und Schrecken wird ſolch ein Juſtand ebenſo wenig erreicht 267 werden, wie man durch Verbrennung der Ketzer das Chriſtenkum förderke. Er muß das Ergebniß des allgemeinen Fortſchrikks der Menſchheik ſein, und ich kann nicht leugnen, daß an ihn zu glauben etwas ſehr wohltuendes für mich hak.“ Unter den ihr durch alke und neue Freunde und durch die poli⸗ tiſchen Ereigniſſe zuſtrömenden Anregungen wuchs ihr Inkereſſe an ökonomiſchen und polikiſchen Fragen, aber ſo weik ſie ſich dabei auch, gekrieben von ihrem kiefen Mitgefühl mit den Enkerbten des Glücks und von ihrer religiöſen Überzeugung, ſozialiſtiſchen Anſchauungen näherte, ſo blieb ſie doch, ſoweik die Gegenwark in Bekracht kam und in bezug auf politiſch⸗rechtliche Fragen, auf dem Boden pakriarchaliſch⸗ konſervativer Anſchauungen ſtehen. Wenn ſie z. B. die Möglichkeik des Kommunismus anerkannte, ſo doch nur für eine ferne Zukunfk und auf Grund allmählicher Erziehung und Entwicklung der Menſch⸗ heik zu einer gewiſſen Höhe moraliſcher und geiſtiger Kulkur. Im Unterſchied aber zu der überwiegenden Mehrzahl gläubiger Chriſten, die wie ſie die Tugend als Vorausſetzung des Glücks erklärken, er⸗ kannke ſie die ökonomiſche Lage der Menſchen als Bedingung auch ihrer ſikklichen Enkwicklungsfähigkeik. Darum legte ſie den Ärmſken gegenüber ſo guk wie keinen Werk auf das Predigen der Moral, den allergrößten aber auf die Beſeikigung der Rok in jeder Form. Erſt auf dem Grunde einer geſicherten Exiſkenz, die durch eine möglichſt beſchränkte Arbeitsleiſtung gewonnen werden ſoll, alſo auch genügend Zeik gewährt, um ſich geiſtige Bildung anzueignen, hielk ſie ein Fortſchreiken der Menſchheik zu ihren höchſten Zielen für möglich. Den auf tiefer Kulkurſtufe Stehenden gleiche politiſche Rechte zu geben, hielk ſie jedoch für ebenſo widerſinnig, als wenn reife Menſchen unmündige Kinder als ihresgleichen behandeln würden. Es erſchien ihr, angeſichts des ihr ſo wohlbekannken armen, ver⸗ rohten, ſcheinbar zur Freiheik unfähigen weſtpreußiſchen Volks unge⸗ heuerlich, ihm politiſche Machk und damit politiſchen Einfluß zu ge⸗ 268 währen. Sie überſah dabei zweierlei: daß auch in den Reihen derer, die phyſiſch und geiſtig nicht Rok leiden, die Herzens⸗ und Geiſtes⸗ roheik überwiegk, wenn ſie ſich auch hinker reiner Wäſche und ge⸗ wählten Formen verbirgk, und daß das Moralpredigen bei ihnen ebenſowenig nützk wie bei den Armen, weil es von einer herrſchenden Klaſſe in ihrer Geſamtheik Übermenſchliches verlangen hieße, daß ſie ſich in der Erkennknis der vollendeten Reife der ihnen bisher Untergebenen ihres Einfluſſes und ihrer Machk freiwillig enkäußern ſollke, indem ſie die volle Gleichberechtigung gewährk. Wenn Jenny zu dieſer Überlegung nicht gelangke, ſo iſt der Grund dafür in der Tatſache zu ſuchen, die ihres Cebens Glück und zugleich die Bedingung ſeiner Beſchränkung war: in der Epoche, unker deren Einfluß ſie ſich enkwickelke. Das Kennzeichen ihrer Erziehungsmethode war beſonders im Hinblick auf die Frauen die Treibhauskulkur des Gefühls. Der Inkellekk mußke ſich in ſeiner Weichheik und Schwäche vor der bis zum äußerſten verfeinerten Empfindung nur zu oft für beſiegt erklären. So war es zuerſt die Empfindung, die Zenny für die Rok der Maſſen ſo hellſichtig machte, — dieſelbe Empfin⸗ dung, die ſie für die Unzulänglichkeik der eigenen Klaſſe nur zu oft mik Blindheik ſchlug. Sie empfand die Roheik des Volkes als etwas Schmerzhaftes, Peinliches, ſie empfand das geſitkete Be⸗ nehmen ihrer Skandesgenoſſen als etwas Wohltuendes, Gutes, und da die ſchöne Form für ſie perſönlich nichks anderes war als ein ſchönes Gewand auf einem vollendeten Körper, ſo mußke die Häßlich⸗ keik eines Körpers ſchon ſehr groß ſein, um von ihr auch durch die Hülle bemerkt zu werden. Rach dieſen Geſichkspunkten muß man eine Anzahl Briefe Jennys über polikiſche Fragen bekrachken, wenn man ihnen gerecht werden will. Für den Oberflächlichen müßte vieles widerſpruchsvoll erſcheinen, was tatſächlich von ihr vollkommen konſequent gedacht war. Leſen wir z. B. was ſie im erſten Jahre der preußiſchen Reaktion an Gersdorff ſchrieb: 269 „Ich glaube nicht, daß, ſo lange dieſe Generation mik ihren Er⸗ innerungen an 48 und 49 lebk, irgend eine Ausſichk auf Revolukion iſt — denn der Demokratie fehlen erſtlich die Maſſen und zweikens die Hälfke ihrer aufrichtigen Bekenner von 48, welche ſich in der polikiſchen Reife des Volkes geirrk haben, und nun einſehen, daß man zu ſohanni zwar Johannisbeeren, aber keine Weinkrauben keltern kann. — Ich würde auch mik einem großen Teil des jetzigen Verfahrens einverſkanden ſein, wenn ihm die Idee zu Grunde läge, in der Bevormundungszeik, die wieder begonnen hat, die Entwicklung zu fördern, die zur Reife und mithin zur Beſeitigung der Vormund⸗ ſchafk führk; die Innigkeik und Einigkeik mik Oeſterreich und Rußland deukek aber leider auf den Willen zu einer in alle Ewigkeik fortge⸗ führken Vormundſchafk. Ich kann auch die Kriegsantipathie von Regierenden und Volk nichk ſchelken — ich ſehe darin keine Feigheik und Schlechtheik, ſondern ein Ueberwiegen der wahren Ehre im chriſtlichen und göttlichen Sinn über die falſche Ehre des Mikkelalters, die uns noch in den unker⸗ knochen liegk. Dieſe Begriffe von Ehre waren von A bis 3 falſch, unvernünftig und unphiloſophiſch — die einzige Ehre iſt die Ehre, die das Chriſtenkum anerkennk: „ohne Sünde bleiben“; nichtks und niemand hak die Macht uns zu ſchänden, als wir ſelbſt durch unſere eigene Sünde, nichts und niemand kann uns wieder zu Ehren bringen als unſere eigene Buße und Tugend.“ hier ſkeht der ſchärfſte Kadikalismus im einzelnen — mit ihrer Berurkeilung des Ehrenkodex der Offiziere und Ariſtokraten ſtand ſie ſicherlich in ihren Kreiſen allein — neben einem gewiſſen Verſtändnis der Maßnahmen der Reaktion, von denen ſie hoffke, daß ſie im In⸗ kereſſe des Volksfortſchrikks, und der Erziehung zur künftigen Freiheik gehandhabt würden. In einem Brief an Scheidler aus derſelben Zeik kritt dieſe Auffaſſung der Bevormundung als eines nokwendigen Erziehungsmikkels noch deutlicher hervor. Sie ſchrieb: 270 „Was Ihre politiſche Meinung über Preßfreiheik betriffk, ſo kann ich ihr noch nicht unbedingk beiſtimmen, die Sache hak zu viel für und wider ſich, als daß ich mich nach ſo wenig reiflicher Ueberlegung für eine Parkei erklären könnke, nur ſcheink mir, daß Sie die Gründe wider die Preßfreiheik nicht für gewichtig genug halken. Wäre darin nur der Verkehr zwiſchen Gebildeken und mehr oder weniger Ge⸗ lehrten zu verſtehen, ſo müßken Sie unbedingt Recht behalken, allein die Frage iſt: kann es zum Beſten des Volkes, der größeren Maſſen ſein, oberflächliche Begriffe von Dingen zu erhalken, welche ſie nur halb verſtehen und nie, ihrer Lage und Beſchäftigungen wegen, ganz ergründen können? Und iſt es räthlich für die Oberhäupker eines Staakes, einen Einfluß zu geſtakken, welchem ofk keine reine Abſichk zu Grunde liegk und wo perſönliches Inkereſſe ſich meiſt hinker dem Univerſal⸗Intereſſe verbirgk? ſedes Warum und Aber in Skaaks⸗ regierungen zu begreifen, dazu gehörk mehr Kennkniß und Einſicht, als der gewöhnliche Mann je erwerben kann. Sie werden mir ſagen, daß gefährliche oder falſche Artikel widerlegk werden können, allein wo haben Geſchäfksleute wohl die Zeik, jeden Tag zwanzig Artikel zu widerlegen? Iſk bei dieſem Fall die Bemerkung der Madame de Staél nicht allgemein zu brauchen: „Que sert la justi⸗ fication là ou le plus souvent on n'écoute pas la réponse?“ Die Gründe für Preßfreiheik ſind freilich ſehr gewichtig, und es geht mir mik meiner Meinung darüber wie mit der über Republiken: ich fände beide Skaakseinrichtungen unbedingk jedem anderen Gegen⸗ ſatze vorzuziehen, wenn die Menſchen, beſonders die Maſſenführer und Maſſenaufreger, beſſer und redlicher wären.“ In einem ſpäkeren längeren Brief an Profeſſor Scheidler zeigte ſich dagegen mik um ſo größerer Klarheik der Standpunkt, den ſie dauernd als feſten Boden unter den Füßen behielk: daß der Staak für das menſchenwürdige Daſein ſeiner Bürger verantworklich ſei. „Mir blieb eine Lücke in den von Ihnen angeführten Gleichheiks⸗ 271 anſprüchen,“ ſchrieb ſie, „ich möchte nämlich, Sie führken dabei noch die Gleichheik der menſchlichen Rakurbedürfniſſe, Rahrung, Wärme 2c. an, woraus die Gleichheik ihrer Anſprüche zu deren Befriedigung auf die einfachſte Weiſe, als Verpflichkung der Staaten, deducirk werden müßte. Dahin gehörk auch die Verpflichtung, frühzeitige Ehen, ohne Unvernunfk, möglich zu machen. Dieſe Haupkfragen kreken immer wieder viel zu ſehr in den Hinkergrund, anſtatk gerade vorn und obenan zu ſtehen, und in einer Weiſe obenan, daß gar nichks Anderes vorgenommen werden müßke, ehe dieſe große Aufgabe gelöſt wäre, die ohne allen Zweifel nach der materiellen Beſchaffenheik der Erde gelöſt werden kann. Wenn alle Regierungen, auch nur die von Europa, unabläſſig dahin ſtrebken, Einrichtungen zu kreffen, daß ohne übermäßige Arbeik jeder Menſch ſeine Lebensbedürfniſſe auf die einfachſte Weiſe befriedigen könnte, daß bei ſelbſtverſchuldetem Elend der Elkern die Kinder gerektek würden, ſo würden ſie es er⸗ reichen. Deshalb habe ich mich im Jahre 1848 zu dem erſten Er⸗ ſcheinen der Socialiſten und Communiſten ſo hingezogen gefühlt, weil ſie ſich dem näherken, was ich für das Wichtigſte hielk. Keine Rakion ſein, keinen Kaiſer haben, als Volk gedemüthigt und gekränkt ſein, das ſind zwar gerechte Schmerzen und verbittern das Leben Vieler; aber kein Brok und keine Wärme haben, vor Sorgen und Arbeik nicht zum menſchlichen Daſein gelangen, als Elkern enk⸗ weder käglich bitkere Kummerthränen weinen oder einer khieriſchen Gleichgültigkeik anheimfallen, das ſind ganz andere Schmerzen, ganz andere Ungerechtigkeiken, das verbikkerk in unendlich höherem Maße das Leben von unendlich mehr Mitbürgern, die dieſelben Anſprüche an Beſeitigung ihres Elends haben als die, welche mik ihren Klagen die Sturmglocke läuken, weil ſie den Skrang in der Hand halken, während die Elendeſten ſtumm bleiben. Die oben genannken politiſchen Ceiden ſind des douleurs de luxe neben den Leiden des wahrhaft armen Mannes. 272 Inzwiſchen hatte Jennys perſönliches Leben eine kiefgreifende Wandlung erfahren: im jahre 1850 war ihr Mann Landrak des Rieſenburger Kreiſes geworden, hatte zu gleicher Zeik Garden ver⸗ pachkek und ſich in Roſenberg, einem Guke in der Rähe der Kreis⸗ ſtadt, neu angekauft. Der Abſchied war Jenny nichk leichk geworden: das mik ſo viel Liebe eingerichkeke und alljährlich vervollkommneke Haus, der ſchöne Garken, in dem jeder Baum und jeder Strauch ihr ekwas Lebendiges war, der ſkundenlang ſich hinſtreckende Wald, der kaum zwanzig Schritk von der Haustür anfing, der blaue ſpiegelnde See, in Sommer und Winker der Kinder beliebteſter Tummelplat, — das Alles wurde ihr zu verlaſſen doppelk ſchwer, als der Weg ſie wieder in eine fremde Umgebung und nicht nach Weimar führke, was ſie ſo ſehr gewünſcht hatke. „Für meine Kinder“, ſo ſchrieb ſie damals, „wäre ich gern wurzelfeſt geblieben, denn ich glaube, es liegk ein großer Segen darin, eine Heimak im engſten Sinn des Workes zu haben, aber ich ſehe ein, daß das immer ſelkener wird, und hoffe, daß andere Werke an Stelle des verloren gegangenen kreken werden . .. Doch bin ich ſehr froh, daß Werner bei ſeiner gemeinnützigen Tätigkeik, die ſeinen Geſchäften ſehr hinderlich iſt, endlich zum Enkſchluß kommt, zu Johanni zu verpachken; lieber wär mir der Verkauf, er ſchien ſich aber dazu nicht enkſchließen zu können. — Die Sparkaſſen des Kreiſes ſind im Gang, die Chauſſee nahk ihrer Vollendung, und nach einer 4 monaklichen mühſamen Verwalkung der freiwilligen Unker⸗ ſtützungen der zurückgebliebenen Landwehrfamilien des Kreiſes hak er einen Geſehenkwurf ausgearbeikek, der die Gemeinden zu deren Unkerhalk verpflichten will und den er dem Oberpräſidenken ein⸗ geſandk hak. Es ſind drei Werke, auf die er mik Befriedigung hin⸗ blicken wird, wenn ſie vollendek ſind; ſie waren notwendig und werden Segen bringen, und in unſerer Zeit iſt es doppelk wichtig, daß es auch Männer gebe, die im Schatken Fundamenke bauen. Im Schakten der Titanen. 18 273 In Roſenberg ſtand der Guſtedtſchen Familie zunächſt nur ein primikives Heim zur Verfügung, das gegen das wohnliche Gardener Herrenhaus ſehr abſtach. Auf einem hoch über dem See gelegenen, von Linden und Buchen gekrönten Hügel bauken ſie ſich ein neues Haus. Jenny, die ofk von ſich ſagte, daß ein Baumeiſter und ein Tapezier an ihr verloren gegangen wären, entwarf die Pläne für den Bau wie für die Einrichkung ſelbſt, eine Arbeik, die ihr große Freude bereikete und ihre Gedanken lange Zeik von allem anderen abzog. Rach einem Zahre war das Werk vollendet und zeugte von dem mik prakkiſchem Verſtändnis verbundenen Schönheiksſinn ſeiner Schöpferin. Rachdem Jenny ſich und den Ihren die wohlkuende Umgebung geſchaffen hakte, wandke ſie ſich mik friſchen Kräfken den öffenklichen Aufgaben zu, die ſie mehr als je zum gegebenen Tätigkeikskreis der Frau hatte bekrachten lernen. Auf die Unkerſkützung Armer und Kranker, auf die Aufnahme von verlaſſenen Kindern hatke ſie ihr Haus von Anfang an eingerichtek: „Den Raum für Alles, ſehr groß, hell, leer, weiß geſtrichen, mit guk heizendem Ofen, ſollke auf dem Cande jedes Guks⸗- und Pfarrhaus haben,“ ſchrieb ſie; „ſtelle Bekken hinein, ſo iſt es ein Cazareth, zieh Leinen durch, ſo iſk es Wäſche⸗ trocken- und Bügelraum, mach Skreu, Kopfkiſſen, Decken, ſo iſt es für die Einquartirung geeignek, bei ſchlechtem Wekker Kinderſpielplatz, bei großen Feſten Speiſeſaal; ſtell ein Harmonium hinein, ſo wird es eine Capelle.“ Aber ſie verfolgke noch größere Pläne, als die bloßer privater Hilfsarbeit, und fand in dem Pfarrer des Kreisſtädtchens — Pfeil — einen verſkändnisvollen Förderer ihrer Ideen. Ein Rektungshaus für uneheliche Kinder wollke ſie gründen, das eine bleibende Zu⸗ fluchtsſtätte für dieſe allerärmſten ſein ſollke. Da ſie, ſeik ſie Kinder beſaß, ſich nicht mehr als unumſchränkte Herrin ihres Vermögens, ſondern ſich ihnen gegenüber in bezug auf ſeine Verwendung ver⸗ 274 ankworklich fühlte, ſo glaubte ſie das, was deren Zukunfk ſicherſtellen ſollke, nicht für ihre Inkereſſen angreifen zu dürfen. Auch ihren Gatken wollke ſie nichk in Anſpruch nehmen; ſie hatke ſich ihre wirk⸗ ſchafkliche Selbſtändigkeik neben ihm geſicherk und reſpektierke die ſeine — ein Verhältnis, das ſie einmal brieflich folgendermaßen ver⸗ keidigke: „Für mich ſelbſt halte ich feſt an der Ueberzeugung: „qu'il ne faut pas faire les affaires avec le sentiment;“ und ich trenne ſo ſcharf Gefühl und Geſchäfk, daß ich ſogar mik meinem Manne, wenn wir einander Geld leihen od. dergl., Schuldſchein und Inker⸗ eſſen gebe und empfange, genau berechne und pünkklich zahle oder einziehe .. Ich habe zu viele Erfahrungen gemacht, daß dadurch ein üppiges Unkrauk aus der Ausſaak zum Familienglück heraus⸗ geſammelk wird, und es enkſkehk wirklich weder Kälte noch irgend ein Rachteil daraus, denn das Schenken ſteht ja doch jedem frei und ge⸗ hörk zum Bereiche des Gefühls; ſo bin ich auch für Heiraksconkrakke, genaue immer vorrätige Teſtamenke, genaues Feſtſtellen jedes Eigen⸗ kums von Mobiliar u. dergl.“ Wollke ſie alſo ihren Lieblingsplan zur Wirklichkeik werden laſſen, ſo galk es auf andere Weiſe die Mittel dafür zu beſchaffen, denn wenn auch Stadk und Kreis Unkerſkützungen bewilligken, ſo mußte ſie den Grundſkock des Ganzen liefern. Sie enkſchloß ſich, einen großen Teil ihres Schmuckes, der durch Geſchenke Jeromes ſehr be⸗ reicherk worden war, zu verkaufen, und fuhr deswegen ſelbſt nach Berlin. Ein breites ſchweres Ketkenarmband der Herzogin von Orleans, Perlengehänge der Großfürſtin Maria Paulowna, Ringe der Prinzeſſin Auguſka von Preußen, vor allem aber die Rubinen und Brillanken, die als Kahmen ein in ein Armband eingelaſſenes Miniakurbild Zeromes umgaben, verwandelten ſich auf dieſe Weiſe in ſchühende Mauern für die von der Geſellſchaft Ausgeſtoßenen. Nur ihre Kinder erfuhren ſpäker, was' ſie getan hatke, da ſie ſich verpflichket fühlke, ihnen auch darüber Rechenſchaft abzulegen. Das 275 18* Rektungshaus aber ſteht heuke noch. Ob es in dem halben Jahr⸗ hunderk im Sinne ſeiner Schöpferin wirkte, oder ob es vor lauter Mühe, Seelen zu retken, die Menſchen zu rekten vergaß? All dem eifrigen Wirken und fröhlichen Gedeihen ſollte plötzlich ein Ende gemacht werden. Marianne und Jenny erkrankken an ſenem ſelkſamen Landesübel, dem Weichſelzopf. Die Ärzte nehmen noch heuke an, daß dieſe Verwirrung der Haare zu einem dicken unauflöslichen Ballen und die damik zuſammenhängende körper⸗ liche Schwäche auf Schmuhz und Vernachläſſigung zurückzuführen iſt. Run gab es ringsum keine ſchöneren, gepflegkeren Kinder als die der Guſtedks; die Mägde des Hauſes ſprachen angeſichks ihrer Erkrankung von Hexerei; man wollke, wie im Märchen von Schnee⸗ wittchen, von einer Landſtreicherin wiſſen, die den Kindern eine ver⸗ gifkete Fruchk gereicht habe, aus Rache dafür, weil man ihr Kind im Rektungshaus unkergebracht und ihr zwangsweiſe genommen hatte. Der Arzk ordnete bei Mariannen, bei der das Übel am ſtärkſten aufkrat, das Abſchneiden der Haare an. Trotz der Warnungen einiger Bauern⸗ frauen, die bei der einheimiſchen Bevölkerung in weik höherem An⸗ ſehen ſtanden als der Doktor und behaupketen, daß gerade die Haare die Krankheiksſtoffe aus dem Körper zögen, griff ſenny kurz enk⸗ ſchloſſen ſelbſt zur Schere. Nach drei Tagen lag ihr holdſeliges Töchterlein zum ewigen Schlaf auf der Bahre. Es ſcheink, als ob die Türe nur einmal vom Unglück geöffnet zu werden braucht, um auch ſein ganzes großes Gefolge hereinzu⸗ laſſen. Der ſchwergeprüften Mutker, die ihr blühend ſchönes, faſt erwachſenes Kind, das begabteſte von allen, ſich von der Seite ge⸗ riſſen ſah, blieb keine Zeik, ihrem Schmerz ſich hinzugeben. „Du haſt von meinen ſchweren und harten Prüfungen gehörk,“ ſchrieb ſie im Herbſt 1854 an Wilhelmine Froriep, „du weißt, wie eine Mukker fühlk, obgleich du nichk die krübe Rachhaltigkeik kennſt, die der Verluſt eines geliebten, faſt erwachſenen Kindes für das 276 Mutterherz hat; andere auch recht ſchmerzliche Schickſalsſchläge folgten dieſem Unglück, — der verfloſſene Winker war eine Reihenfolge der ſorgenvollſten Tage durch die langwierige Krankheik meines ſennchen, und dieſem Kummer folgte die ſchwere Krankheik Werners — aber Gotklob er iſt vorgeſtern ganz geſund von Karlsbad zurückgekehrt, und ſo bereue ich nicht die zweimonakliche Trennung, ſo ſchwer ſie mir auch geworden iſt. ſenny, ein ſehr niedliches friſches Mädchen, hak ihren Weichſelzopf glücklich überſkanden, und ihre lockigen Gold⸗ haare ſind in alker Fülle zurückgekehrk. Mein Wernerchen hak auch Maſern, Ziegenpeter u. dergl. Kinderkrankheiten durchgemacht, und ich nakürlich doppelk mit ihm, aber es ſind doch mäßige Sorgen, die man auf der armen, ſo ſorgenreichen Erde noch nicht ſchwer ins Gewichk fallen läßk; dazu bin ich viel, ſehr viel allein, zu alk, um Freundſchafken zu ſchließen, zu auskauſchbedürftig, um mir ſelbſt zu genügen — was denn die Zeiken der Strohwiktwerſchafk recht grau macht.“ Von Otto, dem älteſten, ihrem Sorgenkind, ſchrieb ſie im ſelben Brief: „Er iſt ein großer, ſchlanker Junge, eigentlich ſchon Jüngling, der als Freund neben mir ſteht, und ſo wie er unter forkwährendem Kränkeln doch groß, muskelſtark und blühend wird, ein Reiker, Schwimmer, Turner, ein Dominierender bei Kriegen und Prügeln der Gymnaſiaſten, ſo entwickelk ſich auch ſein Charakker unker allen Anfechtungen der Sünde recht erfreulich; im Cernen bleibk er allerdings durch die vielen Krankheiksverſäumniſſe, kroh ſeines tadelloſen Fleißes zurück, in der Charakkerbildung iſt er jedoch ſeinem Alker ſehr voraus.“ Die Eltern waren, des Gymnaſiums wegen, genötigt geweſen, ihn in dem nahen Marienwerder in Penſion zu geben. Der Baker hatke von der Trennung des Sohnes von der Mutker ſehr viel gehoffk, weil ihre liebevolle, nachſichtige Erziehung dem zu allen Jugendkorheiken geneigten Knaben nicht förderlich zu ſein ſchien. Vor allem hatke er den Eindruck gewonnen, daß ſeine Kränklichkeik ihm vielfach nur ein willkommener Vorwand war, um 277 ſich dem Cernen zu entziehen, während Jenny von der Echtheik ſeiner Ceiden überzeugk und immer geneigk war, ihn zu ſchützen und zu entſchuldigen. So enkwickelke ſich in immer ſkärkerem Maße jener ſtille Kampf um die Erziehung des Kindes, der, mit ſo zarken Waffen er auch geführk wird, dem Eheleben ſo ſchwere Wunden ſchlägk: der Baker denkk an das Leben, für das der Sohn ſich entwickeln ſoll, die Mukkerliebe will ihn ſo lange wie möglich vor dieſem Leben ſchützen. Zunächſt ſchien die Mukter Rechtk behalken zu ſollen; der an Frei⸗ heik und Selbſtändigkeik, an Liebe und Rachſichk gewöhnte Knabe empörte ſich gegen die ſtrenge Zuchk der Penſion und des Gymnaſiums, die damals noch weit mehr als heute in der Individualikät des Schülers nichks als eine verdammenswürdige Verletzung der vor⸗ geſchriebenen Ordnung ſahen und deren Ziel daher nicht ihre Enk⸗ wicklung, ſondern ihre Unkerdrückung war. Otko Guſkedk wurde relegierk. Daheim kam es zu böſen Aufkrikken, unker denen die Mukker weit nach⸗ haltiger likk als das Kind. Hochmuk und Faulheik warf der Vaker ihm vor, wo Jenny die Berechtigung beleidigten Selbſtgefühls und körper⸗ liche Schwäche zu ſehen glaubte. Ihre Zärklichkeik und Sorgfalk ihm gegenüber wuchs um ſo mehr, je härker ihn der Vater behandelke. „Das Spannen auf das Betk des Procruſtus, das man Erziehung nennt, war mir immer widerwärtig,“ ſchrieb ſie; „man ſoll der jungen Menſchenpflanze eine Skütze geben, wie dem jungen Bäum⸗ chen, aber man ſoll ſie nicht je nach Laune und Wunſch, wie die Gartenkünſtler des 18. Jahrhunderks, zu allerlei künſtlichen Geſtalken beſchneiden und zurecht ſtutzen.“ Bei dieſer an ſich zweifellos rich⸗ tigen Anffaſſung vergaß ſie nur, was heuke, wo ſie zu allgemeinerer Gelkung gelangte, faſt ſteks vergeſſen wird: daß, wie der unbe⸗ ſchnittene Buchsbaum doch nichk zur hochragenden Buche wird, es auch Menſchenpflänzchen gibt, die durch alle Freiheik und Enkwick⸗ lung doch keine ſtarken Individualitäken zu werden vermögen, die wie Lehm und Wachs erſt durch die Hand des künſtleriſchen Er⸗ 278 ziehers Weſen und Form erhalken. ſennys Hand aber war weich: ſie ſtreichelke die Falken von der Stirn, ſie zeigke ihren Kindern die großen und ſchönen Ziele und die Wege, die zu ihnen führen, wenn ſie jedoch abſeiks gingen, ſo fehlte ihr zum Jurückziehen die Krafi. „Ich weiß, wie ofk meine Augen und der Ton meiner Stimme um Verzeihung gebeten haben, wenn ich ſchalt, und dadurch wurde das Schelken faſt wirkungslos,“ ſchrieb ſie ſpäter ein⸗ mal. „Sie erzog ihre Kinder, wie man Genies erziehen müßke, ſagte eine alke Freundin von ihr, und wer damals den ſchönen, ſchlanken, fünfzehnjährigen Okto ſah, aus deſſen klaſſiſch geſchnittenen Jügen zwei Augen hervorſtrahlken, die jeden gefangen nahmen, der mochke die Rachſichk der Mutter verſtehen. War er ihr doch von allen ihren Kindern noch am meiſten weſensverwandk: ſeine Güte, ſeine himmelſtürmende Phankaſie, die ihn auf immer neuen Wegen immer neuen Zukunfkskräumen nachjagen ließ, verſkand ſie nichk nur zu genau, ſie wußke auch aus eigener bitterer Cebens⸗ erfahrung, zu welch inneren Konflikken und harken Enttäuſchungen ſie ihn im Leben führen würden. Und Zukunfks⸗ und Gegenwarks⸗ leiden vereink ſteigerken nur noch ihre ſorgende Mutkerliebe. So glücklich ihre Ehe war, es fehlke nun nicht mehr an Bitker⸗ niſſen: wie ſie zu ſchweigen gelernk hatke, wenn ihre politiſchen An⸗ ſchauungen auseinandergingen, ſo ſchwieg ſie angeſichks der Angriffe des Gakken auf ihre Erziehungsprinzipien. Als krennendes Element, nichk als verbindendes, ſtanden die Kinder zwiſchen ihnen. Gerade das glücklichſte Eheleben wird ſelken von dieſer Liebesprüfung ver⸗ ſchonk: die Zeik, da die Kinder ſich zu Menſchen enkwickeln, iſt immer die gefährlichſte, und die harmoniſchſte die, die ihr vorangehk und ihr folgt. Da Werner Guſtedt infolge ſeines Berufs viel abweſend ſein mußte, war der Anlaß zu Differenzen zwiſchen den Gatten kein häufiger. Abends, wenn über dem runden Tiſch die Lampe 279 brannke und die Familie ſich um ihn ſammelte, plaudernd, leſend, mik Handarbeik beſchäftigt, war immer Feierſtunde; mik der Arbeik war das Arbeikskleid und die Arbeiksſtimmung abgelegt, und der blitzende, ſummende Teekeſſel ſah zufriedene Geſichter um ſich und ſang ſeine leiſe Melodie nur zur Begleikung friſcher, froher Stimmen. „Wer keinen Sonntag hat und keinen Feierabend, der hat keine Fa⸗ milie.“ Dieſe Worke aus Bücklers Briefen eines Verſtorbenen finden ſich in Jennys Abſchriften doppelk unkerſkrichen. Oft, wenn der graue Alltag die Harmonie des Lebens zu zerſtören drohte, ſtellke der Sonnkag und der Abend ſie wieder her. Dann wurden Bücher gemeinſam geleſen und beſprochen, und Gedanken, die ſie anregten, wohl auch ſchrifklich fixiert, um Skoff zu neuer Unkerhaltung zu geben. Carlyles „Helden und Heldenverehrung“ — „dieſe Offenbarung von Wahrheit, Muk und Glauben der Menſchenſeele“ —. Feuchterslebens „Diätetik der Seele“ — „eines der klarſten, menſchenfreundlichſten und überzeugendſten Bücher, die ich kenne“ —, Moritz Arndks „Wand⸗ lungen mit dem Freiherrn von Stein“, Schleidens naturhiſtoriſche Vorkräge, Moſes Mendelſohns „Phädra“ und eine Reihe kleinerer hiſtoriſcher und naturwiſſenſchaftlicher Werke wurden bei der abend⸗ lichen Lektüre durchgenommen. Aus dem eben erſchienenen Leben Goethes von Lewes las ſenny manche Teile vor; „dieſe höchſt inter⸗ eſſanke Biographie,“ ſchrieb ſie in ihre Bücherliſte, „iſk leider voller falſcher Thatſachen über Weimar, dabei mik wenig poetiſcher Be⸗ fähigung geſchrieben, aber durch kiefe, neue Auffaſſungen, viel philo⸗ ſophiſchen Sinn und viel Wahrheik in den geiſtigen Darſtellungen und Urtheilen werth, von jedem Deutſchen geleſen zu werden.“ Seik der nahen Verbindung mit Frankreich fehlte es nakürlich auch nichk an franzöſiſcher Lektüre. Memoiren, Briefwechſel und hiſkoriſche Werke über Rapoleon und ſeine Zeik ſpielken darin eine Haupkrolle. Reben den „Dictées de Ste. Hélene“ findek ſich die Bemerkung: „Welch ein Aufwand von Genie, Kraft, Fleiß, Urkeil 280 und Regierungskunſt, um in St. Helena zu enden! Aber tragiſcher noch als das perſönliche Ende iſt das Ende des Werks — es ſtürzke zuſammen wie ein Koloß ohne Fundamenk. Die alke Welk unker ſich zu begraben, muß wohl ſchließlich Rapoleons gottgewollke Aufgabe geweſen ſein.“ Couis Rapoleons Thronbeſteigung im jahre 1852 er⸗ regte ihr Inkereſſe für ſeine Perſon. Sie las ſeine „Rapoleoniſchen Ideen“, nicht ohne bei ihnen die ſarkaſtiſche Randbemerkung zu machen: „Ideen — ja, Rapoleon — nein!“ Wie manche der alten Bonaparkiſten, vermochte ſie ein gewiſſes Mißkrauen, ja direkte Anti⸗ pathie gegen ihn nichk zu überwinden, obwohl ſie ſich der neuein⸗ ſetzenden napoleoniſchen Aera freute und auch, im Gegenſatz zur all⸗ gemein herrſchenden Meinung in Preußen, das Mitkel des Staaks⸗ ſkreichs billigke, das ſie eingeleitek hatke. „Über den Staaksſkreich von Louis Mapoleon,“ heißk es in einem Brief an Scheidler, „ſtimmen wir nicht überein: ich billige ihn, ohne mich jedoch für die Zukunfk zu verbürgen. Durch den Stall des Augias mußke ein Skrom geführt werden, während eine holländiſche Milchwirthſchafk durch blanke Waſſereimer gereinigk werden kann. Seit zwei jahren ſteigerte ſich in Frankreich eine nach und nach in alle Parkeien übergegangene Sehnſucht nach dieſer Ausmiſtung, mit anderen Worken nach einem Herrn . . . Frankreich kennk ſeine eigenen Juſkände, deshalb die Rieſenmajorikäk von ſieben Millionen bei geheimer Abſtimmung; ich dächke, dies ſchlüge alle Einwen⸗ dungen, da der liberalſte aller Grundſätze doch iſt, daß ein Volk am beſten ſelbſt wiſſen muß, wo es der Schuh drückt. Ich kann Louis Rapoleon auch nichk des Meineids ſchuldig finden, denn ein Eid hat nicht nur Worke, ſondern auch einen Sinn. Wenn er überzeugt war, daß er es nichk mik den Verkrekern des Volkes, ſondern mik Parkeimännern zu khun hatte, ſo war die Auflöſung der Rationalverſammlung gerechtfertigk. Dabei betone ich noch meine alte Anſicht, daß, ſtreng genommen, alle Menſchen mein⸗ 281 eidig ſind, weil Keiner je gehalken hat und halken kann, was man in verkehrker Weiſe bei Einſegnungen, Trauungen, Taufen u. dgl. verſprechen läßt. Die wahre, letzte Inſkanz des Menſchenwerthes liegk doch nur in ſeinem Charakker, in ſeinem ganzen Sein. Man müßke nie. einen Eid auf die Zukunfk ablegen, nur für den auf die Vergangenheik kann ein Menſch bürgen.“ Im drikken ahr von Louis Mapoleons Kaiſerkum — 1855 — als die unter dem Prokektorate ihres Bruders Rapoleon ſkehende erſte internationale Induſtrie⸗Ausſtellung in Paris ſtakkfand, unter⸗ nahm Jenny, diesmal in Begleitung ihres älkeſten Sohnes, wieder die weite Reiſe, um jerome und Pauline zu beſuchen. Bater und Stiefbruder waren nun anerkannke kaiſerliche Prinzen; ein glänzender Hof reſidierke wie einſt in den Tuilerien; viele der Verwandken ſennys, lauker freue Bonapartiſten, fand ſie im Beſitz von Rang und Würden; der junge Hof und die glänzende Ausſtellung lockten Scharen hervorragender Ausländer nach Paris, die Monarchen von Portugal, England und Sardinien waren unter ihnen. Mehr noch als vor ſechs jahren war es der Mitktelpunkt der Welk, in den Jenny ſich verſetzk fühlke. Aber leider findek ſich kein Brief, der ihre perſönlichen Eindrücke geſchilderk hätke. Nur einmal erwähnte ſie ihre Reiſe, indem ſie ſchrieb: „der Pariſer Aufenthalk hak mich ſehr erfriſchk. Ich finde die Sage vom Jungbrunnen darin beſtätigt, daß wir, um innerlich jung zu bleiben — was für uns und noch mehr für unſere Kinder eine Lebensnokwendigkeik iſk —, in den ſpru⸗ delnden Quellen geiſtigen Cebens von Zeik zu Zeik unkerkauchen müſſen, auch auf die Gefahr hin, dabei zuweilen in Schlamm zu kreten.“ Wie Schlamm erſchien ihr die realiſtiſche Richkung in der Literatur, die während des zweiten Kaiſerreichs die Ro⸗ mantik allmählich aus dem Felde ſchlug. „Um auf wirkſchafklichem und ſitklichem Gebiek klar zu ſehen und die böſen Schäden, die enk⸗ ſtanden ſind, mik richtigen Waffen zu bekämpfen, iſt es not⸗ 282 wendig, daß dieſe Zuſtände mik rückſichksloſer Wahrhaftigkeik ge⸗ ſchilderk werden;“ ſchrieb ſie an ihren Stiefbruder Gersdorff, „das iſt jedoch Aufgabe der Wiſſenſchafk. In das Bereich der Kunſt, die uns über uns ſelbſt erheben, uns begeiſtern und erfreuen ſoll, gehört dergleichen nichk.“ Es iſt wieder das Kind der Romantik, das ſich hier ausſpricht, deſſen Geiſt an den märchenhafken Romanen und romanhafken Märchen der Fouqué und Tieck und Rovalis ſich enk⸗ zückte. Ihr mußken auch die Reuromantiker Frankreichs verſkänd⸗ licher ſein als die jungen Führer des Realismus. Alfred de Vigny zitierte ſie häufig in ihren Sammelbüchern, Sainke⸗Beuves kulkur⸗ geſchichtliche Bücher ſchätzte ſie ſehr hoch, während Muſſeks „Poeſie der Verzweiflung nur für dieſenigen zu erkragen iſt, ja auch von ihnen genoſſen werden kann, die ſelbſt noch nicht verzweifelken oder die Verzweiflung heroiſch überwunden haben. Ich gehe, bei aller Anerkennung des großen Talenks, Dichtungen wie den ſeinen gern aus dem Wege, weil ſie mich bis zum körperlichen Schmerz martern.“ Sehr merkwürdig für ihre Auffaſſungsweiſe iſt ihre Stellung zu Skendhal und Balzac, in denen ſie die Vorkämpfer des RKealismus nichk zu erkennen ſchien. Rach zahlreichen Auszügen aus den Werken beider, die faſt immer die Charakkeriſtik der weiblichen Rakur und ihrer Schickſale zum Inhalk haben, ſchreibk ſie: „Um ihrer Erkenntniß der weiblichen Seele willen, die nur dem Auge eines goktbegnadeten Künſtlers möglich iſt, verzeihe ich ihnen alle bittere Medizin, die ſie zu ſchlucken geben und die auch der zu nehmen gezwungen iſt, der ihrer gar nichk bedarf, alſo nichts davon hak als den widerwärtigen Geſchmack. Wenn Balzac ſagk: „Fühlen, lieben, ſich aufopfern, leiden wird immer der Texk für das Leben der Frauen ſein“, und ſelbſt ſeine unvergleichlichen Illuſtrationen dafür lieferk, ſo hak er damit eine ſo ſtarke Wahrheik ausgeſprochen, daß alle Revolken einer Ge⸗ orge Sand und ihrer Geſinnungsfreunde wie Strohhalme daran zer⸗ brechen werden. Skreubk Euch, ſo viel Ihr wollk, forderk Rechte 283 und erringk ſie, zerſkörk in blindem Fanatismus das feſte Gebäude der Ehe, das Euch zwar einſperrk — und Eingeſperrkſein iſt ofk ganz entſetzlich! — aber auch ſchützt, laßk auf Euren weichen händen die harte Hauk der Arbeik erſtehen: fühlen, lieben, ſich aufopfern und leiden wird nichk nur immer das gleiche Schickſal bleiben für Euch, je mehr Ihr ihm vielmehr enkrinnen wollk, deſto feſter wird es ſeine Krallen in Eure blutkenden Herzen ſchlagen.“ „Aeinen Koffer mik Geiſtesnahrung für Jahre, mein Herz mit Abſchiedsqualen und Dankbarkeiksfreuden gefüllt“ — ſo kehrte ſenny von Paris und vom Elſaß, wo ſie noch ihre Verwandten beſuchk hakke, nach Hauſe zurück. Doch nicht auf lange ſollke ſie ſich der ländlichen Ruhe erfreuen. Werner Guſtedt hakke ſich in den preu⸗ ßiſchen Landtag wählen laſſen, und wenn auch ſeine Frau nicht daran denken konnte, alljährlich auf Monate Haus und Kinder zu verlaſſen und mit ihm nach Berlin zu gehen, und es noch weniger für rätlich hielt, Tochter und Söhne wiederholt der ländlichen Ruhe und der Stekigkeik des Lernens zu entreißen, ſo wollke ſie doch wenigſtens einmal verſuchen, den Winker mit der Familie in Berlin zuzubringen. Welch ein Unterſchied: das Paris, das ſie eben verlaſſen hatte, wo das Leben krafkvoll pulſierke und das Kaiſerkum der Bona⸗ parkes, wie einſt, aus den Flammen der Revolution ſiegreich empor⸗ zuſteigen ſchien — jenes Kaiſerkum, von dem Gerlach in ſeinen Briefen an Bismarck ſchrieb, es ſei die inkarnierte Kevolution —, und das Berlin, in das ſie eintrak, wo jede Lebensregung niedergeknüttelt wurde, und Hinkeldey, der allmächtige Polizeipräſidenk, ſeine Rute über eine Geſellſchafk von Duckmäuſern ſchwang — jenes Berlin, die inkarnierke Reaktion! 284 Die polikiſche Stellung Werner Guſtedks beſtimmte ſeiner und ſeiner Gattin geſellſchafkliche Poſition: Offiziell ſchloß er ſich keiner Parkei an, ganz in Übereinſtimmung mit den Anſichken ſennys, die an Scheidler ſchrieb: „Meiner Meinung nach kann ein Staaksmann, wenn er praktiſch, rechtlich, vernünftig, für das Wohl des Volkes rechk eifrig iſt, keiner Parkei angehören, weil er unter Umſtänden mik allen Parkeien abwechſelnd ſtimmen muß. Bei Gelehrken, die nur über Theorien wiſſenſchaftlich ſtreiken, iſt es natürlich anders, die können ſich freilich für eine Parkei als die beſte entſcheiden, wo aber der Riegel des Möglichen vorgeſchoben iſt, den Sie ſo voll⸗ kommen anerkennen, kann man eben doch nur das Mögliche fordern, nur für das Mögliche Parkei nehmen, mithin in jehiger Zeik alle drei Monate für etwas Anderes. Gerade das Unkerordnen der indivi⸗ duellen Meinung unker die Aukorikäk eines Parkeiführers iſt es, was ich nichk für rechk halke und weshalb ich gewiß nie, wenn ich Skaaks⸗ mann wäre, mik einer Parkei gehen würde, außer nakürlich in kon⸗ kreten Fragen.“ Als ausgeſprochener Gegner des Mankeuffelſchen Regimes ging Werner Guſtedk in den enkſcheidenden Fragen mit den Liberalen. Die perſönliche Freundſchafk ſennys mit der Prinzeſſin von Preußen kam hinzu, um das Guſtedtſche Ehepaar vollends in die Kreiſe der Oppoſikion zu führen, die durch einzelne ihrer Glieder, wie Beth⸗ mann⸗Hollweg — den Führer der ſogenannken Gothaer —, Aſedom und Pourkales, ſteks in Verbindung mit der damals in Koblenz reſidieren⸗ den Prinzeſſin ſkanden. Mehr als je gehörke ihr in dieſer Zeik der Herrſchafk der Dunkelmänner die wärmſte Sympathie Jennys. Sie waren beide echte Kinder Weimars, und was Bismarck nicht auf⸗ hörke, der Prinzeſſin von Preußen zum Vorwurf zu machen: ihr Wurzeln in den großen Tradikionen ihrer jugend — das gereicht ihr wie ihrer Freundin zum Ruhm. Ihr Briefwechſel würde pſycho⸗ logiſch und zeikgeſchichklich von größtem Werte ſein, und nicht nur die Einheitlichkeit ihrer Anſchauungen, auch der Einfluß, den ſie auf⸗ 285 einander ausübten, würde dabei zukage kreken. Gerade in der Reaktionszeik Preußens hatken die beiden Frauen viel Gemeinſames: ihre Bewunderung für England, ihre Abneigung gegen Rußland, ihr Wunſch nach Schaffung gründlicher, vor allem ſozialer Reformen, ihre Verſuche, mit den eigenen ſchwachen Kräften nach dieſer Richtung tätig zu ſein. „Das Jahr 1848,“ berichkete ſenny, „war ihr, wie ſie mir ſchrieb, verſkändlich und häkte ihrer Anſicht nach zu einem guken Ende führen müſſen“, aber ihre Gegner — Bismarck an erſter Stelle — hielken ihr weitherziges Verſtändnis auch für die Anſichten der Gegner nur zu ofk für ein Einverſtändnis mit ihnen, ſo z. B. in bezug auf ihre Skellung zum Katholizismus und zum judenkum. „Hie hatte es ſich zum Ziel geſetzt“, ſchrieb Fenny, „die Wunden, die die Politik ſchlug und ſchlagen mußke, mit der weichen Hand der Frau zu heilen, und auch das iſt ihr viel⸗ fach zum Vorwurf gemachk worden. Immer wieder wollke ſie zeigen, daß die Politik eines Menſchen uns falſch, ja ſogar verderblich er⸗ ſcheinen kann, ohne daß der Menſch ſelbſt deshalb verdammenswerth iſk. So war ihr die Polikik der katholiſchen Kirche widerwärkig, ohne daß ſie ſich deshalb von dem einzelnen Katholiken, deſſen großen Charakter ſie erkannk hatte, abgewandt hätte. Ebenſo verachtete ſie den jüdiſchen Geiſt, zog aber den einzelnen edlen Zuden in ihre Nähe. Ähnlich war ihre Stellung England gegenüber; ſie bewun⸗ derte rückhalklos den freiheiklichen, großzügigen Geiſt ſeiner Politik, der ſeik jahrhunderten ſo erzieheriſch gewirkt hat, daß auch der einzelne Engländer ein Skück von ihm in ſich krägk, aber ſie verab⸗ ſcheute ſeine Unerſätklichkeik, wenn es galk, ſich fremde Länder an⸗ zueignen und ſeine Grauſamkeik in der Unkerdrückung armer, wilder Volksſtämme.“ Iſt das nichk, als ob Jenny ſich ſelber ſchilderk, und liegk der Wunſch nicht nahe, zu erfahren, von welcher der Freundinnen der beſtimmende Einfluß ausging? Aber die Briefe Auguſtas ſind verabredekermaßen zum größken Teil verbrannk worden, und die 286 Briefe Zennys, die ein lebendiges Zeikbild geweſen ſein müſſen, ruhen, falls ſie nichk auch dem Feuertode geweiht wurden, in den uner⸗ reichbaren Schränken des kaiſerlichen Hausarchivs. Zur Zeik des Berliner Aufenthalks der Guſtedks gaben ſie der Prinzeſſin zweifellos auch den Eindruck wieder, den das dortige polikiſche und geſellige Leben auf ſenny machte. Ein einziges Brief⸗ fragment, das ſich unker ihren Papieren befindet, enthälk folgende charakteriſtiſche Sätze: „Die Berliner Lufk wirkk gradezu lähmend. Es iſt als ob der Geiſt Hinkeldeys ſie ſo durchdringt, daß gar kein anderer daneben Platz hak. Was groß und guk und zukunfksfroh erſchien, iſt fork und hälk ſich im Hinkergrund oder iſt über das Alter lebendigen Wirkens hinaus, wie Betkina, wie Varnhagen, wie Alexander von Humboldt. Es kommt mir hier vor, wie in einem Kinderzimmer, wo die ſtrenge Gouvernante Ordnung gemacht hat: alles Spielzeug iſt verſchloſſen — die Kinder können beim beſten Willen nun nichts mehr enkzwei machen. Aber ich fürchte, das Bild behälk auch in ſeiner weiteren Entwicklung ſeine Gültigkeik: ſie werden nun erſt recht unzufrieden und unartig werden. Ich würde es auch, wenn ich hier zu leben verurkeilk wäre.“ Alke Freunde, wie Fürſt Pückler und Karl von Holkei, liebe Ver⸗ wandte, wie der Schwager ihres Mannes, Graf Kleiſt-Rollendorf, und ſeine Frau, verſcheuchten ihr die krüben Stunden, und ein ſchönes Bild, das Peter Cornelius' begabter, leider jung verſtorbener Schüler Strauch von ihren Kindern malke, wurde der ſchönſte Gewinn ihres Aufenthalks. Das Mokiv dazu gab ſie ihm: Chriſti Work „Laſſek die Kindlein zu mir kommen“: unter einem Palmenbaum ſitzt er ſelbſt, Diana, das Erſtverſtorbene, in weißem Hemdchen, weiße Roſen auf dem Kopf, ihm auf den Knien die koke, ſchöne Marianne, gleich gekleidet, neben ſich, während die drei anderen Kinder, weiker enk⸗ fernk, in den bunten Gewändern des Lebens ſich ihm nähern. Zu den Köpfen der Verſtorbenen hatte Jenny die Skizzen enkworfen. 287 Kurz vor ihrer Abreiſe von Berlin ſchrieb ſie einem Freunde: „Können Sie ſich vorſtellen, daß ich mich nach den, von Ihnen oft verhöhnken barbariſchen Gefilden Weſtpreußens wie nach dem ge⸗ lobten Lande der Freiheik ſehne?! Machte der unhalkbare Zuſtand Preußens, der bei der merkwürdigen Geiſtesark des Königs, ſeinem Sprunghafken, Phankaſtiſchen, Unberechenbaren, nur immer unhalk⸗ barer werden wird, mich nicht aufrichtig kraurig, ich würde mich der nahen Abreiſe rückhaltlos freuen.“ Das „nakürliche, geſunde, heiter⸗ tätige Leben“ krak wieder in ſeine Rechke, es ſtellke aber auch immer höhere Anforderungen an die Mukter wie an die Guksherrin. „Viele Mütker akmen erleichterk auf,“ ſchrieb ſenny, „wenn die Kinder der Schule entwachſen, dann, meinen ſie, ſind die Sorgen vorbei. In Wirklichkeik aber wachſen ſie nur mit den Kindern. Oder iſt es nicht viel leichter, ein Kind zu pflegen, das die Maſern hat, als eines Kindes Seele geſund zu machen, die die böſen Miasmen der Welk zu ver⸗ gifken begannen? Und iſt es nicht viel einfacher, ihm das Einmal⸗ eins beizubringen, als die einzige Wahrheit, daß Freiheik von der Sünde die Freiheit an ſich iſt? Otto, ihr Sorgenkind, der es mik nahezu ſechzehn Jahren müh⸗ ſam bis Unkerſekunda gebracht hakte, weil nach der Mutker Work: „ſeine ſchwankende Geſundheik und ſein ſchlechkes Gedächtniß ihm das Lernen erſchweren,“ ſollte auf die landwirtſchafkliche Schule nach Jena kommen, um alle Zeik und alle Kräfke ſeinem künftigen Beruf als Candwirk zu widmen. „Aber“ — ſo fährk ſenny in ihrem Bericht an eine Freundin fork — „die ſtille Schmach, die in Preußen auf denen ruht, die nicht das Abiturienkenexamen gemachk haben, hat das Gewichk nach Werners Wunſch hinſinken laſſen. Seik ſeinem Abgang von Marienwerder, den ich nicht weiker berühre, da ich denke, Sie haben durch Emma und meine Schweſter die fakale Ge⸗ ſchichte, die uns nun ſeik 8 Monaken peinigt, hinreichend erfahren, iſt er hier von unſerem lieben herrlichen Prediger unkerrichket und 288 eingeſegnek worden. Dieſe Feier war, durch die, ich kann ſagen, heilige Perſönlichkeit des Predigers, ſo ſchön, wie ich ſie nie er⸗ lebk habe.“ Eine Feier in Haus und Herzen, wie ſie wenige ſo guk zu ge⸗ ſtalken verſkanden als Otkos gütige Mutter, war der Einſegnungskag geweſen. Alle Arbeik hatke geruht, dunkle Tannenzweige und leuchken⸗ des Herbſtlaub hatten das Haus mit Dufk und Glanz erfüllk, und ſkolz und voll Hoffnung ſahen die Augen der Mukker auf den nun⸗ mehr erwachſenen Sohn. In das Tagebuch, das ſie ihm zur Ein⸗ kragung ſeiner Gedanken und Erfahrungen ſchenkte, hatte ſie als Richkſchnur für ſein Leben folgendes geſchrieben: „Am Tage, der Dich aus der Kindheik enkläßt, ſei das erſte Work der Mutker an Dein Herz das Work der höchſten, reinſten Liebe, ſei die Lehre Chriſti von der Menſchenliebe; der Geiſt des Herrn gebe meiner Rede Licht und Krafk, daß ſie in deine innerſte Seele dringe, daß ſie dich erfülle, dein ganzes Sein durchglühe, dich gegen Undank, Irrthum und Bosheik ſtähle, daß du befähigk werdeſt, zu lieben und zu helfen, nur um der Liebe willen, ohne Wunſch oder Hoffnung auf Dank und Lohn, daß du erkennen mögeſt, wie Alles eikel iſk, was nicht aus dem reinen Quell der Liebe enk⸗ ſpringt, daß du es klar in deinem Herzen leſen mögeſt, das einzige höchſte Geſetz, das Gokk mik glänzenden Buchſtaben aufgezeichnek hak, das alle guken Geiſter in tauſend Chören an ſeinem Throne ſingen: Liebe deinen Nächſten als dich ſelbst. Ich gebe dir, mein Sohn, als einziges Studium deines Lebens, als einzige Aufgabe vom erſten Erwachen deiner Seele bis zu dem letzken Gedanken: die Erkennkniß und Ausübung der Liebe nach des Heilands Work. Und du mußk fleißig und thätig ſein, wenn du die heilige Aufgabe löſen willſt, denn die Liebe verzweigk ſich in allen Fähigkeiken, in alle geiſtige Erkennkniß, in alles Wiſſen, in alle Ver⸗ hältniſſe, in alle Thaken der Menſchen. Du mußk vor Allem dich Im Schatlen der Titanen. 19 289 erkennen und vergeſſen lernen, denn aus dem Mittelpunkke deiner Seele, aus den Triebfedern, die du darin entdeckſt, entſpringt die Erkennkniß und Rachſichk für andere Seelen, und nur im Vergeſſen deiner ſelbſt, im Aufopfern von Vergnügen, Bequemlichkeiten, welk⸗ lichen Vortheilen, ſobald ſie in Widerſpruch mik der Menſchenliebe ſtehen, ſproßk der götkliche Keim der wahren Liebe. Ihr erſtes Er⸗ forderniß iſt, daß du dich ganz in die Lage, in die Empfindungen, in die Denkungsweiſe deines Rächſten verſetzen zu können lernſt, darum mußk du die Mühe der Beobachtung nicht ſcheuen, darum mußt du den Standpunkk kennen lernen, aus dem die fremde Seele fühlk, denkt und handelk, darum mußk du dich mit dem Leben in allen ſeinen Formen bekannk machen, darum mußt du jede äußere Erſcheinung genau prüfen und die Sitten und Anſichken aller Skände kennen lernen; du mußk klar ſehen in den tauſend verſchiedenen Verhältniſſen, die Zeik und Umſtände, Weisheik und Irrthum ſo bunk geſtaltek haben, um weder durch Härte noch durch falſches Mitleid Fehlgriffe in dem Werke der Menſchenliebe zu khun . . . Mußk du auch ruhig den Contraſten der geſelligen Verhälkniſſe zuſehen, ſo hüte dich, daß du die Grenze genau erkennen mögeſt, wo Armukh in Mangel und Einfachheik in Bedürftigkeik übergeht, hüke dich vor dem Urtheil der Bequemlichkeik ſo vieler Reichen, welche ſagen: Die Leute wiſſen es nicht beſſer, ſie ſind einmal daran ge⸗ wöhnk. Man gewöhnk ſich nichk an Froſt und Hunger, an Er⸗ ſchöpfung und Krankheit, man gewöhnk ſich nichk an die dumpfe Ein⸗ förmigkeik käglicher Sorge und freudeloſer Arbeik; eine Mukker ge⸗ wöhnk ſich niemals daran, ihr Kind Mangel leiden zu ſehen, und immer bleibk die Stimme der Ratur wach, welche dem Leidenden zu⸗ ruft: „So ſollte es nichk ſein“, bis daß ſeine Seele von der Sorge zur Bitkerkeik, von der Bitkerkeik zum Unrechk, vom Unrecht zum Verbrechen übergeht, und iſt es erſt ſo weik gekommen, ſo kritt die ſtrenge, unabwendbare Macht der Geſetze ein, die als Selbſt⸗ 290 ſchutz der Geſellſchafk das Verbrechen ſtrafen muß, ohne auf deſſen Quelle zurückzugehen; aber der heilige Beruf der Liebe iſt es, uner⸗ müdlich in dem ganzen Kreiſe, der uns zum Wirken angewieſen iſt, dieſe Quellen zu erſpähen und zu verſtehen. Alles Unglück ſucht die Liebe auf und tilgk es, wenn ſie die Machk dazu hak. Wo du gebiekeſt, muß die Liebe herrſchen und die Gerechtigkeik; daß du aber die Mittel dazu behälkſt und deine Ciebe nicht in Schwäche ausarke, darum lerne Welk und Menſchen kennen. Was dir zunächſt liegt, lerne zuerſt, gehe mik deinen Unker⸗ gebenen ſelbſt um, ſuche ſie zu durchſchauen, begegne ihnen mild, ernſt, konſequenk und menſchenfreundlich. Nichk deine Machk muß dich als ihren Vorgeſetzten zeigen, deine Seele muß das Uebergewichk behaupken, du mußk ihr Herr im Geiſte ſein, du mußk es ſein in Chriſti Sinn, und Undank, Tadel und Unvernunfk müſſen dich unangefochken laſſen in deinem Werke der Menſchenliebe, in deinem Glauben an das Guke. Darum, mein Sohn, läutere erſt deine eigene Seele. Um Gutes zu ſtifken, mußk du guk ſein, um zu herrſchen, mußk du dich ſelbſt beherrſchen, keine Launen dürfen dich herabwürdigen, ſie reizen die Pfiffigkeik, die Schmeichelei deiner Unkergebenen, die auf deinen Edel⸗ muth, nichk auf deine Schwächen bauen müſſen. Wenn der Arme mehr zu tragen hat, ſo hat der Reiche mehr zu thun. Wem viel gegeben iſt, von dem wird viel geforderk werden. Das, mein Sohn, iſt Chriſtenthum; keine Religion der Gefühls⸗ ſeligkeit, der Schwärmerei, der Wortgefechte, ſondern eine Religion der Thak, der lebendigen Liebe.“ An eine Freundin richtete ſenny kurz nach Ottos Einſegnung folgenden Brief: . . . „Ich bin mir bewußk, ihm das Beſte gegeben zu haben, was ich fühle, glaube und denke, und werde und will es ihm weiker geben, wenn es ſein müßte bis zur Selbſtauflöſung. Ich bin auch überzeugk, daß er Alles bereitwillig aufnahm, daß die beſte Abſicht ihn beherrſcht und daß er, wenn keine zu ſchweren Anfor⸗ 19* 291 derungen an ſeinen Körper und an ſeinen Geiſt geſtellk werden, ein küchtiger Aenſch werden wird. Aber mich überfällt oft die quälende Sorge, daß er zu denen nichk gehört, die großen Schmerzen, großen Pflichten, großen Verführungen gewachſen ſind, und das Rätſel der angeborenen Anlage mik all ſeinem Gefolge an Iweifeln und Qualen ſteigk dann drohend vor mir auf.“ Eine wehmükige Reſignakion klingk aus dieſen Worken, jene ſchmerzlichſte, zu der ein enktäuſchtes Mukkerherz ſich durchringk: daß das geliebte Kind nicht dem Bilde enkſprichk, das die Mukker von ihm enkwarf. Alle Enk⸗ täuſchungen des eigenen Lebens wiegen leicht für ein Weib, das die eignen unerfüllken Wünſche und Hoffnungen auf ihr Kind überkragen kann. Mik ihm iſt es noch einmal jung und geht mit ſkarkem Ver⸗ krauen die alken Wege des Lebens wieder, überzeugk, daß ſie nun zum Ziele führen müſſen. Eine geheimnißvolle Stimme aus den uner⸗ gründlichen Tiefen ihres Innern raunk ihr zu, daß die Wunden, die ihr das Leben ſchlug, nur darum ſo zahlreich waren, ſo ſchmerzten und ſo blukeken, weil ſie die ihrem Kinde beſtimmken Leiden mik auf ſich nahm. Und als ein Glück empfindek ſie dann ihr Anglück. Ueber ſpitze Steine mußke ich gehen und glühendes Eiſen, ſagt ſie zu ſich ſelbſt, um mein Kind unverletzk auf meinen Schulkern hinüberzutragen; von den Dornen am Weg mußk ich die hauk mir zerreißen laſſen, aber auf ſtarken, hocherhobenen Armen halk ich mein Kind, damik es, ohne Schaden das Ziel erreiche. ( „Da Gokk nichk überall ſein kann, ſchuf er die Mükker,“ heißt es in Jennys Hammelbuch. Aber wehe der Mukker, die die Machk⸗ loſigkeik ihrer Gokkesverkretung langſam begreifen lernk und ſieht, daß ihr Blukopfer umſonſk war. Rur die Krafk eines Glaubens, der Berge des Leids zu verſetzen vermag, und der Quell der Hoffnung, der in ſteks gleicher Skärke ſprudelk, ob er auch ſchon kauſendmal dem Berdurſkenden das Leben retken mußke, vermögen über dieſe furchtbarſte Offenbarung des Lebens hinwegzuhelfen. Jenny 292 beſaß jenen Glauben, aber ihre Hoffnung war waſſerarm, ſie ſchien nur zu ofk im Sande der Sorge zu verſiegen. Da war es der lebenskräftige Gatke mit ſeinem geſunden Optimismus, der ſie immer wieder den krüben Vorſtellungen entriß und ſie über ihre kraurige Wahrheik hinwegtäuſchte, und wo es ihm nicht gelang, da war es die Arbeik, die ſie davon befreite. „Wir wiſſen im Augenblick nicht, wo wir zuerſt Hand anlegen ſollen; das Elend der uns umgebenden Menſchen, Cholera, Kälke, Hunger, Teuerung laſken ſchwer auf uns und ihnen, und es iſt doch im Ganzen nur ſehr kärgliche Hilfe möglich, am meiſten noch durch Suppenanſtalken, und dieſe bemühen wir uns in den Städten des Kreiſes einzuführen. Daneben ſuche ich die Kinder in unſer großes, warmes Haus zu rekken und freue mich ihrer Fröhlichkeik, die beſſer iſt als aller Dank . .. Ich ſchreibe im Angeſichte einer Rechenſtunde von ſechs kleinen Knaben, die eine Art Schule bei mir bilden und neben meiner ſenn, die eine franzöſiſche Überſetzung macht, — wenn ich alſo einen uneleganken Brief in Styl und Ausſtakkung ſchreibe, ſo halte es mir zu Guke,“ ſchrieb ſie im Jahre 1856 an Emma Froriep, und äußerte ungefähr zu gleicher Zeit ihrer Schweſter Ce⸗ cile Beuſt gegenüber: „Es iſt mir jetzk erſchreckend deutlich geworden, welch großen Vorzugs wir uns in unſerer Arbeik erfreuen: Wir müſſen alle Gedanken auf ſie verwenden, und werden daher ge⸗ zwungen, ſie von unſeren Kümmerniſſen abzulenken. Sieh dagegen einen Tagelöhner oder einen Scheerenſchleifer: der eine mähk die Wieſe und der andere ſchleifk die Meſſer, ohne daß ihm dieſe Wohl⸗ kat wird, ſeine Gedanken können ſich nach wie vor um die kranke Frau, um die hungrigen Kinder, um den kommenden Winker, um den leeren Beukel drehen . . .“ — — Eine lange Periode der Schweigſamkeik beginnk mik dem jahre 1859, nicht nur, weil die etwa geſchriebenen Briefe unerreichbar blieben, ſondern wohl auch, weil unker der Folge von Ereigniſſen ihrer nicht 293 viele geſchrieben wurden. Die befreiende Gabe, ſich auch im kiefſten Ceid ausſprechen zu können, kommt vor allem der jugend zu, die noch an den Troſt und die Hilfe der Freunde glaubk und glauben kann. Je älker man wird, um ſo einſamer wird man; die perſön⸗ liche Akmoſphäre der eignen Cebenserfahrungen enkfernk den einen von dem andern, je dichter ſie uns umſchließk. Ein jeder wird eine Welk für ſich mik ihren eignen Geſehzen. Jenny Guſtedks älkeſter Sohn war inzwiſchen, nachdem er zur Empörung ſeines Vaters das Abiturienkenexamen nicht gemacht hatte, auf die landwirkſchaftliche Schule gekommen. Mitken im Skudium erwachte in ihm die Baſſion für die militäriſche Laufbahn mik ſolcher Gewalk, daß er die Eltern ver⸗ mochte, ihr nachzugeben, und als er im ſchmucken Schnurenrock des Danziger Huſaren zum erſten Ial wieder nach Roſenberg kam, war er ſo ſtrahlend vor Glück und bok ein ſo bezauberndes Bild junger, ſchöner Riktkerlichkeik, daß es wirklich ſchien, er habe endgültig gefunden, was ſeinem Weſen enkſprach. Mik Leib und Seele war er Soldak, ein tollkühner Reiter, ein unermüdlicher Tänzer, ein verwöhnker Liebling der Damen. Seine kecken Skreiche wurden bald zum Stadtgeſpräch; als er einmal auf Grund einer Wette während der Vorſkellung zu Pferde in einer Loge des Theaters erſchienen war, kam er zur Strafe in eine kleinere Garniſon. Trotdem erſchien er bei jedem Ball und war morgens pünkklich in der Reitbahn bei den Rekruten: er rikk nach Danzig und ſetzte ſich, heiß vom Tanz, wieder aufs Pferd, um in den eiſigen Winternächken, ſo raſch der Gaul ihn krug, die Garniſon zu erreichen. Pochend auf ſeine Jugend⸗ krafk, rückſichkslos vergeudend, was für ein ganzes Leben reichen ſollke, ſchlürfke er in vollen Zügen den ſüßen, perlenden Wein ſorg⸗ loſen, liebe⸗ und luſterfüllten Daſeins. Die Mutker zikterte bei jeder Rachricht von ihm und wagte doch dem Gatken ihre Angſt nichk zu zeigen, weil ſie wußke, wie ungeduldig ihre ahnungsvollen Horgen 294 ihn machken, weil ſie fürchteke, ihn, der gerade anfing, mit dem Sohn zufrieden zu ſein, vielleicht unnötigerweiſe zu reizen. Wie gern wollke ſie unrechk haben, und doch gab ihr die Zukunfk Rechk. Okko brach vollkommen zuſammen, ſo vollkommen, daß es ſchien, als würde er für immer dem bunken Rock enkſagen müſſen. In der aufopfernden Pflege der Mutter genas er nach und nach. Kaum, daß ſie aufzu⸗ atmen wagte, kamen beunruhigende Rachrichten aus Paris: das Alter, das Jerome bisher nichks anzuhaben ſchien, überwältigke ihn nun mit doppelter Schnelligkeik, und in der Ahnung des nahen Endes wünſchte er ſehnlich Tochker und Enkel noch einmal wiederzuſehen. Jenny entſchloß ſich mit den drei Kindern zur Reiſe nach Frankreich und verlebte ein paar ſtille Sommerwochen bei dem geliebten Dater auf dem Lande, überzeugk davon, daß es das lette Zuſammenleben ſein würde. Kaum ein halbes Jahr ſpäter — 1861 — wurde der letzke der Brüder Rapoleons zu Grabe gekragen, und die Kuppel des Invalidendoms, die ſich über die ſterblichen Reſte des Welkeroberers wölbte, wölbte ſich nun auch über ihm. Aber während Hunderte und Tauſende noch immer zum Sarge des Kaiſers wallfahrken, und krotz all der Wunden, die er ſchlug, krotz all des Lebens, das er zertrak, in Ehrfurchk bewundernd, das Haupk vor dem Token enk⸗ blößen, werfen ſie kaum einen Blick auf das Grabmal ſeromes — der Schatken des Gewaltigen warf ſeinen dunklen Schleier auch noch über den Token. Rur ſeine Kinder weinken um ihn, und unter ihnen wohl keines ſo heiß als Dianens Töchter. Was Jenny ſo ſehr gewünſchk hakke: dem Vater die letzte Ehre zu erweiſen, war unerfüllk geblieben, denn ſeine Todesnachricht kraf ſie mitken in der Auflöſung ihrer ländlichen Häuslichkeik: Werner Guſtedt hatke die Wahl zum Landrak des Halberſtädter Kreiſes an⸗ genommen. Seik alken Zeiten hatte ein Mitglied der Familie Guſtedt dieſe Verkrauensſkellung inne gehabk, ſo auch ſein 1860 verſtorbener älkeſter Bruder, und die Tradikion war eine ſo feſt gewurzelke, daß 295 die Kreisſtände ihn wählken, obwohl die meiſten ihrer Mitglieder ihn zum erſten Mal geſehen hatken, als er, eben von Preußen kommend, ſich noch im Reiſepelz an das offene Grab des Bruders ſtellke. Die trüben Ahnungen kapfer überwindend, in Gedanken an die guten Seiken einer Überſiedlung in die Stadk, in die nächſte Rähe der Ver⸗ wandten, beſonders im Intereſſe der Kinder, unterwarf ſich Jenny widerſpruchslos der Entſcheidung des Gatten. In dreiundzwanzig Jahren hatte ſie ſich durch Kampf und Arbeik, durch Freud und Ceid im fernen Oſten die Heimat erworben; die lebenden Kinder die ihr entſproſſen waren, die koten, die ſie ihr wieder hatke zurück⸗ geben müſſen, feſſelten ſie an dieſen ſtillen krauten Winkel. In ihm begrub ſie zum Abſchied ihre ſugend. Aber wenn ſie auch einſt gekommen war mit roſigen Wangen und dem leichten Schritt jugendlicher Freude und nun ging, blaß und ſchmal, zögernden Fußes, als ob der Boden ihn feſthalken wollke: ihre dunklen Augen leuch⸗ teken ſtrahlender als einſt, und ihre reine Schönheik verleugneke ihre fünfzig Jahre. Ein großes, ſchönes Haus in grünem Garken nahm Guſtedks in Halberſtadt auf, mit offenen Armen und Herzen kamen ihnen die vielen Verwandten entgegen, deren Güter in der Rähe waren, und die den Winker in der Stadk zuzubringen pflegten. Die liebliche, eben erblühte Tochker war des neuen Heimes Schmuck und wurde die ſtärkſte Anziehungskrafk für die ſugend des Städtchens. Ein neues. fröhliches Ceben trat an Stelle des alten, ſtillen; das gaſtliche Haus des neuen Landrats, in dem mik ihrer Vornehmheik ſeine gütige, geiſtvolle Gattin eine Akmoſphäre von Behagen verbreikeke, wurde zum Mittelpunkt der Geſelligkeik, das reizende Töchkerchen das um⸗ worbenſte Mädchen der Geſellſchafk. Unker den 7. Küraſſieren war manch ein Offizier mik altpreußiſchem Ramen, der ſie gern für ſich eroberk hätte und auch die Gunſt des Vakers gewann. ſenny ſelbſt enthielt ſich jeden Einfluſſes, nur das Herz der Tochter ſollke enk⸗ 296 ſcheiden. Und es enkſchied raſch genug: auf einen Infankerieleuknank, von deſſen Familie kaum jemand viel wußke, der nur ein kleines Vermögen beſaß und in der Geſellſchafk keine große Rolle ſpielke, weil er beſſer zu unkerhalten als zu kanzen verſtand, fiel ihre Wahl. Als er zum erſten Mal in Helm und Waffenrock vor den alten Guſtedk krat, ihn um die Hand der Tochker bittend, wurde er ſchrof zurückgewieſen, und ſenny mußte auf längere Zeik Halberſtadk ver⸗ laſſen, um ſich die Liebe zu Hans von Kretſchman womöglich aus dem Sinn zu ſchlagen. In Begleikung ihres älteſten Bruders krat ſie eine Verwandtenreiſe nach dem Elſaß an, wobei die jungen Leuke es ſich wohl ſein ließen: die Schweſter, in der Zuverſicht, ihr Ziel doch zu erreichen, der Bruder, im Vollgefühl der wiedergewonnenen Geſundheik. Auf dem Schloß der Familie Buſſieres, deren weibliches Haupt, eine geborene Türkheim, Jennys rechte Couſine und alke Penſions⸗ freundin war, krafen ſie eine Schar fröhlicher Vekkern und Couſinen. Die eine von ihnen eroberke im Skurm Otkos leichk zu enkflammendes Herz, und die Geſchwiſter kehrken nach Halberſtadk zurück, die Schweſter ihrer Liebe nur noch ſicherer, der Bruder entſchloſſen, die ſeine zu verkeidigen. Er fand unerwarkeken Widerſtand bei ſeiner Mukker: ſeine Jugend, die ihm fehlende Lebensſtellung, ſeine Kränk⸗ lichkeik, vor allem aber die nahe Verwandkſchafk des jungen Paares waren für ſie Gründe genug, ſich mit allen Kräfken gegen die Ver⸗ bindung zu ſträuben. Aber krotz der Unterſtützung, die ſie bei ihrem Mann und bei ihrer Couſine, der Mutker des jungen, von Okko ge⸗ liebken Mädchens, fand, unkerlagen alle Gründe und Erwägungen der Vernunfk der Liebesleidenſchafk des Sohnes. Im Jahre 1863 fand die Hochzeik des jungen Paares ſtatk, das zunächſt nach Straß⸗ burg überſiedelke. Und kaum ein Jahr ſpäter hatten Kretſchmans Energie und ſennys Treue den Widerſtand des Vaters gebrochen, und den alten Dom von Halberſtadt füllke eine glänzende, frohe Hochzeiksgeſellſchaft. 297 Als auch die Tochker das elkerliche Haus verlaſſen hatke und nur der jüngſtgeborene noch übrig geblieben war — wie einſam er⸗ ſchien es da der Mukter! Sie wußte ihre Kinder glücklich in ihrem ſelbſtgewählken Los, ſie wußte von ſich, daß ihre Liebe durch keine Spur von Selbſtſuchk vergifkek war, und doch konnte ſie ſo recht nicht froh werden. Ihr fehlke auch die Arbeik, alles Verkiefen in ihre Bücher bot ihr keinen Erſat. Rur Jeromes Memoiren, die um jene Zeik anfingen, zu erſcheinen, und aus denen ihres Vakers Bild ihr lebendig entgegenkrak, vermochten ſie von der Gegenwark abzu⸗ lenken. „Sie enthalken nichk nur,“ ſo ſchrieb ſie, „äußerſk wichtige hiſtoriſche Tatſachen, ſie geben vor allem den richtigſten wahren Ab⸗ glanz ſeines Weſens, Wollens, ſeines Charakters und ſeiner Liebens⸗ würdigkeik.“ Mik ihrem Mann begann ſie wieder die gemeinſame abendliche Lekküre, aber zu einem ſtillen Einleben in die neue Ark des Daſeins ſchien es nicht kommen zu wollen. Eine innere Unruhe krieb Werner Guſtedk hin und her, ließ ihn ſich auf der einen Seite wieder in politiſche Angelegenheiten miſchen, während ihn die Reiſe⸗ luſt andrerſeiks in die Ferne krieb. Eines ſchönen Morgens packte er denn auch ſeinen Koffer und fuhr krotz der Sommerhitze über Italien nach Algier. Zu Beginn des herbſtes, als Hans von Krekſch⸗ man im Manöver ſein mußke, kraf ſenny in Heringsdorf mit der Tochker zuſammen. Am 10. Sepkember 1864 ſchrieb ſie von dork aus an ihren eben heimgekehrken Gatten: „Mein lieber Werner! Einen ſchriftlichen Gruß ſollſt Du wenigſtens finden, wenn Du an unſeren lieben häuslichen Herd zurückkehrſt, wo ich dir ſo gerne enk⸗ gegenkäme, ich halte aber mich und meine ſenn gewaltſam hier feſt ... Meine Meerpaſſion wurzelk immer tiefer im Herzen, in den Rerven und in der Phankaſie, obwohl ich immer ſchlecht ſchlafe. Am Tage aber fühle ich mich leichk an Körper und Geiſt. Wald und Um⸗ 298 gegend erinnern an unſer geliebkes Garden ohne Meer, und ich träume mich ofk um zwanzig Jahre zurück! .. Leben, Licht, Friede, Größe, Ewigkeik, Wechſel bei der götklichen Ruhe des ſtillen Ieeres und dann das majeſtäkiſche Losdonnern des Sturmes wie der Zorn Gokkes, und das geduldige Tragen der kleinen Schiffchen, wie das Tragen des kleinen Menſchen durch die gökkliche CLiebe — es iſt zu wunderbar ſchön und mik nichks auf der Welk zu vergleichen! Hätte ich meine Lieben Alle um mich, ich möchte nie von hier fork. So aber werde ich gerne abreiſen ... Habe ich ſennchens Wohnung in Magdeburg eingerichkek, wo ſie, ſo Gotk will, im nächſten Sommer als glückliche Mutker hauſen wird, dann ſetze ich, vereinſamke Mutter, mich zu meinem lieben alken Mann. Lebe wohl, mein guker, lieber Werner, ich hoffe, das Zuhauſe wird Dir doch wieder recht ſein. „Beankworkek am 12. September,“ ſtehk von Guſtedks Hand auf dem Briefe vermerkk. Es war der letzte, den er erhalken hakte. Am 31. Sepkember war er kok. Still und ſtarr in ihrem Schmerz, mechaniſch verrichkend, was für ſie zu kun war, ohne Ankeilnahme für alles, was um ſie her vorging — ſo ſahen die Kinder ihre Mukter, wie ſie ſie noch nie geſehen hatten. Richk nur der Gatte war kot, nein auch in ihr war etwas geſtorben: ihm hatte ſie ſich in Liebe hingegeben, ihm hatte ſie nicht nur jene banale Treue des geſchrie⸗ benen Rechks, ſondern die Treue der Seele unverbrüchlich gehalken, ihm hatke ſie ſich unkergeordnek, wenn beider Willen nicht zu ver⸗ einigen war, ihm hakke ſie vieles geopferk, was ihr Leben reicher und glücklicher hätte machen können, und gerade darum war es ein Stück ihrer ſelbſt, das mik ihm ſtarb. Die Opfer, die ſie ihm bringk, ver⸗ binden das Weib dem Manne viel ſkärker als die Freuden, die ſie von ihm empfängk, und je mehr ſie ſich hingibk, deſto furchtbarer iſt die Leere, die ſein Tod hinkerläßk. Folgender Brief ſennys an Wilhelmine Froriep, die ihren Mann auch verloren hatte, gibk den Zuſtand ihrer Seele am beſten wieder: 299 „Halberſtadt, den 16. Oktober 1864. Mein liebes keures Minele! Was ich damals zu verſtehen glaubke, verſtehe ich erſt jetzk — deinen Schmerz. Daß du nach Jahren noch Tränen haſt, iſt die Er⸗ leichterung, um die ich dich jetzk beneide; ſeitdem der geliebte Sarg meinen Augen entſchwunden iſt, kann ich ſelken weinen, und es iſt mir, als verſkeinere ekwas in mir. Rur dafür kann ich Gotk nicht genug danken, daß er mir Frieden gibt — Frieden in mir, Frieden in der Erinnerung — Frieden im Gedanken an meinen Werner, deſſen heiliges keures Totenbetk von lauker lieblichen Bildern und Gefühlen umgeben war. — Gokklob, daß ich ihn pflegen, lieben, be⸗ dienen konnte bis zuletzk! Seine Krankheik lag eigenklich zwiſchen zwei Reiſen für mich — ich kam eben von Heringsdorf und wollke im Rovember zu Otko und meiner lieben Schwiegerkochker nach Skraß⸗ burg, wo ſie ihre erſte Entbindung erwarkek. Mein armer Otto mußte den bikkern Kelch des „zu ſpäk“ ohne ſein Verſchulden leeren; am Sonnabend früh um halb ein Uhr war ſein lieber Vater enk⸗ ſchlafen, und am Abend um 7 Uhr kam er an. — Die andern Kinder ſtanden um ſein Betk; mich traf ſein letzter Blick, ich hatte 13 Stunden um, mit, durch ihn gelebk, ohne von mir ſelbſt etwas zu wiſſen — vorher glaubke ich an keine Gefahr. Wie du, mein Minele, gehörk der Reſt meines Lebens meinen Kindern, wenn ich aber überſehe, daß ich nur noch wenige ſahre Arbeit für ſie habe, denke ich, dann wird mich der Herr in Frieden ab⸗ rufen — wie gern beſchlöß ich mein Leben in Weimar, aber meiner Kinder Schickſal will ſich da nichk einſchichten laſſen, und ſo weiß ich jetzk noch nichk wohin. Mein liebes ſennchen und ihr vor⸗ trefflicher Mann nehmen meinen Sohn Werner in Leikung und Obhut — ihr Beruf iſt, oft umherzuziehen, Otto hak noch keine feſte Häus⸗ lichkeit, ſo daß ich wirklich nicht ſagen kann, wo ich wieder eine finden werde . . . 300 „Ich muß mich ſelbſt erſk wieder finden,“ heißk es in einem an⸗ deren Brief aus Straßburg, wo ſie zwei Monake ſpäker der Rieder⸗ kunfk ihrer Schwiegerkochker entgegenſah, „muß Vergangenes und Gegenwärtiges mit dem Zukünftigen zu verknüpfen ſuchen, muß lernen, allein zu ſein. Wer ſich ſo lang und ſo feſt wie ich auf den Arm des Lebensgefährken ſkützte, den überfällk ein Gefühl des Schwindels, wenn er plötzlich ſelbſtändig vorſchreiten ſoll. Ich brauche Stille und weiß, daß ich ſie nirgends ſicherer finde als bei meiner lieben Ronne, zu der ich von hier aus reiſe, und bei der ich bleibe, bis meine Tochker mich braucht“ . . . Als die ſchwere Türe der Deersheimer Familiengrufk ſich hinker Werner Guſtedts Sarg geſchloſſen hatke, ſchien auch das Leben hinter ihr leiſe die Türe zuzuziehen. An ein neues, das Werk und Inhalt für ſie haben konnke, glaubke ſie nicht mehr. Zu inkenſiv hatte ſie für Mann und Kinder gelebt — er war tot, ſie gingen ihre eigenen Wege — ſie vermochke nicht zu begreifen, daß ſie für ſich ſelbſt noch zu leben vermöchte. An einem grauen Januarkag klopfte eine ſchwarz verſchleierke Frau an die Pforte des ſtillen Kloſters in der brauſenden Welkſtadt Paris. Keine der jungfrauen, die hier um Einlaß gebeten hatken, um eine Zuflucht wider die Verführungen und Schmerzen der Welk zu finden, war ſo voller Sehnſucht nach Ruhe hierher gekommen wie dieſe Frau, in deren Seele und in deren Herzen Ehe und Mutkerſchafk ihre unvergänglichen Zeichen hinkerlaſſen hakken. Weit öffnete ſich ihr die Pforke, unhörbar ſchloß ſie ſich hinker ihr. 301 Wieder im Strom der Welt. Im Frühling 1865 kehrke die Witwe nach halberſkadk zurück. Niemand von der Familie kannte den Tag ihrer Ankunfk. Wie ſie es gewünſcht hatte, empfing ſie die tiefe Stille des vereinſamken Hauſes, in dem ſeit dem Tode Werners noch nichts verändert worden war. Doch nicht, um „dem größten und abſtoßendſten Egoismus, den es gibt, dem des Schmerzes,“ zu leben, war ſie heimgekommen. „Eine Lebensberechtigung hat nur, wer nützen kann,“ ſchrieb ſie, „ſolange ich irgend Jemanden weiß, dem ich durch mein Daſein eine Laſk abnehmen, eine gute Stunde bereiken, einen Schritk zum Ziele der inneren Vollendung weiter helfen kann, ſo⸗ lange bin ich nicht im Wege, nicht überflüſſig und habe noch immer Grund zur Dankbarkeik gegen Gokk.“ Und ſie empfand es mit Freuden, daß ihre drei Kinder ihrer bedurften. Da der Aufenthalk in Halberſtadk fern von ihnen für ſie keinerlei Anziehungskrafk mehr hakke, ſo beſchloß ſie, nach Berlin überzuſiedeln. „So wenig ſympathiſch Berlin mir iſt, ſo ſehr ich darauf gefaßk bin, durch die natürlichen Anſprüche der Freunde und der Verwandten, durch die Unbequemlichkeiten des Hoflebens viel von der Kuhe, die meinem Alter nok kuk, opfern zu müſſen, Otko iſt derjenige unter meinen Kindern, der im Augenblick meiner am meiſten bedarf.“ Vorher aber hatke ſie noch eine andere, willkommene Mutter⸗ pflichk zu erfüllen: ihre Tochter ſah ihrer Riederkunfk entgegen, und da ihr Schwiegerſohn kurz vorher von Magdeburg nach Reiße verſetzt worden war, und ſeiner Frau die Mühen des Umzugs erſparen wollke, ſo ſollke das ſtille Halberſtädter Haus, in deſſen weiken Räumen der Frohſinn der Kinder ſo hellen Widerhall gefunden hatke, nicht eher ver⸗ laſſen werden, als bis es die erſten Lebensäußerungen des Enkels erfüllten. An einem glühendheißen Juliſonntag — Jſenny war gerade aus der Kirche gekommen — gab ihre Tochter einem Mädchen das 302 Ceben. „Daß dieſes Enkelchen in meinem Hauſe geboren iſt, ſchrieb ſie nach Weimar, „iſt mir wie ein Fingerzeig Gotkes, daß es mir doppelk ans Herz gelegk wurde. Mutker und Kind ſind geſund und munker. Mein ſennchen hak meiner alten, viel erprobken Ueberzeugung Recht geben müſſen, daß Kinderkriegen angenehmer iſt als Jähneziehen: das Kleine hak ſeine Mukter gar nicht gequälk und hatte es ſehr eilig, in die Welk zu kommen, als ob es das Ceben gar nicht erwarken könnke. Möchken ſeine Hoffnungen es niemals käuſchen!“ Vierzehn Tage ſpäker hielk ſie das Enkelkind über die Taufe und gab ihr den Ramen, der an die ihr liebſte Geſtalk des Goethe⸗Lebens erinnern ſollke, an die Mutker ihres Onkels Türkheim: Lily. Rachdem meine Mutter mit mir nach Reiße abreiſen konnke, und eine kurze Kur in dem von ihr ſchon ofk beſuchten, ſtets mehr ge⸗ liebten und dankbar geprieſenen Karlsbad die Großmukker gekräftigt hakte, ſchuf ſie ſich in Berlin in Otkos nächſter Rähe ihr neues Zu⸗ hauſe. „Mein guter Mann“, ſchrieb ſie von dork aus an eine Freundin, „hak ſo für mich geſorgk und Alles ſo genau vorbedacht, daß mir nach aller menſchlichen Berechnung ein bequemes, ſorgen⸗ freies Alker — ſoweik es materielle Sorgen bekriffk — in Ausſicht ſtehk. Ich kann dabei, hoffenklich immer mit meinem ſennchen und ihrer Kleinen, die Sommer in Harzburg oder Heringsdorf verbringen, die ekwa notwendige Frühlings⸗ oder Herbſtkur in Karlsbad durch⸗ machen, und behalke genug, um meinen Kindern auszuhelfen, ihnen Extrafreuden zu bereiken und ohne Skrupel wohltätig ſein zu können. Wenn ich das Alles ſo niederſchreibe, klingt es faſt ſelbſtſüchtig, aber wenn ich auch ganz genau weiß, daß ich für meine Kinder jede Enkbehrung auf mich nehmen könnke, ſo weiß ich doch ebenſo gewiß, daß ſie in meinem Alter für mich empfindlich ſein würde.“ Von einem ruhigen Leben, wie ſie es erhoffte, war freilich krotz aller Sicherung der Exiſtenz für ſich und die Ihren keine Rede. Der 303 polikiſche Himmel umwölkte ſich immer mehr, und der Winker 1865 bis 1866 erſchien ſchon wie eine Kriegsvorbereitung. Wenn Jenny Guſtedk am Teetiſch bei der Königin von Preußen ſaß, mochten die Gedanken der Freundinnen ſich wohl ſteks ſorgenvoll um dieſelbe Frage drehen, die beide im Inkereſſe ihrer Kinder, im Intereſſe des Vaterlandes und im Inkereſſe des Völkerglücks ſo ſehr bewegke. „Roch kein Argumenk“, heißk es in einem der Briefe Zennys aus jener Zeik, „habe ich gehörk, daß mir den Krieg begreiflich gemacht hätke. Tauſende ſtürzk er in lebenslanges Unglück, vernichkek den Wohlſtand, bringk fleißige Handwerker an den Bekkelſtab, fördert Roheik und Raufluſt. Auch daß er eine Erziehung zum Muk wäre, iſt nichk wahr. Das mag für den Kampf mik dem Säbel in der Fauſk Geltung haben, aber nichk da, wo Kanonen und Gewehre ihre Geſchoſſe aus weiker Enkfernung Armen, faſt Wehrloſen in den Körper jagen. Auch iſt der Muk allein der ſittliche, der chriſtliche, der ſich im Kampf gegen Verführungen und Entbehrungen, für Wahrheik und Rechk erwerben läßk. Ein Märkyrer ſeiner Ueber⸗ zeugung ſteht kauſendmal höher, als einer jener Tapferen, der in der Leidenſchafk des Kampfes ſeinen Rächſten niedermachk.“ Als dann der deutſch⸗öſterreichiſche Bruderkrieg ausbrach und ſenny von Sohn und Schwiegerſohn Abſchied nehmen mußke, legte ſie für ihre Auffaſſung des Mukes Zeugnis ab: ſie blieb die Ruhige und Tapfere zwiſchen Schwiegerkochter und Tochter, die zu ihr gezogen waren, und half ihnen, die böſe Zeik erkragen. Es war keine leichke Aufgabe, denn als die Rachrichk von der Schlachk bei Königgrätz in Berlin eintraf, bekam ſie zu gleicher Zeik die Mikkeilung, daß Hans von Krekſchman an der Spitze ſeiner Kompagnie den Tod fürs Vakerland geſkorben ſei. Da ſie nichk amklich beglaubigk war, beſaß Zenny den Heroismus, vor ihrer Tochker ruhig und heiker zu erſcheinen, während ſie heimlich immer wieder zur Kom⸗ mandantur fuhr, um Gewißheik zu erlangen. Endlich kam Rach⸗ 304 richk: ihr Schwiegerſohn war zwar ſchwer verwundek, konnke aber doch nach Berlin gebrachk werden. Bald darauf erhielk auch ihre geängſtigke Tochter einen beruhigenden Brief von ihm. Wenige Tage nach meinem erſten Geburkskag krug man meinen Vaker in Großmamas Haus — man hak mir ſo ofk erzählt, wie ich mich vor dem Mann mik dem verwilderken Bark gefürchtet habe, daß ich heute noch zuweilen meine, das Bild der verdunkelten Stube, wo er lag und wo Mama und Großmama ſich um ihn bemühten, vor mir zu ſehen. Rach dem Friedensſchluß wurde mein Bater nach Poksdam verſetzk; meiner Großmutker älkeſter Sohn kam zu den dort garni⸗ ſonierenden Gardehuſaren, und ihr jüngſter trak bei den Garde⸗ ulanen ein. Was war natürlicher, als daß auch ſie dorthin ging, wo nun alle ihre Kinder vereinigk waren. Sie bezog ein Haus recht nach ihrem Geſchmack, von einem Gärtchen umgeben, mit dem Blick auf grüne Bäume, und richtete es ein, ſo ſchön und traulich, wie es in jener Zeik der unumſchränkt herrſchenden Geſchmackloſig⸗ keiken nur ſie einzurichten verſtand. Dieſe Umgebung, die ſie ſich ſelber ſchuf, erſchien ſteks ſo ſehr als der nokwendige Rahmen ihrer Perſönlichkeik, daß ihrer wohl gedachk werden muß; gehörte es doch zu ihrem Erbe an Goethiſchen Lebensmaximen, auch das Äußere des Daſeins mit ſich ſelbſt in Harmonie zu ſetzen — in jene Har⸗ monie, die eine ſo wohltuende Akmoſphäre um ſich verbreiteke, die die Menſchen magnetiſch in Großmamas Rähe, in den Frieden ihrer Räume zog. Sie enkſprachen in keiner Weiſe der damaligen Mode, die begann von den geſchnitzken Säulen, Löwenköpfen und Akanthusblättern der Renaiſſance beherrſchk zu werden. Rur ihr Speiſezimmer enthielt die nokwendige Ausſtatkung an Möbeln aus glatkem, dunklem Holz, ohne Schnörkel und ſtaubfangendes Beiwerk. „Es iſt die Haupk⸗ ſache,“ ſchrieb ſie in einer ihrer vielen Auseinanderſetzungen über Im Schatken der Tifanen. 20 305 Hausbauten und Wohnungseinrichtungen, „daß man bei Zimmern und Bauten gleich ihre Beſtimmung, ſo zu ſagen ihre Seele erkenne. Darum paſſen Holzmöbel in Eßräume, Flure uſw., nur dorthin nicht, wo es einem warm, wohnlich, auf Bleiben anmutek, da ſei Skoff und Polſter, Ruhe für den Körper und für das Auge.“ Die modernen Salons erſchienen ihr „wie ein Muſeum ohne Mittelgang, wie ſechs Cabineks ohne Zwiſchenmauern, halb Atelier, halb Ge⸗ wächshaus, halb Porzellanladen, halb Theaterdecoration; Drapi⸗ rungen von kürkiſchen Tüchern um Bilder und Möbel, zahlloſe Rippes, wie in den Glasſchränkchen der Kinder, deren Hauptverdienſt es iſt, die Geduld des Skubenmädchens bis zur höchſten Voll⸗ kommenheik zu üben, Miniakurbilderchen ohne Zahl, auch verblichene, viele ohne die Ramen der Dargeſtellken, den man auch kaum zu wiſſen wünſchke — nirgends Kaum zum ruhigen, gefahrloſen Schritt, nirgends wohlthuende einfache Linien, die Anſicht eines Möbels meiſtens durch ein davorſtehendes unterbrochen. Da iſt kein Raum zu häuslicher Arbeik, zum Spielen der Kinder, da iſt kein eigenk⸗ licher großer Familienplatz mit großem Tiſch zum großen Sopha, großer Lampe, vielen Lehnſtühlen, auf welchen jeder Einkrekende wie auf das berechtigte Cenkrum des Familienlebens zugehk.“ Wie anders wirkte der ſtille grüne Salon meiner Großmutter, der überall, wo ſie auch hinzog, ſeinen Charakter beibehielk, gewiſſermaßen die Heimak war, die ſie überall mitnahm. Wie Moos bedeckte der Teppich den ganzen Fußboden, dunkelgrün, ruhig, klein gemuſterk. Grüne hellere Vorhänge mit weißen darunker hingen glatk an den Fenſtern und bildeken die Portieren. Bei ihrer Antipathie gegen alle ſpitzen Winkel — die in den Zimmern und an den Möbeln — waren zwei Ecken des Salons durch hohe bis zur Erde reichende Spiegel in ſchmalem Goldrahmen verdeckt, zu deren Füßen meiſt blühende Pflanzen in ſchmalen vergoldeken Körben ſtanden. In einer anderen Ecke befand ſich ein kleines halbrundes Sofa, hinker 306 ihm auf einem Poſkamenk eine Goethe⸗Stakuetke. Ein grauer Marmorkamin mik Bronzeküren und dem Bilde der Kinder um Chriſtus geſchart darüber, vor ihm zwei der weich und kief ge⸗ polſterten Lehnſtühle und ein Tiſchchen mik der käglichen Lektüre, füllke den vierten Zimmerwinkel. Zwiſchen zwei Fenſtern an einer breiten Wand ſtand ein großes bequemes Sofa, wie die Skühle mit grün in grün gemuſterkem Skoff bezogen, davor ein großer runder Tiſch mik runder, faſt bis zur Erde reichender grüner Tuchdecke. An den Wänden, die meiſk mik einer goldbraunen oder hellgrünen Tapeke bedeckt waren, hingen nur wenige ſchöne ölbilder, meiſt Familienporkräte. Von der Mitte der Decke hing mondartig eine Lampe mik matkem Glas herab, auf dem Tiſche vor dem Sihzplatz ſtand eine kleinere von antiker Form, über der ein ganz leichter, lichter Schleier von roſa Seide hing, ganz unähnlich den Staats⸗ lampen, die man ſo ofk, den Gäſten zur Qual, nackt, grell in direkter Augenlinie auf den Tiſch ſtellk zur Anerkennung des Verbrauchs an Lichkmaterial. Was aber dem harmoniſchen Kaum erſt das rechte Leben gab, waren die Blumen. Keine Treibhausgewächſe, keine ſteifen Topf⸗ pflanzen, ſondern blühende Blumen aus Wald und Wieſe, zierliche Gräſer, buntes Laub, dunkle Tannenzweige — was immer die Jahreszeik bok und von der Bewohnerin ſelbſt auf ihren langen Morgenſpaziergängen gepflückt oder eingekaufk und zuhauſe mik käg⸗ lich neuer Freude in ſchlanke Kelchgläſer geordnek wurde. An den Salon ſtieß ein intimerer Raum, nur durch Portieren von ihm gekrennk, das Boudoir. Es entſtand faſt in allen Wohnungen durch eine Teilung des Schlafzimmers; alle Wände waren mit leichk ge⸗ zogenem grauem Krekonne bedeckt, auf dem Schilfblätter mit Schlingroſen ſich rankten. Unter dem großen einſcheibigen Fenſter ſkand eine Kouchekte und auf dem Fenſkerbretk ein langer Korb aus Golddrahk mik blühenden Pflanzen gefüllt; die eine Wand nahm der 20* 307 Schreibtiſch ein, aus glattem Holz, ohne jede Schnitzerei; ſeine breite Tiſchplatte hatte ihrer ganzen Länge nach ein Poſtamenk zur Auf⸗ nahme lieber Freundes⸗ und Familienbilder, in der Mitte eine höhere Konſole mik dem weißen Marmorkreuz darauf. An der Wand dar⸗ über hing das ſchöne Bild ihrer Mutter. Kleine Büchergeſtelle, ein paar niedrige Lehnſtühle nahmen den übrigen RKaum ein, deſſen Jußboden mit demſelben Teppich wie der Salon bedeckt war. Die Erſcheinung der Bewohnerin entſprach vollkommen den Räu⸗ men, denen ſie die Seele gegeben hatte. Ihr ſchmales, bleiches Geſicht — eine griechiſche Kamee in vollkommenſter Vollendung — das bis zu ihrem hohen Alker kaum eine Falte aufwies und das die Augen erleuchteten wie von einem inneren Feuer, war von ſchwarzen Spitzen umgeben, die zu beiden Seiken ſchleierartig herab⸗ fielen, ein dunkles einfarbiges ſeidenes Kleid, deſſen Falken weich zu Boden fielen, ein großer runder Kragen vom gleichen Skoff mit breiken Spitzen beſetzt, umgaben und umhüllten die Geſtalk, enk⸗ ſprechend ihrer Anſichk: „es iſt der Würde des Alters angemeſſen, daß Matronen und Greiſinnen ſich verhüllen. Eine junge, hübſche Frau verſchönerk eine hübſche Toilette und wird von ihr verſchönert, ſpäter iſk eine hübſche Toilekke noch ein Schmuck, welcher von der nicht mehr ganz jungen und noch hübſchen Frau nichk verunzierk wird, dann kommt aber die Periode, wo die nicht mehr junge, nicht mehr hübſche Frau die Toilette verunſkalkek, wo es ſich nichk mehr um Toilette, ſondern um Anzug für ſie handeln ſollke, und dieſe Periode wird bei Welkfrauen meiſtens überſehen, dann wird die Toiletke Aushängeſchild ihres Kummers und ihrer Illuſionen, und ſie ſelbſt verlieren die köſtlichen Gaben des Alkers: Bequemlichkeik, Einfachheit, Würde.“ Sie machte der Mode nie eine Konzeſſion, und doch wirkte ihre Erſcheinung als etwas ſo Rakürliches und Selbſt⸗ verſtändliches, daß man nicht nur keinen Anſkoß daran nahm, ſondern die Blicke auch des Fremdeſten ihr wohlgefällig folgken. Als nach 308 dem deutſch⸗franzöſiſchen Krieg der Verſuch aufkauchte, unker An⸗ lehnung an die Gretchentrachk eine „deutſche“ Mode zu ſchaffen, ſchrieb ſie: „um in dieſem Koſtüm, das für die Menſchen unſerer Zeik ſo paßk wie die ſchrecklichen Renaiſſancemöbel für unſere Zimmer, anmutig zu erſcheinen, muß man ſehr hübſch ſein, und eine Mode, die Schönheik vorausſetzt, iſt ſchon verfehlt. Mode iſt der Begriff eines allgemeinen Anzugs, und ihr höchſtes Ziel ſollte nicht ſein, die paar ſchönen Menſchen, die in der Welk herumlaufen, ſchöner zu machen, ſondern die Millionen unſchönen dem Auge nicht verletzend erſcheinen zu laſſen. Bedenkt man, daß kaum der zehnte Menſch hübſch, daß auch dieſer zehnke nur höchſtens dreißig Jahre lang hübſch iſt, daß ihn auch während dieſer Zeik Ausſchläge, Bleichſucht, Schnup⸗ fen und Jahnſchmerzen ſo und ſo ofk enkſtellen, ſo ſchreik die Ma⸗ ſorikäk zum Himmel und bittet um Moden für die Unſchönen und für die Alken. Heuk ſetzt ſich eine Vogelſcheuche denſelben verwegenen Huk auf, der eine junge Schönheik entzückend kleidek, fordert die Blicke mik denſelben Falbeln, Spitzen, Blumen und Schleifen heraus, die eine reizende Kokekkerie der hübſchen, jungen Frau ſein können . . . Wo bis jeht der Verſuch gemacht wurde, die Mode zu reformieren, blieb der Erfolg aus, weil die, welche das Scepker in Händen haben, nichk reformieren, und die, welche reformieren wollen, das Scepker nicht in Händen haben . . .“ Das Prinzip, aus dem heraus meine Großmutker ihr Außeres geſtalkeke, ihre Umgebung ſchuf, beruhte aber weniger auf verſtandes⸗ mäßigen Reflexionen als auf ihrem Weſen ſelbſt, das der Inbegrif einer Vornehmheik war, die ſie definierke, wenn ſie ſagte: „Vor⸗ nehmheik iſt vor allem unbewußk; Abſichk und Berechnung ſchließt ſie aus, weil ſie dann eine Geſellſchafk bekommk, die Anmaßung heißk und die ſie nicht verkrägk . .. Vornehmheik iſt Ruhe, Ruhe in Bewegungen, Ruhe im Gemüth, Ruhe in der Umgebung, Ruhe in Worten, Anſichten und Urtheil. Freundliche Ruhe gegen Untergebene, 309 ſichere Ruhe gegen Höhergeſtellke. Phankaſie und Lebhaftigkeik ſchließt dieſe Ruhe nichk aus, ſo wie die leidenſchaftlichſte Muſik den Tact nichk enkbehren kann. Bei Fürſken und echten Ariſtokraten iſt ſie angeboren, und das einzige unkrügliche Kennzeichen alter Kultur. Sie iſt eine Folge unangefochtenen Anſehens, einer comparativen Sicher⸗ heik, von Anderen nichks zu brauchen, des leichkeren Kampfes mit dem Leben; woraus weiker folgt, daß Hochmuk und Dünkel nichks mit ihr zu kun haben, denn ſie iſt nichks von uns perſönlich Er⸗ worbenes, worauf ſkolz zu ſein allenfalls begründek wäre, ſondern ekwas Gegebenes, ein Glück, eine Gnade, der wir uns durch edle Geſinnung würdig erzeigen müſſen. Sie iſt aber auch eine Schranke, und als ſolche enkbehrk ſie nichk der inneren Tragik. Eine wahrhaft vornehme Ratur leidek ſchmerzhafk unker der Unvornehmheik, wird aber von ihr niemals verſtanden, ja ihrer Empfindlichkeik wegen beſpötkelk, wenn nichk gar gehaßk werden. Sie wird infolgedeſſen immer eine gewiſſe Zurückhaltung bewahren, ſich in ihr fremden Kreiſen niemals heimiſch fühlen, was ihr denn ofk als Hochmuk aus⸗ gelegk wird.“ In Poksdam ſammelke ſich raſch ein großer Kreis von Verwand⸗ ten, von alken und neuen Freunden um Jenny Guſtedt. Es waren durch die Beziehungen ihrer Kinder viele junge Leute darunker, die ſich bei ihr ebenſo wohl fühlken wie die alten, weil ſie das Ver⸗ ſtändnis für die ſugend nie verlor. Beſonders in der Zeik nach dem Karneval, wo — wie ſie ſagte — „Leidenſchaft, Langeweile, Eitelkeik, Hochmuk, Toilekkenunſinn dem Teufel einen Kranz geflochten hatken, über den viele gute Engel weinken“, war ihr abendlicher Teetiſch der Mitkelpunkk einer Geſelligkeik, die um ſo anregender war, je weiker ſie ſich von jener „philiſterhafken und egoiſtiſchen Ark“ enk⸗ fernke, die ſich „in ſpäten, vielſchüſſeligen Abendeſſen, prahlend, Ver⸗ pflichtungen abmachend, dokumenkierk.“ Zenny Guſtedt beſaß noch das Talenk der Frauen des ancien régime, die Konverſation unmerk⸗ 310 lich zu beherrſchen, jeden einzelnen Gaſt zur Gelkung kommen zu laſſen. „Weniger was Du giebſt, als was Du aus Anderem hervor⸗ lockſt, macht Dich liebenswürdig“, ſagke ſie, und dies Hervorlocken verſtand ſie meiſterlich. Der jüngſte, beſcheidenſte Leuknank ging in gehobener Stimmung von ihr fork und fühlke, daß er „nichk nur eine Uniform war mik obligaken Tanzbeinen“, ſondern ein Menſch, der auch etwas zu ſagen gehabt hatke. Nur wenn die Königin ſich an⸗ meldeke, was gewöhnlich einmal in der Woche geſchah, blieb die Tür zum grünen Salon für alle anderen Gäſte verſchloſſen, und niemand konnke belauſchen, was die Freundinnen mikeinander be⸗ ſprachen. In einem einzigen Brief aus dem Jahre 1867 findek ſich eine Andeutung darüber: „Geſtern war meine liebe Königin bei mir“, heißk es darin. „Wir vergaßen über der Rok und der Angſt der Zeik unſere kraute gemeinſame Vergangenheik. Sie war ſchön, im beſten Sinne königlich wie immer, aber ernſt und angegriffen. Der drohende Krieg, nachdem wir kaum ein enkſetzliches Bluk⸗ vergießen hinker uns haben, laſtek ſchwer auf ihr, und es bedarf aller ihrer Feſtigkeik und Pflichkkreue, um gegenüber dem Ein⸗ fluß Bismarcks auf den König, an ihrem Grundſatz feſtzuhalken, ſich nichk in polikiſche Angelegenheiken zu miſchen.“ In dem⸗ ſelben Jahre hatte meine Großmukter auch die Freude, den Prinzen Rapoleon bei ſich zu ſehen. Bei ihrer Liebe für ihn und ihrem nakürlicherweiſe zwiſchen Preußen und Frankreich gekeilten Herzen — hatke ſie doch überall liebe Verwandke, deren Schickſale ihr nicht gleichgültig ſein konnten — war die Ausſichk auf einen Krieg für ſie doppelk furchtbar. An Wilhelmine Froriep ſchrieb ſie damals: „Mein Alker hat viel Segen, und ich danke Gott dafür, bin aber doch ofk müde, und da iſt es ein ſo beruhigender Gedanke, daß jetzt meine irdiſche Aufgabe beendet erſcheink, meine Kinder verſorgk, meine Geſchäfte geordnet und daß ich in Frieden ſcheiden könnte; 311 da ich aber auch in innigſter Liebe mit meinen Kindern lebe, ſo kann ich alles erwarten und weiß, daß ich ihre Lebensfreude erhöhe und ihnen keine Laſt bin. Wovor mir graut, daß ich es garnicht erleben möchke, das iſt der Krieg, der mir wie ein Hohngelächker Satans immer in den Ohren klingk — warum die Völker das Verbrechen begehen wollen, iſt dies Mal unfaßlicher wie je, und doch zweifeln gerade die nicht daran, die es am beſten wiſſen können.“ Aber es war nicht nur die Kriegsfurcht, die das Gleichgewichk ihrer Seele ſkörke. „Ieine wichtigſten Gedanken und Gefühle werden nur dann zu Sorgen, wenn meiner Kinder Sünden damit verwickelk ſind,“ ſchrieb ſie, und die Sünden ihrer Kinder waren es, die ihr am Herzen zehrten. Schweigſam, hypochonder, im ſtillen und lauken Kampf mit ſeinen Vorgeſetzten, die oft, infolge Okkos langer Unker⸗ brechung der Dienſtzeit, jünger waren als er, lebte ihr geliebker Alteſter neben ihr. „Mit ſtillem Entſetzen ſehe ich, wie er zuhauſe wahllos Bücher um Bücher verſchlingt,“ ſchrieb ſie, „ohne den ge⸗ ringſten Rutzen, denn bei ſeinem ſchlechten Gedächtniß kann er un⸗ möglich ekwas davon behalken, auch findek er niemals Anregung zu irgend einer Unterhaltung darin. Obwohl er wiſſen muß, daß Rie⸗ mand ſoviel Teilnahme und Verſtändniß für ihn haben kann als ich, bleibt er auch mir gegenüber ſtumm und ich weiß von ſeinem Innenleben ſo wenig, als wäre er ein Fremder.“ Ganz anderer Ark waren ihre Sorgen um ihren jüngſten Sohn, der ſich in fröhlichem Lebensgenuß keinerlei Zwang auferlegte und es für ſelbſtverſtändlich zu halten ſchien, daß die Mutker, wenn er mit ſeinem eigenen Einkommen nichk reichke, immer wieder für ihn einſprang. Eine Empfindung, die ihr ſonſt ſo fremd war — Bikterkeik — drückk ſich oft in ihren Briefen aus, wenn ſie dieſer Erfahrungen gedenkt. Sie gehörte nicht zu jenen Müttern, die ihre eigene jugend vergeſſen haben und darum die Fehler ihrer Kinder mit dem ſtrengen Maßſtab des Alkers meſſen; wo ſie konnke und wo es ihrer Auffaſſung von Ehre und 312 Anſkand enkſprach, verſchaffte ſie ihnen ſogar gern alle erreichbaren Cebensfreuden. Was ſie nicht verſtand, war jenes luſtige Indenkag⸗ hineinleben, jenes Sichgenügenlaſſen nur an den materiellen Freuden des Daſeins. Dabei vergaß ſie wohl auch zuweilen, daß ihr Sohn ein blukjunger, hübſcher Gardeleutnank war, nicht beſſer, aber auch nicht ſchlechter als ſeine Kameraden, und hinzukam, daß ſie ihn bei ſich wohnen ließ, alſo aus nächſter Rähe zu ihrer käglichen Qual beobachten konnte, wovon ſie ſonſt vielleicht gar nichts erfahren hätte. Seine Offenherzigkeik blieb dabei ihr Troſt und verſöhnte ſie immer wieder. Aber auch die Herzensgeheimniſſe, die er ihr rückhalklos anvertrauke, riefen ernſte Sorgen in ihr hervor. Sie, die frühe Heiraten noch vor zehn Jahren eifrig propagierk hatte, ſchrak jetzt, nachdem ſie bei Rahen und Fernen ſo viel Tragödien der Ehe mik⸗ erlebte, davor zurück. „Ich glaube, daß ſeine Liebe ein Strohfeuer iſt, aber auch ein Strohfeuer ſteckt ein Gehöfk an, wenn der Moment günſtig ergriffen wird! Und wenn ich wieder erleben müßke, ein von der zu frühen Feſſel wundes und blutiges Herz zu ſehen und zu wiſſen, daß, wie ſehr ſie auch drückt, ihr Entfernen noch ſchwerer ſein würde — es wäre zu kraurig,“ ſchrieb ſie an die Vertraute ihrer Mutterſchmerzen, ihre Tochter. Rur zwei jahre hatte ſie die Freude gehabt, auch dieſe in ihrer Nähe zu haben; eine Freude, die ihr um ſo ſchatkenloſer war, als ihre Ehe ungetrübt und ihre Zukunft in jeder Beziehung geſichert erſchien. Eine größere Erbſchaft, die ihrem Schwiegerſohn zugefallen war, verſcheuchte die einzige Sorge, die ſie hatke: „Wenn ich auch weiß, daß Hans nie arm zu ſein verſtünde, ſo weiß ich doch auch, daß er vom Reichkum nur den edelſten Gebrauch machen wird.“ Und das Enkelkind, mit dem Sohn Otkos in faſt gleichem Alter, war ihr vollends ans Herz gewachſen, ſo daß ſie die abermalige Verſetzung ihrer Kinder im jahre 1869 ſehr ſchmerzlich empfand. Ihr Brief⸗ wechſel mit der Tochter, der einzige, der aus jenem Jahr vollſtändig 313 erhalken blieb, war ein ſehr reger. Familienerlebniſſe und Erfahrungen, Bücherempfehlungen und Erziehungsrakſchläge ſpielken eine große Rolle darin, aber die größte: die Sehnſuchk nach den Abweſenden. „Heute habe ich meinen Stuben die letzte Ruance von Seele: Blumen, ge⸗ geben, habe ſie allein, ohne mein Lilychen, die ſo gern nebenher krippelte, gepflückk, und mir wäre ſehr wohl, wenn ich meine ruhigen, grünen Mauern um mich habe, nur müßten alle Kinder und Enkel darin ſein . . .“ heißk es in einem Brief. In einem anderen: „ich gehe nicht gern in das Haus, wo mir mein Lilychen nichk mehr enk⸗ gegenjauchzk, meine Tochter nicht mehr entgegenlächelk . . . mich über⸗ gießk dabei eine ſo ſchmerzliche Wehmuk, daß ich ſogar die Straße vermeide.“ In einem ihrer Erziehungsbriefe ſchrieb ſie: „regk mein Cilychen nicht durch viele Erzählungen und ſogenannte freudige Ueberraſchungen auf, das Kindchen muß terre à terre gehalken werden, kochen, Sandkuchen backen, laufen, mehr vegetieren, als mit Bewußtſein leben . . . Wie mein das Kind iſt, könnk Ihr nicht glauben, darum weiß ich auch, was ihm ſchadek und nützk . . . So müßk Ihr Euch Beide die kleinen ſtrengen Beſchäftigungen mit den Rebenmenſchen abgewöhnen, ehe ſie das Kind verſtehk und ihr Herz⸗ chen erkältet. Du, mein Jennchen, mußk in Ton und Ausdruck weniger ſtreng und hark ſein, das kuk ſo zarken Seelchen weh . . . Es war der Seherblick der Liebe, der ſie von dem vierjährigen Kind ſo ſprechen ließ, jener Liebe, durch die ich vom erſten erwachenden Bewußtſein an in dieſer Frau alles fand, was ein Kind bedarf: Verſtändnis, Anregung, Leikung, Freundſchafk und Mütkerlichkeik. Im Sommer 1869 beſuchte ſie uns. Sie war voller Sorgen um ihre Söhne, um Otko, deſſen Kränklichkeik den Dienſt faſt unmöglich machte, um Werner, der weniger denn je das Seinige zuſammen⸗ hielk. Wie immer, ſo wirkte der Kummer auch auf ihren körper⸗ lichen Zuſtand, das alte Leberleiden machte ſich mehr als früher gelkend, und eine Müdigkeik beherrſchke ſie, die ihr wie eine Vor⸗ 314 ahnung des Todes erſchien. „Ich möchte den ganzen Tag ſchlafen, hatte ſie kurz vorher ihrer Tochker geſchrieben, „auch das Hin⸗ überſchlafen denke ich mir ſüß — mir wird all das Harke, Grau⸗ ſame, Gewalktätige, die Verirrungen, Sünden, Leidenſchaften, Wehen in der Welk ſo entſetzlich ſchwer mit anzuſehen und anzu⸗ hören — — mir iſt, als hätke ich hier nichk mehr viel zu lernen, ich weiß immer Alles, was ich höre und leſe, und kann doch nicht verhindern, daß Ihr, meine geliebten Kinder, vom Leben noch ge⸗ lehrt werdet, was Euch Eure kreue Mutker lieber lehrke und erſparte ..“ Meine Mukker, in ernſter Sorge um ſie, befürworkete, daß Mutter und Söhne ſich trennen möchten, um die Laſt täglicher Leiden von ihr zu nehmen, und hätte der drohende Krieg ſie nicht noch feſter an ihre Kinder gefeſſelt, ſo wäre ſie dem guken Rak vielleicht ge⸗ folgk. So entſchloß ſie ſich nur zu einer Karlsbader Kur im Früh⸗ ling 1870. „Unbeſchreiblich ſchön iſt es in dieſem geſegneken Ort,“ ſchrieb ſie von dork aus, „ich fühle mich jetzk ſchon wie neugeboren, genieße auf ſtundenlangen einſamen Morgenſpaziergängen Wald und Berge, und begreife wieder einmal nicht, wie es Menſchen geben kann, die ſich freiwillig in die Skeinwüſten der Städte begeben. Auf ſtillen Bänken leſe ich alke und neue Bücher: Humboldts Kosmos zum zweiken oder gar drikten Ial und mit wahrer Leidenſchafk: Ut mine Stromtid von Fritz Reuker; es iſt ein eminentes Meiſterſtück und die Akmoſphäre einfachen Lebens und redlicher Menſchen tuk ſo wohl . . . Verkehr habe ich ſo gut wie keinen, bin aber neulich gegen meinen Willen in eine ganz intereſſante Unkerhalkung gezogen worden. Nicht Hände, nein Kiepen voll Schmutz wurden auf Laſſalle geworfen. Sein Auftreken, beſonders ſeine eitle, großſpurige Manier, ſein wüſtes Hetzen, das ſo viel perſönliche Eitelkeik und Ehrgeiz durchblicken ließ, waren mir auch ſteks ankipathiſch. Aber ſein ſtarkes Gerechtigkeiksgefühl erhebk ihn doch ſo ſehr, daß man, nach ſeinem Tode beſonders, das Andere leichter vergeſſen ſollke. In ſeinem Ein⸗ 315 kreken für die Sicherung des Lebens der Armen bin ich unbedingt auf ſeiner Seike. Ich gehe ſogar noch weiter: denn da ohne die fried⸗ liche Gewaltkak der Skrikes auch die gerechteſten Anſprüche der Handwerker nicht erfüllk werden, kann man ſie ihnen nicht verargen, und ſie ſind doch beſſer als Barrikaden. So bin ich aus einem politiſchen Geſpräch zu einem polikiſchen Brief an mein ſehr konſer⸗ vatives liebſtes Töchkerchen gelangt, das ſicher dabei krebsrok wird ... Kurz vor dem Ausbruch des Krieges kehrte ſenny von Guſtedt nach Poksdam zurück, und als das lange Gefürchtete Wahrheik wurde und Alles um ſie her im Paroxismus der Begeiſterung ſchwelgte, ſchrieb ſie ihrer Tochter: „Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß wir Frauen uns mit den lieben Kindern und Enkeln hier vereinen. Alles ſteht in Goktes Hand, aber mir erſcheink es doch wie Gotkesläſterung, wenn mitten im Hurrahſchreien und Toben der Vaker aller Menſchen wie ein alker Kriegsgötze für uns allein in Anſpruch genommen wird... Er verhüllk ſein Haupk bei dieſen größten Sünden der Völker. .. Während des ganzen Feldzugs wohnten wir bei Großmama in Poksdam. Roch ſehe ich ſie deuklich vor mir, wie ſie früh morgens im Sommer mit mir nach Hansſouci ging, wo die Bäume ſo hoch waren, daß ich glaubte, ſie wüchſen in den Himmel, und die Stille ſo zauberhafk, daß ich, wenn die Blätter zu rauſchen begannen und die Wellen auf den Teichen ſich kräuſelten, Elfen und Rixlein zu ſpüren meinke. Gingen wir aber oben auf den Terraſſen, wo im heißen Sommerſonnenſchein die Roſen glühten, dann hätke ich mich kaum gewunderk, wenn hinker den Laubengängen der alte Fritz mit dem Krückſtock und den Windſpielen gemächlich hervorſpaziert wäre. Durch Großmamas ſchöne Geſchichten war er mir ganz verkrauk geworden. Ofk ſaßen wir auf den weißen Marmorbänken und ſahen dem Steigen und Fallen des Springbrunnens zu — auf jedem Tröpfchen kanzke ein luſtiger Sonnenelf, darum blitzte es ſo ver⸗ gnüglich, und ganz, ganz oben, da badete ſich die Roſenkönigin, die 316 fäglich von den Terraſſen herüberflog, damik kein Stäubchen an ihrem dufkenden hemdchen hängen blieb. Ich habe ſie ſogar geſehen, wie ſie zu uns herunkerlachte: zu dem kleinen Mädchen und zu der alten Frau. Großmama war ja auch ihre gute Freundin, ſonſt wüßke ſie nicht ſo viele Geſchichten von ihr und allen ihren Schweſtern! Hinker der Marmorbank war dichtes Gebüſch, und da gab es im feuchten Schatken viele, viele Schnecken, große und kleine, ſchwarze, weiße und rote mik buntem, komiſchem häuschen auf dem Rücken. Die brauchten ſich vor keinem Franzoſen zu ängſtigen, ſagke Großmama; wurde es ihnen irgendwo ungemütlich, dann krugen ſie eben ihr Häuschen, das ihnen kein Feind wegnehmen konnte, anderswo hin. Ach, es war herrlich, mik Großmama ſpazieren zu gehen, viel kauſendmal ſchöner als mik Mademoiſelle, bei der man immer artig ſein und beileibe nicht hinter die Bänke kriechen durfke! Freilich: ofk hatke ſie keine Zeik für mich, und wenn ſie mit Mama und Tanke Cecile im grünen Zimmer ſaß und alle ernſte Geſichter machten, dann liefen wir, mein Better Wawa, Onkel Ottos Sohn, und ich, am liebſten in den Garken und bauten Wälle aus dem großen Sandhaufen, der für uns in der Ecke lag. Kam eine Siegesnachricht, dann kriegken wir immer was Schönes geſchenkt und ſchrieen darum aus Leibeskräfken „Hurrah“. Als die Kapikulation von Sedan bekannt wurde, tanzte meine Mutter ganz allein im Zimmer umher und Großmama liefen zwei große Thränen aus den Augen, ſo daß ich durchaus nicht enkſcheiden konnte, ob es zum Lachen war oder zum Weinen. Auf dem Balkon aber wurde eine große Fahne herausgeſteckt, und viele, viele Lichkchen brannten abends hinter den Fenſtern. Wir durften aufbleiben, um die Herrlichkeik mik anzuſehen. Und dann warkeken wir alle Tage, daß unſere Papas mik Sternen und Corbeerkränzen geſchmückt nach Hauſe kommen ſollken. Aber ſie kamen nicht; nichk einmal zu Weih⸗ nachten, und unſere Mamas weinken, und Großmama ſah ſehr, ſehr ernſt aus. Trotz der großen Puppe war es darum gar nicht ſchön. 317 Wie im Sommer unſere Morgenſpaziergänge, ſo waren im Winker unſere Abende das ſchönſte vom ganzen Tag: Großmama erzählte Märchen am Kaminfeuer, und wenn die Lampe kam, dann ſchnitt ſie Puppen und Schlikken und Wagen und Uferde aus, zeichnete Häuſer und Bäume dazu — kein Spielzeug war uns ſo lieb wie dieſes! Rur ein einziges Brieffragmenk aus der Zeit des Krieges giebt einen Begriff von den widerſtreitenden Empfindungen, die Großmama bewegk haben müſſen. „Ich bin wohl zu alk für den Siegeskaumel, ſchrieb ſie, „oder mein Herz iſt wie immer zu ſehr auf der Seite derer, die leiden. Wie vielen armen Mütkern bin ich ſchon begegnet, die ihr Liebſtes haben hergeben müſſen und kein „Tod fürs Vaterland“ macht ſie wieder lebendig. Und ich habe käglich, ſtündlich um drei Söhne zu zittern! Und nicht nur das: vor Metz lag Hans, während in Metz Berckheim und Henri (nahe Verwandte) ſich befanden; vor Paris iſt Otko, in Paris meine geliebte blinde Pauline, deren Kloſter jeden Augenblick in Flammen aufgehen kann, wenn mir auch meine guke Königin immer wieder verſichert, daß Alles geſchehen ſei, um es vor dem Bombardemenk zu ſchützen .. Das ſchöne Frankreich, das friedliebende gute küchtige Landvolk, wie müſſen ſie leiden! Rachher wird dann aber noch die Saat des Böſen aufgehen: zum grollenden Feinde wird der Bauer werden, der ſeine zerkrampelten Felder, ſeine vernichtete Ernke ſiehk ..“ Wenn ſie auch ſelbſt vor dem Furchtbarſten bewahrk blieb und der mörderiſche Krieg ihre Söhne verſchonke wie ihre Schweſter, ſo kraf ſie das Unglück, das ihre nächſten Verwandken kraf, als hätte es ſie ſelbſt gekroffen: die beiden einzigen Söhne ihrer Schweſter Cecile Beuſt fielen am gleichen Tage in derſelben Schlachk. Es war zugleich der Todesſtoß für die un⸗ glückſelige Mukter, die auf die Schreckensnachricht hin zuſammenbrach, um nichk wieder aufzuſtehen. Wenn ſchon vorher die innigſte Freund⸗ ſchaft meine Großmutker mit ihrem Schwager Fritz Beuſt verband, ſo 318 wurde ſie jetzk zum wärmſten geſchwiſterlichen Verhältnis. Wie häkte ſie rückhalklos mit den Siegern jubeln können, da er ſo namenlos litt? Nur wo ihr Mutterherz ſich freuen durfte, da freute ſie ſich wirklich. Die Erfolge ihres Schwiegerſohnes, die Auszeichnung, die er mit Recht erfuhr, beſtärkten ſie in der hohen Meinung, die ſie von ſeinem Geiſt wie von ſeinem Charakter hatte, und verkrieben die Sorgen⸗ wölkchen, die ſie hie und da auch am Lebenshimmel ihrer Tochter glaubte aufſteigen zu ſehen. Ganz beſonders glücklich aber machten ſie die Rachrichken von Okko, ihrem Sorgenkind. Der Krieg hatte ihn zum begeiſterken Soldaten gemacht, hatte ſeine Schwermuk vertrieben, und da er ſah, daß ſein Muk nicht unbeachtet blieb, daß ſeine Leiſtungen als Ordonnanzoffizier des Kronprinzen anerkannk wurden, ſchwand auch ſein Mißkrauen und machte frohen Zukunfkshoffnungen Platz. Einen Teil eines Briefes, den er im Auguſt 1870 an ſeine Frau geſchrieben hatte, keilte ſeine Mukker einer Freundin mik fol⸗ genden Worken mik: „Es ſcheink, daß eine Kur auf Leben und Tod wie dieſer Krieg notwendig war, um meines armen Otto Seele ge⸗ ſund zu machen. Er ſchrieb ſeiner Frau: „Denke Dir meine maßloſe Freude, als mir der Kronprinz, mein lieber gnädiger Herr, im Ramen des Königs das eiſerne Kreuz überreichte, als Auszeichnung für mein kapferes und umſichtig Benehmen in der Schlachk bei Wörth. — Das ſind ſeine eigenen Worke. Ich weiß mich nichk zu laſſen vor Freude, denn es iſt eine ſehr große Auszeichnung, die ich gar nicht erwartek habe. Ich glaubte mich ſchon übermäßig be⸗ lohnk, als mich der Kronprinz heuke dem König mik den Worken präſenkierke: hier iſt Okto Guſtedk, er hak ſich in der Schlachk bei Wörth und Weißenburg beſonders ausgezeichnek, ſeiner muthigen Recognoszirung am Tage von Wörth verdanke ich die wichtigſten Rachrichken. Die Thränen ſtanden mir dabei in den Augen.“ Viel⸗ leicht, daß nicht nur für meinen Otko, ſondern auch für Preußen die dunklen Wege Gokkes doch ſchließlich wieder die hellſten waren! 319 Als die Friedensglocken feierlich ihre frohe Botſchaft verkündeken und ein Wald von Fahnen aus den kleinen Häuſern Potsdams faſt bis zum holprigen Pflaſter niederwehte und die engen Straßen noch enger machken, da vermochte ſenny Guſtedt zum erſtenmal all des Jammers, den der Krieg hervorgerufen hatte, zu vergeſſen: „S0 war es doch ein Seherblick, der vor dreißig jahren meinem Stief⸗ vater jene Worke ausſprechen ließ: Preußen wird an der Spitze Deutſchlands ſtehen, das iſt die allein mögliche Löſung des gordiſchen Enokens der deutſchen Politik, und es war mehr als ein Traum jugendlicher Begeiſterung, wenn ich vor dreiundzwanzig Jahren, als dieſe Auffaſſung noch in den Verdacht revolutionärer Geſinnungen bringen konnte, für die Kaiſerkrone Deutſchlands auf dem Hanpte eines Hohenzollern ſchwärmke. Möchte der Ruhm uns nicht über⸗ mütig machen und die Machk nur dazu führen, dem Wohle des Volks zu dienen.“ Rach dem Feldzug mußte ſich Großmama wieder von ihrer Tochter krennen. Die Hoffnung, daß mein Vater als Generalſtabsoffizier im 4. Armeekorps bleiben würde, erfüllte ſich nicht, er wurde vielmehr nach Karlsruhe verſetzt, ſo daß die Trennung, der weiten Entfernung wegen, eine recht ſchmerzliche war. Daß ihr Sohn Okto ſo fröhlich zurückkam und beim Kronprinzen in Potsdam blieb, daß ihr Sohn Werner ſo viel ernſter und reifer geworden zu ſein ſchien, erleichterke ihr den Abſchied. Im Sommer des folgenden Jahres verband ſie eine Reiſe nach Karlsruhe mik einem Beſuch bei ihrer Schweſter in Paris und beſchloß ſie mit der gewohnten Karlsbader Kur. In einem Briefe aus dieſer Zeik — 1872 — heißt es: „Es ſcheint, als ob ein ſehr friedliches, ſorgenloſes Ausleben mir beſchieden wäre.“ Aber ſchon bald nach ihrer Rückkehr nach Poksdam verdunkelte ſich das helle Zukunfksbild wieder. Es wiederholte ſich, was gerade die beſten Eltern am ſchmerzlichſten erfahren müſſen: daß ein Zuſammen⸗ leben von jung und alt nicht gut tut. Bei allem Verſtändnis für 320 jugendliche Reigungen und Torheiten wird es jeder Mutter, jedes Baters berechtigtes Beſtreben ſein, dem Kinde die Erfahrungen des eigenen Lebens zu nutze zu machen. Rietzſches herrliches Work: Richt fort ſollſt du dich pflanzen, ſondern hinauf! entſpricht dem Wunſch, der, ſeit es Mütter gibt, ihr Denken und Fühlen beherrſchk. Für ihr Kind wollen ſie Erfahrungen geſammelk, wollen ſie gelitken haben; ihr Kind ſoll nicht denſelben Weg gehen, auf dem ſie ſtrauchelken, ſondern ihn dort fortſetzen, wo ſie angelangk ſind. Darum wachen ſie über ſeine Schrikte, laſſen es an Warnungen und Zukunfksprophe⸗ zeihungen nichk fehlen, darum kann nichks ſie ſo ſchmerzhaft ver⸗ wunden, als wenn ſie ſehen müſſen, daß der erwachſene Sohn oder die Tochter allem zum Trotz doch ihre eigenen Wege gehen, und für die Angſt der Mukker gar nur ein mitleidiges Lächeln übrig haben. Was Güte und Liebe iſt, empfindet Sohn oder Tochter nur als Beeinkrächtigung der Freiheik, und ſo ſpitzt ſich ein urſprünglich zärkliches Verhältnis oft ſo zu, daß es nur durch Trennung vor dem Herreißen bewahrk werden kann. „Er glaubt mich ganz zu überſehen, ſchrieb Fenny Guſtedk von ihren jüngſten Sohn, „ahndek nichks von meiner Seele, weiß von der Würde einer Mukker nichts, und doch ſprechen ſeine zärtlichen Augen meiſt die innigſte Liebe aus . . .“ Sie fühlte ſelbſt, daß ſie ihren Sohn verlaſſen müſſe, um ihn ſich zu er⸗ halten. Als daher mein Vaker in den großen Generalſtab nach Berlin verſetzt wurde und die begründete Ausſicht beſtand, daß er eine Reihe von Jahren in derſelben Skellung bleiben würde, enk⸗ ſchloß ſie ſich, mik uns zuſammen zu ziehen. In der Hohenzollern⸗ ſtraße, ganz nahe dem Tiergarken, wo die Stadk ſich in ihrer auf⸗ dringlichen Häßlichkeik ihr weniger empfindlich bemerkbar machte, wurde eine geräumige Wohnung gemietet, in der ſie ihre ungeſtörken Zimmer für ſich haben konnte; mich allein hatte ſie in nächſter Rähe: mein Schlafzimmerchen war nur durch eine dünne Tapekenwand von ihrem Salon getrennt, und eine Portiere erſetzte die Türe zwiſchen Im Schatten der Titanen. 21 321 beiden. Enkzückt war ich darüber und genoß das Zuſammenleben wie nie zuvor: wieder, wie in Poksdam, gingen wir zuſammeu ſpazieren oder ſaßen während der Vormiktage ſpielend und leſend im Zoolo⸗ giſchen Garken; wieder erzählte ſie mir vor dem grauen Marmor⸗ kamin Geſchichken, viel ſchönere als früher, weil es nur ſelken noch Märchen waren, ſondern Erzählungen aus der eigenen jugend, aus dem Leben großer Geiſkes⸗ und Kriegshelden. Auch ſonſt glich das äußere Leben ſehr dem in Poksdam: Freunde und Verwandte kamen zur Teeſtunde zu ihr, und jeden Donnerskag abend rollke der Wagen der Kaiſerin in den Torweg, und ich durfte den Kuchen zum Tee in den grünen Salon tragen, wo die beiden Freundinnen in leb⸗ hafkem Geſpräch beieinander ſaßen. Einmal kam auch der Kron⸗ prinz zu ihr hinauf, als ich gerade alle meine Papierpuppen auf ihrem Tiſch kanzen ließ. Das ſchadete aber garnichks; er war nur um ſo freundlicher und machte, wie immer, ſeine Scherze mik mir. Bald jedoch ſollte mir der Unterſchied von dem damals in Poksdam und dem heute in Berlin zum Bewußkſein kommen. Ob die Combarden geſtiegen oder gefallen waren, das war angeſichks der Morgenzeikungen das Geſprächsthema, und abends, wenn man mich ſchlafend glaubte, dann ſaß ich aufrecht im Bekk und hörke Großmamas und ihrer Kinder erregte, klagende und anklagende Stimmen. Ich verſtand nicht alles, aber doch genug, um zu wiſſen, daß Geld, viel Geld verloren worden war, viel mehr, als Groß⸗ mama es vorher gefürchkek hatke; als dann gar unſere ſchönen Gold⸗ füchſe verkauft, der Kutſcher enklaſſen wurde, und ich — ein uner⸗ hörkes Ereignis für mein Leben! — in einer Droſchke zu Kronprinzens fahren mußke, wenn ich dork eingeladen war, da begriff ich Groß⸗ mamas ſorgenvolles Geſichk, und mein Herz krampfke ſich zuſammen vor heißem Mitgefühl. Ihr Sorgenkind war es geweſen, das ſich, dem Zuge der Zeik folgend, in wagehalſige Spekulationen eingelaſſen und Schwager und 322 Bruder mit hineingezogen hatke. Sie verloren alle den größken Teil ihres Vermögens. Welch ein Schlag für die Mutter! Sie ſelbſt krauke ſich wohl zu, „unker dem kategoriſchen Imperativ der Lebens⸗ maxime: Auskommen! von der Skufe der Zehntauſend zu den Hunderkkauſend, ja zu den Millionen ruhig hinabzuſkeigen und jedes⸗ mal liebgewordenen Ballaſt, der keinen Platz auf der unteren Skufe hak, blutenden Herzens über Bord zu werfen — wenn nur derſelbe Weg für die Seele ein Steigen iſt,“ aber für ihre Kinder ſah ſie Kämpfe und Sorgen ohne Ende voraus. „Richt weil ich ſie ſo ver⸗ wöhnk habe,“ ſchrieb ſie einer Freundin, „ſondern weil ſie krotz all meiner Anſtrengung durch Work und Beiſpiel das glänzende Blech bloßen materiellſten Lebensgenuſſes dem Golde geiſtiger und ſeeliſcher Freuden vorziehen. Mein ſennchen machk noch am erſten eine Aus⸗ nahme, aber dafür iſt ihr Mann um ſo mehr der Sparſamkeik ab⸗ geneigt, und iſt es mit ſo viel Güte und Liebe, faſt immer nur, um Andere zu erfreuen, daß man ſich faſt ſchämk, ihm darum zu zürnen.“ Was ſie fürchteke, ſollte raſch zur Gewißheik werden: die Söhne, auf ihre Güke verkrauend, lernken es nicht, ſich einzuſchränken, und ſie verſagke ſich eine liebe Gewohnheik nach der anderen, um ihnen die Zulagen, die ſie brauchken, gewähren zu können. Mik der Hoffnung auf ein ſorgenfreies Alker war es ein- für allemal vorbei. „Ich bin noch immer vergebens neugierig,“ heißk es in bitterer Jronie in einem ihrer Briefe „wann die RKeihe des Gewinnens an mich kommen wird, da ich bei allem Unerwarkeken immer die ſchwarzen Kugeln aus der Urne ziehe.“ hinter der Tapekenwand hörke ich bald ſo viel, daß es für ein empfindliches neunjähriges Kindergemük drückend wurde wie Zenkner⸗ laſt. Aber ich ſprach nichk darüber, am wenigſten mik Großmama, vor der ich doch ſonſt nie ein Geheimnis gehabk hatte! Ich mochte wohl fühlen, welch unerkräglicher Schmerz es für ſie geweſen wäre, wenn ſie mich in alles Leid der Jamilie eingeweiht wüßte. Aus⸗ 21* 323 einanderſetzungen zwiſchen Mukker und Söhnen gab es beſonders oft, und wenn ſie ſporenklirrend das Zimmer verließen, hörke ich noch lange Großmamas leiſen Schrikk unruhig auf⸗ und niedergehen und die qualvollen Seufzer, die von ihren Leiden zeugken. Biele fahre ſpäker kleidete ſie mancherlei Anſichten, Gedanken und Erinnerungen in eine novelliſtiſche Form, deren Mitkelpunkt, „Gräfin Thara“, ſie ſelber wax. Die Geſpräche darin, die ſich um Offiziersehre, um Schuldenmachen, Spielen und Trinken drehten, riefen mir jene Berliner Abende lebhaft ins Gedächtnis zurück. Wie oft hatke ich dieſelben Worte gehörk: „Wieder ein Liebesmahl? Und wieder Sect? „Thuſk du nicht, als wäre das eine Sünde? Schadek das ſe⸗ mandem, wenn ich Seck krinke? „Direck nur dir!“ „Das iſt doch meine Sache! „Außerdem iſt es Sünde, ſobald das Bedürfniß nach Trank und Speiſe zur Luſt, Erweckung desſelben zum Ziel wird! Rimmſk du dir nicht ekwa ofk die ruhige Selbſtbeherrſchung, bringſt dich in einen unwürdigen Zuſtand, machſt auf viele Stunden deinen Körper krank, giebſt den Leuken, denen du befehlen ſollſt, ein gefährliches Beiſpiel und überkriktſt dabei ſehr oft das einfache Ehrengebok: was ich nicht bezahlen kann, muß ich mir verſagen.“ „Das war falſch, verſagen darf ich mir das unker meinen Kameraden nicht, und bezahlen kann ich eine Flaſche Seck.“ „Eine, ja, fünfzig, nein, wenigſtens nichk ohne Opfer der Deinigen, oder ohne Rechnungen armer Handwerker ſtehen zu laſſen. Und das Alles um das Bischen Raſenkitzel, um das jämmerliche Luſtig⸗ ſein mit dem Ende, das du Katzenjammer nennſt! „Darin liegt gerade der Schneid, dem Kahenjammer zu krohen, und ſo lange ich den Körper habe, will ich mich mit ihm verkragen und ihm ſeine Freude gönnen, iſt er einmal weg, ſo hat er auch keinen Durſt mehr . .. 324 Und wie ofk, wenn der Sohn ſich mit dem Hinweis auf die nok⸗ wendigen Verpflichtungen verkeidigte, hörte ich ſie die Vorgeſetzken anklagen, die „mehr verlangen, als die reichlichſten Zuſchüſſe leiſten können, glänzende Regimentsfeſte, übermäßig koſtbare Geſchenke, Pferde und Uniformen, Jagden, Rennen und dergleichen, und die jüngeren Officiere auf ein Eitelkeikspiedeſtal heben, von welchem aus ſie glänzen ſollen. Ich habe ſelbſt gehörk, wie ein Regimenkscomman⸗ deur Karkoffeln in den Bann erklärke, weil es für Gardecavallerie⸗ Officiere ein zu gemeines Eſſen ſei — die Karkoffeln des großen Fritz! Und wie ein Anderer in dem preußiſchen Schnarr⸗ und Raſen⸗ kon einen jungen Officier, der, ſeinen Palekot auf dem Arm, zum Bahnhof ging, frug, ob ſein Burſche den Wadenkrampf habe, daß er ſich ſelbſt ſo bepacke.“ Gingen die Wogen der Erregung hoch, wurde der Mutter weiche Stimme ſchärfer und härter, dann waren es die „falſchen Ehrbe⸗ griffe inbezug auf Geld und Geldverwertung“, die ſie immer wieder bekämpfke. „Der, welcher am verſprochenen Termin ſein Geld fordert,“ heißk es in der „Gräfin Thara“, „gilk für gemein und unzark, nicht der, welcher empfangen und verſprochen hat und ſein Work nicht hälk; der, welcher eine Rechnung ſchickt, wird mik jedem Schimpf⸗ namen bezeichnek und als unverſchämt abgewieſen, nichk der, welcher auf Rechnung genommen hak. Der, welcher mahnk, wird als Treken⸗ der bezeichnet, nichk der, welcher die Mahnung verdienk. Der Vater, der ſeinen Sohn verſetzen läßt, weil er Schulden machk, wird ver⸗ dammt, der Sohn wird bedauerk, und es geſchieht, meinen die Kame⸗ raden, dem Vater ganz Recht, wenn der Sohn nun noch mehr Schulden machk; der Vater hat ja nur das Vermögen der Kinder zu verwalken, lebk auch zu lang, ſtehk blos dem berechtigten Lebens⸗ genuß des Sohnes im Wege! Mik rikkerlichem Muth krikk er auf das Herz der Mukker, die für zwanzig⸗ bis dreißigjährige Liebe und Treue Spotk und Undank erntet. Das iſt das Porkrät eines „char⸗ 325 manten Kerls“, der unſinnige Wekten macht, eine Maikreſſe hat, die ſchöner wohnk, beſſer lebk, koſtbarere Kleider hat als Schweſter und Mutker! Wie könnte er drei Monake lang z. B. nicht nach Berlin fahren, wie kann er nicht Seck krinken, nicht ſpielen! Rein, da muß man den Mukh haben, durch ſeine noblen Gewohnheiken dem Regi⸗ menk Ehre zu machen, und ginge es über den Sarg von Baker und Mukter, über alle götklichen Geſetze, über alle Pflichten der Liebe und der Ehre, und opferte man die Alkersruhe der Elkern, die Un⸗ abhängigkeit der eigenen Zukunfk, die Geſundheik des Leibes und der Seele! Und zuletzk giebk es ja, Gotk ſei Dank, Piſtolen zum Selbſtmord.“ Aber auch die erregteſte Auseinanderſetzung ſchloß mik allen Zeichen der Ciebe, einer ſorgenden, ſchmerzlichen, aber doch immer wieder hoffenden Liebe. „Laß die Sonne nie über deinem Zorn unkergehen“, war einer der Grundſätze ſenny Guſtedks, und ofk ſchloß ſie ein ernſtes Geſpräch mit den Worten: „Das Alles giebt Stoff zu guken Monologen bei der Cigarre im Lehnſtuhl oder vor dem Ein⸗ ſchlafen. Bei Dialogen trikk Eitelkeik, Rechthaberei, Kränkung ſo leicht in den Weg, aber die Selbſtgeſpräche, die folgen, die können Frucht bringen.“ Aus jener ſchweren Berliner Zeik datierk ein Brief von ihr, der ihre Stimmung am beſten wiedergibk. „Die Gewohnheik meiner abendlichen Selbſtprüfung“, ſo heißk es darin, „hat mir niemals ſo viele ſchlafloſe Rächte gemachk, als jetzk. Was habe ich verſäumt an meinen Kindern? Welche Schuld habe ich ihnen gegenüber be⸗ gangen? Das ſind die Fragen, die mich quälen und auf die ich keine Antwork weiß . . . Mein Mann und ich haben nie über unſere Verhältniſſe gelebt, unſeren Kindern gaben wir immer das Beiſpiel unbedingter Rechtſchaffenheik. Aber freilich, dieſe Verhälk⸗ niſſe waren eben ſehr gute; was hätte geſchehen müſſen, um die Kinder vor der Verwöhnung durch ſie zu ſchühen? Wir hatten nach 326 menſchlichem Ermeſſen die Sicherheit, daß ihre Lebensführung die⸗ ſelbe bleiben könnte wie unſere . . . Ich habe ihnen immer durch mein Leben und Denken meine Geringſchätzung rein makerieller Ge⸗ nüſſe gelehrt, habe Geiſt und Rakur ihnen als Höchſtes geprieſen und zugänglich gemacht, habe ihnen das Chriſtenkum niemals durch Kaſkeiungsideen und Weltverachkung verekelk, ſondern im Gegenkeil gezeigk, daß der beſte Chriſt auch ſtets der fröhlichſte, genußfähigſte Menſch ſein wird. Und dennoch dieſe Reſulkate! Bin ich vielleicht doch im Urkeil zu hark? Sind ſie zu jung und vergeſſe ich ihre Jugend? Als ich ſo alk war, bin ich doch auch lebensfroh geweſen, aber die geiſtigen Genüſſe gingen mir über Alles . . . Ich bin zwar unker ungewöhnlich günſtigen Verhälkniſſen aufgewachſen, und das iſt vielleichk die Urſache dafür, daß ich mich ſo ganz anders enkwickelte. So wäre alſo die Schuld in der Zeik zu ſuchen, in dieſer oberflächlichen, genußſüchtigen, nur nach Geld und Vergnügen jagenden Zeik, wo ein junger Lieutnank die Raſe rümpfen würde, wenn er ein Schlafzimmer wie das Goethes bewohnen müßte, und ein Student empört wäre, wenn man ihm Goethes Arbeitszimmer anwieſe . . . Wenn das die Folgen unſerer Siege ſind, dann wäre es wahrlich beſſer, wir wären das arme, unſcheinbare Preußen ge⸗ blieben . . . Ich fühle mich rechk müde, recht alk und recht fremd in dieſer Welk. Reulich beſuchke mich R., ſeiner Geſundheik hak das Studentenleben, das das Lieuknanksleben faſt zu übertrumpfen ſcheink, einen Knacks gegeben, den er vielleicht noch als Greis ſpüren wird — wie jammerſchade, Luſt, Tatkrafk, Tüchtigkeik ſo zu vergeuden! Und wie unbegreiflich bei einem Menſchen wie er, der ehrgeizig iſt und dieſes Leben für das einzige hälk, alſo logiſcher⸗ weiſe alle Krafk darauf konzenkrieren müßke, es durch Leiſtungen zu erfüllen. Statk deſſen wird Geſundheik, Rerven⸗ und Geiſteskrafk im Genußleben ertränkt. Ich ſuche ſein Verantworklichkeiksgefühl zu wecken, und da er immer wieder kommt, muß doch irgend etwas 327 ihn herziehen, was eine alke ernſte Frau kaum ſein kann . . . Wie arm an Liebe muß die Welk ſein, daß mein wirkliches aufrichtiges Wohlwollen mir immer ſo unerwarkek Herzen gewinnk und ohne mein Wiſſen und Zutun es jedermann für Liebe nimmt, während ich eigenklich wirkliche Liebe für ſehr wenige Menſchen empfinde, des⸗ halb nur mit ſehr Wenigen lieber zuſammen, als mik mir ſelbſt allein bin . . . Laute, lärmende Heikerkeik in meiner Rähe ſchmerzk mich jetzk ganz beſonders. Meine Seele, die unter den Fröhlichen den Druck wie von heißer Sonnenhitze fühlk, empfindet den Umgang mit Trauernden, als kräte ſie in einen milden Schatken.“ Die Schmerzen, die ihr dieſen Brief diktierk hatken, bezeichneken noch nichk den Gipfel des Leids, zu dem dieſe Jahre ſie empor⸗ führen ſollken. Selbſt die Bäume am rauhen Lebensweg, in deren Schatten ſich zuweilen von der mühſeligen Wanderung ruhen ließ, hörten auf, und die Steine wurden ſpitzer und der Pfad immer ſkeiler. Ihr Sorgenkind, ihr älkeſter Sohn, wurde ohne ſeine Schuld in einen tragiſchen Familienkonflikt verwickelk, aus dem es nur einen Ausweg für ihn gab: das Duell. Die Kugel ſeines Gegners kraf ihn in den Unkerleib. Leben und Tod ſtanden in langem, ſchwerem Kampf an ſeinem Lager, und als er ſich endlich von ihm erhob, war er ein an Leib und Seele gebrochener Mann. Run war der Platz der Mutker wieder an der Seite des Hohnes. Sie, die ihm das Leben gegeben hatke, ſah es als ihre Aufgabe an, es aus Schutk und Trümmern ihm wieder aufbauen zu helfen. Daß ihr Schwiegerſohn gegen alle Erwartung nach einem kaum anderthalbjährigen Aufenthalk in Berlin nach Poſen verſetzk wurde und ſie nun abermals heimatlos war, erſchien es ihr wie eine Fügung Gotkes. „Ich bin wohl noch zu egoiſtiſch geweſen,“ ſchrieb ſie, „als ich mich vor ein paar Jahren auf ein friedliches Ausleben in der Mikte meiner Kinder vorbereikeke. Bei der Ark eurer Generation, alle Caſten, die ſeik Beginn der Welk Jeder getragen hat, unerkräglich 328 zu finden, ſind die großen Familien ſehr zu fürchken; wer ein egoiſtiſch ruhiges ſüßes Alter träumk, muß kein zehnfaches Leben mik hineinnehmen, wie es bei Kindern und Enkeln geſchieht und um ſo mehr geſchiehk, je mehr man ſie liebk. Ich fühle die Schmerzen meiner Kinder doppelt und dreifach und würde ſie freudig kauſend⸗ fach fühlen wollen, wenn ich auch nur ein Sandkörnchen ihrer Laſt dadurch von ihren Schulkern nehmen würde. Aber ich kann nichts, als im Stillen für ſie beken, und da ſein, wenn ſie ein allzeit offnes Ohr und Herz brauchen, um ihren Jammer hinein zu ſchütken . . . Es müſſen glückliche Menſchen geweſen ſein, die ſich Hölle und Fegefeuer erkräumten, ſonſt hätten ſie wiſſen müſſen, daß die Erde Beides zugleich iſk . . . Glaube nichk, daß ich klage: mit dem Leid wächſt die Kraft. Das wird auch Dein Mutkerherz noch erfahren. Der Glaube, der Berge verſetzt, iſt nichk ſtärker, als die Mutterliebe, die den Kampf mik Hölle und Fegefeuer aufnimmt, um ihres Kindes willen. 329 Ausleben Wieder daheim. ſenny Guſtedk war 64 ahre geworden, ein Alker, von dem ſie zu ſagen pflegte, daß es ihm angemeſſen ſei, „ſich in den Schatten, ſich aus dem Wege der Welk zu ſtellen, um ſeiner ſelbſt willen, weil die Grenze des Diesſeiks ſchon das ſenſeiks ſtreifk, um Anderer willen, weil in den Lebensverhälkniſſen das Greiſenalker, ich möchte ſagen, über dem Etat iſt und ofk beengend auf die nächſte Generation wirkk.“ Und wenn ſie auch äußerlich faſt unveränderk blieb und die Pforken ihres geiſtigen Lebens ſich nichk, wie bei den meiſten alken Leuken, vor der Außenwelk und ihren Eindrücken zuſchloſſen, nur das Beſihzkum der Vergangenheik hütend, ſo zeigke ſich doch ein unkrügliches Merkmal hoher Jahre: Heimweh. Es befällk nicht nur den einen, der lange in fremden Ländern war, als eine Sehnſuchk nach den Wäldern und Wieſen, wo ſeine ugend reifte; noch ſtärker und ſchmerzhafker machk es ſich vielmehr dem andern fühlbar, der in geiſtiger Fremde lebke, und nun heim verlangk nach dem verkrauken Boden, in dem ſein inneres Leben wurzelk, der ſeiner Seele die erſte Rahrung gab. Richk die Zahl der Jahre beſtimmt den Zeitpunkt, wann dieſes Heimweh unüberwindlich wird, ſondern das Maß der Enkfernung und die Menge der begrabenen Hoffnungen. Am längſten vermag die Mukkerliebe, die das Weib an das innere und äußere Ceben des Kindes feſſelk, die Skimmen der Sehnſuchk zu überkönen. Aber ſchließlich, wenn der müde Fuß den raſchen Schrikken der Jugend nicht mehr folgen kann und das Auge nichks als eine fremde Welk vor ſich ſieht, dann ſiegk das lang unkerdrückte Verlangen, dorthin zurückzukehren, von dannen wir gekommen ſind. Rach dem Tode ihres Gatken war der erſte Gedanke der Wikwe geweſen, ſich von nun an dauernd in Weimar niederzulaſſen. Liebe und Pflichkgefühl hatken ſie daran gehinderk. Jetzk, zehn Jahre ſpäter, ſah ſie, daß ihre Kinder ihrer nichk bedurften, daß ſie ihnen, 331 ſelbſt wenn ſie likken, kaum zu helfen vermochte, weil ihr Troſt ihnen kein Troſt war, und es regte ſich nun wohl auch in ihr der Wunſch, zum Schluſſe des Lebens noch einmal ſich ſelbſt zu leben. Im Hauſe ihres Schwagers, des Grafen Beuſt, am Ende der Ackerwand, wo die alten Bäume des Parks in die Fenſter hineingrüßken und der Brunnen dasſelbe Lied rauſchke und murmelte, wie vor einem halben Jahrhunderk, fand ſie eine kleine, freundliche Wohnung. „Meine Stuben würden Dir ſehr gefallen“, ſchrieb ſie mir, „ſie ſind kleiner als die in Berlin, aber ſehr harmoniſch, und enthalken Alles, was mir nokwendig, nützlich, angenehm und lieb iſt; meine Freunde ſind ſehr gern darin, meiſtens zwiſchen 6 und 8 Uhr, dann brennen meine Campen, alles iſt ſtill und friedlich, voll Blumen ſind die Tiſche . . . Morgens nach dem Frühſtück gehe ich faſt ohne Rückſichk auf das Wekker im Park, der immer ſchön iſt, ſpazieren und vergeſſe vor lauker Erinnern zuweilen das halbe jahrhunderk, das zwiſchen meiner Jugend nnd meinem Alker liegk. Um 1 Uhr eſſe ich und habe neben der Güte der einfachen Mahlzeik die Freude ſteks unbeſtellker Gerichte, die Du, mein Herzensenkelkind, auch empfinden wirſk, wenn Du ein⸗ mal jahrzehnkelang Hausfrau warſt und — leider muß ich das ver⸗ muthen — wie ich gar kein Talenk dafür hatteſt. Ofk eſſe ich auch bei meinem lieben Schwager Fritz, der dann ſchon am Abend vorher ſagt: Auf morgen freue ich mich, dann biſt du bei mir! Selken vergeht ein Tag, ohne daß ich liebe Verwandke oder Freunde beſuche oder empfange, und wie ein weicher, warmer Mankel legk ſich die verkraute geiſtige Lufk Weimars um mich . . Abends leſe ich viel und mache mir darüber kurze Rokizen, die Dir vielleichtk einmal nütz⸗ lich ſein werden. Aan vergeudek ſo viel Zeik mik ſchlechter Lekküre, daß es ein großer Gewinn wäre, wenn Kinder und Enkel ſich darin wenigſkens von den Alten raten und leiken ließen. Um 11 Uhr bin ich zu Bekk und ſchlafe mik Gedanken und Gebek für meine Kinder und Enkel ein . . . Ich denke, wir Beide, mein geliebtes 332 Kind, könnken jehzk ſchon beſſer plaudern, als auf unſeren Wegen in Berlin, und im Lieben und Denken wirſt Du mich immer beſſer verſtehen . .“ Wenn es auch nichk das alte Weimar war, das meine Groß⸗ mukter wieder aufnahm, ſo war es doch in der Hauptſache das Alte geblieben. Es ſchien, als ob ſeder im Umfang ſeiner Kräfte ſich bemühte, die Tradikion aufrecht zu erhalken, die vorſchrieb, geiſtige Inkereſſen in den Mitkelpunkk des Lebens zu ſtellen. Und der Groß⸗ herzog Carl Alexander war es, der darin mit dem guken Beiſpiel voran ging. Er beſaß jene Fürſtentugend, die wir heute vergebens ſuchen: Talente heran zu ziehen und zu beſchützen, ihnen freie Bahn zu ſchaffen, ohne ſie beeinfluſſen zu wollen. Seine Ehrfurcht vor geiſtiger Bedeutung war ſo groß, daß er vor ihr beſcheiden zurück⸗ zukreken verſtand. Niemals hätte er einem Künſtler ſeinen Willen aufgezwungen und ihn dadurch auf das Riveau eines bloßen Hand⸗ werkers herabgedrückt. Die geiſtige Akmoſphäre, die er dadurch ſchuf oder vielmehr erhielt, denn ſie war Karl Auguſts koſtbares Vermächk⸗ nis, ermöglichke es, daß aus dem Weimar Goethes und Schillers noch ein Weimar Liſzks und Wagners wurde. Obwohl die Welk Franz Liſzk zu Füßen lag, wählke er ſich die kleine Skadk, um alljährlich ſein Haus an der Hofgärknerei zum Mittelpunkt der Muſik⸗ bewegung zu machen. Von Weimars unſcheinbarem Theaker aus trak Wagners „Cohengrin“ den Siegeszug durch die Welk an. Ohne den Großherzog hätte Liſzt ſeine Aufführung nicht durchzuſehzen ver⸗ mocht. Daß der Hof der modernen Muſik ſo viel Verſtändnis und Förderung zu Teil werden ließ, zog eine Reihe anderer Muſiker, die ſpäter zu großer Bedeutung gelangten — es ſei hier nur an Männer wie Eugen d'Alberk und Richard Strauß erinnerk — nach Weimar. Und wie die moderne Muſik, ſo fand die moderne bildende Kunſt hier zwar nichk einen Mittelpunkt des Lebens, wohl aber eine ſtille Wiege, wo ſie die jungen Glieder ſtrecken, von wo aus auch ſie den 333 Weg in die Welk ankreken konnke. Graf Kalkreuth und Schillers liebenswürdig⸗geiſtvoller Enkel, Herr von Gleichen⸗Rußwurm, waren Ende der ſiebziger Jahre ihre Hauptverkreter in Weimar. Wie viele Dichker, Maler und Muſiker haben außerdem, wenn nicht den Beginn oder den Höhepunkk ihres geiſtigen Schaffens, ſo doch Stunden der Anregung und Befriedigung — jener ſeltenen Feierkage des Cebens, die ihnen ſo notwendig ſind, wie dem Arbeiker die Sonntagsruhe — der lieblichen Skadk an der Ilm zu verdanken! Dem Fürſten aber, dem es gelang, im brandenden Meer des modernen Welklebens dieſe Inſel der Kuhe, des ſtillen Schaffens und Werdens, zu erhalken, blieb das Schickſal nicht erſpark, das auf die eine oder andere Weiſe alle traf, die im Schakken der Tikanen geboren wurden. Derſelbe Mann, der vor ſeinen Freunden ein lebendiger, geiſtvoller Plauderer und immer ein vornehmer Menſch im beſten Sinne des Workes war, ſchien der verankworkungsvollen Laſt der großen Vergangenheik ſeines Hauſes und Landes ofk faſt zu erliegen, wenn er ſich unter Freunden im große Kreiſe bewegke: er fühlke ſich bedrückt, wenn alle Augen auf ihn ſahen, wenn jeder darauf wartete, was er ſagen würde, und ſeine Zerſtreutheik, ſeine Schüchkernheik und Verlegenheik machten ihn in der breiten Öffentlichkeik zu einer lächerlichen Figur. Meine Großmukker ſchrieb einmal von ihm: „Daß mein guker Großherzog ſo ofk mißverſkanden, ja, was noch ſchlimmer iſt, verhöhnk wird, ſchmerzk mich um ſo mehr, als er im Grunde ſeines Weſens und ſeiner Anſchauungen der Typus deſſen iſt, was ein Fürſt in unſeren konſtikutionellen Skaaken überhaupk noch ſein kann: ein Grandſeigneur, der die alte ſchöne Tradikion pflegk und die Entwicklung einer neuen Kulkur förderk, indem er wie ein guter Gärkner dork der wildwuchernden Roſenranke eines Talenks eine Skütze giebt, dork einer andern, die im Verdorren iſt, Waſſer, Lufk und Licht zuführk und allmählich einen Park anlegk, in dem Rakur und Kunſt den Gärtner gleichmäßig preiſen, weil er die Ratur nicht knebelte und die Kunſt nicht degradierke. 334 Reben ihrem Schwager Beuſt, der ein ungemein liebenswürdiger Menſch war, und trotz ſeiner lebenslangen Hofſtellung — was ebenſo für den Fürſten wie für ſeinen Hofmarſchall ſprichk — nie ein Höf⸗ ling wurde, gehörke der Großherzog zu meiner Großmukker ver⸗ krauteſten Umgang. Er beſuchke ſie ofk, und ſie war ein häufiger Gaſt im Schloß, wenn ſie allein kommen konnte oder nur ein kleiner Kreis verſammelk war. Bei ſolchen Gelegenheiken war es, wo ſie Liſzks herrliches Spiel genoß, ſich des genialen, geiſtvollen Geſell⸗ ſchafkers freute, und durch ihn Wagners Muſik kennen lernte. Es war eine neue Welk für ſie und eine, die ſich der alkgewohnken harmoniſch anſchloß. „ ſch habe zu viel Sinn für Muſik,“ ſchrieb ſie einmal, „um es nichk unerträglich zu finden, bei einem Kaffeekonzerk, wo zwiſchen: „wie freue ich mich, Sie zu ſehen“ — „Kellner, eine Portion Kaffee“ — „ein, ſieh nur dieſe Toilekte“ — wo zwiſchen dieſen und ähn⸗ lichen Gedanken und Geſprächen einige Döne von Mendelsſohn oder Beethoven und dann zum lauken Enkzücken des Publikums das „Pariſer Leben“ erkönk. Das Ideal von Muſik, das ich in der Seele trage, iſt Verklärung, Seligkeik reinſter Liebe, Auflöſung des Innern in Ton und Klang. Wenn ich ſtill in dämmeriger Ecke ſaß und Liſzk ſpielke, wenn mir in Karlsbad, hoch über dem Konzerk, auf einſamer Waldbank Wagners wunderbarer Pilgerchor entgegenklang, wenn ich in Freiburg in der ſtillen dunklen Kirche ſaß und die Orgel über mir brauſte — das Alles war Iuſik. Es beeinkrächtigk ſchon meinen Genuß, wenn ich, um eine Wagnerſche Oper zu hören, in ein volles Theater mit im Zwiſchenakk ſchwatenden und kokekkierenden Menſchen gehen muß. — Wie ich den Fauſt nichk auf der Bühne ſehen kann — den zweiten Teil aufzuführen, iſt überhaupk eine Blasphemie — ſo iſt für mich jede Ark Kunſt, Muſik insbeſondere, entwerkek, oder beſſer entweihk, wenn ſie auf das Riveau des Maſſenamüſemenks herunkergezogen wird. Werkvoller für den Men⸗ 335 ſchen iſt ein ſchönes Bild im eigenen Zimmer, als Hunderke welk⸗ berühmter Bilder im Muſeum, an denen er mit einer Karawane Fremder vorüberziehen muß. Eine Welk höchſter künſtleriſcher Kulkur müßte alle Muſeen auflöſen und die Kunſtwerke in den Wohnungen verteilen, müßke in gothiſchen Domen mit gemalten Fenſtern käglich muſizieren und ſingen laſſen, wobei einem Jeden der Einkritk zu Genuß und Andachk frei ſtünde . . . Das Inkereſſe für den muſiker Wagner führke ſie zu dem Dichker und Denker, und nichks zeugt mehr für ihre geiſtige Regſamkeik und Auffaſſungsfähigkeik, als die Tatſache, daß er bei aller Grund⸗ verſchiedenheik der geiſtigen Tendenz ſo ſtark auf ſie wirkte. „Ich leſe mit wachſender Ankeilnahme, wobei Skaunen, Entzücken, Em⸗ pörung, Bewunderung in lebhaftem Streik mit einander liegen, Richard Wagners Proſaſchriften und Dichtungen,“ ſchrieb ſie 1877 aus Weimar; „Alles darin iſt bedeutend und ſehr klar; in ſchöner bündiger Weiſe unkerrichtend ſind alle Arkikel über Muſik. Wie Wagner ſelbſt die Muſik verſkeht, iſt mir ſonnenklar vor die Seele geſprungen in den wenigen Worken: „Wo die Sprache aufhört, fängt die Muſik an“. Richk allein ihre workloſe Herrlichkeik hienieden wird damik bezeichnek; aber man fühlk ſie als Sphärenſprache der Ewig⸗ keik. Die Aufſätze: „Eine Pilgerfahrk zu Beethoven“, „Ein Ende in Paris“, „Ein glücklicher Abend“ erinnern ausnehmend in Tendenz, Empfindungen, ſpökkiſcher, kiefer Menſchenverachkung, von der man ſich ſelbſt faſk allein ausſchließt, an Byron, der einmal mein Lieb⸗ lingsdichker war, bis ich Goethe und ſein Urteil über die von ihm ſo richtig bezeichneke „Lazarethphiloſophie“ begreifen lernte. Es muß wohl ſeder, der von innen heraus wächſt, dieſes Seelenſtadium durchmachen — auch Goethe mußte es und hak es im Werther ge⸗ ſchilderk und überwunden — aber wehe dem, der darin ſtecken bleibk: nichk nur, daß er ſelbſk ein dauernd unglücklicher Menſch wird, auch ſeine Schaffenskraft zerbricht. In welcher herrlichen Verklärung krikt 336 Baronin Jenny von Guſtedt geb. von Pappenheim im klarſten Gegenſatz zu der ganzen Lazarethphiloſophie und Menſchen⸗ verachtung das Chriſtentum vor meine Seele. Die Menſchenver⸗ achtung, die dork zu Spotk, Haß und Verzweiflung führk, die Cebensbeziehungen der Menſchen untereinander vergifket und zerſtört, führk hier zu tiefem Mitleid mit dem Sünder, der noch blind für die Wahrheik iſt: „die Sünde iſt der Leute Verderben“, führk zu ſorgfältiger Prüfung der Urſachen, die Gemeinheik und Schlechtigkeit nähren und enkſtehen laſſen, und zum rückſichksloſen Kampf gegen ſie. Auf der Seite der Menſchenverächter ein Schrei der Verzweiflung neben dem anderen, auf der anderen Seite das himmliſche: Freuek euch in dem Herrn, und abermals ſage ich euch, freuek euch. Auf der einen Seite Krieg mik oder Abgeſchloſſenheik von den Menſchen, auf der anderen Seite hülfreiches, thätiges Zuſammenleben und Lieben . . . Ich kann Richard Wagner gegenüber den Eindruck nicht überwinden, der mich z. B. auch bei Heinrich Heine immer wieder überwältigte, daß ſein Menſchliches noch mit ſeinem Gökk⸗ lichen — und jeder Künſtler und Dichter iſt gottbegnadet — im Kampfe liegk. Seine Muſik, ſeine Dichkung, z. B. im Tannhäuſer — widerſpricht ſeiner, nichk vom Genie, ſondern vom irdiſchen Ver⸗ ſtand diktierken Lazarethphiloſophie. In Beethovens neunter Sym⸗ phonie iſt das rein Göttliche zu unvergleichlichem Ausdruck gekommen; ich warke nun auf Richard Wagners Reunke! . . . Einige Jahre ſpäter las meine Großmutker, noch ehe ſie die Muſik kannte, den „Darcival“ und ſchrieb mir darüber: „Ich begann ihn gleichgültig, wurde aber immer mehr davon hingeriſſen und be⸗ greife nicht, wie Eitelkeik, Welklichkeik und Genußſuchk einen Geiſt beſchatten konnten, der ſolcher Gedanken, Anſchauungen und Gefühle fähig iſt. Die Verherrlichung und Weihe des Mikleids, das er als die höchſte Liebe hinſtellk, die Heiligung durch Buße und Gnade aller ſeiner Helden, die Auffaſſung des Abendmahls werfen Lichker in meine Seele, wie noch kein theologiſches Buch es gethan hat. Im Schatken der Titanen. 22 337 Wie ofk habe ich mich geprüft, ob es denn nicht Falſchheik und Schmeichelei ſei, was mich ſo liebevoll hinzog zu Menſchen, deren mein Herz für mich gar nichk bedurfte. Wagners Auffaſſung des Mikleids erklärk mir meinen eigenen inneren Widerſpruch. Das Mik⸗ leid, welches ich in ſeiner höchſten, mir ofk krankhafk erſcheinenden Pokenz von je her für Menſchen und Thiere empfand, iſt eben die höhere und beſſere Liebe, weil das Mitleid nichks für ſich will, auch nichk Gegenſeitigkeit, die meiſte Liebe aber etwas ſuchk und braucht für ſich.“ In einem anderen Briefe heißk es: „Ich habe nun auch einen großen Teil der Muſik zum Parcival kennen gelernk. Sie gehörk zu den erſchütterndſten Eindrücken meines Lebens. Wunderſchön war mir ſchon ſeine Sprache, um wie viel herrlicher iſt ſeine Iuſik. Wenn ich ſagen müßte, welches die höchſten Emanationen des Göttlichen im Menſchen ſind, die ich kenne, ſo würde ich heute ankworken: Goethes Fauſt und Wagners Parcival. Sie ſtehen mir auch in andrer Weiſe gleich: wie ich den Fauſt nichk auf der Bühne ſehen mag, ſo möchke ich den Parcival nichk ſehen. Zwar iſt der Bayreuther Gedanke, der den Ork zu einer Ark Wallfahrksork machk und die Menſchen dadurch ſchon aus der Alltagsſtimmung herausreißk, mir ſympathiſch, aber da es leider auch dort weniger die ſkillen, auf ſeeliſchen Genuß geſtimmten Seelen ſein werden, die ſich zuſammen finden, ſondern die jeder neuen Senſakion auf dem Fuße folgenden großen Geldbeukel, ſo möchte ich um Alles in der Welk nichk unker ihnen ſitzen.“ mik vollen Zügen, mik einer faſt ungebrochenen jugendlichen Kraft genoß ſenny Guſtedk das geiſtige Leben, das wieder in breiken Fluken zu ihr hereinſkrömte. „Ich empfinde mik käglichem Dankgefühl, ſchrieb ſie ihrer Tochker, „wie werkvoll der Menſch dem Menſchen iſt. ſofern wir uns enkſchließen, die Präliminarien des Konvenkionellen raſch zu erledigen, und uns dann geben, wie wir ſind, d. h. mik 338 dem Beſten, was in uns iſt. Eure Art, das Innerſte zu verſchweigen, alſo im Konventionellen ſtecken zu bleiben, ſo daß der Verkehr mit Menſchen ſchließlich zum überflüſſigſten Zeitverkreib wird, iſt nur eine Folge Eures Mangels an echter menſchlich⸗chriſtlicher Geſinnung: Ihr fürchtek jede Meinungsverſchiedenheik, weil Ihr andere Anſichken in Eurer egoiſtiſchen Rechthaberei gar nicht mehr vertragen könnk. Das iſt nichk nur ein Ragel zum Sarg der Geſelligkeik, ſondern auch zum Sarg der Freundſchaft, der Ehe, ja ſelbſt der Beziehungen zwiſchen Elkern und Kindern. Bereicherk wird unſer Leben, erwei⸗ terk unſer Geſichtskreis nur durch andere Anſichken als die unſeren, und nur durch ihren Austauſch können wir fördernd und anregend aufeinander wirken. Uebrigens gilk daſſelbe auch vom Leſen: Richts körichker, als nur leſen zu wollen, was in unſeren engen geiſtigen Horizonk, in unſere Seelenſtimmung, in unſere Glaubensauffaſſung hineinpaßk, und zu ſagen: Das und das kann man nichk leſen. Man kann es nicht nur, man ſoll es ſogar. Wie ein geſunder Körper ſich Wind und Wetter ausſetzk und davon nur gekräftigk wird, ſo muß ein geſunder, reifer Geiſt ſich allen geiſtigen Luftſtrömungen aus⸗ ſetzen, um immer geſunder zu werden . . .“ Die Bücherliſte der Weimarer Zeik iſt erſtaunlich reichhaltig und umfangreich, und Aus⸗ züge aus dem Geleſenen füllen einige Bände. Memoiren, Kor⸗ reſpondenzen und Biographien aus der Zeik Goethes und Rapoleons, Friedrichs des Großen philoſophiſche und hiſtoriſche Werke und ſeine Korreſpondenz mik Volkaire, Chateaubriands zwölfbändiges Memoiren⸗ werk nehmen auch in bezug auf die Auszüge einen breiten Raum ein. Kanks Mekaphyſik der Sitten, Schopenhauers Ethik, Rietzſches Geburk der Tragödie, Skrauß“ Leben ſeſu und ſein Volkaire, wurden ſtudierk; kleinere hiſkoriſche und kulkurhiſtoriſche Schrifken, Reiſebeſchrei⸗ bungen und hie und da auch ein Roman finden ſich daneben ver⸗ zeichnek. In ihren Briefen erwähnte ſie meiſt, was ſie gerade beſchäftigte; da ich damals noch ein Kind war, blieben ihre Außerungen 22* 339 mir gegenüber meinem Alker angepaßk. An die elfjährige Enkelin ſchrieb ſie: „. . . Ich wünſchte Dir, mein Kind, die Weimarer Luft, die Deiner Enkwicklung nokwendiger wäre als die Offiziersintereſſen⸗ Akmoſphäre, in der Du lebſt ... Wie ofk finde ich im Laufe meiner Lekküre Vieles, was ich Dir jehk vorleſen und über das ich mik Dir ſprechen könnte. Ganze Abſchnitte aus Goethes Fauſt, aus Wahrheik und Dichkung, viele ſeiner herrlichen Briefe an ſeine Freunde würden Dich beſſer vorwärks bringen als Deine ſtupende Geſchichkskabellenweisheik, die mir als Gedächknisleiſtung zwar ſehr imponierk, aber ſonſt doch gar keinen Iweck hat, als etwa den Eitel⸗ keikszweck, damik zu prunken. Aber Bildung bedeuket nicht eine möglichſt große Anſammlung von Wiſſensſtoff, ſondern ein perſön⸗ liches Gewordenſein ... Ueber all das wollen wir miteinander reden, wenn ich Dich bei mir habe, mein Herzenskind.“ Bald darauf, im Frühling 1877, kam ich zum erſten Male zu Großmama nach Weimar. Während einer langen, ſchweren Krank⸗ heit, die ich im Jahre vorher durchgemacht hatte, war ich aus den Kinderſchuhen herausgewachſen, und noch ſehe ich mich im Spiegel von Großmamas grünem Salon vor ihr ſtehen: einen hoch auf⸗ geſchoſſenen Backfiſch, blaß und ſchmal, die blonden haare ſkraff aus der ſo ſchrecklich hohen Stirn gekämmk, und daneben die ſchöne alte Frau mit dem feinen Geſichk und den graziöſen Bewegungen, die mich gerührk in die Arme ſchloß. Ich weiß nicht, warum ich herz⸗ brechend weinen mußke, vielleicht wußke ſie es beſſer als ich; ihre erſten Worke waren: „mein armes Kind“, und ſanfk und vorſichtig behandelke ſie mich wie eine Kranke. Wer keine Großmukker hak, der weiß nichks vom ſchönſten Mär⸗ chenwinkel des Kindheiksparadieſes, der iſt um das koſtbarſte Erbe der Vergangenheik bekrogen worden. Und wer von den armen Kindern der Gegenwark beſitzk ſie noch, auch wenn ſie nicht geſtorben iſt? Jene gütige, verſtehende, auf der Höhe der Cebenserfahrung 340 milde gewordene Frau, die nicht nur unſere Schmerzen beſſer mik⸗ empfindek als die Mutker, die auch die Ruhe des Alters beſitzk, die nokwendig iſt, um ſie zu heilen? Die für ſich ſelbſt nichks mehr will und darum Zeik hak für uns; der wir alles ſagen dürfen, weil ſie alles verſtehk. Die Stadk der Epigonen, von der Dingelſtedk ſagte: „ſie mahnt mich ſelber wie ein Sarkophag“, wurde mir zu einer Stadk geiſtiger Auferſtehung. Meiner Großmukker Erzählungen, das Zuſammenſein mit ihren Freunden, die mir durch die Gloriole der Vergangenheit, die ſie umgab, wie Weſen aus einer anderen Welk erſchienen, be⸗ lebken die Straßen, die Häuſer, die Alleen und die ſtillen Waldwege mik den Geſtalken Goethes und Schillers. Hier durfke ich, ohne daß das Lachen der Anderen meinen Mund verſiegelke, von all meinen phantaſtiſch⸗körichten Kinderträumen reden, hier konnte ich meiner Begeiſterung für Menſchen und Werke den überſchwenglichſten Aus⸗ druck geben, ohne daß ich zu fürchken brauchte, für „dumm“ oder „albern“ gehalken zu werden. Großmama verſtand mich, denn nur alkkluge Kühle hätke ſie nichk begriffen. Täglich wanderke ich mik ihr, die bis in ihr ſpäteſtes Alker eine rüſtige Fußgängerin war, morgens durch den Park und nachmiktags nach Tiefurk oder nach Belvedere. Nie verſiegke unſer Geſpräch, nie ermüdeke ſie, meine Fragen zu beankworken. Abends und bei ſchlechtem Wekker laſen wir zuſammen: Die „Iphigenie“ aus dem alten blauen Buch, den Oſterſpaziergang aus dem Fauſt und manches, was Großmama ſelber in ihrer ſugend geſchrieben hatte. Ihre Verwandken und ihre Freunde beſuchte ich mit ihr, und ſeltſam muteten die Räume, die ich betrat, das heimatloſe, von Ort zu Ork verſchlagene Soldakenkind an: Groß⸗ elkern, Elkern, Kinder hatken nacheinander darinnen gehauſt, an den Bildern, den Möbeln, den kauſend Kleinigkeiken der Umgebung haf⸗ tete der Dufk der Tradikion; ſie waren wie ein Kleid, das ſich, je älter es wird, deſto genauer und ſelbſtverſtändlicher um den ſchmiegt. 341 der es trägk, und das die Ausſkrahlung ſeines Weſens aufnimmk. Jene Harmonie, die denen verloren gehen muß, die auch die Woh⸗ nung und ihre Einrichkung dem Wechſel der Mode unkerwerfen, umfing mich ebenſo wohlkätig wie der große Kreis der Familie, für die ich, als Großmamas Enkelin, von Anfang an keine Fremde war. Meiner Großmutker ſkarker Familienſinn, der durch ein erſkaunliches Gedächkniß für die verwickelkſten verwandkſchaftlichen Beziehungen unterſkützk wurde, war ſehr ofk ein Gegenſkand des Amüſemenks für ihre Kinder; ich habe ihn immer nur als die Grundlage einer großen Cebenswohlkak empfunden: Der Gedanke, nirgends verlaſſen und vereinſamk zu ſein, gibk eine gewiſſe innere Sicherheik, die freilich meiſk der erſt ſchätzen lernke, der ſie verlor. Doch was ſind alle dieſe Eindrücke und Empfindungen gegenüber der Erinnerung an jenes eine Ereignis meiner Kindheik, deſſen kief erſchükkerndes Erleben beſtimmend für mich werden ſollke: Mein erſter Beſuch in Goethes Haus. Iwiſchen jener Zeik, wo Jenny Pappenheims zierliche Mädchen⸗ füße käglich die breike, klaſſiſche Treppe emporgeſtiegen waren, und der Gegenwark lag ein Menſchenleben. Als ſie heimkehrke nach Weimar, eine alte Frau, hatke Oktilie Goethe die Augen geſchloſſen, Ulrike, ihre Schweſter, war ihr gefolgk, und einſam und menſchen⸗ ſcheu, um ihr Lebensanrecht an Glück bekrogen, niedergebeugt unker der Laſt der weithin leuchkenden Krone, die Goethes Name bedeutete, lebken Walker und Wolf in den ſtillen Dachſtuben des großen Hauſes am Frauenplan. Die alte Freundin ihrer zugend war immer mit ihnen in Verbindung geblieben und hatke von Fahr zu Jahr gehoffk und gewarkek, daß ſie ſich doch noch einen ſelbſtändigen Platz in der Welk erobern würden. Vergebens! Walkers muſikaliſches Talent, das vielleichk ausgereichk hätke, einem Menſchen mik unbekannkem Ramen eine Durchſchnikksſtellung ohne Präkenſionen von Berühmk⸗ heit zu ſchaffen, war wie eine Pflanze, die, wenn man ſie künſtlich 342 kreiben will, vor der Entfalkung verdorrt. „Er verſuchte den Kampf mit dem Leben nichk mehr, er ergab ſich darein,“ ſchrieb meine Großmukker von ihm. „Er nahm es mit kiefem, aber verborgenem Schmerze auf, als ſeine Compoſikionen nichk beachkek wurden. Er dachke unendlich gering von ſich ſelbſt. Mik rührender Treue hing er an ſeiner Mukker, opferke ihr Geld, Zeik, Geſundheik, Lebens⸗ freude. Piekäk war der Culkus ſeines Lebens, doch auch hier in ſchroffen Gegenſätzen zur Welk. Richk miktheilend, unker vielem Kleinlichen auch die großartigen Kundgebungen der deutſchen Ration abweiſend, waren er und ſein Bruder mißverſtehend und mißverſkanden. Mik allen Opfern perſönlichen Behagens erſkrebten ſie das pietät⸗ vollſte Erhalken des Ueberkommenen, aber ihre größte und ver⸗ borgene Piekäk beſtand darin, Weimar, welches durch Goethe groß geworden und aus dem ſeine Größe herausgewachſen war, durch keine ſelbſtiſche Verkheidigung, durch keine Anklage, Enthüllung, Preisgeben von Conkroverſen, likerariſchen Klatſch in Work und That zu ſchädigen.“ Weik ſchwerer erkrug Wolf die Tragik ſeines Lebens, die ihn — den Enkel — zum Schakkendaſein verdammke, denn die Kraft, die in ihm zerſkörk wurde, war eine bedeukend größere als die des Bruders, ihr Kampf gegen die Unerbikklichkeik des Schickſals daher länger und ſchmerzhafter. Mik neunzehn Jahren ſchrieb er eine romantiſch⸗philoſophiſche Tragödie, die den Kampf des Menſchen mit der Rakur und den Zwieſpalk zwiſchen heidniſch⸗naturreligiöſer und kirchlich⸗chriſtlicher Anſchauung zum Gegenſtand hatke und eine nicht gewöhnliche Begabung verriek. Meine Großmukker, die Wolf von klein an in ihr Herz geſchloſſen hakke und ihn auch als den geiſtigen Erben Goethes anſah, ſchrieb von ihm: „Riemand ſtaunte, Riemand begriff, was in einem Menſchen liegen mußke, der mik neunzehn jahren „Erlinde“ ſchrieb. Hum⸗ boldt und Varnhagen ſchienen es zu begreifen, ihr Lob war 343 aber nicht mächtig und nicht nachhaltig genug, und ſo kam es, daß ſein Werk, wie ſein ganzes Leben, durch Entäuſchung, Ueberreizung und Stolz vereinzelt verloren ging.“ Er vergrub ſich ſpäter in archivaliſche Skudien, wurde zeikweiſe Legakions⸗ ſekrekär bei einer Geſandtſchafk, aber ſeine zunehmenden ſchweren neuralgiſchen Leiden hinderken ihn an allem und verbitkerken ihm immer dann das Leben, wenn es eine glücklichere Wendung zu nehmen ſchien. „Er likk unter ſeinem Zuſtand wie unter einem Fluch, er likk ebenſo unter dem Fluch eines Ramens, den er nicht überbieten konnke . . . Seine Vernunfk paßke nicht zur Welk und die Vernunfk der Welk nicht zu ihm. Das empfand er und hüllte ſich ſkolz und ſtumm in ſein einſames geiſtiges Leben, durchſchrikk ernſt, forſchend, lernend und denkend ein langes Leidensdaſein. Er hat ſich einmal um ein Amk in Weimar beworben, es hätte ihn zu einer erſehnten glücklichen Häuslichkeik geführk. Der Miniſter von Watzdorf ſtemmte ſich dagegen; ſpäter allerdings wurden ihm ſehr wohlwollende Anerbiekungen gemacht, aber ſein Leben war ab⸗ gelaufen. Im Jahrhunderk der Geldgier und des Ehrgeizes verachtete Wolf Geld und äußere Ehre; für nichks und niemand war ihm ſeine Würde feil. Seine großen, tiefen Gedanken blieben verſchloſſen in ſeiner Seele, ſein leidenſchafkliches Herz wurde ſtumm. Es fand ein Mann am Meer eine Muſchel, und weil ſie keine Auſter war, ſchleuderke er ſie zurück in die wogende See, nicht ahnend, daß ſie die köſtlichſte Perle enthielk. Der Mann war Deukſchland, die geſchloſſene Iuſchel Wolfs liebe, edle, große Seele . . . Mik jener unglückſeligen Eigenſchafk der Rachgeborenen begabt, die jeden Luftzug des Mißverſtehens wie ein Ungewikker, jeden leiſen Radelſtich der Liebloſigkeit wie ein Ans-Kreuz-⸗ſchlagen empfinden läßk, zogen ſich die beiden Brüder immer mehr von der Außenwelk zurück — „zwei in Nachtvögel verzauberke Prinzen, die einen ver⸗ 344 grabenen Schatz bewachen.“ In dem fataliſtiſchen Glauben an den nokwendigen Unkergang ihres Geſchlechts, hatken die Brüder auch die Liebe zum Weibe in ſich unkerdrückt — niemand ſollte von neuem geboren werden, um den Namen Goethe fortzuſetzen. Schon in den vierziger jahren, nach dem Tode der reizenden Alma, des letzten Sonnenſtrahls der Familie, hatte Walker Goethe an den Sekretär Schuchardk geſchrieben: „Wenn Sie ſo in den Sammlungs⸗ räumen oder dem Arbeitszimmer des Großvaters Staub und böſe Geiſter bannen, ſo gereut es Sie vielleicht doch nicht, daß Sie treu an uns feſthalten, den Ueberbliebenen aus Tantalus' Haus. Aber 4e glauben Sie mir: das Reich der Eumeniden geht zu Ende . . .¹ Und ſeitdem war eine neue Welk neben ihnen emporgeblüht, aber ſie ſahen ſie nicht, wollken ſie nicht ſehen, und empfanden es doch peinigend, daß ſie ſelbſt von ihr auch überſehen wurden. Zu den wenigen Freunden, denen ihr Heim und ihr Herz immer offen geblieben war, gehörte ſenny Guſtedt. „Du biſt ein Ver⸗ mächtniß, eine Erinnerung und ein Gegenwarkskroſt,“ ſchrieb ihr Walker, „Du, die Du verſtanden haſt, in dieſer Welk weiter zu leben. Und von Wolf erhielk ſie kurz vor ihrer Ankunfk in Weimar dieſe Zeilen: „Seik der Mutter Tod lebe ich nicht mehr. Ich paſſe auch zu nichts anderem, als allein zu ſein. Dich aber will ich wie ein Stück meiner ſelbſt und wie das Allerbeſte begrüßen.“ Von nun an war ſie wieder einer der häufigſten Gäſte in den Dachſtuben. „Ich möchte Lebenswärme hineintragen, da es keine Gotkesliebe ſein kann, ſagte ſie. Daß ich ſie begleiken durfte, war eine große Vergünſtigung, die ich wie ein Geſchenk aus einer höheren Welk empfing. Mit an⸗ gehaltenem Akem und pochenden Schläfen ſtieg ich mit ihr die Treppe empor. Es ſchien mir wie Frevel, dieſe Stufen, die Goethe gegangen war, mit denſelben Schuhen zu betreten, an denen der Staub der Skraße haftete. Eine uralte Frau öffnete uns. Ich zitkerte wie vor einer Erſcheinung: auch ſie, die alte Dienerin, hatte 345 Goethe noch gekannk! An der Schwelle blieb ich wie verzauberk ſtehen: Goethe ſelbſt mik lebendig leuchkendem Blick ſah mir enkgegen. Es war das Stielerſche Bild, das an der Wand gegenüberhing. Und ich überſah angeſichts dieſer Geſtalk den unſcheinbaren kleinen Mann, der uns entgegengekommen wär: Walter Goethe. Als dann aber die Türe aufging und ſein Bruder einkrak und plötzlich ein paar große, ernſte, forſchende Augen auf mich richteke, kam ich zu mir. Während Großmama und Walker plauderten, ſtand Wolf auf und ging mik mir herunker. Kein gläubiger Katholik kann die Kapelle der wunderkätigen Madonna mik inbrünſtigeren Gefühlen bekreken, als ich die Zimmer Goethes. Wie ein Skurm brauſte es mir dabei in den Ohren, ſo daß ich nichk hörte, was mein Begleiker ſprach. Im Arbeikszimmer des Dichkers ließ er mich allein. Wie lange ich dork in Andacht verſunken blieb, weiß ich nichk. Der kleine Garken lag im Sonnenlichk unker mir, nichts regte ſich; nur durch meinen Kopf und mein Herz ſpukten Träume und Phankaſien. Groß⸗ mamas Stimme riß mich aus meiner Verſunkenheik. Wir gingen ſtill nach Hauſe, während über die dunklen Bäume des Parks roſenrote Abendwölkchen zogen. Zurück in die große Vergangen⸗ heik ſchweifken die Gedanken der alken Frau, vorwärks in die unbekannte, geheimnisvolle Zukunfk wanderken die des Kindes neben ihr. Faſt drei Monake war ich bei Großmama geblieben, ſchweren Herzens krennke ich mich von ihr, denn ſelbſt der Briefwechſel, der von nun an ein immer regerer wurde, war nur ein ſchwacher Erſatz für den täglichen Umgang, für den ſtändigen Einfluß dieſer in ihrer Güke, ihrer Ankeilnahme, ihrer freundlichen Stimmung ſich ſteks gleich⸗ bleibenden Frau. Nie hörke ich ein ungeduldiges Work von ihr, nie kam das ein weiches Kindergemüt ſo ofk verbitternde „das verſtehſt Du nichk“ über ihre Lippen, niemals verfiel ſie in den Ton des Moralpredigers oder ſuchte mir ihre religiöſen Anſichten aufzudrängen; 346 aber gerade weil ſie keine Aukorikät über mich zu gewinnen ſuchte, wurde ſie mir zur höchſten Aukorikäk. — Dasſelbe Jahr führte uns noch einmal zuſammen. Ihren jüngſten Sohn, den ſchließlich die Verhältniſſe genötigk hatken, ſich von der Garde fork nach dem fernen Oſten verſetzen zu laſſen, hatte das Deben in die Schule genommen und ihn gelehrt, was er von der Mutker nicht hatke lernen wollen; ſein Leben war, zu ihrer Beruhigung, in ein anderes Fahrwaſſer geraten, und als er ihr ſeine Verlobung mikkeilke, die die Umwandlung des Offiziers in einen ſeßhaften Guks⸗ beſitzer in Ausſichk ſtellke, freuke ſie ſich deſſen um ſo mehr, als all ihre Hoffnungen und Träume, die ſie einſt an die Tätigkeik ihres Gatten als Gutsherrn geknüpfk hatke, nun mik alker Lebendigkeit wieder erwachten. Im Herbſt des fahres 1877 vereinigte ſich die ganze Familie in Oſtpreußen zur Hochzeik, und meine Großmutker benutzke die Gelegenheit, um Verwandte, die ſie ſeit ihrem Abſchied von Roſenberg nichk geſehen hatke, wieder aufzuſuchen. Von der Beſitzung ihrer Schwägerin, der Gräfin Kleiſt, aus ſchrieb ſie nach Weimar: „Wir bleiben noch dieſen Monak hier, dann kehre ich heim, und es wird mir ſehr guk kun, wenn ich wieder in meiner grünen Stube und bei meinen alten Freunden bin, obwohl es mir in meinem lieben Preußen recht guk gefällk. . . Körperlich iſt mir nichk ganz wohl, und das mahnk an die Weisheik bei alten Leuken, nichk zu reiſen. Iwar ſind es nur kleine Unbehagen, die nichk ſkören, wenn man nicht immer die Sorge wie eine beharrliche Herbſtfliege verſcheuchen müßte, außerhalb ſeines zu Hauſe krank zu werden . . . Ich habe 14 Tage in Lablacken zugebracht und ein ſchönes Guk, eine liebe Schwiegerkochter und einen Sohn, der zufrieden iſt, gefunden. Wenn ich Dir Alles erzählen wollke, würde ich viele Seiten des dünnſken Papiers beſchreiben müſſen, ſo muß ich für unſere Winker⸗ abende Alles aufbewahren, um ſo mehr, als Alles ſo ganz anders iſt, als was Du kennſt, daß wirklich nur mündlich und mit den 347 Ausdrücken von Auge, Stimme und zeichnendem Finger eine Schilderung möglich iſk . ..“ In einem anderen Briefe heißk es: „Run muß ich Dir noch ſagen, daß ſich meine untergegangene Freudefähigkeik aus ihrem Scheinkode rührk durch das Glück meines geliebken Sohnes . . . Aber noch mehr durch ſeine zunehmende Aehnlichkeik mit ſeinem Vater, durch ſeinen Ernſt und ſeine Männlichkeik. Hier darf ich auf einen Ruhepunkt für meine Gedanken und meine Muttergefühle hoffen, der um ſo nokwendiger iſt, als es ſonſt der Sorgen gar zu viele giebk.“ Ihr armes Sorgenkind Otko hatke, körperlich zum Milikärdienſt nichk mehr fähig, den Abſchied nehmen müſſen, und ſein Leben ſpielke ſich zwiſchen Plänen zu neuer Tätigkeik und ſteten Enktäuſchungen, wenn es an ihre Ausführung gehen ſollte, ab. Dazu kam die zu⸗ nehmende Schwierigkeik ſeiner ökonomiſchen Lage, aus der die Mutker ihn immer wieder zu befreien ſuchte. Aber auch dork, wo ihre Sorgen bisher die wenigſte Rahrung fanden, bei ihrer Tochter, war vieles anders geworden. Zwar war die milikäriſche Karriere meines Vakers eine ungewöhnlich guke, und die Zukunfk ſchien in der Richkung geſicherk, aber mit jeder höheren Stellung wuchſen die An⸗ ſprüche an ſie und die Verpflichkungen, die ſie auferlegte, ohne daß das Einkommen in gleichem Verhälknis zunahm. Es enkſtand jenes Mißverhältnis, deſſen ganze nervenaufreibende Qual nur der ermeſſen kann, der es ſelbſt erlebte, zwiſchen einem glänzenden Leben nach außen mik ausgedehnter Geſelligkeik, ſchönen Toiletten und einem großen Haushalk und der ängſtlichen Sparſamkeit nach innen, die meiner Mutker früh jeden Frohſinn nahm und das Familienleben mit jener Gewikkerſchwüle erfüllke, die ſich ſchwer auf die Bruſt eines jeden legte und den freien Akem beengte. Wer anders war es. als wieder die Großmutker, die helfend einſprang, ſei es durch make⸗ rielle Opfer, ſei es dadurch, daß ſie Tochter und Enkelin monatelang zur Kräftigung ihrer zarten Geſundheit und zur Erleichterung des 348 Debens mit ſich nahm, wenn ſie nach Karlsbad, nach der Schweiz oder nach Tirol reiſte. „Alle irdiſchen Hoffnungen, die noch ſo ſicher erſchienen, erwieſen ſich in meinem Leben als auf Sand gebaut, ſchrieb ſenny Guſtedk im Hinblick auf das Schickſal ihrer Kinder; „es iſt das der Weg, den Gotk mit uns gehk, um uns zu der Er⸗ kenntniß zu führen, daß Alles eitel iſt und nur Eins nok thuk. Ich würde auch für mich ſelbſt nichk klagen, denn ich verſtehe den Lehr⸗ meiſter und habe immer mehr irdiſchen Ballaſt über Bord geworfen. Aber meine Kinder verſtehen ihn ganz und gar nicht. Ihnen wird irdiſches Unglück nicht zur Skufenleiker geiſtigen Wachskums; ſie ver⸗ mögen ihm nicht ruhig ins Geſicht zu ſehen, es willkommen zu heißen mit der Frage: wohin führſt Du mich? Ich bin bereik! Und was mich für ſie doppelk ſorgenvoll in die Zukunfk ſehen läßt, das iſt die Tatſache, daß ſie ja vom eigenklichen Unglück, von wirklichen Rahrungsſorgen, von leiblicher oder ſeeliſcher Gefährdung der Kinder noch gar nichks wiſſen; wie würden ſie das erkragen, da ſie ſchon jetzk ſich als zu ſchwach erweiſen . .. Ich frage mich oft, was ihnen beſſer iſt, wenn ich in ihrer Rähe oder wenn ich fern von ihnen bin, aber da ich, ſo ſchmerzlich auch dieſe Erkenntniß iſt, mit meinem Rak und Beiſpiel gar nichks und nur mik materieller Unkerſkützung helfen kann, ſo iſt es beſſer, ich bleibe in Weimar und erhalte mich in der dortigen, mir ſo wohltuenden Akmoſphäre ihnen ſo lange wie möglich.“ Die Enkfernung allein war auch imſtande, ihre Gedanken und Empfindungen abzulenken und ihr noch ein perſönlich reiches Leben zu ſichern, wie Weimar es ihr bieten konnke. Bald nach ihrer Rückkehr aus Oſtpreußen ſchrieb ſie mir von dork: „Warm und freundlich haben meine ſtillen Stuben mich wieder aufgenommen. Mein guker Schwager, der liebe Großherzog, Walter Goethe und alle anderen Freunde und Freundinnen kamen mir entgegen, als hätken ſie mich Alle ſehr vermißt, und es gab ein Fragen, ein Er⸗ 349 zählen ohne Ende. Viele ſchöne Blumen haben mein Zimmer in einen Garken verwandelk, eine Reihe ſchöner Bücher laſſen mich ſchon die Abendfeierſtunden ahnen, bei denen Du, mein Lilychen, mir recht fehlen wirſk. Ich wünſchte, Du wärſt wieder unter meinem Dach, wo es Dir ſo gut gefällk und Dein leider ſonſt ſo verſchloſſenes Herzchen Dir wieder aufgehen würde. Jedenfalls ſollſt Du wiſſen, daß Du mir immer alles ſagen kannſt, ohne ein Mißverſkehen zu fürchten. Deine alke Großmama war auch einmal jung und war wie Du. . .“ Rachdem ich es mik Großmamas Hilfe erreicht hatke, daß meine Briefe nichk mehr als Stil⸗ und Schönſchreibübungen be⸗ trachtek wurden, die vor der Abſendung die Krikik beider Elkern zu beſtehen hatten, ſchrieb ich ihr oft, und jede Ankwork von ihr war ein Feſt, das mich nach dem lieben Weimar zurückzauberke. „Du würdeſt Dich wie ein Fiſchlein im Bache wohl fühlen,“ ſchrieb ſie mir im Sommer 1878, „wenn Du all die Herrlichkeik mit erleben könnkeſt, von der jetzk ganz Weimar voll iſt. Im Juni war hier die Erſtaufführung von Wagners „Kheingold“. Es wimmelke von Muſikbefliſſenen — echken und unechken — aus aller Herren Länder, und jeder dritke Ienſch, dem man begegnete, war eine Berühmtheik oder eine, die es werden wollke. Da hätte doch mein Lilychen hin⸗ eingepaßt?! Ich habe den Strom an mir vorüberfluken laſſen, habe ganz im Stillen manches Schöne gehörk, habe unker anderem auch die Wagnerſche Ribelungendichtung geleſen, die aber dem Original nicht gerecht wird. Die germaniſchen Götterſagen haben mir ſowohl vom aeſthetiſchen wie vom ſitklichen Geſichkspunkk immer viel höher geſtanden als die griechiſchen; ſie ſind ein unerſchöpflicher Quell für die epiſche und die dramatiſche Dichtung, der aber in ſeiner lebendigen Urkrafk nur in den Dramen Hebbels zu ſpüren iſt. Hebbel als Dichter — Wagner als Komponiſt — das wäre vielleicht die richtige Miſchung geweſen, da einen Goethe und einen Wagner zuſammen zu wünſchen, eine Vermeſſenheik wäre . . . Was mir einen ſehr 350 fakalen Eindruck machte, iſt das genialiſche Geberden, das ſich die Kunſtjünger beiderlei Geſchlechks jehzk angewöhnk zu haben ſcheinen: wehende Locken und vernachläſſigke Toilekte. Es erinnerk mich an ein Work Goethes, das er einmal angeſichts ähnlicher Erſcheinungen ſagte: Je mehr einer was ſcheinen will, deſto weniger iſt er was . . . Eben haben wir das Jubiläumsfeſt des lieben Großherzogs über⸗ ſkanden. Es war ein gräßlicher Trubel, mein armer Fritz aufs äußerſte angeſkrengt. Den ganzen Tag waren Huſaren, Lakaien, Hofequipagen unkerwegs. Wie Cyrus ſeinem Großvater vor deſſen üppiger Tafel ſagte: Wie viel Umſtände, um ſatk zu werden, ſo ſage ich: Wie viel Umſtände, um zu leben. Eine Epiſode der Feſte war wunderſchön: das Morgenkonzert im Park unker dem goldenen flukenden Glanz der Sommerſonne mit der ſchönen Greiſengeſtalk Franz Liſzks am Dirigenkenpulk . . . Ein alkes Bild von Goethes Lili hatke Großmama dem Groß⸗ herzog als Jubiläumsgeſchenk gegeben und mit folgenden Verſen begleitek: Anmutig im Vergangnen ſich ergehen, Das Schöne ſchöner noch zu ſehen, Die Schatken doppelk zu verdecken, Diel Liebe geben und viel Liebe wecken: Das iſt des Tages feſtliches Beginnen, Das Ziel von unſerm Wünſchen, unſerm Sinnen. Ein Frauenbild, das lieblichſte von Allen, Das irdiſch längſt der Zeik verfallen, Bring ich Dir heuk; es mahne Dich der Zeiten, Die, ob auch kok, uns noch lebendig leiten. So möge nie im Herzen uns veralten, Was liebt und lebk in ewigen Geſtalten. Und wenn wir heuk uns in Gedanken einen, Wird über uns ein ander Bild erſcheinen, Im Glorienglanze ſteigk es vor uns auf. Ich nenn' es nicht — ich zeige nur hinauf! Was groß und guk Dir heute kommt entgegen — Das Beſte dankſt Du Deiner Mutter Segen. 351 Der Großherzog ankwortete darauf: „Zierlich denken und ſüß erinnern, Iſt das Leben im tiefſten Innern!“ Rie hab ich die Wahrheik dieſes Workes von Lilis unſterblichem Freunde kiefer empfunden als heuke, als in dieſem Augenblick, wo die innigſt verehrte Freundin mir jenes Bildnis durch meine Tochter übermikkeln läßk und die Gabe durch ein Gedichk begleikek, das mich unenkſchieden läßt, was ſinniger zu bezeichnen iſt, Bild oder Gedichk. Indeſſen ſkammk beides doch von einem Sinn und von dem⸗ ſelben Herzen, das ſo glücklich zu geben weiß, weil es ſo richtig emp⸗ findek und in der „Mutker Segen“ den Schlußſtein für ſo bedeutungs⸗ reiche Erinnerungen, ſo viel bedeutende Wünſche findek. Glauben Sie meinem Dank, weil er nichk die Worke zu finden weiß, und Sie vor allem dem Herzen glauben, Ihres wahrhaft ergebenen Freundes Carl Alexander. Weimar, am 8. Juli 1878. Die nächſten fahre verfloſſen, nur von Keiſen zu ihren Kindern und nach Karlsbad unterbrochen, ſtill und friedlich. Meine Korreſpon⸗ denz mik meiner Großmutker drehte ſich mehr und mehr um reli⸗ giöſe Fragen und Zweifel, die mich um ſo ſtärker beſchäftigken und quälken, als ich durch einen ulkraorthodoxen Geiſtlichen für meine Ein⸗ ſegnung vorbereitek wurde, deſſen Anſichten mik denen meiner Groß⸗ mukker in ſchroffem Widerſpruch ſtanden. Ihre aus dieſem Anlaß an mich geſchriebenen Briefe bilden in ihrem Juſammenhang ihr religiöſes Glaubensbekennknis, das ſie in den letzken Jahren ihres Lebens nur noch wenig modifizierke. In einem ihrer erſten Briefe ſchrieb ſie: „Alle meine Gedanken ſind bei dir, mein liebes, liebes Kind, nichk blos weil die Beſtrebungen unſerer Seelen ſich gleichen, ſondern weil ich dich vor allen Klippen, Rückfällen und Kämpfen bewahren möchte, die auf meinem Wege lagen und einen langen 352 Teil meines Lebens rechk rauh gemachk haben ... Das Erforſchliche er⸗ forſcht zu haben und das Unerforſchliche ruhig zu verehren, giebt Goethe als des Menſchen würdigſte Seelenrichtung an, und bei der Umarbeitung ſeiner morphologiſchen Studien ein jahr vor ſeinem Tode ſchrieb er: Man muß ein Unerforſchliches vorausſehen und zu⸗ geben, alsdann aber dem Forſcher ſelbſt keine Grenzlinien ziehen. Auß ich mich denn nichk ſelbſt zugeben und vorausſehzen, ohne je⸗ mals zu wiſſen, wie es wirklich mik mir beſchaffen ſei, ſtudiere ich mich nichk immerfork, ohne mich jemals zu begreifen? Und doch kommk man friſch und fröhlich weiter! Du ſiehſt daraus, daß der größke Geiſt, den ſeit ſahrhunderten die Welk geſehen hat, nicht wie jetzk die naſeweiſen Schulbuben, ein letzkes Un⸗ erforſchliches zugab. Die ganze Welt iſt ja voller Myſterien, von der Eichel an, die zur Eiche, bis zum Kinde, das zum Propheten, zum Dichker, zum Helden wird. Für den klügſten Ienſchen bleibk alſo ſteks unendlich viel, was ſein Verſtand nicht erreicht, was entweder zur Glaubensſache wird, oder was dahingeſtellk bleiben muß. Unerkennbares zu glauben wird gegeben, aber nicht ergrübelk. Es kommt aber auch gar nichk auf dies „Glauben“ im Sinne eines Fürwahrhalkens an. Laß Alles dahingeſtellk. Folge Chriſkus nur auf dem Wege, den er vorgeſchrieben hat: „tuk nach meinen Worken und ihr werdek ſehen, ob es Gottes Worke ſind oder ich aus mir ſelber rede.“ Beten und arbeiten, mik den Menſchen Frieden halten, Alles fröhlich genießen, was ſich ohne Sünde genießen läßt, barm⸗ herzig, wahr, liebevoll ſein — das iſt des Weges Anfang . . . Das erſte aller Geheimniſſe — das Leben — hak noch niemand er⸗ gründek, obwohl wir es ſehen, fühlen, haben; es iſt auch ganz gleich⸗ gültig, wie wir uns ſeine erſte Enkſtehung denken — einen aller⸗ allererſten Anfang uns denken zu wollen, bleibk ſo wie ſo unmöglich — aber darauf kommk es an, was wir daraus machen. Chriſtus iſt mit ſeinen Jüngern auch nicht den Weg des Grübelns gegangen, Im Schatten der Titanen. 23 353 ſondern den der Tak, die unter der ganz ſchlichken, ganz begreiflichen Weiſung ſtand: Liebe deinen Rächſten als dich ſelbſt. Er brauchte gar nichk exiſtierk zu haben, wir brauchten gar nichks von ihm zu wiſſen und dieſes einzige Gebok — „darinnen hängek das ganze Ge⸗ ſetz und die Propheken“ — würde die höchſte Richtſchnur ſein . . . Riemals dürfte die Idee von der Erlöſung von der Sünde ſo ver⸗ ſkanden werden, als ob etwa ihr bloßes Fürwahrhalken uns los und ledig ſpräche von allem Unrecht, das wir begehen. Wir müſſen ſie uns vielmehr käglich und ſkündlich im Kampf gegen das Böſe, Selb⸗ ſüchtige in uns erringen. Iſt unſer Wille darauf gerichkek, iſt nicht das Glücklichſein im Sinne einer Anhäufung materieller Genüſſe, ſondern das Gutſein, im Sinne des Freiwilligendienſtes der Menſch⸗ heit, unſer Ziel, ſo werden wir auch glücklich ſein, weil Schmerz und Unglück uns nicht mehr bitker, krotzig, menſchenverachtend machen, ſondern milde, ergeben, liebevoll, ſtark.“ In einem anderen Briefe heißk es: „Mik all meinen Gedanken bin ich bei dir, mein Kind, und es bekümmerk mich tief, daß du, wie es ſcheint, mehr von einem Theologen als von einem Chriſten unkerrichkeſt wirſt. Es iſt der Fluch der Theologie, daß ſie Glaubensſätze aufſtellk und daran feſt⸗ hälk, wenn der wirkende Geiſt Gottes längſk darüber hinausging, wenn ſie erklären will, was nur erfahren werden kann, und wenn ſie ofk ſo alberne Erklärungen giebt, die ſie Glauben nennk. Richk nach dieſer vorgeſchriebenen Weiſe glauben zu können, iſk kein Un⸗ glauben, aber in Hochmuth und Ucbereilung die Glaubenslehren wegwerfen, das führk zum Unglauben, weil es verhinderk, daß Geiſt und Herz nach dieſer Seite hin thätig ſei, innere Erfahrungen machen und auf dieſen weiker bauen kann. Ich glaube jetzk an Chriſtus als an den geiſtigen Sohn Gokkes, an ſein liebevolkes Werk, an ſein Einsſein mit dem Vater, an das großartige Erziehungswerk, wo⸗ durch nach Aeonen alle Menſchen ſelig werden; ich glaube jetzk an den heiligen Geiſt als an die ſchaffende Kraft Gokkes, die das 354 Univerſum erfüllt, in Menſchen, Kunſtwerken, Erkenntniſſen der Wiſſenſchafk zu Form und Geſtalk ſich bildek . . . Du fragſt, wie es möglich ſei, eine Enkſcheidung zu kreffen, wenn Glaube und Wiſſenſchafk einander widerſprechen. Handelk es ſich um echte Wiſſen⸗ ſchafk, um das Ergebniß ſorgfältiger Unkerſuchung, ſo iſt ſie Wahr⸗ heit, und der Glaube, das Fürwahrhalken, wird ihr ſelbſtverſtänd⸗ lich weichen, wie er vor der Erkenntniß der Kugelgeſtalk der Erde weichen mußke. Sagk dir aber jemand im Ramen der Wiſſenſchaft, daß es z. B. eine Seele nichk geben könne, weil er ſie nichk unker dem Mikroſkop gefunden habe, ſo fordere ihm den Beweis für das Leben ab, denn alles Sichtbare iſt kodk, eigenkliches Leben iſt unſichtbar. Das entflohene Leben des Körpers haſt du nie geſehen, der kodte Körper iſt als Leiche derſelbe, der dir ſichtbar war. Liebe, Dank⸗ barkeik, ja, ſogar die unedlen Empfindungen ſind unſichtbar, und wo ſie ſichtbar ſind, werden ſie es nicht durch Form, ſondern durch Ausdruck und Gefühl. Der eben abgehauene Baum iſt das, was du vom Baume ſiehſt, ſein Leben ſiehſt du nicht, den Dufk der Roſe ſiehſt du nicht, die gewaltigſten Rakurkräfke, Magnekismus, Eleckrici⸗ tät, ſiehſt du nichk . .. Das Chriſtenkhum verlangk von ſeinen An⸗ hängern gar keinen Wunderglauben, es bekämpfk nur den geiſtigen Hochmuk — der übrigens auch menſchlich ein Zeichen der Unbildung iſt —, der alles zu wiſſen und erklären zu können behaupkek. Richk Wunder als Ausſchreitkungen der Rakur brauchſt du anzunehmen, bekenne dich nur in Demuth, daß deine Inkelligenz noch nicht bis zur Erkennkniß aller göktlichen Geſehze reichk, durch die dieſe Wunder erklärk werden. Hätte Chriſkus vor faſt 2000 Jahren geſagt: „Wahrlich, ich ſage euch, wenn ihr ein Mikroſkop hätkek, ihr würdek Tauſende von lebenden Geſchöpfen in einem Waſſerkropfen ſehen, oder wenn ihr ein Fernrohr hätkek, ihr könntek Millionen Welken enkdecken, wenn ihr ein Telephon hätkek, ihr würdek die Sprache eurer fernen Freunde hören“, ſie hätten den herrn ebenſo verſpotkek, 355 23* als da er ſprach, „Wahrlich, ich ſage euch, ſo ihr Glauben hättek, ihr könntek Berge verſetzen! Auf meine Frage, ob ich nach ihrer Auffaſſung gezwungen wäre, an Gotk zu glauben — mein Lehrer hatke mir mit allen Skrafen der Hölle gedrohk, wenn ich die drei Artikel des Glaubensbekennk⸗ niſſes nicht eidlich zu bekräftigen vermöchte — antworkeke ſie: „Zum Glauben zwingen wollen iſt ein Verbrechen an der Menſchenſeele und kann nur zum Böſen führen, wie es nur zum Böſen führt, wenn man einen Menſchen dadurch zum kreuen Arbeiter machen will, daß man ihn in Sklavenketken legk. Gotk wird die Seelen nichk fragen: glaubſt du an dies und das? ſondern: wie war dein Herz, was haſt du gethan? Dann wird Mancher, der ſonnkäglich in die Kirche ging und den Morgen- und Abendſegen nicht vergaß, wohl aber die thätige Menſchenliebe, vor dem zurücktreten müſſen, der ſagke: wer darf ihn nennen, wer ihn bekennen? und der betete: gieb mir große Gedanken und ein reines Herz . . . Beängſtigend, einengend iſt mir immer ſo Vieles geweſen, was aus dem Chriſtenthum herausgequälk und als Glaubensarkikel hin⸗ geſtellk wird, wie z. B.: „Gottes Gerechtigkeik forderk ein Opfer, des⸗ halb ſtirbt der Sündloſe für den Sünder,“ was aber die größte Un⸗ gerechtigkeik wäre. Oder: „Meine Sünden haben den Herrn ans Kreuz geſchlagen,“ was auch unverſtändlich iſt, faſt 2000 Jahre nach Chriſtus. Oder das Allerſchwerſte: „Das iſt mein Leib, das iſt mein Bluk,“ während das neue Teſtamenk ſo einfach und erklärend hinzu⸗ fügk: „Solches thuk, ſo ofk ihr es thuk, zu meinem Gedächtniß“. .. Da ich demnächſt bei Euch zu ſein hoffe, ſo wollen wir vor deiner Einſegnung uns noch gründlich ausſprechen. Es ſoll Dir in keiner Weiſe Gewalk angekan werden. Das Eine aber laß Dir jehzk noch ſagen und halke daran feſt: Es kommk nichk auf das Glauben an Gotk, ſondern anf das Handeln im Sinne Gokkes an. Der Glaube, ſenes unerſchütterliche Verkrauen in Gott, das uns ſeine Wege nicht 356 nur kapfer gehen läßk, ſondern auch die härkeſten zu denen macht, die uns am meiſten vorwärks führen, iſt ein Geſchenk höherer Seelen⸗ entwickelung, eine Gnade, ein Glück, aber kein Sittengeſeh . . . Ich weiß nicht mehr, warum, aber Großmama kam nicht. Ich blieb allein, auch innerlich, denn in der kiefen Zerriſſenheik meines Gemüks — einer Folge des Religionsunkerrichks, den ich genoß — blieben ihre Worke ohne tieferen Eindruck, und ich wagke ihr nicht zu ſchreiben. Erſk am Tage meiner Einſegnung, als die Kirchenglocken mir wie die Stimmen des ewigen Gerichks in die Ohren gellken und ich das Glaubensbekenntnis ſprach in der Überzeugung, einen Meineid zu leiſken, ſah ich ſie wieder. Mik den Sorgen um ihren älkeſten Sohn und das Ergehen ihrer Tochter mehr denn je beſchäftigk, hatte ſie für die blaſſe, ſtille, vierzehnjährige Enkelin wohl Worke zärtlicher Liebe, aber ſie pochten nur an die Türe meines Herzens, die eine fremde Gewalk in das Schloß geworfen hatke und darin feſthielk. Wir reiſten zuſammen nach Oſtpreußen, aber ich ging dem Alleinſein mik ihr aus dem Wege. Dann kam ich aus dem Hauſe und die Korreſpondenz ſchlief ein, weil die geſtrenge Tante, bei der ich mich zur Erwerbung des letzken Erziehungsſchliffs aufhielk, die Briefe las, die ich ſchrieb oder zu bekommen pflegte. Aber die Erinnerung an Weimar, an Großmama war um ſo lebendiger in mir und ſteigerte ſich um ſo mehr zur Sehnſucht, je ſchroffer der Gegenſatz zwiſchen dork und hier mir fühlbar wurde, und ich ergriff ſchließlich die erſte Gelegenheik, die ſich mir bok, um wieder in die alte Verbindung mik ihr zu kreten. „Du wirſk vor all dem Reuen an Menſchen und Dingen, die Dir begegnen, Deine alke Großmukker wohl faſt ver⸗ geſſen haben,“ ſchrieb ſie mir, „aber ſie denkt um ſo mehr an Dich, mein Herzenskind. Deine Mukker keilte mir nur Gukes von Dir mit und ſchickte mir einige Deiner neueſten Gedichtchen, die in der Form ſehr hübſch, im Inhalk aber gar zu einförmig ſind. Liebe und Früh⸗ ling ſind ſehr ſchöne Dinge und können ein junges ſechzehnjähriges 357 Herz wohl ausfüllen, aber mein Enkelkind kenne ich zu guk, als daß ich nicht wüßke, daß ſie mehr zu ſagen hak. Die hauswirkſchafklichen und geſellſchafklichen Talenke, die Deine Tanke bei Dir pflegk, ſind ſehr nützliche, aber die werkvolleren ſind die des Geiſtes. Weder darfſt Du das Große und Guke von Dir werfen, noch über die Gaben ſkolpern, die Gotk Dir vor die Füße legke, Du mußt ſie aufheben und pflegen. Ich leſe jehzt gerade die preußiſche Geſchichte von Voigk; ſelken iſt ein Werk ſo treu, ſo vollſtändig und ſo langweilig ge⸗ ſchrieben worden. Ich möchte Dir nur raken — als Anregung zu poetiſcher Geſtalkung — die ungeheuer poetiſche und brillanke Epiſode aus der Ritkerzeik in Marienburg nachzuleſen, wo Johann von Bendorf wegen Bruchs der Ordensgeſetze vom Kriegszug der Rikker nach Livland ausgeſchloſſen wird und aus Rache und Ver⸗ zweiflung den Hochmeiſter Winrich von Eniprode ermordek im Augen⸗ blick, da dieſer die Kapelle verläßk. Johann wird im Hof der Burg enthauptek, während die Rikter an ihm vorüber in den Krieg ziehen. Was meinſt Du dazu? Wage Dich an große Skoffe, ſpanne Deinen Bogen ſo ſtark Du kannſt, damik die Pfeile Deines Geiſtes weik⸗ geſteckke Ziele erreichen! .. Und dann habe ich ein anderes Büchlein wieder geleſen, das mir mein armer, lieber Wolf Goethe wortlos übergab, ehe er auf immer von hier Abſchied nahm: Seine Erlinde. Sie hat mich ſehr ergriffen, und ich ſchrieb ihm darüber nach Ceipzig, wo er ſehk lebk. Da ſein rechker Arm durch furchtbare neuralgiſche Schmerzen beinahe gelähmk iſt, ankworkeke er mir nur dieſe wenigen Zeilen: „Rühre die Wunde nichk an, denn nur dünn iſt die Hauk, die dar⸗ über wuchs; daß meine Erlinde einen lebenskräftigen Keim hatte, glaube auch ich, aber es war niemand da, der ſie pflegte.“ — Hier haſt Du das Buch, mein Herzenskind. Wenn es Dir etwas ſagk, wird doch vielleicht, auch ohne es in Worte zu kleiden, ein warmes Gefühl das Herz des einſamen Unglücklichen berühren, deſſen letztes, kragiſches Bekenntniß er in dieſen Verſen niederlegte: 358 Alle Blumen ſind gepflückt, Alle Cieder ſind verſtummt, Und ich geh einher gebückt In mein dumpfes Leid vermummt. Ich ſtehe ſteks daneben, Ich krete niemals ein; Rur einmal möcht ich leben! Und Menſch nur einmal ſein! . . . Dieſer Brief griff mir ans Herz. Mik der überſchwenglichen Schwärmerei eines ſechzehnjährigen Mädchenherzens kräumke ich mich in den Gedanken hinein, dem Enkel Goethes ein Glück bereiken zu können. Und der Zufall wollke es, daß ich einen Theaterdirektor kennen lernke, der die Aufführung Erlindens wagen wollke. Ieine Großmukker übermittelte dem Verfaſſer ſeine Abſichk. Wolf Goethe ſandke ihr folgende Ankwork. Ceipzig, den 1. Januar 1881. „Theuerſte Jenny! Wie wunderbar und doch wie nakürlich iſt es, daß Dir jehzk die Erlinde nahe getreken. Welche Reihe von Gedanken und Empfin⸗ dungen ſich hieran für mich knüpfen muß, wirſt Du Dir vorſtellen können. Es giebt Dinge, die wir ablehnen müſſen, ja die es unſere Pflichk iſt, abzulehnen, es giebt Dinge, die wir ablehnen können, es giebk aber auch Dinge, bei denen wir zweifelhaft ſein mögen, ob wir nichk den Willen der Vorſehung ſkören, wenn wir hemmend ein⸗ greifen. Ju ſolchen gehörk wohl: ſpäter Erfolg, ſpätes Glück. Das Glück liebk es, uns verhüllk, in fremder Geſtalk zu nahen. Erſt wenn es im Weggehen das Haupk wendek und das unverhüllte Antlitz zeigt, erkennen wir es ofk. Es wäre unnakürlich geweſen, wenn ich nicht an die Erlinde Hoffnungen geknüpfk hätte. Daß ſie nicht von den Menſchen, von den Dielen, aufgenommen wurde, hat 359 auf mein Leben großen Einfluß ausgeübk; aber ich empfinde keine Bitkerkeik mehr deshalb! Es hak nichk ſein ſollen! Ob die Zeik der Erlinde gekommen iſt, weiß ich nicht. Ob gar meine Zeik ge⸗ kommen?! Ich glaube es nichk und wünſche es auch nichk. Der Menſch ſtehk für die Welk erſt im Augenblick nach ſeinem Tode voll⸗ endek da, bis dahin iſt er für ſie eine Geſtalk ohne Haupk, ſind die Glieder formlos. Wie Du, theuerſte Jenny, halke ich die Erlinde für aufführbar, mik einigen Abänderungen und Auslaſſungen . . . Erlinde bedarf bei der Aufführung einer mäßigen Ausſtattung und einer mik Maß angewandten Muſik. Die Frage des Theaterdirekkors, welche Du mir freundlichſt mitkeilſt, hat mir große Freude bereikek, die Antwork wird mir aber nicht leichk. Die Gründe für ſie, ja ſie ſelbſt, liegen ſchon in dem, was ich früher ausgeſprochen habe. Soll ich die Ge⸗ ſtalkung für die Aufführung der Erlinde ganz in die Hände von Anderen legen, Anderen ganz überlaſſen? Denn ich ſelbſt vermöchte nichk, mich an ihr zu bekeiligen. Wer weiß denn, ob ſie nicht auch jetzk zurückgewieſen wird!? Soll ich ſelbſt mir noch etwas Reues, Schweres, Schmerzliches heraufbeſchwören? Ich weiß wohl, daß ein Erfolg viel unerwarkekes Gukes für mich mit ſich führen könnke. Ich weiß wohl, daß es zu den großen Selkenheiken gehörk, wenn einer Dichkung die Skelle, die ſie bei ihrem Erſcheinen nicht erlangke, ſpäter eingeräumt wird, und daß ekwas Entſcheidendes darin liegt, auf einen bedeukenden Verſuch in dieſer Richtung nichk einzugehen. Run aber bleibt mir nach meiner ganzen Lage nichts anderes übrig, als Dich zu bikken, in möglichſt unſcheinbarer Form, vielleichk durch die Güke Deiner verehrten Enkelin, zu antworten, daß der Verfaſſer der Erlinde, weil er nicht in der Lage iſt, ſich an ihrer Geſtalkung für die Bühne zu bekeiligen, gegenwärtig auf eine ſolche verzichken müſſe. Run, theuerſte Jenny, nimm, was ich ſchrieb, freundlich auf und lege alles an die rechte Stelle. 360 Bis hierher iſt der Brief ein Dikkak. Darunker aber ſtehk mik großer zitkernder Schrifk: „Treulichſtk Dein Wolf. Und wenn ich doch noch an dem Leben hinge?! Meine Großmutker ankworkeke ihm mit folgenden Zeilen: „Mein lieber Wolf! Du mußk Dir eine Ankwork auf Deinen herrlichen — mir herr⸗ lichen — Brief gefallen laſſen; es giebt auch mik 70 Jahren Lichk⸗ ſtrahlen, wie ſie das I7te beleuchten, aber es ſind nur Blitze, und unker einem ſolchen ſtand die Landſchafk meines jugendlebens vor mir, Deine Mutker, die ich nie aufgehörk habe zu lieben, Du als Knabe, dunkle Wolken und nun milder Regen. Das mußke erſk wieder ſtill bei mir werden. Ich hoffte auch auf einen Brief meiner Enkelin, um zu erfahren, weß Geiſtes Kind der Theakerdirektor iſt, ob verſtehend oder nur berechnend, — ſie hak aber noch nicht ge⸗ ſchrieben, und ich glaube in Deinem Sinn gehandelk zu haben, als ich ihm gleich bei Lilys Anfrage, ehe ich Dir ſchrieb, ſagen ließ, Du ſeiſt verreiſt, ich rake zu keiner direkten Anfrage, gab ihm auch nichk Deine Adreſſe. So biſt Du, ohne ihn zu kränken, aus dem Spiel und frei, evenkuell hervorzutreken. Ich verſtehe Deine Auffaſſung — ich fühle ganz die letzken Zeilen Deines Briefes — dann ſiegk aber doch die ungeheure Scheu vor den Krallen des Lebens, und wir be⸗ halken unſere Rarben und unſere Kuhe! Ich kann es nichk laſſen, die Erlinde nur noch eifriger, ein⸗ gehender und mik Berückſichtigung der Bühne zu leſen; da könnte allerdings nur Deine Hand die Bühnenfähigkeik geben. Geſtrichen dürfte wenig werden, aber verbunden viel, ſowohl in den einzelnen Scenen, die in lebendigere Beziehungen zueinander kreken müßten, als in den Perſonen. Ich kann nicht leugnen, daß ich glaube, nur 361 in Weimar würde man Erlinde ganz verſkehen und mit Sorgfalk und Liebe zur Aufführung bringen, ſo daß das nahe und ferne Publikum ein Verſtändniß dafür bekäme. Ich hätte gern noch einen Stern in Euer Wappen gebracht und das Licht dazu war da — es lagen nur Rebel dazwiſchen, aber ſie haben es verhinderk, durch⸗ zudringen. Mein lieber Wolf, das ſoll kein Zureden ſein; mir würde ſo bang werden wie Dir, daß Du Dir neue Schmerzen für Seele und Körper bereiten könnkeſt; es liegt die Atmoſphäre einer ganz anderen Welk zwiſchen Dir und den Menſchen; was ſie Dir bieken, achkeſt Du zu gering, und das „Heſam thu Dich auf“, das zu Deinen Schätzen führk, verkrauſt Du wenigen an . . .“ Er ankworkeke nichk auf dieſen Brief. Monake ſpäker ſandte er dieſe Zeilen, deren Buchſtaben noch größer, noch zitteriger ſind: „Ich ſchreibe Dir Briefe in Gedanken; ich kann ſie Dir aber nicht ſenden, weil wir auf der Erde ſind, und ſpäker kannſt Du ſie nichk mehr erhalken, weil wir drüben nichk leſen können. Dein Wolf Goethe.“ Der Umſchlag trägk das Wappenſiegel: ein Stern — für einen anderen war daneben kein Platz mehr! Ein Jahr ſpäter folgte ein kleiner Zug von Trauernden einem einfachen Sarge, deſſen Blumenſchmuck ſchon auf dem Weg der rauhen Winkerkälke erlag. „Heuke haben ſie rneinen lieben Wolf neben ſeiner Mukter be⸗ graben,“ ſchrieb ſennm Guſtedk an dieſem Tage. „Rapoleons Sohn ging jammervoll zu Grunde wie er: an der Krafk, die nach innen zehrke, weil ſie ſich nach außen nichk entfalken durfke. Viele Gene⸗ rationen müſſen ſang⸗ und klanglos verſinken, ehe der Eine aus ihnen hervorgeht, deſſſen Rame in die ewigen Sterne geſchrieben wird — das iſt eine gerechte Enkwicklung —, aber daß die Nach⸗ 362 kvmmen an der Größe dieſes Einen zu Grunde gehen, gehörk zu den grauſamen Räthſeln, die wir nichk löſen können! — Bald wird Walker dem Bruder folgen — ich wollke, es wäre auch Zeik für mich, zu gehen.“ Der Kummer, der aus dieſen Zeilen ſprichk, hatte ſeinen Urſprung nicht in der Erlöſung des Freundes von einen Leben der Schmerzen, auch um ſie hatten ſich die Rebel wieder zuſammengeballk. „Daß ich meinen Kindern ſo fern bin,“ ſchrieb ſie, „daß mein Alker mir das Reiſen zu ihnen faſt unmöglich macht, daß ich ſie in meinen eigenen Räumen nichk beherbergen kann und nicht die Mittel habe, mir zu dem Iweck eine geeignete Wohnung zu nehmen — ich muß ängſtlich zuſammen halken, denn immer wieder kommen Ueber⸗ raſchungen, die mich nötigen, einzuſpringen, — das machk meine letzken Lebensjahre zu recht kraurigen.“ Rach langen Kämpfen, die ihr durch ihre Weimarer Freunde und deren inſtändiges Bitten, ſie nichk zu verlaſſen, noch ſchwerer gemachk wurden, als ſie durch den Zwieſpalk ihres eigenen Herzens ſo wie ſo ſchon waren, entſchloß ſie ſich, nach Lablacken, dem Gute ihres jüngſten Sohnes, überzu⸗ ſiedeln. „Ich bedarf eines Heims, wo ich ohne Skrupel meine Kinder bei mir haben kann, und eines Lebens, deſſen völlige Ein⸗ fachheik mir ermöglichk, ihnen, was ich erübrige von meinem Ein⸗ kommen, zuzuwenden,“ heißk es in einem ihrer letzten Briefe aus Weimar. Im Frühling 1883, als der Park ſeine erſte dufkende Lenzes⸗ pracht entfalkeke, kam ich zu ihr. Vierzehn Tage blieben wir zu⸗ ſammen dork. Rur wenige Freunde wußken, daß ſie von der Karls⸗ bader Reiſe, die ſie vorhatke, nicht mehr nach Weimar zurückkehren wollke. Leiſe, ohne Abſchiedsſchmerzen, ſollke die Trennung ſich vollziehen. Wir gingen noch einmal all die ſchönen Wege nach Tiefurk, nach Belvedere, in die geheimnisvolle Stille von Goethes Garkenhaus, und auf den Kirchhof an das Grab ihrer Mutker 363 und an das von Oktilie — von Wolf; wir ſchrikken hinab in die Dämmerkühle der Fürſtengrufk und ſtanden ſchweigend vor den irdiſchen Reſten ihres unſterblichen väterlichen Freundes. Dann aber ſtiegen wir hinauf zu dem letzten Lebendigen, den er hinker⸗ laſſen hakte: über die klaſſiſche Treppe in die kleinen, ſtillen Dachſkuben. Ich ließ die beiden Freunde allein und bekrat die Zimmer wieder, wo Goethe wirkte, bis der Tod ihn von der Arbeiksſtätte mik ſich nahm. Es war eine Skunde heiliger Andacht, aus der Großmamas leiſe Stimme mich weckke. „Komm,“ ſagke ſie und ihre Augen ſchwammen in Tränen. Ich gab ihr den Arm. Zum erſten Mal ſah ich, daß ſie alt, ſehr alk war, denn ſie ging gebückt, und ihre Füße zitterten auf den breiken Stufen der Treppe, die ſie nie wieder betreken ſollke. 364 Dem Ende entgegen. Rordwärks von Königsberg führk die Chauſſee durch ein Land, das ſich glakk wie ein Tiſchtuch bis zum Kuriſchen Haff erſtreckk. Wogende Kornfelder, grüne Wieſen, ſoweik das Auge reicht, nur hie und da von ſchmalen Waldſkreifen unkerbrochen, deren Eichen ihre knorrigen, zackigen Aſte in tauſend abenkeuerlichen Formen nach allen Richkungen der Windroſe recken — ein Zeichen all der Skürme, mit denen ſie um ihr Leben kämpfen mußken. Rach ein paar Stunden glakker Fahrk, vorüber an ſtrohgedeckten Häuschen und großen. ſchmuhigen, lärmenden Eneipen, wendek der Weg ſich nach links. Dicke, kurzgeſchnitkene Weidenſkämme, deren lichke junge Kronen ſo drollig wirken wie blondes Lockengewirr über einem runzligen Greiſengeſicht, faſſen ihn zu beiden Seiken ein. Über die kief⸗ gefahrenen harken Geleiſe holperk der Wagen, während das junge, un⸗ ruhige Viergeſpann, die Rähe des Skalles witkernd, weiter ausgreifk. In eine breike Allee, über die ſich uralte Linden zu lebendigem Dome wölben, ſchwere Duftwellen ringsum verbreitend, mündek der Weg. Und durch ein Tor, von dicken Skeinmauern flankierk, die, aus un⸗ behauenen Blöcken, wie von Iyklopenhänden aufgerichtek erſcheinen und das Ganze einer Feſtung ähnlich machen, gehk es hinein auf den breiten, vom Reichtum ſeiner Beſitzer Zeugnis ablegenden Guks⸗ hof von Lablacken. Ringsum langgeſkreckke, maſſive Ställe, auf die, von der Weide kommend, die vierbeinigen Bewohner gemächlich zu⸗ ſchreiken: die ſchwarz⸗weiß gefleckten Kinder von der einen Seite, die ſich ängſtlich zuſammendrängende Herde der Schafe von der anderen, und ſchließlich in hellem Galopp unker fröhlichem Wiehern der Trupp der jungen Pferde, deren ſchmale Feſſeln und ſchlanke Hälſe von ihrer edlen Abſtammung Zeugnis ablegen. Am Herrenhaus, das nur eine niedrige Mauer und ein paar himmelhohe Pappeln vom Gutshof krennen, müſſen ſie alle vorüber. Ein ſelkſames Haus iſt es: 365 Jahrhunderke haben an ihm gebauk, ohne Rückſichk auf Stil und Schönheik, nur beſkrebk, Platz zu ſchaffen für die mik dem Wohlſtand ſkeigenden Bedürfniſſe der Bewohner. Im Grunde ſind es drei im Halbkreis aneinandergereihte zweiſtöckige Gebäude; über jedem der Tore prangk ein in Skein gehauenes Wappenſchild, das derer von Öſkau und von Wnuk und zulehk das der Guſtedts: die drei eifernen Reſſelhaken im goldenen Felde. Der Mikkelbau enthälk die Ein⸗ gangshalle: Elchfelle auf dem Boden, Elchgeweihe an den Wänden, ſchwere, alke Eichenſeſſel, Tiſche und Schränke als Einrichkung, da⸗ zwiſchen als einzige helle Flecke in dem dämmerigen Kaum ein paar Rikkerrüſtungen, auf denen das Licht in weißen Reflexen ſpielk. Ju beiden Seiken ſteigk im hinkergrund die dunkle, braune Treppe empor, nur geradeaus, wo die große, gedeckte Veranda nach dem Park mündek, ſchimmerk das Grün der hohen Linden herein. Faſt endlos, ſo ſcheink es, iſt die Fluchk der Zimmer, die ſich oben und unken, von Fluren, Treppen und Winkeln vielfach unkerbrochen, rechts und links durch die langgeſtreckten häuſer ziehen. Alle Zeiken, alle Skile ſpiegeln ſich ab in ihnen: verblaßte Rokokoſkühlchen, von deren alker Prachk nur noch flüchtige Reſte von Vergoldung zeugen, mächtige Truhen und Schränke, die einſt den ſelbſtgeſponnenen und gewebken Leinenſchatz der Hausfrau bargen, ſteife, feierliche Empire⸗ möbel mik Bronzebeſchlägen und gelbem Seidenbezug, und die ehrbar⸗ gemüklichen Biedermeierkommoden, Servanken und breiken, ſchwer⸗ fälligen Sofas aus der Großväkerzeik erinnern an die Generakionen, die hier geboren wurden, arbeikeken, lebten und ſtarben. Auch am lichkeſken Sommertage iſt alles wie von graugrünen Schleiern um⸗ hüllk, und ein Geruch, wie von feuchkem, welkem herbſtlaub durch⸗ ſkrömk die Räume, denn dichk um das haus ſkehen alke Pappeln und Linden, ſo daß ihre riſſigen Skämme die Mauern berühren, ihre Aſte an die Fenſter klopfen, ihre Kronen ſich über das Dach hinweg grüßen. Ju ebener Erde, im Eßſaal, vor deſſen breiter Glaskür 366 die älteſte der Linden Wache hält, hängen ringsum dunkelgerahmte Bilder an den Wänden: Männer mit dem Lockenhaupk des großen Kurfürſten, mik Allongeperücken und Galanteriedegen, mik dem ſkeifen Jopf des großen Friedrich, im braunen Wertherfrack oder mit hohen Vakermördern — alte und junge, harke, finſtere, und fröhliche, weiche Geſichker, ohne einen gemeinſamen Zug darin, der darauf deuten ließe, daß ſie eines Geſchlechtes wären — und zwiſchen ihnen die Frauen, ſolche mit dichker Haube und glakk geſcheikelkem Haar, die Arme verſchränkt unker der züchtig bedeckten Bruſt, oder die Hände, das weiße Tüchlein haltend, gekreuzt über dem Leib, und ſolche mit ge⸗ pudertem Köpfchen, hochgeſchnürtem Buſen und enger Taille, oder im klaſſiſch friſierten Lockengewirr und tief ausgeſchnitkenem Empire⸗ gewand — alte und junge auch unter ihnen, und doch alle einander ähnlich, wie Schweſtern. Es iſt des Hauſes ſelkſam geheimnisvolles Schickſal, das aus dieſen Bildern ſprichk: Schon lange, lange iſt es her, daß hier nur Mädchen geboren wurden, daß der alte Beſihz ſich vererbte von Tochker zu Tochker, mik den Ramen ihrer Gatken den Ramen des Beſitzers wechſelnd. Und eine dieſer Frauen, aus deren kotblaſfem Geſicht ein paar dunkle Augen feindſelig funkeln, hak, ſo erzählt man, von irgend einem finſkeren Geheimnis belaſtek, keine Ruhe gefunden im Grabe; mik hohen Stöckelſchuhen geht ſie allnächtlich durchs Haus, und das Klappern ihrer Trikte, das Kauſchen ihrer ſeidenen Röcke, die tiefen, ſchweren Seufzer, die ſie ausſkößk, will ſchon manch Einer gehörk haben, wenn der Sturm, vom Kuriſchen Haff herüber brau⸗ ſend, draußen heulte und pfiff, und die alten Baumäſte knarrten, und die Bläkker an die Fenſter ſchlugen. Auch die Buchenallee im Park, die vor hunderk jahren ein zierlich beſchnikkener Laubengang war, ſoll ſie zuweilen auf⸗ und niedergehen. Vielleichk war ſie es, die dieſe Bäume, die die geraden Wege mit den Blumenrabatken zu beiden Seiten anlegen ließ, und die undurchdringlich dichten 367 Lauben von Flieder und Jasmin! Einer der Wege durchſchneidet den großen Garken von Oſten nach Weſten. Wo er beginnk und wo er aufhörk, iſt die Mauer von einem hohen hölzernen Bogen⸗ fenſter unterbrochen. Wer abends durch das eine gen Weſten hin⸗ ausſchauk, der ſieht, wie jenſeiks der Felder und Wieſen am äußerſten Horizonk der rote Sonnenball in den grauen Fluten des Kuriſchen Haffs verſinkk, und wer durch das andere am frühen Morgen die Blicke ſchweifen läßt, den ſoll auch der dämmernde junge Tag an das Scheiden gemahnen, denn hinker dem fernen Kirchkurm von Legikten, unker dem die Toten von Lablacken begraben werden, ſteigk er auf. — — — hier war es, wo ſenny Guſtedk ihres Lebens lehte Stakion ge⸗ funden hatke. In der geräumigen Wohnung des Erdgeſchoſſes von einem der drei Häuſer richkeke ſie ſich in alker, vertrauker Weiſe ein. Ihr zuliebe — denn Lufk und Licht war ihr ein Lebensbedürfnis — ließ ihr Sohn zwei der großen, beſchatkenden Bäume vor ihren Fenſtern fällen, ſo daß die Sonne von allen Seiten freien Zukrikk hatke. Monakelang verſammelken ſich jeden Sommer ihre Kinder und Enkel um ſie, und da die Gaſtfreundlichkeik ihres Sohnes und ihrer Schwieger⸗ fochker keine Grenzen kannke, ſo war in der ſchönen Jahreszeik für ſie faſt zu viel der Unruhe, der ſie freilich durch ein mik dem zu⸗ nehmenden Alker immer häufigeres Zurückziehen in ihre ſtillen Stuben entgehen konnke. Die fremden Gäſte brachken ihr auch allzu wenig, denn ſo ſehr ſie ſich fröhlicher Jugend freuke und für harmloſen Wit ein heiteres Verſtändnis beſaß, ſo verkrug ſie doch ſchwer den herrſchenden Ton der dortigen Geſellſchafk. Die Signakur ihrer Unker⸗ halkung war die Oberflächlichkeik; man hätke faſt ein ſkillſchweigendes Übereinkommen aller vermuken ſollen, durch die jede Verkiefung eines Geſprächs verhinderk wurde. Meiner Großmutker Auffaſſung, wo⸗ nach Vornehmheik Ruhe iſt, erſchien hier in ihrer Karikatur: man war ruhig, weil man ſorgfältig alles zu berühren vermied, was 368 Uneinigkeik und damik Unruhe häkke hervorrufen können. Seine tiefſten Gedanken, ſeine eigenſten Sorgen behielk ein jeder für ſich. Durch Reiken und Kutſchieren, durch Jagd und Segelfahrk und durch den oſtpreußiſchen Rationalfehler langer und häufiger Mahlzeiken war der Tag für die Gäſte ausgefüllk; um geſellſchafklichen und nachbarlichen Klatſch drehte ſich die allgemeine Unkerhalkung; kam das Geſpräch auf politiſche Fragen, ſo wurde es ausſchließlich eins der in der Hauptſache — in ihrer parkeipolitiſchen Skellung dazu — von vornherein einigen Männer. Auch der beſte, naheliegendſte Anknüpfungspunkk zur Enkwicklung kieferer Intereſſen, die praktiſchen Fragen der Landwirkſchafk, bildeken das Sondergebiek des Gutsherrn, für das er ein ernſteres Verſtändnis bei anderen weder vorausſetzke, noch zu wünſchen ſchien. Selbſt ſeiner Mutker, die ſeine Pläne und ſeine Tätigkeik, zwiſchen Freude und Sorge ſchwankend, verfolgke, gewährte ſeine Zurückhaltung nichk den Einblick, den ſie ſich ſo dringend gewünſchk häkte. Das ſchöne große Guk, ein kleines Fürſtenkum nach mikkeldeukſchen Begriffen, bok dem kätigen Landwirk die größken, abwechſelungs⸗ reichſten Aufgaben. So hatke es ſeik Menſchengedenken durch die Überſchwemmungen der Waſſer des Kuriſchen Haffs zu leiden gehabk; Felder, Wieſen und Weiden waren ſo und ſo oft auf jahre hinaus dadurch ihres Wertes beraubt worden. Zetzk erhoben ſich unker der Leitung des neuen Beſitzers allmählich Dämme und Deiche gegen die anſtürmenden Wogen, und Kanäle durchzogen nach allen Rich⸗ kungen hin die Felder, ſo daß ganze Strecken ſumpfigen Landes in üppige Wieſen verwandelk wurden. Der Wald, deſſen uralker Baum⸗ beſtand und deſſen Bewohner, die rieſigen Elche, an jene dunkle Ver⸗ zeik erinnerken, wo noch kein menſchlicher Fuß die öde Wildnis des Samlandes bekrak, wurde allmählich lichk und ſchön. Das Haff, das bisher nur wenigen armen Fiſchern kärgliche Rahrung geboken hatke und allen wie ein finſterer Feind erſchien, in deſſen unergründlicher Im Schatken der Titanen. 24 369 Tiefe die letzke der heidniſchen Göttinnen, Reringa, die Rieſin, hauſte, Jahr um ahr Skeinblöcke emporſchleudernd, um die Menſchen zu verderben, wurde nicht nur zu einem fröhlichen Tummelplatz für die elegante ſachk des Gebieters, auch ein feſter Hafen wurde gebaut, wo die Fiſcher Zuflucht fanden und wo allmählich mehr und mehr große Kähne landeken, um den Reichkum an Skeinen zu verfrachken. Alljährlich hatte der Landmann die ſelkſamen, immer wieder neu aufkauchenden erratiſchen Blöcke beim Beſkellen der Felder ſprengen und ſammeln müſſen, hakte überall, nur um ſie beiſeike zu ſchaffen, breite Mauern aufgeſchichtek; jetzk fuhr eine Feldeiſenbahn ſie zum Hafen, und ſie wurden zur Quelle reicher Einnahmen. Die Vermehrung der Wieſen und ihres Erkrags führke zu einer Ver⸗ größerung und Moderniſierung der Milchwirkſchafk. Für alle Ge⸗ bieke der Candwirkſchafk wurden neue Maſchinen aller Ark angeſchafft und, als einer der erſten, der den Verſuch wagte, wurden in Haus und Guk kelephoniſche Verbindungen angelegt. Aber neben dieſen großen praktiſchen Reformen ſteigerten ſich die Luxusbedürfniſſe: Der alkmodiſche Garten, mit ſeinen Georginen und Malvengängen, ſeinen verwachſenen Lauben und verſumpfken Teichen wurde in einen engliſchen Park verwandelt, das Haus wurde vielfach erweitert, die alten Möbel wanderten in die Fremdenzimmer und machten neuen Plahz; die Zahl der Reik⸗ und Wagenpferde vermehrke ſich, eine koſtbare Pferdezucht, eine Faſanerie wurde eingerichtek — kurz wenn ſich die Mutker auf der einen Seite der raſtloſen landwirtſchafk⸗ lichen Tätigkeik ihres Sohnes freute, ſo wuchſen auf der anderen ihre Sorgen. Rach einem langen Aufenthalk bei ihr ſchrieb ſie mir: „Als der Wagen, der mein beſtes, geliebtes Kind und ihre zwei krautſten Töchter auf lange enkführte, verſchwunden war, ging ich wie im Traum in meine Skube und ſammelke meine Gedanken und Gefühle. Mein großmütterliches Herz war überfließend weich, als ich mit Rührung 370 die 5 Monate an mir vorübergehen ließ, in der mein liebes Enkel⸗ kind mir nur noch mehr ans Herz wuchs . . . Ruhe und Friede iſt um mich, auch treue, gute kindliche Liebe. Wer aber kürzlich doppelk ſo viel beſaß, muß ſich erſt an Herzensgenügſamkeik ge⸗ wöhnen, um ſo mehr, als ich mir auch wieder das Schweigen an⸗ gewöhnen muß über all die vielen Dinge, die wir, mein Lilychen, miteinander beredeken . .. Ich bekomme von allen Freunden Kondo⸗ lenzbriefe über meine bevorſtehende Einſamkeik, wenn Werners ihren Winkeraufenthalk in Königsberg nehmen, aber ich empfinde ſie doch nur an ſolchen Tagen ernſt, wo meine Augen zur Schonung mahnen und Freundſchafksſtündchen wie in Weimar wohlkätig wären. Ich habe aber Gokk Lob eine Virtuoſikäk, in Gedanken und Briefen mit meinen Lieben in der Ferne weiter zu leben, und mein Körper be⸗ darf immer mehr der Ruhe und Einförmigkeik, ſo daß ich den Winker nichk allzuſehr fürchke.“ In einem anderen Briefe heißt es: „Werners fahren dieſe Woche zum Rennen, da ihre pferde bekeiligt ſind. Auch dieſe Sache hat nichk meine Billigung, doch mache ich meinen Tadel nicht breit, wenn ich weiß, daß er nichks nützk. Hier ſind in dieſem Jahr un⸗ geheure Arbeiken gemacht worden, Gotk ſegne ſie und laſſe aus dem Ueberſtürzen keine Sorgen entſtehen und aus der zu vielen Arbeik keine Abſpannung für meinen lieben Sohn. Er iſt jetzk ofk recht hypochonder, was bei dem vielen Regen, der Erſchwerung der Kanalarbeiten, den ſich mehrenden Laſten durch Verwöhnungen und der vollkommenen Unfähigkeik, ſich einzuſchränken, mich nicht Wunder nimmt. Seine Frau hak es dann um ſo leichter, ihm ihre Abneigung gegen das Candleben — das herrliche, ſegensreiche, natürliche Land⸗ leben! — einzuimpfen und ihm den Aufenthalt in Königsberg oder Berlin als viel angenehmer erſcheinen zu laſſen. Und dann wundern ſich die Gutsbeſitzer, wenn ihre Arbeiker demſelben Jug nach der Stadt folgen! . . . 24* 371 Einem Brief des folgenden Jahres entnehme ich dieſe Zeilen: „Mein Werner war drei Tage hier. Sie könnken ſo ſchön ſein, wenn die Fluk unangenehmer Geſchäfke ihn nicht immer unker Waſſer brächke und die Sorgen ihn mir gegenüber nicht ſo verſchloſſen machken, daß ihn ſelbſt mein ſtilles ängſtliches Leſen in ſeinen müden Zügen nervös machk. Dabei immer neue Pläne und Wünſche, die er be⸗ friedigen ſoll, unaufhörliche Anſprüche an Amüſemenks, wo doch hier aus der käglichen Erfüllung der Pflichten ein ſo tiefes, reiches Glück blühen könnte, vor dem jedes Vergnügen nichts iſt als ein Rauſch, aus dem man krank erwachk ... Glück ſuchen die lieben Beiden, d. h. ſkeke Erfüllung ihrer Wünſche, und es iſt doch ſo leicht zu ſehen, daß auf Erden nichks darauf eingerichkek iſt. Im alltäg⸗ lichen Leben kommk ähnliches Erkennen ſo ganz von ſelbſt, z. B. eine Schulſkube nicht für ein Theater, eine Scheune nicht für einen Ballſaal zu halken, ſie ſind eben nicht darauf eingerichtek. Aan ſollke das Leben gleich klar und kapfer und freudig nehmen als das, was es iſt: als Schule, Schule mit Freiſtunden, Sonnkagen, Ferien, aber immer Schule. Es giebk ſelken Schüler, die die Schule lieben, aber alle lieben das Gelernte ... Rimm dir kein Beiſpiel, mein Lilychen, an dem Styl dieſes Briefes, der meinen alken franzöſiſchen Profeſſor noch im Grabe ängſtigen könnte: ein Brief, ſagke er, muß wie ein Bächlein fließen, das kauſend kleine Wellen hat, aber nur einen Lauf. Ein Thema muß unweigerlich aus dem andern ſich enkwickeln, ohne daß der Faden verloren geht! . . . Zu den Sorgen um die Kinder und ihr Ergehen kamen die um die Enkel hinzu: da war der Sohn ihres armen Älkeſten, der nicht recht fork⸗ zukommen vermochke in der Welk, da war das Töchkerchen ihres jüngſten — wieder ein Mädchen, ein einziges, das unker Lablackens Dach geboren worden war —, deſſen Leiden eine langwierige Kur nokwendig machte, an deren Erfolg die Großmukter nichk glauben konnke, da war meine ſchwere Erkrankung, die mich ein paar Jugendjahre koſteke. 372 „Ich wache jetzk regelmäßig im Morgengrauen mit ſtarkem Herz⸗ klopfen auf,“ ſchrieb ſie damals, „wobei alle meine Angſt um Kinder und Enkel mir rechk lebendig wird. Dann wird es recht ſchwer, den kategoriſchen Imperativ, den ich am Tage zu meinen Pflichten ſtelle: Sorgek nicht! zu erfüllen. Menſchliche und Herzensgründe habe ich wohl nach allen Seiken hin: hier die durch überwältigende Laſten eines Luxuslebens geſteigerten landwirkſchaftlichen Röte, die auch meines lieben Sohnes Geſundheik erſchükkern, dazu der Stoizismus des Schweigens über die Dinge, die man glaubk, nicht ändern zu können oder die man nichk ändern will, und der allmählig bei meinen Kindern zur Verkehrskradition geworden iſt. Und bei Okkos die Exiſtenz auf einem Aſt, der ſie widerwillig krägt, bei ihm wie bei Werner Gedankenwechſel auf eine große Zukunfk, bei denen die Millionen in der Lufk hängen — das iſt, mein Lilychen, nichtk die Art deiner alten ſoliden rechtlichen Großmutker, aber leider die Ark der Zeik und die Ark unſerer Geſellſchafk, die ſich ſelbſt ihr Grab gräbk . . . Die Verkrauensfähigkeit iſt bei mir zu ſehr ausgegangen, als daß ich mik hoffen könnte . . .“ Ich befand mich damals, als die Krankheik mir Zeik zum Grübeln ließ, in jenem inneren Konflikt, den viele Mädchen unſerer Kreiſe, die nichk im oberflächlichen Genußleben aufzugehen vermögen und weder einen ernſten Beruf haben noch heiraten wollen ohne Ciebe, durchkämpfen müſſen. Als ich einmal wieder in Lablacken war, erriek meine Großmukter mehr, was mich quälke, als daß ich es ver⸗ raten hätke — zum „Stoizismus des Schweigens“ war auch ich dreſſierk worden. Es kam zu ernſten Ausſprachen zwiſchen uns, und was ſie ſagke, gipfelke immer in dem Rak: ſchaffe dir durch dein Talenk ſo viel innere und äußere Selbſtändigkeik, um nicht heiraten zu müſſen! Hie regte mich mündlich und brieflich immer wieder zu ſchriftſtelleri⸗ ſcher Arbeik an, bat mich, ihr alles zu ſchicken, was ich geſchrieben hatke, „du brauchſt dich dabei vor mir nicht zu fürchten, mein geliebkes 373 Herzenskind,“ ſchrieb ſie, „höchſtens binde ich einige zu üppige Schling⸗ pflanzen deiner Phankaſie an, damit der Sturm ſie nicht zerzauſt. „Entſchließe dich“, heißk es in einem anderen Brief, „nichk zu einer Heirat, weil irgend jemand dir zuredek, oder etwa gar aus Mitleid mit einem Kurmacher — das iſt ſchon das allerdümmſte! — oder weil du fürchkeſt, zu alt zu werden.,Glaube feſt, daß die ſpäken Heiraten die beſten ſind. zunge Eheleuke enkwickeln ſich faſt immer auseinander, und da Scheidungen, ſo nokwendig ſie ofk ſein mögen, immer ein Ge⸗ folge ſchwerer Schmerzen und Bitterkeiken nach ſich ziehen, ſo iſt es beſſer, zu warken, bis der reife Verſtand, das reife Herz ihre Wahl treffen.“, Ein paar ſahrzehnte früher hakte ſenny Guſkedt im Hinblick auf Cewes' und George Sands Apoſtelſchafk für freie Ehen noch geſchrieben: „Ich betrachke die Ehe in ihrer Heiligkeik und Unauflösbarkeit als einen Hebel des Göttlichen, uls die Stütze wahrer Reinheik und Liebe, als Schuhz und Schirm von Frauenehre und Frauenkugend, als das feſteſte Band bürgerlicher Ordnung und geſelliger Anmuth. Dieſe außerehelichen Verhältniſſe, auch bei edleren Rakuren, laſſen immer in Kampf und Irrgängen mik der Welk und mit ſich ſelbſt, ſie kragen das Gepräge des ſelbſtgemachten Geſchickes, ſie werden nichk wie ein Gegebenes feſt und demüthig hingenommen, weil ſie eben lösbar ſind und dem Menſchen den Verſuch geſtatten, einen Mißgriff durch einen zweiken und drikken Mißgriff zu verbeſſern. Es iſt deshalb nicht genug zu bekonen, wie groß Goethes Charakter ſich zeigte, als er ſich gerade mik der alternden Geliebten ehelich verband und ſich ſelbſt damik befahl: Sie iſt dir gegeben, bleibe ihr kreu! Wir kommen ſchnell dahin, welkliche Stellungen und Verhälk⸗ niſſe als etwas Gegebenes anzunehmen, uns ihnen in Treue und Demuth anzupaſſen, und wir ſollken vor allen Dingen Menſchen als Gegebene bekrachken und uns dahin erziehen, wie Goethe es that, uns, unſer Glück und unſer ganzes Weſen ſo zu bilden, daß wir 374 damik an keinem der uns gegebenen Menſchen Schiffbruch leiden. Von den Verhälkniſſen zu Elkern und Geſchwiſtern wird dies noch eher eingeſehen, bei der Ehe wird es ſo ſelken und ſo ſpäk ver⸗ ſtanden, weil man ſich einbildek, den Mann oder die Frau gewählt und nichk empfangen zu haben. Wer hat aber je die und vollends den Gewählken im engſten Zuſammenleben wiedergefunden? Beſſer — ſchlimmer — jedenfalls anders und dem echken Menſchen — ich erinnere wieder an Goethe — muß es dann ſo recht ſein, er muß dem Gegebenen halken, was er dem Gewählken verſprach.“ Und ſie hatke, als man ſie auf die vielen unglücklichen Ehen verwies, geſagk: „Ich bin krotz alledem ein Advokat der Ehe, die doch, krotz Wenn und Aber und Ach und Leider, das beſte iſt, was man wählen kann.“ Jetzk, auf der Höhe ihrer Lebenserfahrung, ſchrieb ſie mir: „Ich habe meine alken Anſichken vielfach modifiziert, nachdem ich Menſchen kennen lernte, die nichts zuſammenhielk als ihre kreue Liebe, und Ehen ſah, die auch vom ſkrengſten chriſklichen Skandpunkk aus nicht aufrecht erhalken werden durfken, ohne die ſittliche Berderbniß von Elkern und Kindern nach ſich zu ziehen. Auch die unbedingke Empfehlung der Ehe vermag ich nicht mehr aufrechk zu erhalken. jedenfalls ſollte ſie nichk wie bisher als ein⸗ ziger Beruf des Weibes aufgefaßk werden; das Reſulkak davon iſt auf der einen Seike die Tragik der beſchäftigungsloſen alken Jungfer, die vergebens auf die Ehe gewartek hat, auf der anderen die oft noch größere der Frau, die den Gatken verlor, die Kinder fortgeben mußte und nun verzweifelnd vor einem leeren Leben ſteht. Darum mag Dir beſcheerk ſein, was da will, ſichere Dir auf alle Fälle den inneren Schatz, den der Roſt und die Motten nicht freſſen und der unker allen Umſtänden die reichſten Zinſen krägk . . . Ich möchte Dir gerne dabei behülflich ſein und kann es nicht in dem Maß, wie ich möchke. Mir fehlk leider gute Lekküre, wie ſie mir in Weimar von allen Seiken zufloß. Ich ſcheue die Anſchaffungskoſten werk⸗ 375 voller Werke, und was Werners aus der Leihbibliothek kommen laſſen, iſt zwar ein Zweig der Litkeratur, den ich bisher zu gering ſchätzte — Tendenzromane und Hitkennovellen — und der manches Guke und Belehrende bringk, aber doch nur für ein Publikum, das es in anderer Form nichk annehmen mag. In meinen ſtillen Skunden würde ich mich noch gern mik Ueberſetzen beſchäftigen, da das Selbſtproduzieren, wozu ich früher Kräfke hatke und keine Zeit, und jetzk Zeik habe und keine Kräfke, doch nicht mehr mik 73 Jahren in Angriff genommen werden kann; aber auch dazu fehlk Gelegen⸗ heik und Material . . . Es war die geiſtige Einſamkeik, die ihr dann am drückendſten fühlbar wurde, wenn ſie unker Menſchen war. Sie empfand, was Goethe ausſprach, der bis in ſeine letzten Lebensjahre ein freudig Empfangender blieb und darum als Gebender ſo überſchwenglich reich ſein konnte: „Wir ſind Alle kollektive Weſen . . . Wir müſſen empfangen und lernen, ſowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mik uns ſind. Selbſt das größte Genie würde nicht weik kommen, wenn es Alles ſeinem eigenen Innern verdanken wollte.“ Und wenn ſie auch niemals darüber ſprach, ſo mochte die Sehnſucht nach Weimar, das ihre Heimak war und blieb, doch oft ihr Herz mik ſtiller Wehmuk füllen. Die Liebe zu ihren Kindern hatte ſie fortgekrieben, aber was ſie ihnen von den Schätzen ihres Innern geben konnte, das galk ihnen nichts, und was ſie empfing, war nichk viel mehr als ein wenig pflichtmäßige Zärklichkeik, die einer Mutter galk, deren kiefſtes Weſen allen ihren Kindern fremd und unverſtändlich war. Wie ofk krampfte ſich mir das Herz zu⸗ ſammen, wenn ich ſah, wie ihre Gedanken und Empfindungen mik einer Ark nachſichtigen Mikleids belächelk wurden, wie ein ſpökkiſches Work über ihren „liederlichen“ Freund Goethe ſie verſkummen machke, welch beziehungsreiche Stille eintrat, wenn „die guke Mama“ von Seelenerfahrungen zu ſprechen verſuchen wollke. Rein, hier 376 fand ſie die Saiken nicht, aus denen ihr Spiel Töne hätte hervor⸗ locken können, hier war niemand, der für ihren nie verlöſchenden geiſtigen Durſt einen friſchen Trunk bereik hielk. Auch mik ihrer Ankeilnahme für das Wohl und Wehe der Guks⸗ inſaſſen, der Knechte und Mägde, der Inſtleuke und Dorfbewohner ſtand ſie allein. Hier geſchah nichks, das an jene umfaſſende Tätig⸗ keit erinnerke, die ſie in Garden und Roſenberg ausgeübk hatte. „Am Rokwendigſten fehlk es zwar nicht,“ ſchrieb ſie, „aber dafür am Freiwilligen vollſtändig, und es wird, fürchte ich, ſo lange daran fehlen, bis dies unterwürfige demütige Volk aufhören wird, den Rockſaum der Herrin und die Hand des Gebiekers zu küſſen, und fordern wird, was man ihm von ſelbſt nicht gab. Unendliches wäre hier zu leiſten: den armen elenden Weibern die notwendigſten Be⸗ griffe von Keinlichkeik und Haushalkung beizubringen, die Männer in ihren Feierſtunden mit unterhalkender und belehrender Lektüre zu verſorgen, ſtatk daß ſie im Krug alles Verdiente durch die Gurgel ſagen. Und was wäre Alles für die Kinder zu kun, bei denen über⸗ haupk jede Arbeik anzufangen hak! Sie wachſen buchſtäblich zwiſchen den Schweinen und im Skraßenkok auf, von klein an gewöhnk an die widerlichſten Eindrücke der Unzuchk und der Trunkenheik, und von der Schule, die für ſie der lichte Punkt des Lebens, der Aus⸗ gang von geiſtiger Erweckung, Sikklichkeik und Frohſinn ſein ſollke, erwarten ſie nichts als Prügel.“ Um den Wünſchen und Rak⸗ ſchlägen der Mutker in ekwas nachzugeben, richkeke ihr Sohn einen Kindergarken ein, für den eine ehemalige Krankenſchweſter als Leikerin gewonnen wurde. Meine Großmukker hatke die größte Freude an den vielen ſkrohgelben Kinderköpfchen, die ſich nun zu fröhlichem Spiel allkäglich verſammelken, und den ärmſten unter ihnen, den armen vaterloſen, wandte ſie wie immer ihr größtes Mikleid, ihre weiteſtgehende Sorgfalk zu. Es waren ihrer nicht wenige, denn uneheliche Geburten waren an der Tagesordnung, 377 Trunkſuchk und Roheik förderken ihre Vermehrung. Da gab es z. B. ein armſeliges Weib — Großmamas Hauptſchützling —, das als ganz junges Ding von ein paar Burſchen bekrunken gemacht und im Straßengraben vergewaltigt worden war; nachher hatten ſie ihr ein paar Eimer eiskalkes Waſſer über den Kopf gegoſſen, und als ſie zu ſich kam, war ſie halb gelähmk und blödſinnig. Sie er⸗ holke ſich ſo weik, um die Puken hüten und — faſt alljährlich ein neues elendes Würmchen in die Welk ſehen zu können. Der Kinder⸗ garken nahm ſie alle auf und brachte ein bißchen Sonnenſchein in das dunkle Leben der Kleinen, ekwas Freude in das graue Leben der Mukter. Wo ſie meine Großmukker ſah, den einzigen Menſchen, der ihr anders begegneke als mit Fluchen, Schelken und Spotken, humpelke ſie von weitem ſchon eilig auf ſie zu, um ihr die Hand zu küſſen; dabei huſchte über ihr blödes Geſicht ein ſeliges Lächeln, und ein Blick grenzenloſen Erbarmens ankworkete ihr aus den Augen ihrer Wohlkäkerin. Als aber nach einiger Zeik die fromme Schweſter, die Leikerin des Kindergartens, ihn ſelbſt um ein kleines, ſchreiendes Baby vermehrke, wurde krotz aller Gegenvorſtellungen meiner Groß⸗ mukker der Anlaß benützk, ihn aufzulöſen. „Du ſiehſt, wohin ſolche Senkimenkalikäten führen, dadurch wird die Unſittlichkeik nur unter⸗ ſtützk — die Leuke verdienen's eben nicht beſſer!“ hieß es, und die armen Kinder kamen wieder zurück in den Schmutz und das Elend des Elkernhauſes. Richk einmal die Schule, in der nur neue und andere Qualen ihrer warkeken, befreike ſie daraus. Der Anblick deſſen, was ſie dork erlikken, war ein neuer Anlaß für meine Groß⸗ mukter, um einzuſchreiken und hier wenigſtens ihren Willen ſoweit durchzuſetzen, daß der alke rohe Lehrer durch einen neuen erſetzt wurde. In einem ihrer Briefe darüber heißt es: „Es ſind Vereine gegen Tierquälerei enkſtanden — und ich be⸗ grüße ſie freudig — aber ruhig ſehen wir zu, wie die Kinder gequält werden, wie vor allem die ländlichen Schullehrer ihr Züchtigungsrecht 378 in unbarmherziger Weiſe gebrauchen. Zu Folkerkammern der Kinder werden die Schulen; der Lehrer verſuchk einzuprügeln, was ein armes, ſchlechk genährkes, ſchlechk begabtes Kind nichk begreifen kann, und nun, aus Angſt vor der Mißhandlung, erſt rechk nicht begreifk. Man ſprichk viel über die Fürſorge des Staakes für den armen Mann, läßk aber inzwiſchen ruhig des armen Kindes ohnehin recht graue Kindheik durch qualvolle Schuljahre vollends verbikkern. Es kommk bei jedem Wekker, ſchlechk bekleidek, ſchlechk genährk, erfroren, durchnäßt in die ſchlecht erwärmke enge Schule, wo beim geringſten Vergehen ſtrenge Skrafen ſeiner warken. Dabei muß es den Lehrern noch Garten⸗, Feld⸗ und andere Arbeik leiſten, zu Hauſe Aufgaben lernen und den armen Elkern nach Kräften helfen .. . Ich habe einen ſungen infolge der Ohrfeige eines Lehrers ſterben ſehen, einen anderen desgleichen, der bis Mitkernachk in Schweiß gebadek zitkernd ſein Penſum lernke, bis ein Gehirnſchlag ihn erlöſte. Ich habe die Bitke gehörk: Vakerchen, ſchneid mir die Haare nicht zu kurz, ſonſt kuk der Skock des Lehrers ſo weh! Oder: Mukterchen, nur heute noch laß mich zu hauſe, ich habe ſo große Angſt — und das von Kindern, deren arme Kathe nichks verlockendes für ſie hatte, für die eine freundliche Schule, ein froher Unkerrichk, ein gükiger Lehrer ein wahrer Cebensſonnenſchein ſein müßke; ich habe es geſehen und gehörk ein halbes Jahrhunderk nach Goethe, den man als unſeren größken Dichter preiſt, dem man Denkmäler errichtek, auf deſſen Ramen man Vereine gründek und der geſagk hak: Fröhlichkeik iſt die Mutker aller Tugenden.“ Wenn ſie ſich ſchon, ſoweik die Prügel⸗ ſkrafe der Kinder in Bekrachk kam, in ſchroffem Gegenſatz zu der all⸗ gemeinen Auffaſſung konſervativer Kreiſe befand, ſo noch entſchiedener in bezug auf die Ark in der Behandlung der Erwachſenen. Ich habe ſie ofk bebend und kotenblaß ſich zurückziehen ſehen, wenn ein Enecht oder ein Diener mik einer Ohrfeige kraktierk wurde und ſie doch nicht die Machk beſaß, es zu verhindern. „Ihr erzieht Sklaven, und aus 379 den Sklaven werden nokwendig Aufrührer,“ ſagke ſie, „während ihr Menſchen erziehen ſollkek, die nur in Liebe folgen.“ Sie ſelbſt emp⸗ fand allen Untergebenen gegenüber „ein inſtinktives Schuldbewußtſein, ein Gefühl der Scham, wenn ich in bequemem Wagen an ihren ſchmutigen Hütten vorüberfuhr. Ich habe immer verſucht, durch beſondere Güte, Rückſichk und Liebe dieſe Schuld abzutragen, aber mik dem Alker iſk das peinigende Gefühl nur immer drückender ge⸗ worden. Warum biſt Du nichk die alte Frau, die auf dem Feld Rüben ziehk oder mik der Holzkiepe auf dem Rücken nach Hauſe wankt, um dort noch von der Ungeduld, der Armuk und Liebloſigkeik ihrer Kinder empfangen zu werden — frage ich mich immer wieder, und die rätſelvollen Beziehungen zwiſchen Schuld und Unglück werden nur immer dunkler. Erfahre ich, wie Millionen und Abermillionen Jahr aus, Jahr ein im Schweiße ihres Angeſichks die widerwärtigſte Arbeik verrichten und kaum das nackte Leben dafür haben, während Andere, nichk weil ſie beſſer, ſondern nur weil ſie glücklicher find, im bequemen Lehnſtuhl Kupons ſchneiden, ſo verdunkelk ſich das Auge meiner Seele nur zu ofk und vermag den allgütigen Vaker im Himmel nichk mehr zu erkennen.“ Mikleid, auch in dieſer höchſten Skeigerung, mik dem Unglück zu haben, iſt eine Empfindung, die ſie mik anderen weichen Herzen keilke, aber bei ihr erſchöpfke ſie ſich weder in bloßen ſentimenkalen Ge⸗ fühlen, ſie löſte vielmehr auf der einen Seite ſteks eine eingehende Überlegung über die Maßnahmen zur Abhilfe des Unglücks aus und ſteigerte ſich auf der anderen nicht zur Verdammung, ſondern zu tiefſtem Mikleid mik der Schuld. Englands ſozialpolikiſche Geſetz⸗ gebung, ebenſo wie die Selbſthilfe der engliſchen Arbeiker durch Gewerkſchafken und Genoſſenſchafken, über die ſie durch ihre Kor⸗ reſpondenz mik ihrem Freunde Hamilkon genau orientierk war, er⸗ ſchienen ihr vorbildlich. „Das Bedürfniß,“ ſo ſchrieb ſie mir einmal, „das große Kreiſe der Beſihloſen jetzk nach beſſeren Cebensbedingungen 380 empfinden, iſt der klarſte Beweis für ihren geiſtigen Forkſchritt. Verurkeilk, in ihrem Elend zu verharren, ſind eigenklich nur die ganz Stumpfſinnigen, die ſich, wie die Verblödeten im Schmuh, darin wohl fühlen.“ Sie ſkand mit ihrer Auffaſſung im Kreiſe Lablackens ziem⸗ lich allein, und jede Roheik, jede Gemeinheik, die unter den Arbeitern oder den Inſkleuten zutage krat, wurde als Gegenbeweis benutzt. Ich erinnere mich, wie ſie z. B. einmal ihrer Enkrüſtung über die ſich wiederholenden ſchamloſen Vergewaltigungen ihres Schützlings, der armen Lahmen, lebhafken Ausdruck gab und man ihr ſagke: „Und dieſen Leuten, die Du ſo verdammſt, glaubſt Du eine höhere Kultur zuführen zu können? Verlangſt für dieſe gemeine Bande alle möglichen Arbeiks⸗ und Lebenserleichterungen? Verkeidigſt es ſogar, daß ein ſo elender, beſoffener Kerl daſſelbe Wahlrechk hak wie ein gebildeter Mann?“ Hie aber erwiderke darauf: „Seid ihr vielleichk ſteks dieſelben geweſen, die ihr heute ſeid? Seid ihr und euresgleichen nichk auch vor Jahrhunderken aus ſolch phyſiſcher und moraliſcher Vertierkheit aufgeſtiegen? Daß es bei euch um ſo viel früher geſchah, iſt nicht euer Verdienſt, ſondern Goktes Gnade, die euch nun die Verpflichtung auferlegt, den Anderen, Zurückgebliebenen herauszuhelfen. Und was das Wahlrechk betriffk, ſo iſt, wenn ſein Beſitz von ſittlicher Wertung abhängen ſoll, der arme rohe Trunkenbold deſſen noch immer würdiger als der reiche und vornehme Mann, deſſen Körper, Geiſt und Seele die Jahrhunderte bildeten, und der doch ſein größtes Vergnügen im Saufen, Spielen, Pferde⸗ und Leuteſchinden und Mädchenverführen findek.“ Ihre Entrüſtung über Gemeinheit und Ungerechtigkeik ihrer Standesgenoſſen löſte aus der ſonſt ſo milden, ſanfken Frau zuweilen eine ſo große Erregung aus, daß die ur⸗ ſprüngliche, durch Erziehung und Leben gebändigke Leidenſchafk ihrer Ratur dabei wieder zum Vorſchein kam. „Wenn der Adel, nachdem die alte Welk zerkrümmerk iſt, nichk die Bauſteine krägk zur neuen, ſo iſt er ſelbſt Schuld daran, wenn er Ruine bleibk und allmählich 381 ganz verſchwindek,“ ſchrieb ſie. „Adlig ſein heißk eine adlige Geſin⸗ nung haben,“ heißk es an anderer Stelle, „und ſie iſt zugleich die chriſtliche; ſie verbietek üppiges Leben, Schulden machen, über die Verhälkniſſe hinauswollen, die Armen und Abhängigen verlehen und ausnutzen . . . Wenn ein Leutnank für dreißig Mark dinierk und fünfzehnhunderk Mark verſpielk, deſſen Vaker ſich ſein gewohnkes Glas Bier verſagk, deſſen Mukker ſtirbk, weil ſie keine Badereiſe an ſich wenden kann, deſſen Schweſter eine widerliche Geldheirat macht, um die Familie zu retten, ſo iſt das ein größeres Verbrechen, als wenn ein armer Kerl einem reichen Mann das Porkemonnaie aus der Taſche ziehk . ..“ „Ihr enkrüſtek Euch“, ſchrieb ſie ein anderes Mal, „über die zunehmende Unzufriedenheik, über die wachſenden Lebens⸗ anſprüche der Armen, ſtakk über den Grad ihrer bisherigen Ju⸗ friedenheik zu ſtaunen und Euch über Euch ſelbſt zu entſetzen, die ihr im Beſitz aller höchſten Güker der Welk doch noch immer un⸗ glücklich ſeid. Was iſt unglücklich in Euch? Reid, Genußſuchk, Geldgier, gekränkte Eitelkeik — ach, wenn ſie doch vor lauker Unglück ſkerben wollken! . .. Ihr ſeid mit Allem unzufrieden, außer mit Euch ſelbſt, kehrk die Sache um und ſeid mit Allem zufrieden, außer mit Euch ſelbſt! Lernt das Beichtgebek der katholiſchen Kirche, aber nichk nur mik den Worken, ſondern mik dem Herzen: mein iſt die Schuld, mein iſt die große Schuld —, ſkatk daß Ihr die Schuld nur immer auf Andere ſchiebk. Ihr habt Euch entwickelt, habk Euch genährt, habk die Kulkur der Welk für Euch allein in Anſpruch genommen, während die Anderen, die ſtillen, dunklen, demütigen Maſſen im Schweiße ihres Angeſichks für Euch arbeikeken, und Euch noch die Hände küßken, wenn ein gnädiges Lächeln ſie dafür belohnte. Jeht iſt ihre Zeik gekommen, und wenn ſie mit Gewalk und Verbrechen prokeſtieren gegen die lange Leidensnacht, ſo iſt Euer die Schuld.“ Eine andere Bariation desſelben Standpunkts war es, wenn ſie gegenüder dem zunehmenden Antſemiliemus ihrer Kreiſe die Juden 382 verkeidigte. „Ich keile den Haß gegen die jüdiſchen Geſinnungen,“ ſchrieb ſie, „nur daß ich das „jüdiſch“ als Eigenſchafkswork für unſere Zeik und nichk blos für die zuden anſehe. Wenn heuke alle fuden verſchwänden, blieben unzählige Chriſten aller Rationen, um den jüdiſchen Geiſt fortzuſetzen. Wenn der Urſprung dieſer Geſinnung den Juden nicht ganz, aber vielfach zur Laſt fällk, ſo müſſen wir nichk vergeſſen, daß die Folgen von Druck, Qual, Mißhandlungen während vieler hunderk fahre nichk durch Emancipakion von einem halben Jahrhunderk ausgeglichen werden können und ein mehr als tauſendjähriger Haß ſich nicht in fünfzig Jahren verwiſchk. Daß ſie ohne Vaterland eine compacke Ration geblieben ſind, gereichk ihnen zum Ruhm, uns Ramenchriſken aber zum Vorwurf. Im Eifer für ihre Idee leugnen die Antiſemiken faſt die Geſchichte, ignoriren Folkern, Judengäßchen, Judenſteuern, Qualen jeder Ark, Ausſchließen von faſt jedem Amt und Erwerb. Rennen ſie Krämer, nichk Handelsherren, angeſichts eines Rothſchild! Läuken die Skurmglocke gegen hundertkauſend Juden und ihre Siege über Millionen Chriſten, doch gehören zu jedem Betrüger Leute, die ſich betrügen laſſen, und die Armeen ſind auch nichk zu finden, mik denen uns die ſuden verkilgen. Sind es denn geiſtige, diaboliſche Waffen, ſo laßk uns nur Chriſten ſein, anſtakk zu Millionen überzulaufen in das Lager des Schwindels, des Betrugs und der Gründerei, die nirgends ſo ſchamlos ſind wie in Frankreich, wo es ſehr wenig Juden giebk. Caßt uns in unſeren chriſtlichen Beſtrebungen ſo zäh, ſo klug, ſo ausdauernd ſein wie die juden, laßt uns, wie ſie, erſt erwerben und dann ausgeben, anſtatk uns beim Ausgeben ſo lange aufzuhalken, bis wir den Halsabſchneidern ſelbſt in die Arme laufen, weil es für faule Verſchwender keine rechtlichen Leiher giebk.“ Daß ſie mit dieſen Anſichten ziemlich allein ſkand, kann weder Wunder nehmen noch ihrer Umgebung zu perſönlichem Vorwurf gemacht werden. Im Geiſte Goethes lebte und dachte ſie; für ſie 383 war des irdiſchen Lebens höchſter Inhalk, wie für Fauſk vor ſeiner Vollendung: die Arbeit im Dienſte der Menſchheit, das Schaffen eines neuen Bodens für ein neues Geſchlechk. „Solch ein Gewimmel möcht ich ſehn, auf freiem Grund mik freiem Volke ſkehn“, darin gipfelken auch ihre Wünſche angeſichts des grenzenloſen Elends in der Welk. Und auch ihr Chriſtenkum war das Goethes. Wenn er ſagke: „ich bin ein dezidierker Richtchriſk“, ſo drückte er damit die⸗ ſelbe Abſage an das kirchliche Chriſtentum aus, das ſie kennzeichneke, wenn ſie von ihrer „Gräfin Thara“ ſagte: „ſie bezeichneke ihre Herzensſtellung mit dem „Ich beke allein“.“ Und wenn ſie erklärke: „Religion iſt Tat“, ſo geſchah es auch in der kreuen Gefolgſchaft ihres großen Meiſters. Aber zwiſchen dieſen Auffaſſungen, die einer inneren Befreiung von Vorurteilen und Selbſtſuchk und einer geiſtigen Höhe enkſtammen, von der aus alles Materielle auf gleicher Ebene liegt, und denen der Generakion, die ihre Kinder angehörken, lag eine Welk, lag vor allem der große Kampfplatz der ſozialen Gegenſätze, auf dem ein ungeheures Ringen ums Daſein begonnen hatke, bei dem auf allen Seiken die perſönlichen Inkereſſen die Führer waren. Den Wünſchen der zum Bewußkſein ihres Elends gelangten Maſſen nach Freiheit, nach Gleichheit der Cebenshalkung nachgeben, bedeukeke für die privilegierken Klaſſen ein allmähliches Aufgeben ihrer ſelbſt, das dem einzelnen zwar möglich erſcheinen konnte, der, wie Jenny Guſtedk, das Menſchheiksinkereſſe allein im Auge hatke, für die Geſamtheit aber unmöglich war. Dieſer hiſtoriſch notwendige und in ſeiner Enkwicklung pſychologiſch folgerichtige Kampf enkzündete unausbleib⸗ lich jenen Haß, der ſich bei zwei Gegnern immer entwickelt, die um ihr Leben mikeinander ringen, und dieſer Haß wird wieder nok⸗ wendig das Urkeil über den Feind irre führen und die beſten Ab⸗ ſichten verdunkeln. Meiner Großmutker ging dafür jedes Verſtändnis ab und das erſchwerke noch ihre Stellung. 384 Ihres Sohnes Wahl in den Reichskag, durch die zwar die Sphäre ſeiner Inkereſſen erweiterk wurde, brachte ſie noch mehr als früher in innere und ofk auch in äußere Konflikke, da ſein ſchroffer, konſer⸗ vakiver Standpunkt ihren Widerſpruch herausforderke. „Meines Sohnes neue Tätigkeik hat dem geiſtig ofk recht öden Leben einen neuen Inhalk verliehen,“ ſchrieb ſie an eine Freundin, „es kommen Bücher, Broſchüren, Zeikungen ins haus, und vor allem die außer⸗ ordenklich unkerrichkenden ſtenographiſchen Reichskagsberichte, die meine faſt eingeſchlafenen politiſchen Inkereſſen wieder rege machen und meinen alken Kopf ofk mik einer Fluk von Ideen erfüllen, die wie gepanzerke Ritter im Turnier auch wohl gegeneinander ſtreiten. Wie viel Kraft, Klugheik, Erfahrung in den Köpfen und Worten der Volksverkreter! Statk der Zeitungen, die Alles parkeipolikiſch färben und mehr und mehr auf den ſitklich kiefſten Standpunkt gelangt ſind, in jedem Gegner ohne weikeres einen Schurken zu ſehen — wodurch die demoraliſierendſte Wirkung, die ſich denken läßt, von ihnen ausgeht — ſollten die Reichskagsberichte allgemein geleſen werden. Bei mir befeſtigk ſich dabei die theorekiſche Reigung nach links, während ich doch wohl einſehen muß, daß praktiſch die jetzige konſervative Regierung die beſte iſt. Das Ideal der Linken, das ſich in den viel verpönken und doch, chriſtlich aufgefaßt, herrlichen Worten: „Freiheik, Gleichheik und Brüderlichkeit' ausdrückt, iſt auch das meine und entſprichk der Reinheik der Theorie, ſteht aber im Widerſpruch mit der Unreinheik im praktiſchen Ceben: es bauk auf dem Fundamenk und der Vorausſetzung tugendhafker Menſchen, während das praktiſche Leben auf der Vorausſetzung ſündhafter Menſchen bauen muß. Das große Erziehungswerk aber der Ge⸗ ſchichte und der Menſchheitsenkwicklung näherk uns beſtändig dem Ideal, denn krotz aller Qualen und Greuel der Gegenwark läßt ſich der allgemeine, für unſere Wünſche freilich ſehr langſame Fortſchritk doch nachweiſen: von der unaufhörlichen Kriegsplage, den Hexen⸗ Im Schatien der Titanen. 25 385 verfolgungen und Ketzergerichten des Miktelalkers, über die Schauer der Regerſklaverei bis heute — ein ſtufenweiſes Aufſteigen, zu deſſen gotkgewolltem Tempo wohl der Hemmſchuh konſervativer Politik ebenſo notwendig iſt wie die Peitſche der Sozialiſten . . . Nur wo die Konſervativen ſchärfſter Obſervanz ſich nicht mit dem Auf⸗ halten begnügen, ſondern erhalken wollen, was dem Tode ver⸗ fallen iſt, da befinde ich mich in Gegenſatz zu ihnen. Wie gute Elkern ſollken ſie ihre Arbeik als ein Erziehungswerk bekrachten, das ja auch ofk darin beſteht, der zu großen Heftigkeik der Kinder Zügel anzulegen, und ſollken ſich mit dem Gedanken verkrauk machen, daß ſie, wie alle Alken, der zugend weichen müſſen, wenn ihre Rolle ausgeſpielk iſt.“ In einem anderen, aus dem Jahre 1886 datierken Briefe ſchreibk ſie: „Ich möchte wohl mit den Plänen unſeres eiſernen Kanzlers einverſtanden ſein, aber ich kann es nichk immer und bin froh, daß ich mik meinem Gewiſſen nicht an der Stelle meines Sohnes im Reichstag ſitze. Allein die Kolonialpolikik iſt mir nichk ſympathiſch, ſo ſehr ich den Schutz zum Auswandern billige — Goethe ſagk: wo wir nützen, iſt unſer Vaterland! — aber doch nur in Gegenden, die ein ſchönes Vaterland werden können, nicht in die Glutöfen der Welk, wo man noch dazu mehr Eiſenbahnen brauchen wird, um zu beſſeren Ländern zu gelangen, als wir in Deukſchland noch brauchen, um das nötigſte Verkehrsnetz zu vollenden, und wo es, wie ich fürchte, nichk ohne jene Kolonialgreuel der Unterdrückung und Ausrokkung der Eingeborenen abgehen wird, die Englands großartige Politik ſo beflecken. Auch mik Polenausweiſung bin ich nichk einverſtanden, ich halte ſie für hark, grauſam, ungerecht, un⸗ politiſch, erbikkernd. Unter den Tauſenden ſind eine Maſſe harm⸗ loſe, gehorſame, genügſame Leuke, die jetzk erſt ein Polenbewußtſein bekommen, und wenn Bismarck an eine Vorbereitung zu einem Polen⸗ aufſtand glaubk, ſo iſt er es, der ihnen die Soldaten zutreibk. Einen ähnlichen Standpunkk habe ich immer gegenüber der Sozialiſten⸗ 386 Ausweiſung eingenommen: es iſt ſelbſtverſtändlich, daß der Skaak Verbrecher verfolgk und ihnen die Möglichkeik zum verbrecheriſchen Handeln nimmt, aber wie Wenige der Ausgewieſenen mögen von Rakur Königsmörder ſein! Und wie viel Idealismus, wie viel ehr⸗ liche, aufopfernde Menſchenliebe ſprichk aus den Worken ihrer eigenk⸗ lichen Vertreter im Reichstag! Sie ſind nichk nur ein nokwendiger Sauerkeig in unſerer inneren Politik, ſie wirken auch als Strafgericht Gottes an all denen, die, befriedigk vom eigenen Wohlleben, an der grenzenloſen Rok der Millionen achklos vorübergingen. Wollke Gotk, daß die Herrſchenden ſich dieſes Strafgericht zu Herzen nehmen und ſich ihrer ungeheueren Unkerlaſſungsſünden ebenſo bewußk werden wie der großen Verantworklichkeik, die eine Folge ihrer bevorzugken Stellung iſk. Du ſiehſt, mein Lilychen, worauf alke Leute verfallen, die nichks Tatſächliches aus ihrem Leben zu berichten haben: ſie treiben ſogar ihre ſtille Privakpolikik und im Hinkergrund will der Wunſch nichk zur Ruhe kommen, daß ſie ſogar damit noch nützen können. Meine Kinder habe ich nach der Richtung aufgegeben, mein Enkelkind aber iſt noch ein unbeſchriebenes Blatk und läßk ſich viel⸗ leichk die großmütkerlichen Zeichen gefallen, die ſich darauf einprägen möchten.“ Richts kann den Weſensunkerſchied zwiſchen meiner Großmutter und der Welk, die ſie umgab, deuklicher bezeichnen, als dieſe Briefe. Sie war zwar weit entfernt davon, ſich zu irgendeiner der ſozialiſtiſchen Theorien zu bekennen, ſie beſchäftigte ſich gar nichk mit ihnen und wäre z. B., hätte ſie ſich damik beſchäftigt, zu einer Anerkennung der Idee des Klaſſenkampfes nie gelangt, aber daß ſie in ihrer Be⸗ urteilung einen Sozialiſken menſchlich auf gleiche Stufe ſtellke mik anderen Menſchen, daß ſie praktiſche Forderungen, die von jener Seike kamen, als berechtigt anerkannte — das machke ſie in dieſem Kreiſe zu einer ganz ungewöhnlichen Erſcheinung und begegnete nur darum meiſt einem gewiſſen nachſichtigen Schweigen und fand eine verzeihende 387 25* Beurkeilung, weil ihr welkfremder Idealismus und ihr hohes Alker als die eigenklichen Urſachen dafür angeſehen wurden. Ihre Lektüre der ſtenographiſchen Berichte der Reichskagsverhand⸗ lungen — „die ich mik einem Eifer leſe, wie Backfiſche einen ſpannenden Roman“ — beſtärkten ſie indeſſen in ihren Auffaſſungen. „Ich gewinne,“ ſchrieb ſie, „beſonders durch die Reden der Mitglieder der Linken, Einblicke in Zuſtände, deren Grauen ich zwar ahnte, die mich aber doch angeſichts ihrer Wirklichkeik ganz außer Faſſung bringen. Das Elend der Schuldloſen — das gräßlichſte Räkſel der Welk! In den Dorfkathen hockk es und ſieht mich aus blöden Augen an, und in den Fiſcherhükken am Strand, wo ein hartes Geſchlecht in ſtändigem Kampf mit Waſſer und Wind um das Bißchen armſeliges Ceben ringk, und aus Jolas Romanen ſchreik es mir entgegen, daß aller Reſt von Lebensfreude davor die Flucht ergreift.“ Ihr Mik⸗Leiden, das kein gefühlsmäßiges Mikleid mehr war, ſkeigerke ſich faſt bis zum Krankhafken. Kein Menſch, ja kein Tier war ihr zu gering, als daß ihr Herz ſich vor ihm verſchloſſen hätke; es wurde ihr zum körperlichen Schmerz, wenn ſie Unrecht ſah, das ſie nicht verhindern, Kummer ſah, dem ſie nicht abhelfen konnte. Wenn ſie ſich früher angeſichts des unverſchuldeken Unglücks dadurch beruhigk hatte, daß die Schuld der Geſellſchafk an Stelle der Schuld des Einzelnen krak, ſo vermochke ſie jetzk nicht mehr dabei ſtehen zu bleiben. Es gab für die Greiſin, die ſich am Ende ihrer Tage demſelben Sphinxrätſel des Lebens gegenüber ſah wie in ihrer Zugend, nur einen Ausweg, der ſie davor zu bewahren vermochte, den Glauben an den allgütigen Gotk — die Stütze ihrer inneren Welk — nicht ſelbſt zu zerkrümmern, ihn mit dem namenloſen Unglück, das ſie ſah und empfand, in Einklang zu bringen: der Glaube an Vor⸗ und Rachexiſkenzen der Seele. Die chriſtliche Idee von einer künftigen ewigen Seligkeik hatke ſie ſich nie zu eigen gemacht, „in ihr liegt weder ein Troſt für die Unglücklichen“, ſagte ſie, „noch eine Er⸗ 388 klärung dafür, warum der Eine ins Elend, der Andere in den Glanz geboren wurde,“ aber der Gedanke einer unendlichen Entwicklung, in der das Erdendaſein nur eine der Epiſoden iſt, hatte für ſie etwas außerordenklich Beruhigendes und Befriedigendes. Scheinbar unverſchuldetes Unglück war darnach die Folge der Schuld früherer Exiſkenzen, und ſelbſk für die Qualen der Tiere fand ſie eine Er⸗ klärung in der Seelenwanderung, wie ſie der Buddhismus auch im Hinblick auf ſie lehrk. Ihr Glaube war ſo unerſchükkerlich, daß keine Einwendung dagegen ſie aus der Ruhe brachke. „Du glaubſt nichk an Vorexiſtenzen, weil Du Dich ihrer nichk erinnern kannſt, und hältſk ſie, ſelbſt ihr Vorhandenſein vorausgeſehzk, für werklos, wenn wir von unſerem perſönlichen Vorleben nichks mehr wiſſen?“ ſchrieb ſie mir. „Kennſk Du nichk jenes merkwürdige Erinnern, das uns in Gegenden und in Sikuationen befällk, die wir zweifellos auf Erden noch nicht ſahen oder erlebten, oder das Geheimniß der Sympathie, das Menſchen gegenüber nichk anders wirkt wie ein Wiedererkennen längſk Verkrauker? Oder die Bilder des Traums, die uns mit aller Lebendigkeik in Länder und unter Menſchen führen, die wir auch in dieſem Ceben noch nicht geſehen haben? Und was den Werk der Erinnerung bekrifft, ſo vergeſſen wir doch ſchon von unſerem irdiſchen Ceben neun Zehntel aller Thatſachen und noch unendlich mehr aller Worte; ſchon hier liegen die Lebensreſulkate nur in dem, was wir geworden ſind, ſchon hier löſen ſich Hunderke von ſcheinbar nahen Verhältniſſen bis zur Vergeſſenheik. Iſk es nichk ſogar in kauſend Fällen eine Erlöſung, wenn die Erinnerung verblaßk und verliſcht? Es kommk gewiß in früheren und ſpäteren Exiſtenzen des Geiſtes nicht auf Erinnerung, ſondern auf Gewordenſein an.“ Und in einem ihrer letzten Briefe ſchrieb ſie: „Am Schluſſe meines Cebens iſt das innere Drängen, Skürmen, Fragen, das Hin⸗ und Hergeworfenſein zwiſchen Glauben und Zweifeln beſeitigt; mit den Dogmen habe ich abgeſchloſſen . . . Das Unglück der Schuldloſen, 389 Kinderqualen, Leiden, die vor unſeren Augen nicht zur Beſſerung. ſondern zum Verderben zu führen ſcheinen, die geringe Zahl der Ramenchriſten und die noch geringere der Chriſten im Geiſte und in der Wahrheik, die Millionen in Irrthum und Grauſamkeik herein⸗ geborener Menſchen — Rätſel, die mich mein Leben lang quälken und meine Freuden vergällken, ſind mir zu Myſterien geworden, Folgen oder Beziehungen von Vor⸗ und Rachexiſkenzen. Darüber hinaus dringk ſiegreich mein Hoffen, und ich glaube, daß ſchließlich allen Menſchen geholfen wird und ſie zur Erkennkniß der Wahr⸗ heik kommen. Es ſcheink mir begreiflich, daß, wie ein Maulwurf das Lichk nichk ſehen, wie ein unmündiges Kind den Fauſt nicht verſtehen kann, wir auf unſerer Erdenſtufe die höheren Stufen noch nicht zu erkennen vermögen. Auch der ungeheure Fortſchrikk der Wiſſen⸗ ſchafk und der krotzdem noch ſo geringe Umfang unſeres Wiſſens dienk mir zum Beweiſe dafür, wie viele Erkenntniß⸗Enkwicklungen wir ſowohl in der irdiſchen wie in anderen Exiſtenzen noch vor uns haben. Wo aber der Verſtand ſich enkwickelk, ſollke die Seele es nicht vermögen, ſollke nichk reifen und wachſen und Höhen erreichen, die auf Erden nur wenige — ein Chriſkus, ein Goethe — erreichk haben!? Aber wie ihr ganzes Cebensgebäude zuſammengeſtürzk wäre, wenn dieſer Glaube nichk die Brücke gebauk hätte zwiſchen ihrem Gotkesglauben und ihrer Menſchenliebe, ſo wäre ſie auch an dem Schmerz und an der Größe ihrer Mutkerliebe zugrunde gegangen; wenn ſie die Hoffnung auf ihrer Kinder endliche höchſte Entwicklung hätte aufgeben müſſen. Die letzte Eintragung in ihr Sammelbuch beſtehk in jener düſteren ſpaniſchen Ballade, die von dem Jüngling erzählt, der der Muttker das Herz aus der Bruſt reißk, um es der grauſamen Geliebken zu bringen. Er ſtürzk auf dem Wege zu Boden — „Da ſieh, dem Mukkerherzen Ein Tropfen Bluks enkrinnk, Und fragt mit weicher Stimme: Tak'ſt Du Dir weh, mein Kind? . . 390 So groß, ſo ſtark war auch ihre Liebe, die durch alle Wunden, die ihr geſchlagen wurden, nicht ſterben, ſondern nur immer noch wachſen konnke. Aus dieſer Empfindung heraus ſchrieb ſie mir: „Air iſt ofk, als müßke ich denen Glück wünſchen, die nichk heiraken und keine Kinder haben. Wie gering iſt die Zahl der Mütker, bei denen das Glück das Unglück überwiegt! Für Mutkermühe, Mukker⸗ ſorge, Mukkerarbeik entſchädigk die Liebe zu den Kindern und die Freude an ihnen — aber der Schmerz und Stachel über ihre Leiden und ihre Sünden und ihre ſchweren Schickſale, die ſind par dessus le marché, und je mehr man liebk, deſto ſchwerer iſt dies Mikleiden, und je älker man wird, deſto krafkloſer iſt man dagegen, ſogar Gebek, Glaube und Frömmigkeik laſſen darin ſchmerzliche Lücken. Eine Mukker krägk nichk nur ihre eigene Laſt, ſondern noch die Laſten ihrer Kinder und Kindeskinder bis zum Grabe, und das ſchlimmſke iſt, daß ſie ſie ihnen dadurch nicht einmal abnimmk . . . Und wenn ihr Reſk leer geworden iſt, ſie keine oder ofk keine er⸗ füllbaren Pflichken mehr hak, ihre Kinder ihr fremd und fremder werden, ihr Rak nichk gehörk wird und ihre Erfahrungen nichks nützen — wie furchtbar, wie unerkräglich würde dieſe entſetzlichſte Cebensentkäuſchung ſein, die Enttäuſchung an dem, was wir aus unſerem Bluk enkſtehen ſahen, mik unſerem Herzbluk nährken, wenn es den einen Troſt nichk gäbe: den Glauben an immer neue Ver⸗ wandlungen, bis für Alle die höchſte Stufe der Seelenenkwicklung erreichk iſt. Der Schmerz freilich bleibk: hak das Erdenfegefeuer ſie nichk genug gereinigt, ſo ſinken ſie in eine noch tiefere Hölle der Prüfungen — vielleichk, daß die Thränen der Mukker, auch die un⸗ geweinken, die am ſchwerſken wiegen, ſie davor bewahren! Wenn ich rückwärksſchauend mein Leben betrachke und mich frage, welches Gefühl das mächtigſte, welche Erkennkniß die folgenreichſte, welche Hoffnung die ſicherſke iſt, ſo lautek die Antwort: Das kiefſke Gefühl iſt die Mutkkerliebe; die wichtigſte Erkenntniß: Die Sünde iſt der 391 Welk Verderben; die ſicherſte Hoffnung: Die Entwicklung der Menſch⸗ heik bis zum höchſten Sein. Ohne dieſe würden Gefühl und Er⸗ kennkniß nur die Qualen der Erdenkinder erhöhen, und es gäbe nur einen Ausweg aus dieſer Hölle: Die Selbſtvernichkung der Menſchheik.“ So war ſie am Ende des Cebens da angelangt, wo Goethe ge⸗ ſtanden hatke, als er ſchrieb: „Lange hab' ich mich geſträubt, Endlich gab ich nach: Wenn der alte Menſch zerſtäubk, Wird der neue wach. Und ſolang Du dies nicht haſt, Dieſes: Stirb und Werde, Biſt Du nur ein müder Gaſt Auf der armen Erde.“ Und ſie ſah dem Tode entgegen im Sinne ſeiner letzten Worke, die ſie ofk wiederholte: „Nun kommt die Wandelung zu höheren Wandelungen.“ Innerlich feſter verbunden wie je und nur äußerlich fern der alten Heimak, ſchien ſich der Kreislauf ihres Lebens leiſe zu ſchließen. Und als ob die Harmonie ihres Weſens auch in ihrem Daſein zum Ausdruck kommen ſollte, ſo berührte das Ende den Anfang. Hakken ſich beſchattend, aber auch ſchützend die Aſte des Waldrieſen über ſie gebreikek, ſo ſchmiegten ſie ſich jetzk wie Freundesarme um ſie. Mik denen, die ſie in Weimar lieb hatke, war ſie immer in Ver⸗ bindung geblieben und hatke an allem, was ſie erzählken, den leb⸗ hafteſten Ankeil genommen. Rur einer, der zu den Rächſten gehörte — der Großherzog — war ſeik ihrer Abreiſe verſkummt. Er hatte ihre Trennung von Weimar nicht begriffen und ſie als eine per⸗ ſönliche Kränkung empfunden, die er nicht verwinden konnte; daß es vor allem pekuniäre Sorgen waren, die ſie dazu gezwungen hatken, daß ſie geblieben wäre, wenn ſie ſich eine größere, zur Aufnahme 392 ihrer Kinder mögliche Wohnung hätte gönnen dürfen — das hatte ihr Skolz ihm verſchwiegen, das verſchwieg ſie ihm auch dann, als ſein Mißverſtehen, der ſcheinbare Verluſt ſeiner Freundſchaft ihr kiefe Schmerzen bereitete. „Eure Generation, die ſo reich an Verſkandes⸗ erkenntniß und ſo betkelarm an Herzensreichkum iſt, weiß nichts von dem Werk treuer, lebenslanger Freundſchaft,“ ſchrieb ſie, „ſie iſt die Wahlverwandtſchafk der Seelen, die uns die Fremdheik der Be⸗ ziehungen des Bluks vergeſſen läßt, ſie iſt der Hebel geiſtigen Fork⸗ ſchritks, der größte menſchliche Troſt im Leid. Einen lebendig ver⸗ lorenen Freund beweinen müſſen, iſt darum viel ſchmerzlicher, als um das unabweisbare Geſchick ſeines Todes zu krauern. Daß der Großherzog mich ſo mißverſtehen konnke, wo die gute Kaiſerin mich ſo ganz verſtand, war darum eine harke Prüfung für mich. Run iſt meines lieben Walter Goethes Tod die Brücke geworden, die ihn wieder zu mir hinüberführke — wie denn das Beſte in meinem Ceben immer in tiefer Beziehung zu dem Ramen Goethe geſtanden hak.“ Walker Goethes Vermächtnis ſeines großväkerlichen Rachlaſſes an die Großherzogin Sophie von Sachſen⸗Weimar war nichk nur ein Seichen ſeiner großen Geſinnung, ſondern auch ein Beweis für ſeine Menſchenkennknis. Er wußke, daß es durch ſie in der rechken Weiſe zu einem Beſitztum des deutſchen Volkes werden würde. „Es iſt ſo viel über Goethes Rachlaß geſtrikken worden,“ heißk es in einem Brief meiner Großmutter, „man hat ofk mik mehr Reugierde als Begeiſterung darnach verlangt, mir ſelbſt ſind von allen Rachläſſen die geiſtigen Goetheflammen in ſeinen Enkeln als die wichkigſken und liebſten erſchienen, und daß ich recht hatke in meiner großen Meinung über dieſe ſo viel Geſcholkenen beweiſt Waltkers Teſtamenk. Die großartige und würdige Weiſe, wie es zur Verherrlichung ſeines großen Ahnen gewandelk wird, enkſpricht ihren Charakteren, die zwar nichk in dieſes Jahrhunderk, aber in das Große und Edle aller Jahrhunderke paſſen.“ Als nun auch das Goethe⸗Haus der Offenk⸗ 393 lichkeik zugänglich gemachk und die Empfangszimmer wie zu Goethes Cebzeiken geſtalkek werden ſollken, wandke man ſich von Weimar aus an ſie, die einzige, die von der ehemaligen Beſchaffenheik der Räume noch etwas Genaues wiſſen konnke. Rach ihrer Beſchreibung und einer Zeichnung, die ſie ſandke, wurden ſie in ihrer alken ſchlichten Vornehmheik wieder hergeſtellk. „Ich beſchäftige mich viel mit Weimar,“ ſchrieb ſie mir, als ſie davon erzählke, „und es verſinkt ein halbes jahrhunderk meines Lebens, während in jugendlicher Friſche die alke ſchöne Zeik vor mir aufſteigk, Ob die Goethe⸗Geſell⸗ ſchafk ein Mikkel ſein wird, ſie auch für die Menſchheik lebendig zu machen, wage ich nichk zu enkſcheiden. Es iſt leider eine Eigentüm⸗ lichkeik des Deukſchen, daß er guke und große Gedanken hat, ſie aber verknöchern und verſumpfen, ſobald er ſie in die Paragraphen eines Vereinchens zwängk. Auch der deutſche Gelehrke, ſo hoch ich ihn ſkelle als gründlichen Wahrheiksſucher, geräk mit ſeinem Forſchungs⸗ krieb leichk in Kleinigkeiken, und dann gehk ihm der große Blick für das Ganze verloren. Hoffenklich wird der Goethe⸗Verein nie ver⸗ geſſen, daß Goethe, neben ſeinem Inkereſſe für das Kleinſte, das Große ſkeks obenan ſtellke, hoffenklich wird er ſeinen Geiſt zu er⸗ forſchen und lebendig auszubreiken ſuchen, was uns rechk nok kuk . .. Der Großherzog, erfüllk mit jugendlicher Begeiſterung für die neue große Aufgabe Weimars, wandte ſich nun auch an die alke Freundin mik Fragen und Bikken, die die Zeik Goethes und ihre Erinnerungen daran bekrafen. Und die ferne Einſamkeik Oſtpreußens wurde ihr belebk und erfüllk mik den unſterblichen Geſtalken der Vergangenheik. Unermüdlich im Fragen war der Großherzog, unermüdlich im Ank⸗ worken war ſie. Im Traum verloren machte ſie ihre regelmäßigen Spaziergänge durch Park und Wald oder ſaß ſtill mik gefalkeken Händen in ihrem kiefen grünen Stuhl; ihr Mund zuckte nichk mehr ſo ofk wie ſonſt in ſchmerzlicher Sorge, ein weiches Lächeln umſpielte ihn — mit ſanfkem Kuß grüßte ſie der Genius ihrer Jugend. 394 Immer ſchatkenhafter erſchien ihr die Gegenwark, immer mehr lebte ſie in der Vergangenheik und in einer Zukunfk, die ſie jenſeits des Grabes ſah: „Ich ſehe von Stufe zu Stufe, von Lichk zu Lichk bis in den fernen, gotkdurchglänzten Raum des Allerheiligſten. Ein Reich des Lichks, voll Muſik, voll Ciebe, hörk und fühlk mein Geiſt mik einer Zuverſicht, die täglich wächſt. Und lächelnd, faſt ohne Schmerz winke ich denen, die mir vorangingen, grüßend zu . . . Es waren ihrer viele vorangegangen: Pauline, die blinde Schweſter, war in demſelben Kloſter geſtorben, das des verlaſſenen Säuglings erſter Zufluchksork geweſen war, und Beuſt, auf den ſich alle ſchweſterliche Liebe meiner Großmutter nun konzenkrierk hatte, war ihr gefolgt. „Er war,“ ſchrieb ſie von ihm, „ein reiner Menſch und darum eine vornehme Ratur, wie ich eine zweite nichk kenne.“ Sein Tod wurde, wie der Walker Goethes, zu einem neuen Bindeglied zwiſchen ihr und dem Großherzog. Auf ihren Brief, der den Freund über den Verluſt des Freundes zu kröſten verſuchte, ankwortete er: Schloß Wartburg, am 9. September 1889. Ihr Brief, gnädige Frau, hak mich tief gerührk, ich wollte, ich könnte Ihnen danken, wie ich es fühle. Jede Zeile erweckt Er⸗ innerungen und Bedauern, die ſich darin gleichen, daß ſie, die einen wie die andern, ſich in mir nur durch Schweigen ausdrücken. So tief iſt die Furche, die der Schmerz um den Verluſt meiner Mukker in mein Herz grub, und ſo kief iſt auch die, die mir der Verluſt meines Freundes gräbt. Er gehörk zu denen, deren Eindruck erſt erkennen läßt, was man beſeſſen hak. Und man lernk die ganze Größe deſſen, was man beſaß, erſt kennen, wenn der Beſitz verloren ging. So feſte Bande zwiſchen den Menſchen, wie die zwiſchen mir und ihm, ziehen gleichſam, wenn ſie auseinander geriſſen werden, ein Stück von unſerem eigenen Ich mit ſich ... So haben Hie mich doch wider meinen Willen zu einer erlöſenden Ausſprache veranlaßt. Sie allein können be⸗ 395 urkeilen, was ich leide! Der Glaube, daß mein kreuer Freund nun mik denen vereink iſt, die ihm vorangegangen ſind und die er ſo zärklich liebte, iſt wohl ein Troſt, aber den Verluſt läßk er mich nicht überwinden. Ihr Brief hak mich in Wilhelmsthal geſucht und in Weimar ge⸗ funden. Der nahende Herbſt hat mich und meine Tochter Eliſabeth veranlaßk, die Gegend zu verlaſſen, an die ſich all die ſchönen Er⸗ innerungen knüpfen, die Ihr Brief heraufbeſchwor. Ich geſtehe Ihnen, daß ich an jenem lieben alten Hauſe auch um anderer teurer zugend⸗ erinnerungen hänge, die mik unſichtbarer Schrifk auf ſeinen Mauern geſchrieben ſtehen. Wie bedaure ich, gnädige Frau, mit Ihnen nur noch ſchrifklich verkehren zu können, und wie ſehr bedauerte es der Verſkorbene, der in derſelben Lage war wie ich. Aber die Erinnerung kennk weder Zeik noch Enkfernungen, und auch das Herz weiß von beiden nichts. Das empfindek aufs tiefſte und mit aufrichtiger Dankbarkeik Ihr alker Freund Carl Alexander. Auch aus der Ferne ſchloß ſich der Kreis der alken Freunde um ſo enger zuſammen, je kleiner er wurde. Drei Greiſe waren es nur noch — ſenny Guſtedt, der Großherzog und die Kaiſerin — die das Band einer gemeinſamen Vergangenheik umſchloß. Und unter ihnen war ſenny die Tröſkerin, die, die ſie aufzurichken verſuchte aus dem niederdrückendſten Leid. „Aus jeder Zeile, die meine geliebte Kaiſerin mir ſchreibk,“ heißk es in einem Brief meiner Großmutter aus dem Jahre 1888, „leſe ich, wie ſchwer ſie unker den Schlägen des Schickſals leidek: den Gatten, den Sohn verloren, den Enkel, der die erziehende Schule des Kronprinzenkums nichk durchmachte — wie ſie ſich ausdrückk — unker der Laſt einer ſchwer zu tragenden Krone, mit dem Ausblick in eine ungewiſſe Zukunfk.“ Richt allzu lange 396 ſollke die Kaiſerin neue Zeik mikerleben, die ihr immer fremder wurde. In den erſten Tagen des Jahres 1890 ſchloß ſie die müden Augen für immer. Kurz darauf ſchrieb Carl Alexander an ihre Freundin: Berlin, Schloß, 15. Januar 1890. Sie werden es mir, wie ich ſelbſt, gern glauben, daß ihre Teil⸗ nahme mir eine wahre Wohlkak geweſen iſt. Sich ſelbſt, weil es Ihr Herz war, das Ihre Feder führke, nur weil es der Schmerz iſt, der die Sprache der Freundſchafk am liebſken hört. Ich kann von mei⸗ nem eigenen Berluſt nicht ſprechen. Das iſt auch nicht nötig. Ein ſeder machk mir den Eindruck, als hätte er einen perſönlichen Verluſt erlitken. Das iſt, wie ich glaube, das charakteriſtiſche Zeichen dieſes Unglücks. Geſtatken Sie mir, hier zu ſchließen. Es giebk Ereigniſſe, deren einzige Sprache das Schweigen iſt, denn dieſes allein iſt der richtige Ausdruck für den größten Schmerz. Mein kreuer Beuſt fehlk mir ſehr und fehlk mir ſteks aufs neue und immer mehr . . . Leben Sie wohl, gnädige Frau. Das Gedächkniß meiner Schweſter und meiner Mukker werden Sie immer kreu bewahren, erinnern Sie Sich aber auch freundlich Ihres ſehr traurigen Freundes Carl Alexander. Seiner Bikke um ein Erinnern folgte von Weimar aus eine neue: Goethes letzke Lebensjahre möchte ſie ſchildern, ſie, die von allen Aberlebenden dem großen Token jetzt noch am nächſten ſtand. Und während der Winkerſkurm vom Haff herüberbrauſte und Winker⸗ einſamkeik das Haus mit tiefer Stille füllte, ſaß die alte Frau am Schreibtiſch und ſuchke ihren Erinnerungen eine Form zu geben. „Ich werde ſelbſt wieder jung dabei,“ ſchrieb ſie mir, als ſie von ihrer Tätigkeik erzählke. Auf ihre erſten Sendungen ankworkete der Großherzog: 397 Weimar, 28. Januar 1890. . . Ich erhielk die Blätker, die Sie, meine liebenswürdige und gekreue Freundin die geduldige Güke hatten „mit Dekails über Goethe und die engliſche Geſellſchafk während ſeiner letzten Lebensjahre zu füllen, und um die ich mir erlaubt hatte, Sie zu bitten. Ich komme heute, um Ihnen die Hand dafür zu küſſen. Vor allem aber komme ich, um Sie um Entſchuldigung dafür zu bikken, daß ich abermals an dieſelbe Güke appelliere, die mich ſo zu Dank verpflichtek, und an dieſelbe Erinnerung, die mich enkzückt. Meine Unbeſcheidenheik verlangk vor Allem eine Erklärung; hier iſt ſie: Das Teſtamenk Walter Goethes hat mit dem Augenblick, da es bekannt wurde, in Weimar ein neues Leben erweckt. Ich kann es nicht beſſer charak⸗ teriſieren, als indem ich verſichere, daß man den Eindruck hat, als ob die Seele des größten deukſchen Dichters, die Seele Goethes, wieder eingezogen ſei in dieſe Stadk, in ſein altes Haus, in das Schloß, um aufs neue zu wirken und zu ſchaffen. Hervorragende Männer ſind herberufen worden, um Walker Goethes Vermächkniß zu ordnen und zu verwalken, andere haben ſich bemüht, Julaſſung zu der wundervollen neu enkdeckten Quelle zu finden; ſie kamen und kommen, um im Archiv zu arbeiken, und wir verdanken dem Umſtand eine Fülle intereſſanker Bekannkſchafken. Einen jungen Amerikaner, Mr. G . . . rechne ich dazu, der eine Arbeik „Goethe in England“ unker der Feder hat, und für den es ſehr wichtig iſt, alle Beziehungen zwiſchen Goethe und England kennen zu lernen. Dieſe Rokwendigkeik führke mich zu Ihnen, und das Inkereſſe, das ich an der Sache nehme, läßk mich meine Bitke wiederholen. Und um meine Zudringlichkeit vollends auf die Spitze zu kreiben, geſtakken Sie mir, Sie zu bitken, für mich Rotizen über Alles zu machen, was an Takſachen, Unker⸗ halkungen und Ramen aus jener Zeik noch in ihrer Erinnerung lebk. Dieſe Judringlichkeik iſt ſo nakürlich, daß Sie ſie verzeihen, und ſo nokwendig, daß Sie ſie verſtehen werden. Es lohnk ſich der Mühe, 398 die Arbeik, die ich Ihnen zumuke, in zwei Teile zu keilen: die eine, die Erinncrungen an die Engländer enthalkend, ſo daß ſie Mr. G . .. oon Rutzen ſein kann, die andre, für mich perſönlich, die die ſibrigen Erinnerungen an die große Epoche Weimars zum Gegen⸗ ſtand hak. Goethe hatke die Gewohnheit, jeden großen Schmerz dadurch zu bekämpfen, daß er eine neue Arbeik unternahm. Dieſer Brief iſt freilich keine, aber er gehörk zu jener Tätigkeik, die ich mich bemühe, im Gang zu erhalken, weil ich in dieſer fremden Welk der Seelen ſo ſchwer zu kämpfen habe. Dieſer Kampf wird mir um ſo leichter werden, je eher ich dork Verſtändniß finde, wo ich verſkanden ſein möchke. Sie werden aus dieſem Bekenntniß, keuerſte Freundin, nichts Reues folgern, denn Sie kennen, wie ich hoffe, Ihren alten, kreu ergebenen Freund Carl Alexander. Weimar, den 11. Februar 1890. „. . . Ich habe niemals aufgehörk, Ihr Fernſein von Weimar, meine liebe verehrte Freundin, auf das lebhafkeſte zu bedauern, ich kue es jetzk lebhafker denn je: wie würden Sie Sich inmitten all der Tätigkeik wohl fühlen, die ich nichk anders charakkeriſieren kann als mik dem ſymboliſchen Bilde des Januskopfes, denn ſie umfaßk die Vergangenheik und wirkk für die Jukunfk . . . Dier Wochen ſind heuke ſeik unſerem großen Verluſt vergangen. Ich fühle mich in dem ſeeliſchen Kampf, der von ihm hervorgerufen wurde, noch nichk als Sieger. Und er beginnk immer wieder, wenn ich am wenigſten daran denke. Wie ſelkſam iſt doch dieſes doppelte Leben, das wir führen: eines nach außen und eines nach innen, und Liſzk hatte Recht, als er während einer für ihn ſehr ſchweren Zeik der Prüfungen einmal ſagte: es ſchiene ihm, als ob ein zweikes 399 Ich es auf ſich genommen habe, ſie zu erkragen. Da wäre ich bei den inkimen Bekenntniſſen angelangt — die rechte Sprache einer feſt gegründeten Freundſchafk! Und ſie iſt keine bloße Vermukung, ſon⸗ dern die einfache Wahrheik von Seiken Ihres kreueſten Freundes Carl Alexander. Weimar, den 20. März 1890. Die Verlegenheit, meine keuerſte Freundin, ſcheink mir den ſchlimmſken aller Momenke zu ſchaffen, um einen Brief zu ſchreiben. Dieſer Ge⸗ danke iſt für mich zur Ueberzeugung geworden, als ich die Feder ergriff, um Ihnen — endlich! — für Ihren liebenswürdigen Brief zu danken und für die inkereſſanten und werkvollen Rotizen, die ihn begleikeken. Ich bedarf von Seiten Ihrer alken und kreuen Freund⸗ ſchaft aller Rachſichk und all der Güte, die ſich mir gegenüber ſteks bewährk hat, um Ihrer Vergebung angeſichks meiner Rachläſſigkeik und Undankbarkeik ſicher zu ſein. Ich habe aber trotzdem ein Recht, zu verſichern, daß meine Sünden nur ſcheinbare ſind: Sie werden die erſte ſein, mir zu vergeben, wenn Sie Sich erinnern wollen, welch kraurige Pflichken mick, Infang des Monaks nach Berlin geführk haben. Run aber bin ich wieder zu Ihren Füßen mik meinem auf⸗ richtigſten Dankgefühl. Rehmen Sie es als ſolches an. Ihre Rokizen haben den doppelken Reiz eines wichtigen um in⸗ tereſſanken Inhalks und einer enkzückenden, faszinierenden Form. Wir ſollken Ihr Gedächtniß und Ihre Feder in Anſpruch nehmen, um ein Bild der Geſellſchafk Weimars zu zeichnen. Ich habe mir immer gewünſcht, daß ihre Geſchichte geſchrieben würde. Das könnte nicht beſſer geſchehen, als wenn Zeitgenoſſen einzelne Perſonen dar⸗ ſkellen, und Niemand in der Welk wäre dazu beſſer imſtande als Sie. Und ſo ſehen Sie mich abermals als Bitkenden nahen, um Sie 400 zu beſchwören, es zu kun! Die Biographie Okkiliens wäre das erſte, was Sie unkernehmen ſollken. Ein Lebensbild Walker Goethes zu zeichnen, würde ich ſehr gern unternehmen. Wolf hat einen ebenſo treuen wie geſchmackvollen Biographen in ſeinem Freunde Meſer gefunden. Der Salon von johanna Schopenhauer iſt von Stephan Schütze geſchilderk, aber noch nicht veröffentlicht worden. Eine Sammlung würde auf dieſe Weiſe enkſtehen, die an Inkereſſe zu⸗ nehmen würde, je mehr die Epoche ſich enkfernt, die ſie ſchildert, und je mehr die litterariſchen Publikakionen des Goethe⸗Schiller⸗ Archivs forkſchreiten. Dieſe würden für unſere Sammlung erſt die Akmoſphäre ſchaffen. Laſſen Sie mich Ihrem Rachdenken meine Ueberlegungen anverkrauen, während die Vögel von Liebe ſingen und die Blumen den Frühling predigen. Zahlloſe Kindererinne⸗ rungen ſind durch Ihre Rokizen erweckt worden wie Blumen aus dem Lenz meines Lebens, und es iſt nicht ohne tiefe Bewegung — Sie können nicht anders empfunden haben! — daß ich dieſe Zeugen der Vergangenheik vor mir lebendig werden ſah! . . . . . . Wie fehlk mir dauernd mein kreuer Beuſk, und wie anders wäre es, wenn Hie mir nichk auch fehlen würden! Die Reichskagswahlen haben uns hier ſehr beſchäftigt, wir ſind von den Reſulkaten degoukierk. Ich finde Erigens, daß der Moment für den Abſchied des Reichskanzlers ſehr ſchlecht gewählk iſt. Daß er es ſo wollte, verminderk beinahe den Eindruck des Unglücks, das im erſten Momenk empfunden wurde. In der Verlegenheik habe ich angefangen, ich ſchließe mik der Polikik — Beide begegnen einander öfkers — Der Himmel wolle, daß wir von der einen enkfernk bleiben und daß Sie aus der anderen befreien Ihren kreueſten, anhänglichſten und ganz ergebenen Freund Carl Alexander. Im Schatken der Titanen. 26 401 Weimar, den 9. April 1890. Goethe ſagk irgendwo: Du im Leben nichts verſchiebe, Sei Dein Leben Tak um Tat, Und Dein Streben ſei's in Liebe, Und Dein Leben ſei die Tat. Es ſtehk gewiß nichk im Widerſpruch dazu, wenn ich mik der Beankworkung Ihres liebenswürdigen Briefs die Zuſendung des Buchs von II. Aejer über Wolf Goethe verbinde, das Sie ſicherlich inkereſſieren wird. Der Aukor hat es mit Liebe geſchrieben — es gelingk nichts, wie Sie wiſſen, wenn man nicht auch mik dem Herzen bei der Sache iſt! . . . Rur Sie allein, meine ſehr liebe und ver⸗ ehrte Freundin, könnten, wenn Sie die Biographie Okkiliens ſchreiben wollken, ekwas noch weik Beſſeres leiſten, denn ich glaube, daß im allgemeinen die Feder einer Frau mehr dafür geeignet iſt, eine ſo merk⸗ würdige, ungewöhnlich begabke, aber niemals im Gleichgewichk ſich befindende Perſönlichkeik zu charakteriſieren, wie Frau von Goethe es war. Ich komme abermals, um Sie darum zu bitten, ob⸗ wohl ich verſtehe, daß Ihre Freundſchafk für Oktilie Ihnen dabei einige Skrupeln machk. Geſtatken Sie mir dazu zu bemerken, daß es nur menſchlich iſt, Fehler zu haben, daß aber alles Menſchliche nokwendig die Kritik herausforderk, noch mehr jedoch auf Verſkändniß und Vergebung rechnen kann. Die Geſchichte Ok⸗ kiliens iſt im übrigen ſo bekannt, daß es ſich um Indiskretionen dabei kaum mehr handeln kann. Die Biographie ihrer Freundin, Mrs. Jameſon, iſt ein Beweis dafür. Rur um die Auferſtehung der großen Epoche Weimars, die durch Walker Goethes großherziges Vermächtniß hervorgerufen wurde, zur vollſtändigen zu machen, bitte ich Sie, Ihre Erinnerungen und Ihre Feder in den Dienſt der Sache zu ſtellen . . . Meine Frau dankt Ihnen herzlich für Ihre Glück⸗ wünſche, meine Kinder vereinigen ſich mit mir im Gefühl der Liebe 402 und der Dankbarkeik für Sie, und ich danke ihnen noch beſonders und voll kiefer Bewegung für die Worke, die Sie meiner geliebken, unvergeßlichen Mukker gewidmek haben. Ich habe das Recht, ſo zu ſprechen, denn auf der einen Seite führen mich meine Pflichken in die Vergangenheik zurück, auf der anderen lebk mein Herz in ihrem Kulkus. Er wird mik Gotkes Hilfe der Compaß ſein, der mich in die Zukunfk leitek, die ich mich bemühe, im Vorhinein zu verſtehen, indem ich die Geſchichte ſtudiere, und für die ich mich vorbereite, indem ich mich ſelbſt immer weiter zu einer ſelbſtändigen Indivi⸗ dualität zu entwickeln krachke . . . Offene Ausſprachen wie dieſe ſind nur Fortſetzungen unſerer unvergeßlichen Weimarer Unkerhal⸗ tungen. Die Freundſchafk iſt doch die ſüßeſte aller Gewohnheiken. Meinen Sie nichk auch? — edenfalls iſt es die Anſichk Ihres gekreuſten Freundes Carl Alexander. Kurze Zeik nach Empfangkdieſes Briefes ſchrieb mir meine Groß⸗ mukter: „Mein von Dir überſetzker alker Aufſatz über Ottilie iſt freilich keine Biographie und mein Auszug noch weniger, doch bin ich dem alken guten kreuen Freund gern gefällig, der ihn haben will. Er ſchreibk mir guke und ſchöne Briefe und hat mir endlich mein Wegziehen von Weimar vergeben; unſerer Kaiſerin Tod hak uns zu einander iſolierk, und was den ſetzkmenſchen Phraſe iſt, bleibt uns Bedürfnis und Wahrheit. Das ſtumme Rebeneinanderhergehen in Freud und Leid ſchnürk mir jetzk wieder, da die Söhne hier ſind, das Herz zuſammen und nimmk dem Zuſammenleben Troſt und Wärme; wenn auch etwas Tränen und Sorge dabei geſpark werden, ſo wird viel Höheres an Rak, Mitgefühl, Seeleneinfluß und Liebe Preis gegeben oder wenigſtens beſchatkek und verſcharrk . . . Ich bin immer ſehr müde und ſchlafe viel; dabei lächelk eine heitere Frühlingsſonne in mein Zimmer und kanzt freundlich um die Bilder 26* 403 meiner Lieben. Wenn ich im Halbſchlummer liege, iſt es mir, als ob ſie Alle lebendig würden, ofk füllk ſich der Raum ganz an mit trauken Geſtalken — fernen, halb vergeſſenen und ewig geliebten. Dann meine ich oft, ich wäre in Weimar . . . Mein guter Groß⸗ herzog iſt es, der mir die Vergangenheit ſo lebendig vor die Seele zauberk. Ich danke es ihm, denn ſie war ſchön — viel ſchöner als die Gegenwark, und meine Sehnſucht wächſt, je weiter ich mich von ihr enkferne . .. Oder nähere ich mich ihr wieder? . . . Ofk ſchien es, als ſpräche ſie mit teuren, anweſenden Freunden — und doch war das Zimmer leer. Auf einen fragenden, erſtaunten Blick ihrer Kinder ſagte ſie dann lächelnd: „Wunderk Euch nichk — ſie waren wirklich da, ſie reden mik mir, während Ihr ſchweigk - Sie hatte keinerlei Schmerzen, aber ihr Bedürfnis, allein zu ſein, nahm zu, ihre Spaziergänge wurden immer kürzer, und ein äußeres Intereſſe nach dem anderen fiel von ihr ab. Ihr Herz aber lebte ein um ſo ſtärkeres Leben, und aus ihren Augen leuchtete es wie Verklärung. Mitke April ſchrieb ſie dem Großherzog u. A.: „Mutterliebe und Erinnerung ſind meine Lebenselexire. Wie in einen ſchützenden Mankel und undurchdringlichen Harniſch möchte ich Kinder und Enkel hüllen, und dankbar vor dem Abſchied von dieſer Lebensſtufe ein paar immergrüne Blättchen dem zu Füßen legen, der meiner zugend Abgotk, meines reifen Lebens Erzieher, meines Alters Freund und Vorbild iſt. Ihnen brauch ich ihn nichk zu nennen . . . Rehmen Sie, was ich ſchrieb, nur wieder als Zeichen der guten Abſicht an, denn die Kräfte verſagen. Die Vorangegangenen werden mir immer gegenwärtiger. Sie rufen mich!“ Der Großherzog ſchrieb darauf: Weimar, den 26. April 1890. In Ihrem gütigen und intereſſanten Brief vom 16. ſagen Sie mir, daß Ihnen, gnädige Frau, die Biographie von Mrs. Jameſon unbekannk iſt. Ich erlaube mir, ſie Ihnen zuzuſchicken . . . Da Sie 404 Oktiliens Cebensgeheimniſſe kennen, werden Sie zwiſchen den Zeilen leſen, was die Freundſchafk verbergen wollke. Man ſagt, daß der Kaſchnack — der Schleier, mit dem die Frauen des Orienks ihr Anklitz bedecken und der nur die Augen frei läßt — ihnen einen ganz beſonderen Reiz verleiht. Die Seiken der Biographie, in denen von Otkilie die Rede iſt, beſtätigen dieſe Auffaſſung. — Und Walter Goethe, mein Freund Walker, wo bleibt ſein Portraik, ſeine Biographie, die ihn darſtellt, ſo wie er war! Das ſchmerzt mich, denn ich empfinde es als eine Ungerechtigkeit und Undankbarkeik, daß die großen Eigenſchafken dieſer edlen Seele nicht in der Oeffentlichkeik bekannk werden . . . Dürfte ich ſelbſt zur Feder greifen? Um Walker richtig zu beurkeilen, muß man mit ihm vertrauk geweſen ſein, es genügte nicht, ihn zu ſehen oder auch nur mit ihm zu verkehren. Er zeigte ſich nur in der Intimitäk, und ich darf wohl ſagen, daß ich zu denen gehörte, die ihm am nächſten ſkanden ... Seine Schöpfung, das Goethe⸗Schiller⸗Archiv, vervollſtändigk ſich inzwiſchen mehr und mehr, und ich hoffe, daß es ſich nach und nach zum Archiv der deutſchen Litteratur erweitern wird. Sie ſehen: meine Träume ſuchen immer den Frühling! Sie ſprechen vom Herbſt, von den ſchweren Verluſten der Freundſchafk — laſſen Sie mich Ihnen mit einer Hoffnung ankworken. Hoffnung aber läßk nie zu Schanden werden! In kreuſter freundſchaftlicher Geſinnung küßt Ihnen die Hände Ihr alker Freund Carl Alexander. Auf dieſen Brief kam keine Antwork mehr. Die Hand der Achk⸗ undſiebzigjährigen war müde geworden, und ein Schleier nach dem anderen umhüllte ihren Geiſt. Wohl ſuchken auch ihre Träume den Frühling, aber nicht den, der draußen die Bäume mit Blüten be⸗ deckte, der vor ihren Fenſtern Deilchen und Reſeden duften ließ, der 405 mik holden kleinen Lenzesgrüßen ihre Zimmer ſchmückke. Sie ſchlief — ſie kräumte — und wenn ſie die Augen öffnete und des Sohnes oder der Tochter Hand leiſe drückte oder zärklich über das Köpfchen ihres jüngſten Enkelkindes ſtrich — dann war das ihres Gegenwark⸗ lebens einziges Zeichen. Kam der Abend und deckte der dunkle Schleier der Rachk Haus und Garken, dann erſt, ſo ſchien es, ward es lebendig um ſie: wie leiſe Schrikke war's, wenn die Lindenblätter weich über die Scheiben ſtrichen, wie Kauſchen von Gewändern, wenn durch den wilden Wein an der Mauer der Weſtwind ſtrich, wie Flüſtern von Stimmen, wenn über das Dach hin die alken Aſte ſich berührten. Alle ſah ſie, grüßte ſie, lächelke ihnen zu und rief ſie mik Ramen: die Aukker mit dem ſchimmernden Lockenhaar, die Kinder im weißen Roſenkränzchen, den fernen Geliebken mik den durch⸗ geiſtigten Zügen des frühe vom Tode Gezeichneten, den Dichker mik den leuchtenden Augen des Unſterblichen und den Vater, über dem leiſe und feierlich der Adler Rapoleons ſeine Kreiſe zog. Und es kam eine linde funinachk, da zogen ſie die Tochter, die Mukker, die Geliebke, die Freundin mit in ihren Reigen. Niemand ſah, wie ſie ihr nahke — die Wandelung zu höheren Wandelungen! Sie ſtarb allein. Ihre Augen waren geſchloſſen, ihre Hände gefalkek, jede Falke hatke der Tod, ein ſanfker Freund, aus ihrem Anklitz weggewiſcht, ein hoheiksvoll-feierlicher Ernſt lag auf ihren Zügen. — — — — Der Haffwind pfiff über die wogenden Felder, rütkelte die koten Aſte von den Bäumen und ſtreuke weiße und rote und gelbe Blüken über die Wege, als ſie zu Grabe gekragen wurde. Niemand dachke daran, die Dote dorthin zu führen, wo ihres Geiſtes Geburksſtätte, ihres Herzens Heimak war; niemand ſchenkte ihr den letzken Ruhe⸗ platz an der Seite der Mutker, in der Mitke der Freunde, wo ein kreues Gedächknis ihn geſchmückk, Liebe ihn gepflegk häkke. In Le⸗ gikken, mitken im öden Land, dicht an der ſtaubigen Skraße, wo ein ein⸗ ſames Kirchlein zwiſchen ſpärlichen Bäumen ſich erhebk, umgeben 406 von eines kleinen Dorfes armſeligem Friedhof, dork, dicht an der Mauer, liegk ihr Grab. „Die Liebe hörek nimmer auf“ ſkeht in gol⸗ denen Cetkern auf dem eiſernen Kreuz. Aber die, denen ſie ihres ganzen Lebens Liebe ſchenkte — ihre Kinder —, ſind weik, weit fork. Nur die Blumen, die der Zufall zwiſchen dem Epheu wachſen läßt, und die Blüten, die der Wind von den Linden herüberwehk ſchmücken, die Stätke, wo ſie ruhk, und ſtatk daß Worke der Liebe und des Erinnerns ſie grüßen, zwitſchern die Schwalben unker dem Kirchen⸗ dach und das Glöcklein ſingk ſein Sterbelied, wenn neue Schläfer unker ihm einziehen. Fühlk ſie die Einſamkeik, die liebeloſe? Oder weiß ſie, daß Blumen ihrem Grab entſprießen, die nie verwelken, daß ein Ton aus ihm klingt, der ſich dem Siegeslied der Menſchheik vermählt? Mir war's, als hätke ich ihn gehört und müßke ihn weiter verkünden. 407 nmerkungen Seite VIlIf. ¹ Bgl. André Martinet, Jéröme Napoléon, roi de Westphalie. Paris 1902. 2 Dgl. Mémoires et Correspondance du roi Jéröme et de la reine Cathe⸗ rine. Paris 1861—1866. 8 Bände. Bd. 1, S. 18. — Dieſes Quellenwerk umfaßt die ganze Korreſpondenz des Königs mit Mapoleon, mik ſeiner Gattin und mit her⸗ vorragenden Perſönlichkeiten ſeiner Zeik, zugleich das regelmäßig geführte Tagebuch der Königin, ferner die amtlichen Berichte aus den Archiven der Miniſterien des Krieges, der Marine und des Auswärtigen, ſowie einen großen Teil der Berichte des Grafen Reinhard, Geſandken Rapoleons in Kaſſel, an dieſen. 3 Dgl. Mémoires, d. d. O. Bd. 1, S. 20f. 4 Bgl. Martinet, a. a. O. S. IX. 5 Bgl. Mémoires, a. a. O. S. 22, und Martinet, a. a. O. S. X. 6 Vgl. Mémoires, a. d. O. Bd. 1, S. 23. 7 Ugl. Mémoires, d. a. O. Bd. 1, S. 51. s Ugl. Mémoires, a. a. O. Bd. 1, S. 52ff. 9 Pgl. Mémoires, a. d. D. Bd. 1, S. 107 u. 118f. 1o Dgl. Mémoires, d. a. O. Bd. 1, S. 123f. 11 Vgl. Mémoires, a. a. D. Bd. 1, S. 128 bis 324. — Dieſer Abſchnitt enthält die ausführliche Darſtellung der Ehe Jeromes mit Eliſabeth Patterſon und all ihrer Folgen bis zu ſeinem Tode, ſowie zahlreiche Briefe Jeromes an Eliſabeth, auch aus der Zeik nach der Trennung der Ehe. 12 Bgl. Mémoires, a. a. O. Bd. 1, S. 374ff., und Martinet, a. a. O. S. XVIII. 13 Bgl. Martinet, a. d. O. S. XVIII. 14 Bgl. Martinet, a. a. O. S. 19ff., und Mémoires, a. a. O. Bd. 3, S. 71f. 15 Bgl. Dr. Rudolf Goecke und Dr. Theodor Ilgen: Das Königreich Weftfalen. Rach den Quellen dargeſtellk. Düſſeldorf 1888. S. 163. — Die Verfaſſer, unter den deutſchen hiſtorikern des weſtfäliſchen Königkums dieſenigen, die ſich möglichſter Obſek⸗ tivitäk befleißigten, verurkeilen die nach Jeromes Abdankung erſchienenen gemeinen Klatſchgeſchichten über ſeine Regierungszeik, die „nach den Urkeilen Ununkerrichteter die Epoche der Fremdherrſchaft allein ausgefüllt haben“. S. 116. 16 Vgl. Goecke und Ilgen, a. a. O. S. 50f., und Mémoires. Bd. 3, S. 82ff. 17 Ugl. Goecke und Ilgen, a. a. O. S. 122. is A. a. O. S. 117. 19 Dgl. Mémoires, a. a. O. Bd. 3, S. 78f. und S. 90f. 20 Dgl. Martinet, d. d. O. S. 37. 21 A. a. O. S. 45f. 22 Bgl. Mémoires. Bd. 3, S. 129ff. 409 23 Dgl. Goecke und Ilgen, a. a. O. S. 76. 24 Vgl. Martinet, a. a. O. S. 46 ff. 25 A. d. O. S. 50. 26 Memoires, a. d. D. Bd. 4, S. 33. 27 Martinet, d. d. O. S. 85. 28 A. a. O. S. 86. 29 A. a. O. S. 119. 30 Mémoires. Bd. 4, S. 336ff. 31 Goecke und Ilgen, d. a. O. S. 206. 32 Dgl. Martinet, a. d. O. S. 148ff. 33 Bgl. Mémoires, a. a. O. Bd. 5, S. 140. 34 Bgl. Martinet, a. a. O. S. 170ff. 35 A. a. O. S. 185ff. 3s A. a. D. S. 191. 37 Pgl. Goecke und Ilgen, a. a. O. S. 258. 38 Bgl. Martinet, d. d. O. S. 200. 39 Bgl. Mémoires, a. a. O. Bd. 6 und 7. 40 u. 41 Bgl. Mémoires, a. a. O. Bd. 7, S. 46ff., Martinet, a. a. O. S. 274ff. 42 Dgl. Ed. Wertheimer: Die Verbannten des erſten Kaiſerreichs. Leipzig 1897. und Correspondance inédite de la reine Catherine de Westphalie. Publiée par le baron A. du Casse. Paris 1891. 43 Mal. Mémoires, a. a. D., Bd. 5, S. 27, wo von 64000 frs. berichtet wird. die der König ſeiner Frau zur Begleichung ihrer Schulden ſchenkte. Mémoires, a. d. O., Bd. 3, S. 118ff., wo Reinhard von ihrem Toilekkenluxus ſprichk. Bgl. auch Erneſtine v. B.: König Jerome und ſeine Familie im Exil. Leipzig 1870. S. 128f., wo erzählt wird, wie Katharina ſich 100 Paar Schuhe aus Paris beſtellen wollke und Jerome unker Hinweis auf ihre finanzielle Lage ſie vor Verſchwendung warnke. 44 Dgl. Martinet, a. a. O., S. 223, 232, 239, 245, und Mémoires, a. a. O., Bd. 7. S. 233, wo im Detail über den zum Teil vom König von Würkkemberg erzwungenen Verkauf des Schmucks der Königin Katharina, des Silbers, der Kunſtgegenſtände be⸗ richkek wird. 45 Bgl. Goecke und Ilgen, a. a. O. S. 117, und Martinet, a. a. O. S. 52. 46 Dgl. Mémoires, d. a. O. Bd. 3, S. 198ff., Briefe Reinhards vom 15. 1. 1809. 47 Un roi qui s'amusait. Par un indiscret. Paris 1888. S. 40 u. 44. Dies Buch iſt nur inſofern eine zuverläſſige Quelle, als der Aukor Berichke und perſönliche Briefe des Grafen Reinhard zitierk, und es wurde auch nur inſoweik von mir benutzk. 410 48 Geheime Geſchichte des ehemaligen Hofes in Caſſel, Petersburg (Braunſchweig) 1814. Zwei Bände, faſt ausſchließlich voll mehr oder weniger ſchmuhiger, durch nichts beglaubigter Anekdoken. 49 Okko von Bolkenſtern. Am Hofe König Jeromes. Erinnerungen des weſtfäliſchen Pagen von Lehſten. Berlin 1905. S. 29f. Lehſten erzählt unter anderem, um zu be⸗ weiſen, wie groß Jerome gegenüber die Verleumdungsſucht war, daß man bei ſeinem Aufenthalt in Dresden ſeine Pagen — alſo auch ihn, Lehſten — für verkleidete, zum „Harem“ Jeromes gehörige Mädchen gehalken und ſie dadurch aufs bitterſte gekränkt habe. 5o Moritz von Kaiſenberg: König Jerome Rapoleon. Leipzig 1899. — Der Ver⸗ faſſer vermiſcht authentiſche Briefe eines ſeiner Vorfahren mik Briefen einer Frau von Sothen und anderer, in denen zahlreiche Abſchnitke mik Stellen aus der eben zitierken „Geheimen Geſchichte des ehemaligen Hofes in Caſſel“ zum Teil wörklich identiſch ſind. Es ſei nur auf die folgenden hingewieſen: Geheime Geſchichte I S. 91 und Kaiſenberg S. 143, Geh. Geſch. 5. 92 und Kaiſenberg 5. 101, Geh. Geſch. 5. 93 und Kaiſenberg S. 73, Geh. Geſch. S. 96 und Kaiſenberg S. 73, Geh. Geſch. S. 89 und Kaiſenberg S. 74, Geh. Geſch. S. 113 und Kaiſenberg S. 96ff., Geh. Geſch. S. 133 und Kaiſenberg S. 143, Geh. Geſch. S. 174ff. und Kaiſenberg S. 75ff., Geh. Geſch. S. 192 und Kaiſenberg S. 78, Geh. Geſch. S. 235ff. und Kaiſenberg S. 160 uſw. 51 Dgl. Martinet, a. d. O. S. 15. 52 Un roi qui s'amusait, a. a. O. S. 253. 53 Das Tagebuch iſt in den ſieben Bänden der Memoiren vollſtändig veröffentlicht. 54 Correspondance inédite, a. a. O. S. 66f., S. 150f., außerdem die zahlreichen, in den Memoiren veröffenklichten Briefe Katharinens an Jerome, und S. Schloßberger: Briefwechſel der Königin Katharina. Stuttgark 1886. 55 Bgl. Mémoires, a. a. O. Bd. 6, S. 382f. — In ihrer Verzweiflung über die Gewalkmaßregeln, die ihr Vaker ergriffen hatte, um ſie zur Trennung von Jerome zu zwingen, wandte ſich Katharina ſchutzflehend ſowohl an den Kaiſer von Rußland wie an den von Öſterreich, und erniedrigte ſich ſo ſehr, den Falſcheſten unker den Falſchen, Metkernich, um ſeine Unterſtützung zu bitten. Ihre Empörung über ihre Familie, die alles kat, um ihren Mann in ihren Augen herabzuſetzen, und die Ciebe zu ihm, der „das ganze Glück meines Lebens iſt“, drückt ſich darin rährend aus. Ugl. Correspondance inédite, d. d. O. S. 165. 56 Pgl. Erlebniſſe in kurheſſiſchen und ruſſiſchen Dienſten und Erinnerungen an die Geſellſchaft in Weimar des Freiherrn Alfred Rabe von Pappenheim. Marburg 1892. 57 IIn roi qui s'amusait, d. d. O. S. 225 u. 229. Berichte Reinhards. 58 Bal. Almanach roval de Westphalie pour l'an 1810. S. 62 u. 65. 5s Un roi qui s'amusait, a. a. O. S. 236. Bericht Reinhards. 411 8o A. a. O. S. 210f. 61 A. a. D. S. 199. 62 Bgl. G. Th. Stichling, Ernſt Chriſtian Auguſt von Gersdorff. Weimar 1853. e3 Bgl. Briefwechſel zwiſchen Goethe und Miniſter von Gersdorff. Mitgekeilt von Lily von Kretſchman. Goethe⸗Jahrbuch. 1892. Bd. 13, S. 98ff. 84 Dgl. Graf Ferdinand Eckbrecht von Dürckheim: Lili's Bild. München 1894. 65 Bgl. Dr. Karl Mendelsſohn⸗Bartholdy: Goethe und Felix Mendelsſohn. Ceipzig 1871. S. 27. 67 Dieſes Gedicht befindet ſich in meinem Beſit. Der Bogen, ſchönes engliſches Papier, war mit blauem Umſchlag verſehen und gerollt; die Adreſſe, auch von Goethes Hand geſchrieben, enthält nur den Ramen der Empfängerin „Fräulein Jenny von Pappenheim“, das Siegel iſt faſt ganz abgebrochen. es Die Beſcheidenheik verbietek hier, wie es ſcheint, meiner Goßmutker, zu wieder⸗ holen, was ſie mir in Bezug auf dieſen King, den ſie mir geſchenkt hat, erzählte. Von dem kleinen ſchwarzen Pfeil, einem Stückchen Kohle vielleicht, in einem Bergkriſtall ein⸗ geſchloſſen, ſagte Goethe: „Das iſt der Pfeil, mik dem Sie mich gekroffen haben.“ 69 Die „Iphigenie“ mit Goethes Widmung, die ich gleichfalls beſitze, iſt die Jubiläums⸗ ausgabe von 1825, mit dem Prolog vom Kanzler von Müller, in Quark, hellblau gebunden. 70 Dieſes Blatk habe ich einem Frankfurker Goethe-Verehrer zum Geſchenk gemacht. 71 Maler Müllers Porkrät der Gräfin Vaudreuil, ein Paſtellbild, befindet ſich im Goethe⸗Muſeum. 72 Bgl. meinen Artikel „Weimars Geſellſchaft und das Chaos“ in Weſtermanns Monatsheften 1893. 73 Es handelt ſich nur um einen Brief vom 28. Auguſk 1831 (ſiehe Goethe⸗ Jahrbuch XII. 1891) den Goethe unter dem Titel „Berner Oberland“ in drei Teilen im „Chaos“ veröffentlichte. Unter dem „Volkslied“ iſt das bekannte „Lieblingsplähchen“ gemeint, das nicht, wie Mendelsſohn in der Kompoſition angibk, dem „Wunderhorn“ enknommen iſt, ſondern dem „Chaos“ Rr. 41. Als Verfaſſerin wird „Friederike“ an⸗ gegeben, das Pſeudonym für Bettina. 74 Vgl. Erlebniſſe in kurheſſiſchen und ruſſiſchen Dienſten und Erinnerungen an die Geſellſchaft in Weimgr aus der Goethezeit des Freiherrn Alfred Kabe von Pappen⸗ heim. Marburg 1892. S. 40f. 75 Ugl. „Die litterariſchen Abende der Großherzogin Maria Paulowna“, von Cily von Kretſchman, in der „Deutſchen Rundſchau“. Berlin 1893. 412