5 Berlin W. 15. Uhlandstr. 159. 10. 9. 05. Sehr verehrter Herr! Bitte wundern Sie sich nicht, wenn ich so bald, wenn auch leider nur schriftlich, auf unser letztes Gespräch zurückkomme. Ich habe lebhaft bedauert, daß es nur so kurz sein konnte, nicht nur aus persön- lichem Interesse, sondern auch im Hinblick auf den Hauptzweck meines Besuchs, denn eine weitere Unterhaltung hätte, wie mir scheint, ohne Schwierigkeit zu dem führen können, was ich von Ihnen erbat: einem kleinen Beitrag für unsere Zeitschrift. Zweifellos – und Ihre Bemerkung, daß Sie schon oft das Bedürfniß empfunden hätten, Sich vor einem Kreise, wie unsere Zeitschrift ihn eröffnet, auszusprechen – h̶ä̶t̶t̶e̶n̶̶ [überschrieben mit:]würden grade Sie dem großen, nach geistiger Nahrung so hungrigen Publi- kum sehr viel zu sagen. Als wir vor einiger Zeit in Paris waren, hat nichts uns so tiefen Ein- 6 druck gemacht, als das brüderliche Zusam- mengehen der „Intellektuellen“ mit der Arbeiterbewegung; wie groß ist die gegenseitige belebende Wirkung, die davon ausgeht! Und welche Begeiste- rung entflammt es in den Massen, wenn ein Mann, wie etwa Anatole France aus der Stille seines Dichter- lebens immer wieder in Wort und Schrift auf dem großen Kampfplatz der Menschheit erscheint. Bei uns ist davon wenig zu finden; die Menschen lassen sich je nach ihrer Haupt- beschäftigung in etikettierte Schubladen einsperren, wo nur Ihresgleichen zusam- mengesperrt sind, und binden sich Scheu- klappen um, damit [S, überschrieben mit:]sie ja nicht andere Wege sehen, als ihre eigene Straße. Bei den Künstlern verbrämt man diesen Zustand mit de[m, überschrieben mit:]r l’art pour l’art- Philosophie. Meinen Sie nicht, daß wir Alle uns an der Kultur versündigen, wenn wir die Wände nicht niederrei= ßen? „Die große, stumpfe und immer stumpf blei= 7 bende Masse versteht uns nicht,“ sagte mir schon Mancher, „nur die Wenigen, Einzelnen sind das würdi- ge Publikum für uns.“ Wie aber die Auserwählten finden, wenn nicht dadurch, daß sie aus der großen Masse emporsteigen, zu der der Künstler, der Schriftsteller spricht. Noch giebts für die Sonnenstrahlen kein anderes Mittel, aus dem Dunkel der Erde die herrlichsten Keime zu wecken, als daß sie a̶u̶f̶ die ganze Erde berühren, auch den unfruchtba- ren Boden. Von der Bühne herab, kann man vielleicht einwenden, wirkt der Dichter auf die Massen. Wie klein bleibt aber, besonders von der Großstadt abgesehen, das Häuflein; wie beleidigend ist es im Grunde, daß auch [der, überschrieben mit:]hier der Geldbeutel die Menschen in zwei Gruppen scheidet, – gewiß das ungünstigste Mittel, um geistig Hungernde und Empfängliche von Satten und Uebersättigten zu scheiden. Sie sehen, der Gedanke „es soll der Künstler mit dem Volke gehen“ – ihm vorangehen – erfüllt mich so sehr, 8 daß ich fast eine Abhandlung zu schreiben im Begriffe stehe. Ich breche lieber ab, damit Sie sie schreiben, damit Sie, – derjenige, den das deutsche Volk von allen lebenden Dichtern am meisten kennt und zu den Seinen zählt – voran gehen und den Weg zu ihm weisen. Woher kommt die Kampfmüdigkeit, das große Bedürfniß, nicht nach Einsamkeit, – denn das haben die Besten immer, – sondern nach Sichabschließen unserer deutschen „Intelektuellen“? (Diese Bezeichnung paßt nicht ganz, denn Gott Lob handelt sichs bei denen, die ich meine, nicht nur um ihren Intellekt.) Wäre das nicht schon ein Thema, um ein paar eigenste Gedanken daran zu knüpfen? Sehen Sie es nicht als Zudringlichkeit an, wenn ich so dringend bin. Es ist einig und allein die Sache, die mich dazu treibt. In der Hoffnung, daß Sie uns bald eine Antwort geben, die zugleich für die Neue Gesellschaft bestimmt ist, mit ver- bindlichen Grüßen Ihre Lily Braun