Die neue Frau 1876. 2915. in der Dichtung von Lily von Giznycki Verlag von J. H. W. Dietz in Stuttgart Die neue Frau in der Dichtung Neue Frau in der Dichtung Die Don Lily v. Gizycki Verlag von J. H. W. Dietz in Stuttgart Druck von J. H. W. Dietz in Stuttgart. Im klaſſiſchen Lande der Frauenbewegung, KS in England, ging vor einem Jahre ein Schauſpiel über die Bretter, durch das der Kampf für und wider die Rechte der Frauen ſo heftig wurde, wie nur je in der Zeit ſeines erſten Aus⸗ bruchs. Die Zugkraft, welche das Werk auf das Publikum ausübte, und die Debatten, die es hervor⸗ rief, hatte es jedoch weder ſeinem künſtleriſchen Gehalt, noch ſeinem Witz und ſeiner Originalität zu verdanken, ſondern lediglich ſeinem Titel: „Die neue Frau“ — The new Woman. The new Woman wurde das Feldgeſchrei hüben und drüben, und wie die Geuſen den Spottnamen, den ihnen ihre Feinde gegeben hatten, zu ihrem Ehrennamen erwählten, ſo wurde die Bezeichnung „die neue Frau“ von den Führerinnen der Frauenbewegung zum Inbegriff alles deſſen erhoben, was ſie aus der rechtloſen, geiſtig geknebelten Frau der Gegenwart 5 machen wollten. Die neuen Frauen dagegen, die der Verfaſſer des Schauſpiels den Zuſchauern als ſolche vorführte, waren einerſeits die auch in Deutſchland nicht unbekannte Karrikatur der „Emanzipirten“: die männlich auftretende, ſchlecht angezogene, kurzhaarige, bebrillte alte Jungfer; und andererſeits jener uns gleichfalls nicht fremde Typus der geiſtreichen, ſchönen Frau, die unter der Maske der Genialität und mit dem angemaßten Vorrecht des Uebermenſchenthums ihren niedrigen Gelüſten glaubt fröhnen zu dürfen. In der Geſellſchaft ſolcher Frauen finden wir den Helden, einen jungen Gelehrten, der uns vor allem deshalb beſonders bedauernswerth erſcheinen ſoll, weil ſeine Freundinnen ihm alle Tage angebrannten Kalbsbraten vorſetzen. Die Schmeicheleien, mit denen ſie ihn ſonſt von früh bis ſpät füttern, ver⸗ mögen ihn natürlich auf die Dauer nicht ſatt zu machen. Ein Zufall, der ihn mit dem Kammer⸗ mädchen ſeiner Mutter zuſammenführt, läßt ihn, um mit Laura Marholm zu ſprechen, die volle Weibnatur in ihr entdecken. Er giebt ſämmtlichen neuen Frauen den Abſchied, um von nun ab an der Seite der Erwählten bei gutem, abwechslungs⸗ reichem Dinner Hymnen auf das Ewig Weibliche 6 zu ſingen. Und alle Ehemänner, die unter den zahlloſen Meetings ſeufzten, bei denen ihre rede⸗ gewandten beſſeren Hälften nie fehlten, und alle jungen Männer, denen die weiblichen Kommilitonen mehr und mehr den Rang ſtreitig zu machen drohten, applaudirten dem Helden und erklärten das naive, von keinem Wiſſenskram beladene, roth⸗ wangige Landkind für das Ideal der Frau, ja für die eigentliche „neue Frau“ ſelbſt. Von den Rednertribünen und aus den Spalten der Preſſe ertönte der Streit um die neue Frau. Daß ſie ſelbſt in ihren verſchiedenen Variationen ſchon ſeit Jahren der Gegenſtand eifrigen Studiums aller derer iſt, die uns mit ihren Novellen, Ro⸗ manen und Dramen überſchütten, beachteten die um das neue Schlagwort Kämpfenden kaum. Gerade die engliſche Literatur hat eine beſondere Art Romane gezeitigt, die man füglich die Frauen⸗ bewegungs⸗Romane nennen kann und deren Hel⸗ dinnen Typen „neuer Frauen“ ſind. Der künſt⸗ leriſche Werth der großen Maſſe dieſer Werke iſt meiſt gleich Null. Die ſtreitbaren Verfaſſerinnen haben ihre Anſichten über Welt und Menſchen im Allgemeinen, die ſoziale und die Frauenfrage im 7 Beſonderen dem Publikum durch die bequeme Form der Erzählung mundgerecht zu machen geſucht. Ihre Heldinnen ſind Automaten, die es vermöge der großen auf ſie verwendeten Kunſtfertigkeit zu⸗ weilen bis zu einem ſpukhaften Leben bringen. Aus der Maſſe der neuen Frauen in der modernen engliſchen Dichtung treten nur drei beſonders her⸗ vor: Mrs. Wards Marzella, Sarah Grants Evadne in den „Heavenly Twins“ und Grant Allens Herminia in „The woman who did. Sie ſind zwar auch nur verkörperte Tendenz, aber als ſolche von großem Intereſſe, da ſie die Urbilder zahl⸗ loſer mehr oder weniger gelungenen Frauengeſtalten ſind, die uns in Büchern und Journalen begegnen. Da iſt zunächſt Marzella, eine revolted daughter, die ihre Selbſtändigkeit erkämpft und dann in die Welt hinauszieht, um etwas zu leiſten. Sie ver⸗ ſucht auf alle Weiſe ihre Kräfte in den Dienſt der Menſchheit zu ſtellen, aber — und das iſt charak⸗ teriſtiſch für die Auffaſſung der Verfaſſerin und der Kreiſe, für die ſie ſchreibt — ſie thut es nicht mit der vollen Hingabe ihrer ganzen Perſon. Wie es zahlloſe Chriſten giebt, die nur alle ſieben Tage einmal ihr Sonntagskleid anziehen und damit ihrem 8 Gemüth das religiöſe Mäntelchen umwerfen, die übrigen ſechs Tage aber innerlich und äußerlich in Werktagskleidern umherlaufen, ſo giebt es reichlich ebenſoviel Philanthropen, deren geiſtiges Ich ſtändig die Kleidung wechſelt. Der wahre Reformer iſt ein Menſch aus einem Guß, der energiſch, rück⸗ ſichtslos aus ſeinem Kreiſe heraustritt und ſich voll und ganz einſetzt für ſein Ideal. Die Marzella⸗ Naturen ſuchen inmitten ihrer verſchiedenartigen, raſtloſen Thätigkeit eigentlich nur ſich ſelbſt; ſie halten ſich, unbewußt vielleicht, immer ein Hinter⸗ thürchen offen, durch das ſie, wenn ſie ſich einmal zu weit ins feindliche Leben hinausgewagt haben, den Weg au sein de la famille zurückfinden. Mrs. Humphry Wards Heldin iſt ein Ideal, aber nicht das der „neuen Frau“, ſondern das all der vielen revoltirenden Töchter, die ſich aus ihrem öden, zweckloſen Daſein hinausſehnen und irgend⸗ wie und irgendwo Befriedigung ſuchen. Sie ſind unzufrieden mit ſich und der Welt, denn man kann ihnen die Augen nicht mehr ganz vor allem ver⸗ ſchließen, was um ſie her verkehrt und ſchlecht iſt, aber ſie ſind geiſtig zu ungeſchult und unfrei, um zu wiſſen, was ſie mit dieſer Unzufriedenheit an⸗ 9 fangen ſollen. Sinken ſie ſchließlich, wie Marzella, dem geliebten Manne in die Arme, ſo vergeſſen ſie meiſt nach und nach inmitten einer Schaar von Kindern ihre unklaren Welterlöſungsträume. Sarah Grands Evadne hat mit Mrs. Wards Marzella nichts gemein. Sie iſt zweifellos von demſelben Stamme, wie Björnſons Svava, die ihrem geliebten Bräutigam den Handſchuh ins Geſicht wirft, als ſie erfährt, daß er nicht rein wie ſie in die Ehe tritt. Evadne hört erſt nach der Trauung von ihres Gatten Vorleben. Die erſte Schwärmerei eines jungen Mädchens pflegt an der Berührung mit der rauhen Wirklichkeit faſt immer Schiffbruch zu leiden, um ſo mehr wenn ihr Gegenſtand ein wirklich unwürdiger iſt; daher erſcheint Evadnes Ernüchte⸗ rung und ſchneller Entſchluß, ſich von dem ange⸗ trauten Manne zu trennen, pſychologiſch wahr⸗ ſcheinlich. Sie vermag ihn freilich den Vorwürfen ihrer Familie gegenüber nicht aufrecht zu erhalten und findet ſchließlich den Ausweg in einer Schein⸗ Ehe, in der ſie faſt zu Grunde geht und die wir bis ins kleinſte Detail kennen lernen. Aber dieſe langathmige Erzählung und die Schilderung der Schickſale ihrer Freunde bilden nur den Rahmen 10 für den eigentlichen Inhalt: den Kampf für die Gleichberechtigung der Geſchlechter auf ſittlichem Gebiet. Dieſer Kampf gegen die doppelte Moral iſt zweifellos ebenſo berechtigt, wie der Kampf An⸗ derer gegen doppeltes Recht. Jede Frau, deren Selbſtgefühl als Menſch nicht ſchon durch die Er⸗ ziehung im Keime erſtickt worden iſt und die nicht künſtlich blind gemacht wurde für all den Jammer und das Elend, das der doppelten Moral entſpringt, wird in dieſen Kampf eintreten. Aber ſofern ſie ein auf dem Boden moderner wiſſenſchaftlicher Er⸗ kenntniß ſtehender Menſch iſt, wird ſie einſehen, daß dieſe doppelte Moral ſich als das Reſultat einer langen geſchichtlichen Entwicklung darſtellt und mit den ſozialen und wirthſchaftlichen Verhältniſſen der Gegenwart in enger Verbindung ſteht. Darnach wird ſie ihre Waffen wählen und nicht die wuchern⸗ den Triebe des Baumes abhauen, die dann doch nur um ſo kräftiger wieder hervorſchießen, ſondern die Axt an die Wurzeln legen, damit der ganze Baum fällt. Hat ſie aber dabei auch ein durch die konventionelle Dreſſur nicht verkrüppeltes Herz, ſo wird ſie keine Heldin wie Svava und keine ſenti⸗ mentale Salondame wie Evadne werden. Sie wird 11 ſich und den Mann, der einmal ſchwach, aber nie gemein war, den ſie liebt und der ſie wieder liebt, nicht auf alle Zeiten unglücklich machen. Denn über Theorien, und mögen ſie noch ſo wohlbegründet ſein, triumphirt doch ſchließlich das Herz des Weibes. Hat ſie aber, wie Evadne, ein Recht, den Mann zu verachten, dem ſie in flüchtiger Leidenſchaft ſich verlobte, ſo wird ſie ſich ſelbſt und ihr ganzes Leben doch wohl zu hoch einſchätzen, als daß ſie es der Rückſicht auf das Geklatſch der lieben Nachbarn zum Opfer bringt. Weder die „neue Frau“ der Mrs. Humphry Ward, noch die der Sarah Grant iſt lebenswahr oder lebenswürdig. Wenn Marzella auch bei uns leidenſchaftliche Bewunderer findet, ſo iſt der Haupt⸗ grund, fürchte ich, der, daß ſie im Laufe ihrer Ent⸗ wicklung einmal auch Sozialdemokratin wird, ſich aber ſehr bald von der „Unhaltbarkeit“ ihrer Ideale überzeugen und zu der Erlöſung der Menſchheit auf dem Wege chriſtlicher Wohlthätigkeit bekehren läßt. Und wenn eine Evadne Anerkennung findet, ſo geſchieht es wohl leider deshalb, weil die Er⸗ gebung in ſein Schickſal bis zur Selbſtvernichtung, auch wenn Niemand dadurch irgend einen Gewinn 12 hat, noch immer für heldenhafter gilt, als der Kampf gegen die Vorurtheile der ganzen Welt, durch den nicht nur die einzelne Perſönlichkeit ge⸗ rettet, ſondern auch der Menſchheit ein weſentlicher Dienſt geleiſtet wird. Das Aufſehen, das Mar⸗ zella machte, wurde von Sarah Grants „Himm⸗ liſchen Zwillingen“ noch übertroffen, es war aber doch mit dem Sturme nicht zu vergleichen, den Grand Allens „Woman who did“ hervorrief. „Aber ſicherlich wird keine Frau wagen, es zu thun“, ſagte der Freund des Autors zu ihm. „Ich kenne eine Frau, die es that“, antwortet ihm dieſer und erzählt Herminias Geſchichte. Sie iſt auch eine revolted daughter, die ihrem Vater, einem hoch⸗ ſtehenden Kirchenfürſten, ſchwere Sorgen macht, aber ſie redet nicht nur über ihre radikalen An⸗ ſichten, ſie zieht ihre äußerſten Konſequenzen und handelt darnach. Die Befreiung ihres Geſchlechts, ſeine Erhebung zu einem freien Menſchenthum iſt das Ziel, dem ſie zuſtrebt. Auf dem Wege dahin hat ſie alle Stadien der Frauenbewegung kennen gelernt und hat ſchließlich die Ueberzeugung ge⸗ wonnen, daß weder eine den Geſchlechtern gemein⸗ ſame intellektuelle Bildung, noch eine rechtliche und 13 politiſche Gleichſtellung mit dem Manne zu der er⸗ ſehnten Befreiung führt, wenn ſie nicht mit der ſozialen und moraliſchen Emanzipation der Frau Hand in Hand geht. Der unaufhörliche Druck ethiſcher und ſozialer Beſchränkungen iſt es, der nach Herminias Anſicht die Frau verſklavt. Eine Revolutionärin durch und durch, wendet ſie ſich gegen jede Art von Monopoliſirung. Weder der Mann noch das Weib haben das Recht, die Gattin oder den Gatten durch geſetzliche und kirchliche Feſſeln an ſich zu ketten, denn die Beziehungen der Ge⸗ ſchlechter zu einander können nur dann ſittlich ge⸗ rechtfertigt werden, wenn ſie allein auf gegenſeitiger Liebe und völliger Freiheit beruhen. Menſchen, die ſich lieben, bedürfen keines künſtlichen Zuſammen⸗ halts; Menſchen, die ſich nicht lieben, begehen ein Verbrechen an ſich und ihren Kindern, wenn ſie zuſammen bleiben. So philoſophirt Herminia, und als ſie den Mann findet, zu dem ihr Herz ſie hin⸗ zieht, weigert ſie ſich, getreu ihren Grundſätzen, nach altem Brauch ſein Weib zu werden. An dem Bibelwort feſthaltend: „Die Wahrheit wird euch frei machen“, hegt ſie den kindlichen Glauben, daß wenn ſie, die Eine, die Erſte, durch die That für 14 ihre Ueberzeugung eintritt, der Bann gebrochen ſein wird, der ihr Geſchlecht bisher von der Selbſt⸗ befreiung zurückhielt. Ihre frei geborenen Kinder ſollen ihr Werk fortſetzen. Nach langem Kampfe, den ſie mit allen Waffen ihres glänzenden Geiſtes gegen die Vernunftgründe ihres Geliebten führt, ergiebt ſich' dieſer und willigt ein, in freier Ehe mit ihr zu leben. Aber nach wenigen Monaten ſtirbt er und nun beginnt ein jahrelanges Martyrium für Herminia und ihr Kind. Trotz allem aber, was ſie erfährt, hält ſie an ihrer Ueberzeugung feſt. Sie kommt in die größte Noth; da erbietet ſich der Vater ihres verſtorbenen Gatten, ihre Tochter zu adoptiren und ihr dadurch nicht nur den Namen des Vaters, ſondern auch deſſen Erbe zu ſichern. Auch hier, wo es ſich um die Zukunft ihres Kindes handelt, beharrt ſie auf ihrer Weigerung. Je älter ihre Tochter wird, deſto mehr empfindet dieſe, daß ihre Mutter ihr eine ſchiefe Stellung im Leben ge⸗ ſchaffen hat. Sie entfremdet ſich ihr mehr und mehr, und als ihre außereheliche Geburt ihr bekannt wird und ſich zwiſchen ſie und ihr Lebensglück wie eine unüberſteigbare Scheidewand aufbaut, da ver⸗ läßt ſie die Mutter. Für Herminia iſt das der 15 Todesſtoß: ihr Kind ſchämt ſich ihrer, ihr Kind verleugnet ſie und wird unglücklich durch ſie — was bleibt ihr Anderes übrig, als freiwillig in den Tod zu gehen? Iſt ſie die „neue Frau“? Sie iſt ſtark und energiſch; ſie nimmt den Kampf mit dem Leben freiwillig auf ſich und wahrt ihre Selbſtändigkeit, ſie liebt ihren Mann und ihr Kind, aber iſt ſie bei alledem ein Weib? — Der Verfaſſer hat einen Tendenzroman für die freie Ehe ſchreiben wollen, da er ihn aber in die Gegenwart verlegte, ſchrieb er wider Willen ſchließlich gegen ſie. Herminia erſcheint uns nicht, wie er wünſcht, als Märtyrerin einer großen Sache, ſondern wir fühlen uns ver⸗ ſucht, über ihre Unvernunft zu lächeln, die das Reſultat einer jahrhundertelangen Entwicklung: die legale Ehe, mit einem Streich vernichten will, und ſie um ihrer Herzloſigkeit willen zu verurtheilen, die ſie ihre Theorie über ihr Kind ſtellen läßt. Eine Herminia, die ſo klar denkt und ſo unterrichtet iſt, wie Grant Allen es uns glauben laſſen will, wird vor der Korruption der Beziehungen der Ge⸗ ſchlechter zu einander, vor dem Elend der modernen Ehe ſelbſtverſtändlich nicht in falſcher Prüderie die 16 Augen verſchließen, ſondern erkennen, daß einer der Hauptgründe für die ſittliche Verkommenheit der ziviliſirten Geſellſchaft hier zu ſuchen iſt; aber ſie wird nicht ſo thöricht ſein, ſich einzubilden, daß die Gründung der freien Ehe zwiſchen zwei noch ſo ausgezeichneten Menſchen irgend eine Wandlung ſchafft. Selbſt wenn die Mehrzahl aller ſich ver⸗ einigenden Paare ihrem Beiſpiel auf dem Boden der gegenwärtigen ſozialen und wirthſchaftlichen Zuſtände folgen wollte, wäre für die ſittliche Er⸗ neuerung der Menſchheit wenig oder nichts geſchehen. Nur noch mehr würde die Frau verſklaven, die ja nach wie vor die wirthſchaftlich Schwächere bliebe. Die vermögende Frau brauchte, auch wenn ſie Kin⸗ der hat, vor der Löſung der freien Ehe nicht zu zittern, aber ſo lange die kapitaliſtiſche Wirthſchafts⸗ ordnung mit all ihrem korrumpirenden Gefolge von Konkurrenz⸗ und Exiſtenzkämpfen beſteht, würde die arme Frau und ihre Nachkommenſchaft durch Her⸗ minias Ideal einer freien Ehe nur noch unfreier werden, als bisher. Grant Allens „Woman who did“ hat nur auf engliſchem Boden entſtehen können; denn nicht lediglich aus ihrer Phantaſie heraus ſchaffen die 17 Dichter, auch die, welche nur einer Tendenz dienen, ihre Geſtalten. Sie ſelbſt und ihr ganzer Gedanken⸗ gang hängt nothwendig mit ihrer Umgebung zu⸗ ſammen und wird von ihr beeinflußt. Nun giebt es aber wohl kaum ein Land, wo die tief einſchnei⸗ denden Fragen der Beziehungen der Geſchlechter zu einander häufiger und mit größerem ſittlichen Ernſt behandelt werden, als in England. Grant Allen hat zahlloſe Vorläufer und Nachfolger und iſt ebenſo gut im Salon wie in der Preſſe, von der Redner⸗ tribüne wie von der Kanzel aus behandelt worden. Eine Frau von der Bedeutung und geſellſchaftlichen Stellung wie Lady Henry Somerſet hat ſich nicht geſcheut, öffentlich gegen die Unſittlichkeit der liebe⸗ loſen Ehen zu ſprechen; die bedeutendſten Zeit⸗ ſchriften haben längſt ihre Spalten eingehenden Be⸗ ſprechungen dieſer Fragen geöffnet, die — und das wird von allen ernſter Forſchenden anerkannt — keine lediglich ethiſchen, ſondern wirthſchaftliche ſind. Die bürgerlichen Frauen Englands ſind durch ihre durchſchnittlich höhere Bildung, ihre größere Wohl⸗ habenheit und Selbſtändigkeit, ihre zum großen Theil vollzogene rechtliche und politiſche Gleichſtellung mit dem Manne auf einem Höhepunkt angelangt, 18 von dem aus ſie das eroberte Gebiet überſchauen und zugleich ſehen können, was noch für ſie zu thun übrig bleibt. Sie ſehen, daß ſie thatſächlich noch unfrei ſind, und eine Herminia, die ernſthaft mit ihrem Freunde über die ſittliche Befreiung ihres Geſchlechts philoſophirt, iſt unter ihnen nicht ſelten. Ebenſo wie ſie kann eine Evadne, eine Marzella nur engliſchen Urſprungs ſein. Sie haben alle drei, ſo verſchieden ſie untereinander ſind, einen gemein⸗ ſamen Zug: den Trieb zur Befreiung. Wie aber ganze Völker und einzelne Geſellſchaftsklaſſen ſchon eine gewiſſe moraliſche und wirthſchaftliche Selbſt⸗ ſtändigkeit erlangt haben müſſen, um dieſen Trieb lebendig zu fühlen, ſo iſt es auch mit den Frauen. Wo ihr Freiheitsdrang ſie in den Kampf getrieben hat, da fehlt es dann auch nicht an ſeinen Aus⸗ wüchſen. Darum ſind auch die Karrikaturen der „New Woman“, von deren Schilderung wir aus⸗ gingen, nicht lediglich in dem haßerfüllten Hirn eines Anti⸗Frauenrechtlers entſtanden. — Neben den Engländern haben die anderen Völker germaniſcher Raſſe durch ihre Dichter die „neue Frau“, wie ſie ſich aus ihrer Mitte ent⸗ wickelt, in ihren zahlloſen Abarten geſchildert. Die 19 „neue Frau“ der romaniſchen Raſſe iſt eine ſo vollſtändig andere und gehört vorläufig faſt ganz der Decadence an, daß wir ihr das Prädikat „neu“ kaum zu geben vermögen und daher im Rahmen dieſer Erörterungen lieber von ihr abſehen. Schweden, Norwegen und Dänemark haben uns nicht nur mit den Werken ihrer Dichter, ſon⸗ dern auch mit den Dichtern ſelbſt überſchwemmt, und es iſt nicht leicht, aus der Maſſe der Frauen⸗ geſtalten, die ſie uns vorführen, die charakteriſtiſchſten herauszugreifen, die modernſten unter ihnen geben alle dieſelbe Zeitſtrömung wieder: die Reaktion gegen die durch Björnſon einerſeits und Ibſen andererſeits hervorgerufene und getragene Frauen⸗ bewegung. Björnſon hat vielleicht noch mehr Schule gemacht als Ibſen: dem Apoſtel der Reinheit hul⸗ digen nicht nur, wie Laura Marholm behauptet, die unbefriedigten Frauen und alten Mädchen, ſon⸗ dern auch alle die ehrlichen Seelen, denen das moraliſche Elend ihres Geſchlechts das Herz zerreißt, die aber in Folge ihrer Einſichtsloſigkeit, ihres Mangels an geſchichtlichem Sinne kein anderes Mittel dagegen kennen, als Sittenpredigten und Polizeiverordnungen. Ibſen wurde dagegen der 20 Verkündiger des Evangeliums der unverſtandenen, nach Freiheit und Perſönlichkeit ringenden Frauen⸗ naturen, aber er wurde auch der Verderber der Vielen, die dieſes Ringen, dieſes Unverſtandenſein nur affektiren, nicht nur weil es Mode geworden iſt, ſondern weil es das leere Leben unbeſchäftigter Frauen angenehm ausfüllt, ſie vor ſich ſelbſt inter⸗ eſſant macht. Als Ibſens „Nora“ ihren Triumph⸗ zug durch die Welt hielt, glaubten Hunderte von Frauen, die in athemloſer Spannung vor der Bühne ſaßen, ſich ſelbſt in dieſer „neuen Frau“ wiederzufinden. Und führen nicht auch Hunderte eine Schattenehe wie ſie? Kommt es nicht vor, daß nach jahrelangem Zuſammenleben, das durch kein aufregendes Ereigniß unterbrochen wurde, plötzlich der Augenblick eintritt, wo die Frau er⸗ kennt, daß ihr Gatte ihr ein Fremder iſt, wo ihr zum Bewußtſein kommt, daß ſie niemals, wie Nora ſagt, „ein ernſtes Wort über ernſte Dinge ge⸗ wechſelt“ haben? Ibſens neue Frau zieht die Kon⸗ ſequenzen dieſer Erkenntniß, ſie bleibt nicht bei dem „fremden Manne“, ſie kann ihr Puppendaſein nicht fortſetzen, ſie geht aus Pflicht gegen ſich ſelbſt und tritt, ohne zu zögern, allein mitten in den Kampf 21 ums Daſein. Das „Wunderbare“, auf das der charakterloſe Schwächling von Mann noch hofft, wird ſicherlich nicht eintreten, denn Nora wird noch weiter über ihn hinauswachſen, als ſie ſchon hinaus⸗ gewachſen iſt. Ihre That wäre eine ſittliche That, des Ideals der „neuen Frau“ würdig, wenn ſie nicht durch einen Umſtand, der den männlichen Ver⸗ faſſer kennzeichnet, zu einer brutal egoiſtiſchen würde: Nora verläßt nicht nur den „fremden Mann“, ſon⸗ dern auch ihre kleinen Kinder. Sie überläßt in vollſter Seelenruhe ihre Kinder dem Manne, deſſen ganze Erbärmlichkeit ſie durchſchaut hat. Und von hier geht der ſchädigende Einfluß dieſer Ibſenſchen „neuen Frau“ aus: Zahlloſe Talmi⸗Noras, arm an Geiſt, kalt am Herzen und nur ſtark in ihrer Ich⸗ ſucht laufen durch die Welt. Die echte Nora, zu deren Vollendung dem grübelnden Dichter das tiefe Gefühl gefehlt hat, hätte ihre Erkenntniß zuerſt dadurch bethätigt, daß ſie ihre Kinder mit ſich nimmt, daß ſie ſie erkämpft, wenn es ſein muß, ſie heraus⸗ reißt aus der Atmoſphäre, in der ſie geiſtig und ſittlich erſticken müſſen. Unter Ibſens Frauengeſtalten iſt nicht eine, welche ganz Weib iſt, aber andererſeits iſt auch 22 nicht eine unter ihnen, die nicht mit der Wahr⸗ haftigkeit einer nicht retouchirten Photographie irgend eine Variation der neuen Frau darſtellte: Ellida, die mit ihren romantiſchen Träumen ſpielt, aber dann, wenn aus dem Traume Wirklichkeit wird, entſetzt zurückſchreckt und „in Freiheit und eigener Verantwortung“ zu ihrem guten, proſaiſchen Manne zurückkehrt, Lona und Petra, die unter dem Drucke ihres trübſeligen Lebens jede Spur blühender Weiblichkeit verloren haben, Frau Alving, die durch die Höllenqual der entſetzlichſten Ehe hindurchging und zum denkenden, ſtarken, furcht⸗ loſen Weibe ward — und all die anderen oft epiſodiſchen, immer charakteriſtiſchen Geſtalten, die nur Eins gemeinſam haben: das dumpfe Sehnen hinaus aus der Enge des Heims, des Geſichts⸗ kreiſes, oder der Geſellſchaft. Ibſen zerlegte die neue Frau vor uns, wie der Forſcher eine Blume zerlegt, aber wie dieſer uns ſelbſt durch die ſchärfſte Lupe ihren Duft nicht zeigen kann, ſo konnte uns Ibſen nichts von dem zeigen, was er ſelbſt nicht ſieht: das Herz, die Weiblichkeit. Nichts rächt ſich mehr, als eine Sünde wider die Natur. Björnſons Svava, durch welche er die 23 Blüthe verfeinerter Weiblichkeit darſtellen wollte, hat mit ihrer liebloſen Prüderie all die kaltherzigen Mannweiber großgezogen, die zu weit verderblicheren Gliedern der menſchlichen Geſellſchaft wurden, als die ſtrickenden, klatſchenden alten Jungfern früherer Zeiten; und Ibſens Frauen treten im Leben als jene nach Effekt haſchenden, abenteuerluſtigen Weiber auf, die ihre Unwahrhaftigkeit bis zum naivſten Selbſtbelügen treiben. Sie alle kämpfen gegen den Mann, ſind oder geberden ſich als ſeine Opfer. Die Reaktion blieb nicht aus. Eine andere neue Frau entſtand aus dem Herzen des Volkes und den Büchern der jungen Dichter; ſie iſt ganz Weib, nur Weib. Ihren reinſten Typus hat Peter Nanſen in ſeiner Maria und ſeiner Grethe geſchaffen. Marias Weſen erſchöpft ſich in Liebe; ſie giebt ſich dem Geliebten hin, furchtlos, fraglos, und als er ſie gehen heißt, geht ſie; hat er ihr doch von Anfang an gelehrt, daß ſeine Liebe eine vergäng⸗ liche ſei und er keinen Zwang ertrüge. Aber er täuſcht ſich; aus der Schaar der Frauen, die er kennt, iſt ihm zum erſten Male das wahrhaft liebende, natürliche Weib begegnet. Er will ſich von ihr befreien und redet ihr zu, einem wohl⸗ 24 habenden Bewerber die Hand zu reichen. Sie, die alles thut, was er will, willigt ein, obwohl ſie heimlich auf die elfte Stunde hofft, in der der Geliebte ſie doch nicht freilaſſen wird. Und ſo geſchieht es; er, der lockere Schmetterling, fühlt, daß er zum erſten Male, daß er auf immer liebt. Marias ſelbſtloſe Liebe hat ihn beſiegt; Marias Glauben an die Liebe hat triumphirt. Die Grethe in Nanſens „Gottesfrieden“ iſt keine neue Geſtalt, ſondern nur die Vertiefung der Maria. Das auf dem Müllerberge neben dem wunderlichen Vater einſam aufwachſende Mädchen, deſſen Gefühls⸗ und Gedankenwelt von der Hyper⸗ kultur unſerer Zeit unberührt blieb, tritt dem aus der drückenden Luft der Reſidenz entronnenen Manne wie eine Offenbarung entgegen. Er ſieht, wie ſie mit Kindern ſpielt, wie die zärtlichſte Mutterliebe der Jungfrau dabei aus den Augen ſtrahlt und er hört, wie ſie mit all der reinen Wahrhaftigkeit ihres Weſens ſagt, wie ſelig ſie ſein würde, wenn eines dieſer Kinder ihr Kind wäre. Als ſie ſich verlobt haben, frägt er ſie ein⸗ mal, ob ſeine Vergangenheit ihr keine Sorge mache. Sie verneint es; nicht weil ſie die Anſicht theilt, 25 daß der Mann ſich austoben muß, oder ſeine Leidenſchaften zu ſtark ſind, als daß er ſie zügeln könnte, ſondern weil ſie fühlt, daß er in ihr kein ſchimmerndes Spielzeug, keinen ſüßen Zeitvertreib ſieht. „Ich bin ſtolz und ſicher“, ſagt ſie, „denn ich weiß, daß ich die Erſte bin, die Du als Mutter Deiner Kinder zu ſehen gewünſcht haſt.“ Stellen wir hier Grethe und Svava einander gegenüber. Welches Urtheil werden die Frauen fällen, ſolche Frauen natürlich, die noch urtheils⸗ fähig, d. h. von Prüderie wie von moraliſcher Verkommenheit gleich weit entfernt ſind? Grethe träumt gern von ihrem künftigen Mutterglück; der Ausſtattung, die ſie näht, fügt ſie die Hemdchen für ihren Erſtgeborenen hinzu. Er ſoll keine fremden Kleider tragen, denen kein Gedanke an ihn anhaftet, und wenn ſie ſterben ſollte, wird der Vater ihm doch einſt erzählen können, daß die Mutter, ſoweit ſie es vermochte, für ihn geſorgt hat. Mit dem tiefen Gefühl deſſen, was dieſe Frau werth iſt, nennt der Bräutigam die Braut: „Du beſte aller Mütter.“ Als ſie dann vor der Hochzeit ſterben muß, ſagt ſie: „Ich werde Gott im Himmel ſagen, daß ich unter Thränen 26 ſchied, weil ich nicht als Dein Weib, als Mutter ſterben durfte.“ Iſt Maria, iſt Grethe das Ideal der neuen Frau, oder ſind ſie nur in modernem Gewand wiedererſtandene Grethchen und Klärchen? — Es iſt dem Verfaſſer darum zu thun geweſen, das Weib als Liebende zu ſchildern, jede andere Cha⸗ rakteriſtik fehlt. Wenn nun auch die Liebe der Grundton im Leben des Weibes iſt, der durch alle Lebensmelodien hindurchklingt, ſo iſt doch aus dem, wie die Frau liebt, nicht mit Sicherheit zu ſchließen, wie ſie denken und handeln wird. Die neue Frau aber iſt nicht nur Gefühl, nicht nur leidender Theil, ſie iſt thätig, ſie hat ſelbſtändig denken ge⸗ lernt. Peter Nanſens Frauen geben uns keinen Aufſchluß über dieſe Ausdrucksformen ihres Weſens. Ibſen vergaß das Herz, Nanſen, der die Reaktion dagegen repräſentirt, vergaß den Geiſt. Es fehlt aber auch nicht an einem Dichter, der in wüthendem Zorn gegen die Auswüchſe Björnſon⸗ ſcher Prüderie und Ibſenſchen Freiheitsdrangs jenes Zerrbild der neuen Frau ſchuf, das an Geiſt und Herz gleich arm iſt und nichts hat, als Sinne und abnorme Begierden. Dieſer Dichter iſt Auguſt Strindberg. 27 So viele Frauengeſtalten er auch geſchaffen hat, ſie ſind alle aus demſelben Holze geſchnitzt. Es iſt das dekadente Weib, das den Mann hinab⸗ zieht und vernichtet, die verlogene Salondame, die nur Eins gründlich verſteht: den Thoren von Mann zu blenden und dann an ihren Triumph⸗ wagen zu ſpannen, wo er ſich an den Riemen und Ketten die Bruſt und den Kopf zerreibt. Es wäre thörichter Selbſtbetrug, wollten wir ſolchen Frauen die Exiſtenzmöglichkeit abſprechen. Unter den weib⸗ lichen Mäcenen, in deren Salons ſich die ſogenannte geiſtige Elite zuſammendrängt, unter den pikanten Plauderinnen, die ihre innere Leere geſchickt durch die neueſten Apercus und zweideutigſten Klatſch⸗ geſchichten zu verbergen wiſſen, unter den Geld⸗ und Adels⸗Parvenüs, und unter den aus tiefſtem Elend zum Glanze der goldrothen Haare und der Brillanten im Ohre heraufgeſtiegenen Hel⸗ dinnen der Halbwelt ſind die Modelle der Frauen Strindbergs zu finden. Auch ſie ſind Typen neuer Frauen, aber nicht wie Strindberg, der fanatiſche Weiberhaſſer, uns glauben laſſen will, die neue Frau, denn die ſoziale Entwicklung, die ſie her⸗ vorrief, wird ſie im Weiterſchreiten auch ver⸗ 28 nichten, während der echten neuen Frau die Zu⸗ kunft gehört. Wo aber iſt ſie? Laura Marholm verſuchte darauf zu antworten, als ſie in ihrem Buche der Frauen „ſechs Typen des modernen Weibes“ feſt⸗ halten wollte. Aber dieſe Typen ſind unter ihren Händen zu einem Typus zuſammengeſchrumpft: die Baſchkirzew, die Duſe, die Edgren⸗Leffler, die Kowalewska, die Eggerten und die Skram haben keine objektive Biographin in ihr gefunden, ſondern eine ſubjektive Schriftſtellerin, welche das Material ſo formt, wie ſie es braucht, um die Tendenz, die ſie verficht, zu ſtützen. In einer Phantaſiegeſtalt hat ſie dann die neue Frau, wie ſie ſie entdeckt zu haben meint, geſchildert. — Karla Bühring, die Heldin ihres Frauendramas, iſt eine berühmte Künſtlerin, dabei eine selfmade woman, die ſich aus eigener Kraft aus der Enge und dem Elend emporgearbeitet hat. Sie kennt die Welt und die Freuden der Welt, ſie wird bewundert bis zur Vergötterung, ſie vermag durch ihre Kunſt zu rühren, zu erheben und auszudrücken, was in ihrem reichen Innern brandet und fluthet. Aber wenn ſie allein iſt und ehrlich gegen ſich ſelbſt, ſo ſtarrt 29 ihr eigenes Leben ſie in troſtloſer Oede an. Da begegnet ihr ein Mann, dem ihr Herz zufliegt. Es iſt nichts Außergewöhnliches an ihm, aber er iſt gut und ehrlich und daher außergewöhnlich für ſie, die mit ſo vielen kleinen, ſchmutzigen Geſellen zuſammenkam. Die ſpät erwachte Leidenſchaft des reifen Weibes lodert empor, ohne daß der Geliebte es ahnt. Ein Anderer, ein raffinirter, kaltlüſterner Lebemann, wirft unterdeſſen ſeine Fallſtricke nach ihr aus, und ſie — von ihrer Leidenſchaft zum Aeußerſten getrieben — wird ſein willenloſes Opfer. Als dann der Richtige kommt, um ſie zu werben, vermag ſie aus Achtung vor ihm ſein Weib nicht zu werden. Den Vorwurf, daß er „zu langſam“ war, erſpart ſie ihm freilich nicht. Da er doch nicht von ihr laſſen will, ſie aber weiß, daß ein Mann wie er nicht vergißt, erſchießt ſie ſich. Hätte ein Mann dieſe neue Frau, die doch, nach Laura Marholms beſtimmter Verſicherung, typiſch ſein ſoll, geſchaffen, man könnte ſich den Mißgriff erklären; eine Frau jedoch muß ſich in ihre Lieblingsidee geradezu verrannt haben, um das zu Stande zu bringen. Sie bringt, wie ſo manche einſeitigen Grübler, alles auf eine Formel, und die lautet: 30 das Weib hat nur einen Trieb, den Geſchlechts⸗ trieb, es giebt für ſie nur eine Befriedigung, die geſchlechtliche, oder, um in ihrer Sprache zu reden: das Weib iſt eine Kapſel über einer Leere, die erſt der Mann kommen muß zu füllen. Karla Bührings Geliebter ſagt ihr mit anderen Worten dasſelbe: „Je reicher das Weib iſt, deſto mehr verlangt es nach Inhalt und den findet es nicht in ſich ſelbſt.“ Laura Marholms neue Frau erregte unter den Frauenrechtlerinnen einen heftigeren Entrüſtungs⸗ ſturm, als die Strindbergs. Denn während es ſich bei dieſer um verächtliche Abnormitäten handelt, was Jedem ſofort in die Augen ſpringt, liegt jener ein gut Theil Wahrheit, die auf faſt alle Frauen zutrifft, zu Grunde. Nur eine an der vollen Ent⸗ faltung ihrer Natur durch frühzeitiges, künſtliches Stutzen und Beſchneiden gehinderte Frauengeneration konnte ſich durch dieſen Kern von Wahrheit ge⸗ troffen fühlen und ſich ſeiner ſchämen. Er beſteht einfach darin, daß ſelbſt das geiſtig hervorragendſte normale Weib in der Ausübung ihres Berufs oder ihrer Kunſt niemals voll befriedigt ſein kann, weil ein Theil ihres Weſens, ihr Herz, dabei ver⸗ 31 krüppeln muß, und jeder Menſch, ſei es Mann oder Weib, nur dann glücklich zu ſein vermag, wenn er die Atmoſphäre findet, in der ſein ganzes Ich ſich frei entfalten kann. Für die zahlloſen, zu ewiger Jungfrauſchaft Verdammten war es freilich eine ſcheinbare Erlöſung, als die Vorkämpfer der Frauenemanzipation ſie vor der Welt von der traurigen Lächerlichkeit unbefriedigten Altjungfern⸗ thums befreiten, und ſie müſſen ſich wider die Geſchlechtsgenoſſin empören, die ihnen plötzlich einen Spiegel vorhält und ſagt: da ſchau' hinein und belüge dich nicht länger ſelbſt, du biſt gar nicht befriedigt, du verhungerſt nach Liebe und Glück. Wäre Laura Marholm dabei geblieben, ſie hätte den Frauen einen Dienſt geleiſtet. Aber es ging ihr wie vielen Entdeckern einer einfachen Wahr⸗ heit: ſie kompliziren ſie und werden in ihrer Ver⸗ theidigung fanatiſche Dogmatiker. So ſchildert ſie nicht, wie in Karla Bühring, der großen, mit Ruhm bedeckten Künſtlerin, die Sehnſucht nach einem Heim für ihr Herz, für ihr perſönlichſtes Glück entſteht, das ihr alle Lorbeerkränze und aller Nachruhm nicht ſchaffen können, ſondern ſie deſtillirt aus dem menſchlich natürlichen Verlangen nur den 32 ſinnlichen Inhalt heraus und läßt ihre Heldin nichts ſuchen, als deſſen Befriedigung. Viele deutſche Dichterlinge haben in zahlloſen Werken die „neue Frau“ à la Strindberg und à la Marholm variirt. Sie haben ihre Studien dazu in den Salons der Börſenfürſten und den Reſtaurants mit weiblicher Bedienung gemacht, die beide ſo international ſind, daß der Typus einer neuen deutſchen Frau nicht darin gefunden werden kann. Er iſt überhaupt ſchwer zu finden, denn die deutſche Frauenbewegung hat bisher zu wenig in das Volksleben eingegriffen, um den Frauen ein individuelles oder abnormes Gepräge zu geben. Die weiblichen Geſtalten der modernen deutſchen Dich⸗ tung, welche uns am wahrhaftigſten erſcheinen, ſind nicht neue Frauen, ſondern Opfer des Zwieſpalts der alten Zeit mit der neuen. Eine der rührend⸗ ſten unter ihnen iſt Gabriele Reutters Agathe; ſie hat in dieſer Geſtalt dem ſtummen Lebensweh Hunderter verkümmernder Mädchen zum Ausdruck verholfen; ſie hat uns in ergreifender Einfachheit vor die Seele geführt, daß es nicht ſchwerer Schick⸗ ſale bedarf, um an ihnen zu Grunde zu gehen, ja daß vielleicht etwas wie ein erhebender Troſt darin 33 ³ liegt, überhaupt ein Schickſal gehabt zu haben, während die einförmige graue Oede des Lebens ganz troſtlos iſt. Neben Agathe, das junge Mädchen, läßt ſich Eliſabeth, die junge Frau aus Carry Brachvogels „Alltagsmenſchen“, ſtellen. Sie iſt in Erwartung des ihr beſtimmten Gatten aufgewachſen, ohne etwas von der Welt außerhalb ihres Mädchen⸗ ſtübchens und des Ballſaals zu wiſſen oder irgend welche ernſtere Intereſſen zu haben. Als der Rechte endlich erſcheint, überwältigt ſie faſt das Ungeheure dieſes Ereigniſſes: nun ſoll das Leben beginnen! Aber es beginnt nicht. Das inhaltsloſe Einerlei ihrer Mädchenjahre ſetzt ſich fort in dem inhalts⸗ loſen Einerlei einer Alltagsehe. Wenn ſie nur etwas erleben könnte, das ihrem Daſein Inhalt gäbe! Getrieben von Langeweile, Neugierde und Unbefriedigtſein geräth ſie in ein Verhältniß zu einem Salonlöwen, das nicht unentdeckt bleibt. Ihr Gatte, der ſich zunächſt von ihr trennen will, findet ſchließlich, daß ſeinem Kinde die Mutter unent⸗ behrlich iſt, und geſtattet ihr großmüthig, als eine Fremde neben ihm weiter zu leben. Das ſind nur zwei Beiſpiele aus der großen Reihe trauriger Frauenbilder der Gegenwart, die 34 um ſo eindrucksvoller wirken, wenn ſie zugleich Selbſt⸗ bekenntniſſe ſind. Aber ſie haben nichts an ſich von dem Drange nach Bethätigung, dem Durſt nach Freiheit, der Sehnſucht nach voller Entfaltung des ganzen Weſens, das die neue Frau in ſich vereint. Typen neuer Frauen haben nur zwei deutſche Dichter uns vorgeführt: Sudermann und Haupt⸗ mann. Wer kennt nicht die Magda in Sudermanns „Heimath“, das der Enge des Vaterhauſes im geiſtigen Lebensdrang entlaufene Mädchen, und das im Kampfe ums Daſein, im Strome der Welt der Heimath ganz entwachſene Weib? Das Milieu, in dem ſie aufwächſt, iſt ein ſpezifiſch deutſches, ähnlich wie das der Agathe, die nicht Magdas Kraft beſaß, um ſich loszureißen und alle Brücken hinter ſich zu verbrennen. In Magdas Auseinanderſetzung mit dem Vater ſteht nicht nur dieſe eine Frau dem einen Manne gegenüber, ſondern das ganze Geſchlecht ſpricht aus ihr und wendet ſich gegen die ſtarre, tödtende alte Zeit, wenn ſie ausruft: „Man weiß ja, was die Familie mit ihrer Moral von uns ver⸗ langt. Im Stiche gelaſſen hat ſie uns. Schutz und Freuden giebt ſie uns keine, und trotzdem ſollen wir in unſerer Einſamkeit nach den Geſetzen leben, 35 die nur für ſie Sinn haben.“ Was aber dieſe Frau über viele andere ihrer Art erhebt, iſt die innige, opferfreudige, leidenſchaftliche Mutterliebe. All ihr mißhandeltes Gefühl, all ihr ſtürmiſches Liebesbedürfniß konzentrirt ſich auf ihr Kind, denn ſo heiß ihre Sinne, ſo abenteuerreich ihr Leben war, es fehlte darin das große, die Tiefe der Menſchen⸗ ſeele aufwühlende Ereigniß: die Liebe. Auf der Suche nach ihr iſt ſie in die Irre gegangen; wie ſie ſelbſt ſagt, fand ſie nur die „Beſtie im Manne“ und jenes Surrogat der Liebe, das der an Sinnen und Nerven überreizte, von Jugend an ſeine beſten Gefühle in den Schlamm ziehende Mann dem heiß und tief empfindenden Weibe anzubieten wagt. Die „neue Frau“ muß eben auch des neuen Mannes warten, um ſich entwickeln zu können. Das tritt noch klarer aus Gerhart Hauptmanns „Einſamen Menſchen“ hervor. Auch hier ſtößt eine Familie der alten Zeit mit einer Frau der neuen zuſammen; die Familie und ihr auf Sand gebautes Glück wird zerſtört, die Frau geht wieder einſam in die Welt, in den Kampf hinaus, denn der Mann, den ſie liebt, iſt ihr nicht ebenbürtig; er iſt zwar keine „Beſtie“, wohl aber ein Schwächling, auf den 36 Anna Mahrs Ausſpruch vortrefflich paßt: „So lange man rückwärts blickt, kommt man nicht vorwärts.“ Sie ſelbſt ſieht nur vorwärts. Die Familie mit den engen Gedanken und Begriffen iſt für ſie ein Gegenſtand liebevollen Mitleids, aber ſie bleibt un⸗ abhängig von ihr, während Johannes abhängig iſt und ſie ihn nicht befreien kann, auch wenn ſie immer wiederholt, daß ein Menſch, der nicht geiſtig ver⸗ kümmern und ein nutzloſes Glied der Geſellſchaft werden will, die Rückſicht auf Andere nicht über ſich herrſchen laſſen ſoll. Als ſie erkennt, daß er ein Gefangener bleiben wird, reißt ſie ſich, trotz der aufkeimenden Liebe in ihrem Herzen, gewaltſam los. Sie wird von dem individuellen Schickſal abſehen und den Blick wieder ins Allgemeine richten. Sie iſt geſund und ſtark an Geiſt und Körper, und weich und zärtlich dabei, ein echtes Weib; würde ſie den Mann gefunden haben, der ſtark iſt wie ſie, mit dem ſie jenen Lebensbund hätte eingehen können, wo, wie Johannes ſagt, „das Thier nicht mehr das Thier, ſondern der Menſch den Menſchen ehelichen wird“, ſo hätte ſich ihr Herz in Liebe entfaltet; eine Frau wie Anna Mahr wäre die „neue Frau“ geworden. Jetzt wird ſie vielleicht eine einſame 37 Kämpferin werden, die nach und nach in ſich ab⸗ tödtet, was das Beſte war an ihr. Von den Dichtern der „Heimath“ und der „Einſamen Menſchen“ waren wir berechtigt, die Schöpfung einer klaſſiſchen Geſtalt: der neuen Frau, zu erwarten. Aber die Dichter ſind nur ſelten Pro⸗ pheten; ſelbſt ihre Phantaſie wurzelt, wie ihre Ge⸗ danken, in der Welt, die ſie umgiebt. Wenn wir trotzdem darauf hoffen, daß es doch noch ein deutſcher Dichter ſein wird, der all die einzelnen Züge der neuen Frau, die Englands und Skandinaviens Schriftſteller geſchildert haben, zu einer lebensvollen Schilderung zuſammenfaßt, ſo iſt das nicht etwa ein chauviniſtiſcher Traum. In England und Skandinavien hat die einſeitige Frauenbewegung, der einſeitige Kampf der Frau gegen den Mann auch einſeitige Charaktere und abnorme Frauen hervorgebracht. Die Frau hat ſich in erſter Linie nicht als ein Glied der leidenden Menſchheit fühlen gelernt, ſondern als Glied des leidenden Geſchlechts. Sie geht nicht Hand in Hand mit dem Manne; die gegenſeitige Einwirkung fehlt und damit das gegenſeitige Verſtändniß. In Deutſchland dagegen birgt der niedrige Stand der Frauenbewegung einen 38 Vortheil in ſich: ſie wird in den Strom der ſtärker und ſtärker anſchwellenden allgemeinen ſozialen Be⸗ wegung mit hineingeriſſen werden, ehe ſie Zeit hat, es zu einer großen ſelbſtändigen Entwicklung zu bringen. Und in dieſer allgemeinen Bewegung ſtärkt nicht nur der Mann der Zukunft ſeine Kräfte und weitet ſein Herz; aus ihr heraus wird auch als ſeine Gefährtin und Mitſtreiterin die neue Frau erſtehen. Denn wenn ihr auch vom Recht und von der Verfaſſung ihre Ebenbürtigkeit mit dem Manne verbrieft wird, ſo wird ſie dennoch unfrei ſein, ſo lange ſie nicht gelernt hat, dieſe Rechte zu benutzen, um, vereint mit dem Manne, für die Befreiung der Menſchheit von den rechtlichen und wirthſchaftlichen Feſſeln zu kämpfen. Vielleicht wird es dann kein Dichter, ſondern eine Dichterin ſein, die den Zwieſpalt zwiſchen der Frau der alten und der neuen Zeit zuerſt in ſich gelöſt hat und ein Selbſtbekenntniß in der Form einer dichteriſchen Geſtalt der Welt vor Augen führt. Sie wird von den Geiſt und Herz einſchnürenden Feſſeln unſerer Mädchenerziehung nichts empfunden haben; in einem Beruf, der ihren Fähigkeiten ent⸗ ſpricht, wird ſie innerlich und äußerlich ſelbſtändig 39 geworden ſein. Sie wird von früh an mit Män⸗ nern ebenſo ungehindert und daher ebenſo harmlos verkehren, wie mit Frauen. Und aus der Sympathie der Geiſter, aus der Freundſchaft hervor wird die höchſte Offenbarung ihres Weſens: ihre Liebe, er⸗ wachſen. Ohne nach dem Urtheil der lieben Nach⸗ barn fragen zu brauchen, wird ſie dem Manne ihrer Wahl gehören. Denn zu jener Zeit wird man wiſſen, daß das Heiligſte im Leben: die Vereinigung zweier Herzen, des Menſchen eigenſte Angelegenheit iſt, ſeiner perſönlichen Freiheit anheimgegeben, in die kein Anderer wagen darf, einzugreifen. Das freie Weib wird dem Manne als treuer Kamerad zur Seite ſchreiten, nicht über und nicht unter ihm. Und aus dem Schooße dieſer neuen Frau werden die Führer des Volkes, die Träger der Zukunft er⸗ wachſen: die neuen Menſchen. 40 965533