Lily Braun Die Emanzipation der Kinder Eine Rede an die Schuljugend Preis 50 Pf. Albert Langen, Verlag, München BXI, 188 NJA V,59 Die Emanzipation der Kinder Eine Rede an die Schuljugend von Lily Braun Albert Langen, München Von Lily Braun ſind bei Albert Langen erſchienen: Memoiren einer Sozialiſtin Roman in zwei Teilen Erſter Teil: Lehrjahre 25. Tauſend Zweiter Teil: Kampfjahre 18. Tauſend Deutsche Staatsbibliothek Berlin Copyright 1911 by Albert Langen, Munich Druck von Heſſe & Becker, Leipzig An euch alle wende ich mich, denen die Bücher⸗ laſt auf dem Rücken ſchon einmal Seufzer erpreßte oder die Mappe unter dem Arm den geraden Rücken krumm zog. An euch, denen Familie, Schule und Staat das Recht auf perſönliche Exiſtenz abſprechen, indem ſie die Kindheit auf dem Altar des Mannes⸗ alters opfern — ahnungslos, daß dabei allmäh⸗ lich verbrennt, was noch ſpäte Flammen nähren könnte. An euch, die ihr ganz ſtumm ſeid — wohlerzogene Kinder am Tiſche der Erwachſenen. Und doch eine Sprache gefunden habt, die uns fürchterlich in die Ohren gellt: die des Todes. Die Zahl der Ankläger wächſt. Aber ſie klagen umſonſt, wenn eure Ohren ſich ihnen nicht öffnen. Das Blut eurer Märtyrer rötet ſchon den Boden. Aber ſie ſtarben umſonſt, wenn eure Lippen geſchloſſen bleiben. Kommt! In ein dunkles Haus führe ich euch. Girlanden von Immortellen ſchlingen ſich um die hohen Säulen der Halle, rote Roſen, in der Blüte geknickt, welken auf dem Eſtrich. Ein faltenreicher Vorhang teilt ſchwarz und ſchwer den Raum. 1* 4 Lautlos gleitet er auseinander. Und auf der matt erleuchteten Bühne ziehen ſie vorüber — Knaben und Mädchen, Hand in Hand, eine lange, lange Kette. Einer geht voran, im zerſchliſſenen Jäckchen, Holz⸗ pantinen an den bloßen, rotgefrorenen Füßen. Er iſt erſt ſieben Jahre alt und doch hat er ſchon den lebensmüden Ausdruck eines Greiſes um die blut⸗ leeren Lippen. Statt in das öde Klaſſenzimmer mit dem freudloſen Lehrer darin, der über all die Buben und Mädeln den Bakel ſchwang, war er lieber in den Wald gelaufen zu den Vögeln und den Blumen und den roten Beeren. Und aus der elenden Kate mit den ſechs lärmenden Geſchwiſtern, der allzeit müden Mutter und dem fuſelduftenden Vater hatte ihn die Sonne hinausgelockt in ihre Wärme und ihren Glanz. Da waren ſie alle gegen ihn geweſen. Er ſah keine Rettung mehr. Und warf ſich vor die Lokomotive. Der da, der Große, Blaſſe mit den Grübelfurchen auf der hohen Knabenſtirn, trägt gute Kleider. Er hatte einen Heißhunger nach Wiſſen, nach Erkenntnis deſſen, was iſt und war; nur Gedächtnis für Worte und Zahlen hatte er nicht, ſie langweilten ihn. Einer armen Witwe Sohn war er, eines guten Haus⸗ mütterchens, die über jede ſchlechte Zenſur Tränen vergoß. Bis er es nicht mehr aushielt. Auf dem Boden zwiſchen Kiſten und Kaſten, die in peinlicher Ordnung der Urväter Hausrat verwahrten, legte er den Kopf in die Schlinge. 5 Zwei gehen hinter ihm, ein Mädchen und ein Knabe. Sie liebten einander mit all der ſchwärme⸗ riſchen Glut erſter wacher Empfindung. Mit zyniſchem Hohngelächter war der Vater des Sechzehnjährigen ihm begegnet, als er davon erfahren hatte. Seine Worte ſielen wie Schlamm auf die reinen Frühlings⸗ blumen ſeiner Gefühle. Das Mädchen aber, die „Frühverdorbene“ ſollte aufs Land in die ſtrenge Zucht eines alten Pfarrers geſchickt werden, um die Geſchwiſter vor ihrem Einfluß zu bewahren. Ihre Liebe war nicht ſtark genug, um das alles zu er⸗ tragen. Gemeinſam ſprangen ſie in den See — er kräuſelte ſich wohl nur ein wenig über den leichten Körpern, dann lag er wieder blau und ſtill in den Armen grüner Wälder. Und nun ſeht jenen Schlanken, Dunkeläugigen, — wie mag er hoffnungsreich und jugendſtark dem Leben entgegengeſtürmt ſein! Wie kam's, daß auch er in den Reigen des Todes ſich miſchte? Vor der Klaſſe warf ihm der erzürnte Lehrer ein böſes Wort zu. Das brannte auf ſeiner Wange als wär's ein Peitſchenhieb. Er war nur fünfzehn Jahr, aber ſein Ehrgefühl war das eines Mannes. So ge⸗ zeichnet konnte er ſich vor den Mitſchülern nicht mehr ſehen laſſen. Er wußte keinen anderen Aus⸗ weg als durch die Kugel in die Schläfe. Ganze Scharen drängen ſich über die Bühne — Knaben und Mädchen, Arme und Reiche, Große und Kleine. Trotz aller Verſchiedenheit gleichen ſie ſich: der Ausdruck banger Furcht in den entſetzt auf⸗ 6 geriſſenen Augen verwiſcht alle Individualität der Züge. Aus Angſt haben ſie ſich erhängt und ertränkt, ſind aus dem Fenſter geſprungen, haben den Revolver auf ſich gerichtet. Aus Angſt — nicht vor dem Leben, das aus unbekannter Ferne märchenhaft lockte, ſondern vor dem gräßlichen Abgrund, der ſie von ihm trennte. Aus Angſt vor der Folterqual ewiger Ermahnungen, ſtets wiederholter Strafen. Aus Angſt vor denen, die ſich ihre Erzieher nannten. Es ſind ihrer Hunderte. Aber nun, da ſie vorüber ſind — noch hallr der Ton ihrer ungeregelten Tritte als einziger Laut durch den Raum —, kommen andere, deren Füße langſam, mit ruhiger Bewußtheit des Weges den Boden be⸗ rühren. Sie fürchten ſich nicht. In ihre weichen Züge gräbt ſich vielmehr der greiſenhafte Ausdruck der Lebensverneinung. Ein Mädchen tritt als erſte herein. Sie iſt ſchön, hat weiße Hände und weiche Locken, ihre Augen ſind tief, als erſchöpften ſie die Welt. Ein wehes Weinen iſt um ſie, wie von weit, weit her. Ach, Vater und Mutter, denen ſie Stolz und Hoffnung war, wiſſen nicht, warum ſie freiwillig von dannen ging! Dann kommen Freundespaare — Jünglinge. Richt wahr, ihr erkennt ſie wieder, aus deren Wunden noch die roten Blutstropfen ſickern? Die einen erſchoſſen ſich, jeder allein in ſeinem Zimmer, zur ſelben Stunde. Faſſungslos ſtanden die Mütter vor den Entſeelten — gute Mütter, die ſie gehegt und gepflegt hatten von 7 klein auf. Und doch mußten ihre Kinder erſt ſterben, um ihnen zum Bewußtſein zu bringen, daß ſie ihnen nie gelebt hatten. Die anderen ſchlichen im Herbſtnebel zuſammen hinauf in die Wälder. Sie hefteten einander blut⸗ rote Schleifen auf die weißen Hemden, dort, wo das Herz pochte. Und der Freund zielte auf den Freund und traf. War im Kampf um ein Mädchen einer von ihnen zuviel geweſen in der Welt? Hatten ſie beſchloſſen, gemeinſam das Leben fortzuwerfen, weil ſeine Laſt ihnen unerträglich dünkte, weil ſie, wie arme Regerſklaven, eiſerne Kugeln an den Füßen ſchleppten, während ihr Sehnen ſie mit Windeseile vorwärts trieb? Die Toten gehen vorüber und ſchweigen. Uns empfängt das Tageslicht wieder und der Lärm des Lebens. Vor den Toren, die uns entließen, harrt die Menge und flüſtert und klatſcht und kreiſcht. Sie ſteht in Gruppen beieinander um ihre Wortführer. „Das ſind die Folgen der Religionsloſigkeit,“ predigt einer im Talar mit weißen Bäffchen unter dem breiten Lutherkinn. Die Frommen um ihn nicken eifrig, ein paar alte Weiber wiſchen ſich ge⸗ rührt die Augenwinkel. „An der ethiſchen Grundlage hat es ihnen ge⸗ fehlt,“ ruft gleich daneben ein Mann mit pathetiſcher Gebärde; „Rietzſche und Oskar Wilde haben die 8 grünen Jungens geleſen; kein Wunder, daß ſie allen ſittlichen Halt verloren!“ Seine Zuhörer murmeln Beifall, ein paar elegante Damen werfen ihm ſchwärmeriſche Blicke zu. „Die Frauenemanzipation hat den Mädchen die Köpfe verdreht,“ zetert inmitten einer Gruppe Auf⸗ geregter ein dürre Frau mit klangloſer Fiſtelſtimme; „ſtatt hinterm Kochtopf zu ſtehen, bändeln ſie im Gymnaſium und auf der Univerſität mit jedem Laus⸗ buben an.“ Mit tiefem Bierbaß ſucht einer ſie zu über⸗ ſchreien: „Die Umſturzpartei iſt an allem ſchuld. Sie untergräbt die von Gott eingeſetzten Autoritäten der Schule, der Familie, des Staates ⸗ „Der Selbſtmord der Kinder iſt nur ein Symptom für die Dekadenz der bürgerlichen Geſellſchaft, klingt es ihm feindſelig entgegen. „Die Profitgier des Unternehmertums treibt unſere Kinder in den Tod,“ ergänzt eine Frau, deren zorn⸗ funkelnde Augen unter dem ſchwarzen Kopftuch hervor⸗ blitzen. Reue Gruppen drängen ſich hinzu. Ein ſchwarzes Banner weht über ihnen. „Wider die Schule, leuchtet es darauf in weißen Lettern. „Hier iſt der Feind, der unſere Jugend auf dem Gewiſſen hat,“ beginnt ihr Führer; „vor verknöcherte Lehrer, in überfüllte Klaſſen wird ſie Stunden um Stunden geſperrt; unter dem Wuſt toter Regeln und Zahlen erſtickt ihr natürlicher Wiſſensdurſt, unter roher Behandlung verhärtet ſich ihr weiches Gemüt⸗ 9 „Die Schule iſt ſchuld — die Schule,“ antwortet es ihm aus tauſend Kehlen. Die Menſchen zerſtreuen ſich allmählich. An ihren Schreibtiſch, in ihre Werkſtatt, zu ihrem Abendſchoppen kehren die einen zurück; ſie haben ſich die Erregung vom Herzen geſprochen, ihr Ge⸗ wiſſen iſt beruhigt. Die anderen aber eilen in ihre Vereinsſitzungen, in ihre politiſchen Verſammlungen, um aus dem neueſten Schülerſelbſtmord für ihre Richtung Partei zu ſchlagen. Und nun beginnen ſie um die Reformen zu ſtreiten, die das Tor des Todes für alle Freiwilligen mit einem unzerbrechbaren Sicherheitsſchloß ver⸗ ſchließen ſollen. Mehr Religion! heißt es von der einen Seite, und Menſchen, die ſich nur noch bei Taufen, Hoch⸗ zeiten und Todesfällen der Kirche erinnern, die in ihren eigenen vier Wänden, vor ihren Frauen, ihren Untergebenen, ihren Arbeitskollegen alle Gebote der chriſtlichen Rächſtenliebe längſt vergeſſen haben, ver⸗ langen plötzlich für ihre Kinder noch mehr Bibel⸗ ſprüche und Geſangbuchverſe. Sie wiſſen nicht, oder wollen nicht wiſſen, daß Religion ſich nicht aus⸗ wendig lernen läßt, daß ſchon der heutige Religions⸗ unterricht die kindliche Religioſität, die der Sechs⸗ jährige in die Schule mitbringt, grauſam zerſtört und aus einem Wundergläubigen einen Heuchler erzieht. 10 Eine große Bewegung, die in allen Kulturſtaaten ihre Vorkämpfer hat, ſtrebt in der Erkenntnis dieſer Tatſachen dahin, den Religionsunterricht aus der Schule ganz und gar zu verbannen; viele ihrer Träger wünſchen eine ethiſche Tugendlehre an ſeine Stelle zu ſetzen. Sie erwarten von ihr jene Feſtigung des Charakters, die die Unbill des Lebens zu tragen fähig macht. Aber ſelbſt angenommen, dieſe Wünſche könnten in abſehbarer Zeit in Preußen⸗ Deutſchland auf Erfüllung rechnen, würde ſich darum der Geiſt der Schule ändern? Die religiöſe Form würde fortfallen, aber der Lehrer würde nach wie vor in autoritativer Weiſe die Sittenlehren wie früher den Katechismus einpauken und nach wie vor würde der Schüler als der beſte bezeichnet werden, der ſie lückenlos auswendig kann. Ob ſie ſich inwendig zu lebendiger Kraft umſetzen, das kann ſelbſt der beſte Lehrer nicht wiſſen, wenn er ein halbes Hundert Schüler vor ſich hat. Von einer Schulreform im Sinne einer durch⸗ greifenden Anderung des Lehrplans erwarten andere weite Kreiſe das Heil für die gefährdete Jugend. Sie erkannten, daß ein großer Prozentſatz der Schüler höherer Lehranſtalten den Anforderungen, die an ſie geſtellt werden, nicht entſprechen können, daß ihnen die Laſt der geiſtigen Arbeit für die notwendige körperliche Ausbildung viel zu wenig Zeit übrig läßt, und ſie führen ihren Mangel an Willenskraft, an Rervenſchwäche auf dieſe Urſachen zurück. Die wachſende Zahl der Reformgymnaſien, die es dem 11 Schüler ermöglichen, erſt in etwas reiferen Jahren zwiſchen der humaniſtiſchen und der naturwiſſen⸗ ſchaftlichen Bildung die Wahl zu treffen, daher der perſönlichen Begabung ein klein wenig mehr Spiel⸗ raum laſſen, ſind auf ihre wirkſame Agitation zurückzu⸗ führen; ebenſo die Verkürzung der Schulſtunden und die Abſchaffung des Extemporales, dieſes Schreck⸗ geſpenſtes für zahlloſe Kinder. Aber die radikalſten Wortführer dieſer Bewegung gehen in ihren Wünſchen viel weiter: Sie wollen den wiſſenſchaftlichen Unterricht zu⸗ gunſten techniſcher und handwerkmäßiger Betätigungen zurücktreten laſſen; ſie fordern die Abſchaffung des klaſſiſchen Sprachunterrichts überhaupt, ſie erklären dem humaniſtiſchen Gymnaſium als ſolchem den Krieg. Heißt das nicht das Kind mit dem Bade aus⸗ ſchütten? Weil viele Schüler keine Begabung und kein Intereſſe für die klaſſiſchen Sprachen haben, darum ſoll allen der Zugang zu einer Geiſteswelt verſchloſſen werden, aus der die größten Dichter und Denker aller Zeiten ſchöpften und immer von neuem ſchöpfen? Weil in unſerer praktiſch⸗nüchternen Zeit eine Menge Knaben lieber eine Eiſenbahn bauen möchten oder einen Aeroplan, als ſich in hiſtoriſche oder literariſche Werke zu vertiefen, darum ſollen alle gezwungen werden, dasſelbe zu tun? Das iſt eine Methode der Rivellierung, die, wenn ſie konſequent verfolgt wird, ſchließlich dazu 12 führen muß, die unbegabteſten Kinder zum Maßſtab für die allgemeine geiſtige Erziehung zu machen. Wir haben geſehen: Die Mehrzahl der jugend⸗ lichen Selbſtmörder nehmen ſich aus nervöſer Über⸗ arbeitung, aus Angſt vor Strafe, vor ſchlechten Zenſuren, vor dem „Sitzenbleiben“ das Leben. Ihre Zahl würde ſich vielleicht verringern, wenn die An⸗ forderungen der Schule auf ein Minimum herab⸗ geſetzt würden. Aber wir ſahen auch, daß in neueſter Zeit ſich die Fälle häufen, wo hochbegabte Schüler zu Gift und Piſtole greifen. Richt aus Angſt, ſondern weil ihnen ſchon heute das Leben, und damit die Schule, die einen ſo großen Raum in ihm einnimmt, nichts mehr bietet, ihren Geiſt nicht erfüllt, und ſtatt ſtets mit neuem Winde die Segel ihrer Hoffnung zu blähen, ſie in regloſer Luft erſchlaffen läßt. Ihre Zahl wird wachſen, wenn die Schulreform ſich auf bloße mechaniſche Einſchränkung des Lehr⸗ ſtoffs und des Arbeitspenſums beſchränkt. Es werden die Starken den Schwachen geopfert werden. Schwere innere Krankheiten laſſen ſich nicht durch ein paar Pillen und Mixturen heilen. Hier aber handelt es ſich nicht um eine bloße Krankheit, die hier und da zum Tode führt. Hinter den unglückſeligen Kindern, deren Verzweiflung die lebenbejahende Jugend ſo ſehr zu überwinden ver⸗ 13 mag, daß ſie den Tod freiwillig wählen, ſtehen Tauſende, die nicht ſterben, deren Leben aber ver⸗ giftet wird. Um eine die ganze Zukunft unſeres Volkes ge⸗ fährdende Seuche handelt es ſich. Und ihre Urſache liegt viel tiefer, als man bisher anzunehmen bequem genug war. Dürfen wir glauben, daß Kinder ſich töten, weil ſie zu viel arbeiten müſſen?! Kinder, mit ihrem Hunger nach Wiſſen, mit ihrer nach Betätigung ver⸗ langenden Kraft! Sie werden lebensmüde, weil man ihnen Steine gibt ſtatt Brot. Löwen und Tiger ſperrt man nicht in denſelben Stall mit Lämmern und Pferden, und vor dieſelbe Krippe; von Spatzen und Adlern verlangt man nicht dieſelben Höhenflüge. Rur die Menſchen werden alle über denſelben Kamm geſchoren. Der einzige Unterſchied, den man in ihrer Erziehung macht — indem man dem einen die höheren, dem anderen die Volksſchulen öffnet —, hängt nicht von ihren Fähigkeiten, ſondern von den Standesvorurteilen und nicht zuletzt vom Geldbeutel ihrer Eltern ab. Der Sohn des Beamten, des Kaufmanns, des Offiziers kommt aufs Gymnaſium, auch wenn ſein Gehirn noch ſo ungeeignet iſt, Latein und Mathematik aufzunehmen. Reuerdings wird es ſogar Mode, die Töchter wahllos ins Gymnaſium zu ſchicken, und die Frauenbewegung, die die Be⸗ freiung der Frauen von rechtlicher, ſozialer und wirt⸗ ſchaftlicher Gebundenheit erſtrebt, rühmt ſich deſſen als eines Fortſchritts! Die Kinder der Arbeiter aber 14 werden in die Volksſchule geſteckt, gleichgültig, od ihres Geiſtes Sehnſucht weit darüber hinaus ver⸗ langt. Und während der unbegabte Gymnaſiaſt ſich noch von einer Klaſſe zur anderen quält, der letzten gräßlichen Folter, dem Abitur, entgegen, hat der Volksſchüler die Schule ſchon verlaſſen und ſchuftet, verbittert gegen ſein Geſchick, in der Werkſtatt oder der Fabrik. Keine der geforderten Schulreformen würde hier Abhilfe ſchaffen. Aber damit haben wir die tiefſte Urſache der Epidemie, der unſere Jugend zum Opfer fällt, nur geſtreift. Die begabteſten Kinder, diejenigen, die beſtimmt ſind, die Führer der Zukunft zu ſein, leiden noch mehr unter der Schule als die unbegabten. Ihnen bietet ſie faſt nichts, ſobald einmal die unterſten Klaſſen überwunden ſind. Sie ſitzen gelangweilt da⸗ neben, wenn um das die Klaſſe füllenden Mittelguts willen das Schulpenſum immer aufs neue wiederholt wird. Sie ſind ihm innerlich längſt entwachſen, und werden doch noch wie Unſelbſtändige und Abhängige behandelt. Eine eigene Meinung zu haben, ſie gar dem Lehrer gegenüber auszuſprechen und zu ver⸗ teidigen, gilt als ſtrafwürdig. Und, was das ſchlimmſte iſt, nur die wenigſten dieſer Kinder werden für das, was ihnen die Schule verſagt, in der Familie ent⸗ ſchädigt. Der autoritativen Stellung des Lehrers entſpricht die autoritative Stellung der Eltern. Roch immer gilt für die Kinder als das erſte Kennzeichen 15 guter Erziehung ihre Schweigſamkeit. Richt mit⸗ reden, wenn Erwachſene ſprechen, keine eigene Meinung haben und — falls man ſich herausnimmt, eine haben zu wollen — ſie für ſich behalten, das iſt das A und O pädagogiſcher Weisheit in „guten Familien. So entfremdet ſich der junge Menſch naturgemäß Eltern und Lehrern, niemand von denen, die ihm in ſeinen geiſtigen und ſeeliſchen Kämpfen beiſtehen könnten, weiß etwas von ihm. Mit dem ganzen Mitteilungsbedürfnis junger Herzen geht er ſeine eigenen Wege und findet auf ihnen nur Schickſalsgenoſſen, die ihm nicht zu helfen ver⸗ mögen, die vielmehr ſeine eigenen Qualen durch die ihren noch ſteigern. Und bemerken die überaus „vernünftigen“ Er⸗ wachſenen etwas von den Röten ſeiner Seele, ſo lächeln ſie mitleidig vom Kothurn ihrer „Abgeklärt⸗ heit“ herunter. Als „kindiſche Schwärmereien“ be⸗ zeichnen ſie die Schmerzen junger Liebe, als „traurige Zeichen krankhafter Frühreife“ ſuchen ſie die geiſtigen Kämpfe ihrer Kinder zu unterdrücken. Sie wollen nicht wiſſen, daß die Leiden und Kämpfe der Jugend ihr eben ſolche Wunden ſchlagen wie uns die unſeren, — ja, daß ſie für das ganze Daſein bedeutungsvoller und beſtimmender ſind als unſere Lebensſchlachten. Für ſie hat die Kindheit nur inſoweit Wert, als ſie eine Vorbereitung für die Reife iſt. Während jede Lebenszeit, wie die des Jahres, ihren eigenen Wert hat. 16 Als der eigentliche Zweck des Lehrens gilt heute ausſchließlich, daß das Gelernte für das ſpätere Leben von praktiſchem Rutzen ſei. Während das Lernen zugleich des Kindes gegenwärtiges Leben bereichern, ſein junges Herz erwärmen, ſeinen Geiſt erweitern ſoll. Darum fordern wir — Wir?! Rein: Ihr Roch nie im Laufe der Menſchheitsentwicklung hat eine Volksklaſſe die andere, ein Geſchlecht das andere befreit. Richt aus böſem Willen. Auch nicht aus Unkenntnis. Sehr oft iſt es ja erſt der Arzt, der dem Leidenden ſagt, was ihm fehlt. Aber den Willen, geſund zu werden, muß der Kranke haben. Erkannten die Unterdrückten ihre Unterdrückung, ſo waren ſie es, die ſelbſt um ihre Befreiung ringen mußten: die Sklaven des Altertums, die Bauern des Mittelalters, die Bürger des Zeitalters der Revolution, die Arbeiter und die Frauen der Gegenwart. Richt nur das Schickſal des einzelnen liegt in ſeiner eigenen Hand, ſondern auch das der Klaſſe und des Geſchlechts. „Immer aber,“ ſo höre ich entrüſtet rufen, „ſind es Erwachſene, ſind es reife Menſchen geweſen. Gewiß! Zugleich jedoch in den Augen derer, gegen die ſie ſich empörten, Unmündige, wie heute die Kinder! 17 „Die um ihre Befreiung rangen,“ wirft man mir abermals ein, „ſind allzeit ſolche, die im Laufe der Entwicklung innerlich mündig geworden waren. Gewiß! Wer jedoch wollte behaupten, daß die Kinder zurzeit Karls des Großen und zu unſerer Zeit dieſelben ſind?! Die Lobredner der „guten alten Zeit“ — lauter Menſchen, die auf Krücken gehen und darum mit der Entwicklung nicht Schritt halten können — klagen heute beweglichen Tones, „daß es keine Kinder mehr gibt“. Als ſie jung waren, ſo meinen ſie, beſchäftigten ſich die Mädchen noch mit fünfzehn Jahren mit nichts als ihrer Puppe, und die Knaben hatten im ſelben Alter kein höheres Intereſſe als das Indianerſpiel. Sie haben recht. Rur daß ſie als unnatürlich, ja als krankhaft anſehen, was nur eine Folge der ver⸗ änderten Verhältniſſe iſt. Eine ſolche Folge iſt viel⸗ leicht beklagenswert, wie vieles beklagenswert iſt, was die Vergangenheit mit ſich ins Grab nahm. Aber zu ändern iſt es nicht, die Entwicklung läßt ſich nicht zurückhalten, ſie fordert vielmehr, daß man mit ihr Schritt hält. Der Lärm der Welt, der zu des Großvaters Zeiten nur von fern her tönte, dringt heute in faſt jedes Haus. Das Kind der Großſtadt vor allem braucht nur mit hellen Augen um ſich zu ſehen, mit wachen Ohren zuzuhören, und es wird in kurzer Zeit mehr wiſſen, als ein Erwachſener vor hundert Jahren wiſſen konnte. Es wird aber ebenſo auf Schritt und Tritt zur Kritik an Dingen und Urteilen anderer Braun, Die Emanzipation der Kinder 18 herausgefordert, da es Widerſprüche auch gegen die Autorität der Eltern frühzeitig hören kann. Es er⸗ fährt durch die Flut der Zeitungen, die ſich ihm heute ſelbſt bei der ſtrengſten Erziehung nicht mehr ent⸗ ziehen laſſen, von den Geſchehniſſen in der Welt und es wird — nicht zuletzt, wenn es ſich um Prole⸗ tarierkinder handelt — in zarter Jugend ſchon in alle Schrecken des Kampfes ums Daſein eingeweiht. Es wird, ſofern es nicht ganz blöde iſt, zu ſelbſtändigem Denken und Empfinden gezwungen. Das Kind iſt ein anderes geworden. Aber der Geiſt der Erziehung in Schule und Haus iſt der⸗ ſelbe geblieben. Roch immer will er mit dem Macht⸗ mittel der Autorität allein wirken, noch immer ſieht er in dem Kinde nichts als weiches Wachs, dem er Form und Geſtalt zu geben hat. Und den meiſten Eltern gilt ihr Kind als ihr Geſchöpf in demſelben Sinne, wie das Kunſtwerk des Künſtlers Geſchöpf iſt: ein Ausdruck, ein ſtummer Zeuge ſeines Weſens. Während die Achtung vor der Individualität des Kindes der Grundzug ihres Verhaltens ihm gegen⸗ über ſein müßte — eine um ſo ſchwerer zu erfüllende Aufgabe, als die Eltern in ihren Kindern wie in einem Wunderſpiegel nichts als ihre eigenen Eigenſchaften, die guten in zehnfacher Vergrößerung, reflektiert ſehen möchten. Wie in Schule und Haus, ſo iſt auch die Stellung des Kindes im Staat unverändert geblieben. Vom vierzehnten Jahre ab erhalten Kinder durch ihre Arbeit ihr Leben ſelbſt oder tragen zum Unterhalt 19 der Ihren bei. Sie haben wie die Erwachſenen unter ſchlechten Arbeitsbedingungen, unter hohen Lebensmittelpreiſen zu leiden. Es wäre nicht nur ihr Recht, ſondern geradezu ihre Verpflichtung, ſich über die Urſachen all dieſer Verhältniſſe durch Ge⸗ dankenaustauſch mit ihren Schickſalsgenoſſen und ihren älteren Arbeitskollegen aufzuklären. Sie dürfen es nicht. Wie man ſchon in der Schule Grammatik⸗ regeln und Bibelſprüche bis zum Überdruß lernt, von der Staatsverfaſſung und den Geſetzen aber ſo gut wie nichts erfährt, ſo iſt dem Jugendlichen ſpäter eine Beſchäftigung mit ihnen überhaupt verboten, als handle es ſich um Myſterien, die nur Geweihten zugänglich ſind. Und die Gymnaſiaſten ſtehen zwar mitten im Getriebe modernen Lebens; durch Hintertreppen und Hintertüren ſchleicht es ſich in ſeinen gemeinſten Er⸗ ſcheinungsformen an ſie heran, der Schmutz der Gaſſe bietet ſich frech ihren ſuchenden Blicken dar. Aber wehe, dreimal wehe, wenn ſie frei und offen über die Vordertreppen herab ſteigen und ſich mit ihren Kameraden zur Beſprechung ernſter Fragen ihres Lebens zuſammenfinden wollten, wenn ſie ihre Ge⸗ danken über das, was ſie in der Klaſſe und im Familienzimmer quält und verletzt, laut werden laſſen. Schülervereine ſind verboten. Die Autorität des Staats und der Schule ſcheint wohl auf morſch gewordenen Bohlen zu ſtehen, wenn ſie ſich mit dem Stacheldrahtzaun von Geſetzen und Verordnungen vor dem Anſturm der Jugend ſchützen 2* 20 muß! Und keine von beiden wird begreifen lernen, daß die Jugend von heute mit der von einſt nur die Zahl der Jahre gemeinſam hat. Wenn ſie nicht ſelbſt den Mut gewinnt, ſich durchzuſetzen, ſtatt nur ſtumm zu ſterben. Ich höre die Philiſter toben, die guten Bürger ach und wehe ſchrein. Ich ſehe das Achſelzucken der Spötter. „Die Emanzipation der Kinder!!“ — Und ein Hohngelächter begleitet das neue Wort, dasſelbe Gelächter, mit dem die Vorkämpfer der Frauenbewe⸗ gung vor hundert Jahren empfangen wurden. Heute, da Hunderttauſende ihnen folgen, da ſich die Uni⸗ verſitäten, ja ſelbſt die Parlamente ihnen geöffnet haben, lacht niemand mehr. „Die Emanzipation der Kinder!!“ — Und drohende Fäuſte erheben ſich, dieſelben Fäuſte, die ſich den erſten Arbeitern entgegenreckten, als ſie politiſche Gleichberechtigung forderten. Heute ballen ſie ſich noch, aber da Millionen ihnen ſchon als Sieger gegen⸗ überſtehen, ſchrecken ſie nicht mehr. Aber ich ſehe auch fragende, erwartungsvolle Blicke aus glänzenden, jungen Augen auf mich ge⸗ richtet. Und wildpochende Herzen fühle ich, als er⸗ warteten ſie einen friſch⸗fröhlichen Kampf. Statt deſſen iſt es nur ein ſteiniger Felſenpfad, der ihnen winkt. Die erſten Schritte darauf hallen nicht ein⸗ mal wieder. Und doch ſind ſie es, die den meiſten Mut, die meiſte Ausdauer fordern. Es gibt nur wenige Eltern, die ihre Kinder nicht lieben. Was ihre Liebe unfruchtbar macht, iſt meiſt nur die Tatſache, daß ſie ſie nicht kennen. Habt zunächſt den Mut, euren Eltern bekannt zu werden! Sprecht eure Wünſche, eure Anſichten, eure Hoffnungen und Befürchtungen aus, auch wenn ihr fürs erſte nur Erſtaunen, Zurechtweiſungen, Ver⸗ boten und Befehlen begegnet. Gehorſam iſt keine Tugend, wenn er nicht ein freudiges Jaſagen zum Befehle iſt. Hört auf einen unſerer größten modernen Dichter, Richard Dehmel, der ſeinem eigenen Sohne ſang: „Und wenn dir einſt von Sohnespflicht, mein Sohn, dein alter Vater ſpricht, gehorch ihm nicht, gehorch ihm nicht -" Sprecht freimütig über das, was euch die Schule nimmt und verſagt. Die Standesvorurteile eurer Eltern haben ſich noch nicht ſo tief in eure Herzen hineingefreſſen, als daß ſie eure Reigungen hätten unterdrücken können. Fordert das Recht der Berufs⸗ wahl nach eurer Begabung. Proteſtiert dagegen, daß euch die Mathematik oder das Griechiſche und Latei⸗ niſche die ſchönſten Jugendjahre vergiftet, während der Künſtler oder der Techniker in euch nach ganz anderer geiſtiger Rahrung verlangt. Sträubt euch dagegen, daß der Vater euch in die Realſchule zwingt, nur weil er euch zum Kaufmann beſtimmt hat, der er ſelber iſt, während eure Träume zu den Dichtern und Denkern hinüberfliegen. Und ehe ihr zugrunde geht an der geiſtigen Arbeit, für die euer Gehirn 21 22 nicht taugt, habt den moraliſchen Mut, der heutzu⸗ tage ſeltener iſt als Intelligenz, lieber ein tüchtiger Handwerker werden zu wollen, als die Maſſe geiſtiger Mittelmäßigkeiten noch zu vermehren, die ſich ſelbſt und anderen zur Laſt ſind. Ihr ſenkt den Kopf?! Ach ſo — die Berechti⸗ gung zum Einjährigen muß doch auf der Schulbank erſeſſen werden! Alſo ihr, die ihr jung ſeid, die ihr heimlich untereinander die Philiſter verlacht, ihr wollt euch dazu hergeben, daß nicht die Liebe zur Wiſſen⸗ ſchaft, ſondern der Dünkel eure Schritte lenkt? Leidet ihr wirklich ſchon ſo ſehr unter der Begriffs⸗ verwirrung der Erwachſenen, die es für ein Un⸗ glück anſehen, wenn ihre Söhne zwei Jahre dienen müſſen, während es ein weit größeres Unglück iſt, ihre innere Beſtimmung dem Götzen der Standes⸗ vorurteile zu opfern? Doch nicht nur über das Was und Wie der Schule ſollt ihr freimütig zu ſprechen lernen. Auch innerhalb der Schule ſollt ihr euer Selbſt nicht ver⸗ leugnen. Sobald die Zeit beginnt, wo ihr nicht bloß Regeln, Zahlen und Tatſachen lernt, ſondern Meinungen über die Tatſachen nicht nur von euern Lehrern ausgeſprochen werden, — was jedes Menſchen Recht iſt —, ſondern verſucht wird, ſie euch mit der⸗ ſelben apodiktiſchen Sicherheit als unumſtößliche Wahrheit beizubringen, wie vorher die Regeln und Zahlen, — von dem Augenblick an gebt den Ehrgeiz auf, ein Muſterſchüler ſein zu wollen, d. h. einer, der nichts iſt als eine Grammophonplatte, die des Lehrers Stimme treulich wiedergibt. Habt auch hier den Mut eurer Meinung. Ihr werdet auf die letzten Bänke geſetzt werden, denn in der Schule wie im Staat ſind die Schweigſamen und die Jaſager die bequemſten Bürger. Aber das wird gegen euch nichts beweiſen, wohl aber gegen die Methode der Schule. Vielleicht — ſogar wahrſcheinlich — ſind eure Mei⸗ nungen falſch, aber wer beweiſt euch denn, daß die der Lehrer richtig ſind? „Ein junger Menſch, der auf eigenem Wege irre geht, iſt mir lieber als einer, der auf fremden Wegen recht wandelt“ — an dieſes Wort Goethes haltet euch. Ich werfe eine Brandfackel in eure Mitte. Zündet an ihr einen Scheiterhaufen an. Und ſchleppt herzu, was euch das Herz einſchnürt, den freien Atem hemmt, was eure Füße zwingt, in fremden Fußtapfen zu gehen. Bald, wenn die Flamme lodert, ſtoßen ſtarke Hilfstruppen zu eurer kleinen Schar — eure Eltern. Richt alle. Gewiß nicht. Vielen hat die Öde des Alltagslebens, der aufreibende Kampf ums Daſein für immer die Augen geblendet, die Füße gelähmt. An ihnen müßt ihr vorüber. Trotz aller mitleidigen Liebe. Aber andere gibt es, die wären eure Bundes⸗ genoſſen, wenn ſie euch nur erſt kennen würden. An euren Schmerzen würden eure Mütter ſtark werden, an euren Kämpfen würde die vergeſſene Jugend eures Vaters neu erwachen. 23 24 Ihr habt im Grunde ja nur einen Feind: euch ſelbſt. Euer Strebertum, eure Heuchelei, eure Feig⸗ heit. Die überwindet, und die Bahn iſt frei. Wohin? „Rach Utopien!“ antworten höhnend die Gegner. Selbſt wenn dem ſo wäre; — auf dem Wege nach Utopien iſt noch immer eine neue Welt ent⸗ deckt worden! Wen ſeine Phantaſie darum beflügelt, der mag getroſt ſeine Ziele über die Wolken ſtecken. Die, zu denen ich den Weg weiſen will, ſind lauter Etappen zu dem einen Ziel: dem Selbſtbe⸗ ſtimmungsrecht der Jugend. Und das iſt ſo wenig ein Utopien, wie das der Frauen und der Arbeiter. Es gibt in Deutſchland Schulen, die ſich Freie Schulgemeinden, Landerziehungsheime, Erziehungs⸗ ſchulen nennen. Ihre Inſaſſen — Lehrer und Schüler beiderlei Geſchlechts — bilden eine Staatsbürger⸗ ſchaft im kleinen. Die Staatsform iſt die der Demokratie. Über Fragen des inneren und äußeren Schullebens wird in gemeinſamen Sitzungen beraten und beſchloſſen, wobei die Lehrer dieſelbe Stimme haben wie die Schüler. Der Unterricht iſt weſent⸗ lich eine Anleitung zu ſelbſtändiger Arbeit, kein Lehren im Sinne des Einpaukens. Der Lehrer iſt nicht als ſolcher eine Autorität, ſondern nur inſoweit er ſich durch ſeine Perſönlichkeit Autorität verſchafft. Er verkehrt mit dem Schüler wie mit einem jüngeren Freunde, nicht wie mit einem Untergebenen. Das Weſentliche dieſer neuen Schulen beſteht nicht darin, was ſie lehren, ſondern wie gelehrt wird. Die verſchiedenſten Lehrpläne könnten nach derſelben 25 Methode durchgeführt werden, deren Hauptkennzeichen iſt, daß im Kinde ſchon der ſelbſtändige Menſch reſpektiert wird. In den Vereinigten Staaten ſind Kolonien zur Erziehung verwahrloſter Kinder gegründet worden, in denen das Prinzip der Selbſtverwaltung peinlich durchgeführt wird. Die jungen Koloniſten geben ſich ihre Geſetze ſelbſt, beſtrafen jede Übertretung nach eigener Entſcheidung, wählen ihre Führer. Die Lehrer erteilen nur den Unterricht und werden als Ratgeber zuweilen angerufen. Und das Syſtem be⸗ währt ſich ſo gut, daß immer neue Kolonien der Art ins Leben treten. Es zeigt ſich hier, daß erſt der Beſitz der Frei⸗ heit zur Verantwortlichkeit und zur Fähigkeit, ſie zu beſitzen, erziehen kann. Ein Kind, das immer am Gängelbande lief, wird, ſobald man ſchließlich ge⸗ nötigt iſt, es frei zu laſſen, leichter ſtraucheln, als eins, das ſich von jeher auf ſeine eigenen Füße verläßt. Während bei uns Schülervereinigungen verboten ſind, ſpielen ſie im Vereinsleben Rordamerikas eine große Rolle. Faſt jede Schule hat deren mehrere. In den Sommerferien finden Jugendkongreſſe ſtatt, zu denen die einzelnen Vereine ihre Delegierten ent⸗ ſenden, und wo die Schul⸗ und Lebensintereſſen der heranwachſenden Menſchen unter ernſter Aufmerkſam⸗ keit erwachſener Zuhörer beſprochen werden. Manche Schulreform iſt durch ſie angeregt worden. Ratürlich entſpricht die Stellung der Kinder im 26 Hauſe der in der Schule. Der junge Amerikaner weiß ſchon früh ſeine eigene Meinung zu verteidigen; ſeinem weiblichen Altersgenoſſen wird eine Freiheit der Bewegung gewährt, die ſich ein deutſches Schul⸗ mädchen nur durch Lügen und Heimlichkeiten ver⸗ ſchaffen kann. Run will ich weder als muſtergültig preiſen, was das Ausland erreicht hat, noch etwa gar dafür eintreten, daß alle Kinder in Internaten erzogen werden ſollen, wie jene Schulen es ſind, von denen ich ſprach). Es kommt mir nur darauf an, zu zeigen, daß der neue Geiſt der Erziehung, der allein der neuen Ent⸗ wicklung der Jugend entſpricht, ſich ſchon vielfach durchgeſetzt hat, ohne daß darum, wie die Skeptiker annehmen, das Familienleben zerſtört, Zucht und Sitte verletzt wird. Erſt wo er herrſcht, können die untergeordneten Probleme des Lehrplans richtig entſchieden werden. Unter ſeinem Geſichtspunkt be⸗ trachtet, wird es ſich z. B. auch zeigen, daß der Unterrichtsſtoff nicht dem Verſtändnis der Maſſe an⸗ gepaßt werden darf, ſondern daß die geiſtigen In⸗ dividualitäten der Kinder eine ſehr verſchiedenartige Behandlung verlangen. Keine Einheit der Schule alſo, ſondern eine reiche Vielheit der Schulen, ſo daß jede Fähigkeit, jede Begabung die rechte Quelle finden kann, die ſie nährt. Auf dem Wege dahin, wo die Arbeit der Kinder ſich wieder zu dem wandelt, was ſie ſein ſoll: eine Betätigung der eigenen Kraft, keine qualvolle Anſtrengung, liegt notwendigerweiſe 27 als eine Etappe die Befreiung der Zukunft des Kindes vom Geldbeutel der Eltern, die Durchſetzung einer Forderung, die ſo ſelbſtverſtändlich iſt, daß ſpätere Zeiten uns, die wir ſie noch ſtellen mußten, für Barbaren halten werden: daß Kraft und Be⸗ gabung allein bei der Wahl der Schule und des Berufs die entſcheidenden Faktoren ſein ſollen. Ihr ſeht die Toten vorüberziehen — eure Mär⸗ tyrer. Und das Herz ſtand euch ſtill, und eure Augen füllten ſich mit Tränen. Sehet jetzt, was ich euch zeigen werde, während der Zaubermantel der Erkenntnis euch hoch über den Erdball trägt. Dort unten raſſeln Räder und ſtampfen Ma⸗ ſchinen; glühenden Fackeln gleich leuchten die Feuer der Eiſenwerke; aus ſchwarzen Schornſteinen quellen ſchwere Schwaden grauen Rauchs. Kleine Häuſer ſtehen in engen Tälern; drinnen hämmert's und pocht's; und von haſtigen Füßen bewegt, ſauſt die Räh⸗ maſchine. Große Städte tauchen auf. Ein dunkel zuſammengeballtes Meer von Steinen. Aus Kellern, Dachfenſtern und Hinterhäuſern dringt ſpärliches Licht in die Racht. — Wohin der Blick ſich auch wendet: zwiſchen all den finſteren Männern und blaſſen Frauen, die die Rot in den Racken trat, damit er ſich beugen lerne über die Arbeit, ſtehen müde Kinder. In ihren jungen Augen glüht noch 28 ein letzter Strahl von Sonnenſehnſucht. Er wird erlöſchen in der ewigen Nacht der Qual. Träume bewegen ihr Herz. Wie lange noch, und ſie fliehen vor dem Lärm der Werkſtatt. Manch eine Stirne leuchtet im Glanz großer Gedanken, — der Peſthauch der Fabrik läßt ihn langſam erſterben. Von roten Lippen klang noch eben ein ſüßes Lied, — vor dem gellen Schrei nach Brot verſtummt es auf immer. Wie viele Verheißungen hat die Rot in dieſen Kindern getötet, während der Reichtum andere vor die vollen Tafeln geiſtigen Lebens zwang, ohne daß ſie die Kraft beſaßen, zuzugreifen. Laut riefen die Toten nach euch. Wenn ihr zu hören noch zögertet, ſo wird die ſtumme Sprache der Lebendigen euch verfolgen, bis es keinen Ausweg mehr für euch gibt. Von einem Kinderkreuzzug erzählt die Geſchichte. Mehr als das Grab Chriſti aus der Hand der Un⸗ gläubigen gilt es heute zu befreien. Das Jahrhundert des Kindes, das nur ein frommer Wunſch war bisher, ſei der Kinder Werk! BXI, 188 15 7161/325.